5. Durch das Nadelöhr

 

»Du brauchst jetzt nicht zu sterben«, sagte Jessica. »Du mußt keine Schuld sühnen.«

Heem beschäftigte sich noch immer mit seiner selbstzufriedenen Verwunderung, doch darüber hatte er den Geschmack der Realität nicht verloren. »Möglich, daß ich keine Schuld zu sühnen habe. Daher kann ich beruhigt sterben.«

»Du könntest dich retten, wenn du es wirklich wolltest. Dessen bin ich mir ganz sicher.«

O weibliche Einfalt! »Dem Loch kann man nicht entkommen - und selbst wenn, ist da immer noch der Wettstreit, aus dem wir ausgestiegen sind, und außerdem erwartet mich zu Hause eine lange Kerkerstrafe. Da ziehe ich das Loch vor.«

»Darüber habe ich nachgedacht, Heem, während ich über das Problem des Sehens nachdachte und du in deiner Erinnerung mit dem Squam kämpftest. Ich glaube, wir könnten den Wettstreit doch noch gewinnen.«

»Ich habe mich mit dem Unausweichlichen abgefunden. Und du hegst die phantastischsten Hoffnungen.« Dennoch lag darin eine seltsame Verlockung. Die Tatsache, daß eine einzige vernunftbegabte Kreatur seine Entscheidung, seine Saat nicht in dem Tal zu hinterlassen, unterstützte, hatte eine erstaunliche Wirkung auf seinen Überlebenswillen. Wenn ein Wesen an ihn glaubte, war es dann nicht möglich, daß auch andere dieser Meinung waren?

»Dieses Schwarze Loch - in Wirklichkeit ist es eine Abkürzung zum Planeten Exzenter. Wir reisen quer durch die Scheibe des LochsternSystems, anstatt es zu umrunden, wie die anderen Schiffe es tun. Und die vom Stern und vom Loch auf uns einwirkenden Gravitationskräfte verleihen uns eine enorme Geschwindigkeit. Wenn wir nun hindurchschlüpfen und am anderen Ende wieder herauskommen, wären wir doch als erste am Ziel, nicht wahr?«

»Wir befinden uns bereits in dem Bereich, in dem eine Flucht nicht mehr möglich ist. Wir können doch nicht...«

»Aber wir können zwischen Loch und Stern hindurchschlüpfen! Siehst du das denn nicht, Heem - der Punkt, von dem aus eine Flucht nicht mehr möglich ist, befindet sich viel näher beim Loch, wenn es in Opposition zum Stern steht, da das Loch den Stern in einem Orbit umkreist. Und wenn wir durch das Loch hindurchgehen, dann gereicht unsere jetzige

Geschwindigkeit uns zum Vorteil. Sie ist kein Handicap mehr. Auf der anderen Seite des Lochs wandelt sie sich in Fluchtgeschwindigkeit um. Wir werden überhaupt nicht eingefangen! Wir können uns durch das Nadelöhr hindurchfädeln!«

Heem staunte über die Kühnheit, die Einfachheit und die Naivität dieses Vorschlags. »Ein solches Manöver zu riskieren, bedeutet so gut wie sicher den Tod!«

»Du vergißt, wo wir uns befinden. Wenn wir es nicht versuchen, erwartet uns der Tod!«

Natürlich hatte sie recht. In ihrer Situation hatten sie tatsächlich nichts zu verlieren.

»Trotzdem ist es hoffnungslos«, sprühte er. »Das Zusammenwirken von Kraftfeldern und Sonnenwinden und Strahlung, GeschwindigkeitsVektoren - in einem derart simplen Schiff kann ich diese Werte nicht abrufen und kontrollieren.«

»Du glaubst nur, daß du das nicht schaffst. Du hast weitaus mehr Reserven, als du annimmst. Stell dir das Problem doch als einen riesigen Squam vor, mit dem du fertigwerden mußt: wenn du alle Energien zusammenraffst, kannst du ihn schlagen.«

»Ich bin ein erfahrener Pilot und gehöre zu den besten meiner Rasse«, sprühte er. »Was meine Fähigkeiten in dieser Richtung angeht, kenne ich keine Bescheidenheit. Möglich, daß ich einen Squam im direkten Kampf nicht mehr besiegen kann, doch meine Fähigkeiten als Pilot haben bisher nicht gelitten. Kein HydrO könnte sich in unserer Position aus dem Anziehungsbereich des Lochs manövrieren; und deshalb kann ich es auch nicht.«

»Schön, ein Solarier könnte es!« hielt sie ihm entgegen. »Und ich glaube, daß deine Fähigkeiten als Pilot doch gelitten haben, denn falls du deine Fähigkeiten im persönlichen Kampf verloren hast, dann trifft das auch auf andere Bereiche zu, und du bist insgesamt schlechter geworden, wenn auch nur so behutsam, daß du selbst dir dessen noch nicht bewußt bist. Und weißt du, was dir fehlt? Die Fähigkeit des Sehens. Wenn du sehen könntest, was du treibst, dann könntest du wahrscheinlich das Schiff zwischen Loch und Stern hindurchlenken, indem du auf einem Kurs fliegst, auf dem sich die beiden Kraftfelder gegenseitig aufheben und du weder zur einen noch zur anderen Seite gezogen würdest.«

»Für die Vertreterin einer Spezies, die sehen kann, zeigst du wenig Respekt vor der Strahlung. So dicht am Stern vorbeizufliegen, hieße, sich unerträglichen Strahlungsmengen auszusetzen. Selbst wenn das Schiff genau auf Kurs bliebe, würden wir am Ende sterben.«

Sie dachte darüber nach. »Dessen bin ich mir nicht so sicher. Zwischen Stern und Loch existieren beträchtliche Mengen Gase und Staub. Beides könnte durchaus als eine Art Schutzschirm funktionieren und das Schiff davor bewahren, zu heiß zu werden oder tödliche Strahlendosen zu absorbieren. Außerdem würde der Flug in dieser Zone nicht sehr lange dauern. Vielleicht ein paar kleine Manöver. Du brauchst nur nach geeigneten Gas- und Staubwolken Ausschau zu halten und sie zu durchfliegen.«

Sie war so lächerlich zuversichtlich! »Theoretisch ist das möglich. Aber ich sehe nicht ein, wie...«

»Aber ich kann es! Ich kann dir zeigen wie. Ich kann es für dich tun. Ich bin dein Transferer und deshalb eine Hälfte des Teams; gemeinsam können wir es schaffen!«

Ihr närrischer Enthusiasmus, der an seinen Nerven zerrte, war irgendwie ansteckend. Sein neuerwachter Drang zu leben ließ ihn sogar über eine derart phantastische Möglichkeit nachdenken. »So etwas - es wäre ein überaus langwieriges Unternehmen.«

»Als Alternative zu dem ausgesprochen kurzfristigen Unternehmen des Sterbens, ohne sich dagegen zu wehren.« Heem gab sich geschlagen. »Wir haben nichts zu verlieren, wenn wir wenigstens den Versuch wagen.«

»Oh, Heem, ich bin so stolz auf dich. Ich könnte dich küssen!« Und sie schickte einen seltsam erregenden Eindruck von einem physischen Kontakt durch sein Bewußtsein. »Was war das?« erkundigte er sich erstaunt. Sofort mimte sie Desinteresse. »Nur ein Ausdruck der - der Aufmunterung, Ermutigung. Was den Flug durch den Korridor betrifft...«

»Dein Erinnerungs-Traum«, ließ er sich nicht vom Thema abbringen. »Das Paarungs-Ritual deiner Spezies - dort gab es auch eine derartige Aktion. Symbolischer Kontakt zweier Körper.., «

»Ähnlich wie deine Nadelstrahlen der Begrüßung zwischen den Geschlechtern. Ich nehme an, es stellt eine Art analogen Vorgang zu - zu eurem nichtproduktiven Sex dar.« Ein warmer Geschmackseindruck formte sich hinter ihren Gedanken, eine Ablenkung, die nicht einmal als unangenehm empfunden wurde. »Ich glaube, ich erröte.« »Was heißt das?«

»Ist doch egal. Ich will jetzt versuchen, uns beide auf den Gesichtssinn zu fixieren. Machst du mit?«

Heem überließ ihr Organisation und Einteilung. »Ich bin dabei, Alien.« »Schön. Wir müssen dafür sorgen, daß eure Nervensignale sichtbar gemacht werden. Ich orientiere mich nach dem, was ich sehe. Du hast die Piloten-Fähigkeiten. Wir müssen deine Pilotenreflexe mit meinen Sichtreflexen verknüpfen und auf Sicht navigieren. Es handelt sich um einen Reflex und keine direkte Information, das ist das Entscheidende. Die Art und Weise der Interpretation. Denn die menschliche Koordination zwischen Hand und Auge - nun, sie sollte unsere Manövrierfähigkeit wesentlich steigern.«

»Ich werde dir deinen Willen lassen«, sprühte Heem. Er wollte nicht zugeben, daß er das Leben jetzt sehr reizvoll fand. Und dann dieser Kuß...

»Gut. Und nun versuch, dich meines Wahrnehmungssystems zu bedienen. Du hast es schon früher geschafft, ein wenig zumindest; jetzt ist der Reiz stärker. Identifiziere dich mit mir; denke genauso wie ich. Und sieh!«

Heem versuchte es. Er rief sich die knappen Lichteindrücke ins Gedächtnis, das Prinzip des Sehens. Er wünschte inständig, daß es ihm gelänge. Doch die Eindrücke waren völlig verschwommen.

»Jetzt schau nach vorn in die Raumregion zwischen Stern und Loch«, fuhr sie zuversichtlich fort. »Vielleicht solltest du dir vorher einen Geschmackseindruck verschaffen, den ich dann zu übersetzen versuche. Dann kannst du ja meinen Sinneseindruck übernehmen.«

Heem kostete die Düsenstrahlen seines Wahrnehmungssystems. Jessica übernahm sie und bemühte sich, diese Information in ihre Vorstellungswelt zu übertragen. »Paß auf, der Stern schmeckt hell, nein, er leuchtet hell, Licht, Strahlen, die Augen schmerzen links. Ach ja, du rollst, du kennst kein Oben und Unten oder Links oder Rechts. Nun, ich schon; richte dich nach mir. Das Loch ist ein schwarzes Nichts, dort rechts, eine Lücke im Bild. Wie Himmel und Hölle, doch für uns ist beides die Hölle, zwei mächtige Gravitationsschächte, und wir müssen versuchen, uns durchs Nadelöhr hindurchzufädeln - weißt du, was eine Nadel ist? Nein, natürlich nicht. Es ist ein Splitter aus Metall oder etwas, das sich durch Masse hindurchbohrt, dabei eine Leine hinter sich herzieht, und das ist der Faden. In diesem Fall unser Leben - wir fädeln uns also durch das Nadelöhr und bewegen uns in der Zone, wo das Licht in den Schatten übergeht, also in jenem grauen Streifen. O Himmel, dort ist nicht nur Licht, das ist ein Sturm! Ein riesiger Wirbel aus Gas oder Staub oder irgend etwas anderem, wodurch diese Niemandsland-Zone gekennzeichnet wird, und wir müssen dort hindurch, sie markiert unseren Flugkorridor, das ist das zu vernähende Material, es wird uns sicherlich vor der tödlichen Strahlung schützen, hoffe ich zumindest, und wie ich das hoffe...« Heem kostete es und versuchte, das Muster ihrer Sinneseindrücke zu durchdringen. Es gelang ihm nicht.

»Du wehrst dich, Heem, das fühle ich deutlich«, sagte sie. »Bist du immer noch ungehalten, weil ich eine Frau bin?« »Ja. Ich passe ebensowenig in deinen Geist wie du in meinen.« Aber andererseits, dieser Kuß...

»Betrachte es doch mal folgendermaßen, Heem: Wie würdest du lieber sterben, als ein einzelnes Individuum oder mit einer neugierigen weiblichen Alien in deinem Geist, die all deine geheimsten, letzten maskulinen Gedanken und Verfehlungen kennt?«

»Letzteres ist ja bereits der Fall«, düste Heem unwirsch. »Aber noch bist du nicht gestorben. Bist du denn nicht wenigstens daran interessiert, sauber zu sterben, ganz für dich allein?«

»Das schon.« Doch obwohl sie es sehr treffend ausgedrückt hatte, entsprach es nicht mehr ganz der Wahrheit. Er störte sich an ihrem Geschlecht, doch nun wurde ihm klar, daß darin auch ein durchaus reizvoller Aspekt liegen konnte.

»Dann mußt du in meinen Geist eindringen, um von ihm befreit zu werden. Ich kann nicht gerade behaupten, daß mir das angenehmer ist als dir, aber vielleicht sind Frauen eher daran gewöhnt, daß Männer ihnen auf die eine oder andere Art nahetreten. Ich will leben - und wenn das bedeutet, daß ich mir eine Manipulation meines Geistes, eine Verletzung meiner Intimsphäre gefallen lassen muß, dann kann ich nichts daran ändern. Wahrscheinlich hatte ich eine ganz andere Einstellung, ehe mir der Tod drohte und ich mir meiner wahren Lage bewußt war. Jetzt komm schon rein und benutze meine Synapsen, meine Wahrnehmungsorgane

- oder uns droht die allgemeine Vernichtung.«

Heem konnte dem nichts entgegenhalten. Er versuchte es erneut und zwang sein Wahrnehmungssystem, sich mit dem ihren zu vermischen, und ließ zu, daß sein Geschmackssinn in etwas völlig Fremdes verwandelt wurde. Sein gesamtes System wehrte sich dagegen, doch war die Aussicht auf einen Tod mit besetztem Geist, den sie prophezeit hatte, noch unangenehmer.

Aber seltsamerweise hatte er den Verdacht, daß er zu einem derartigen Versuch gar nicht fähig gewesen wäre, hätte sie nicht seinen anfänglichen Verrat gutgeheißen. Sie erschreckte ihn weniger als vorher. Daher konnte er sich bemühen, sich von ihr zu befreien, denn das Gefühl der Fremdheit ihr gegenüber hatte abgenommen. So unvorstellbar erschien es ihm nicht mehr, in Gesellschaft zu sterben.

»Heem, paßt du überhaupt auf?«

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den diffusen Bereich zwischen den Extremen Stern und Loch, denn dies war schließlich die Region, durch die sie hindurch mußten, wo die beiden Gravitationsfelder sich gegenseitig aufhoben und der Sturm die furchtbare Strahlung dämpfte. Es schmeckte grauenvoll, ein elementarer Sturm, der im gleichen Maß an- und abschwoll, wie die beiden monströsen Ursachen pulsierten.

»Nein, du schmeckst ja wieder«, protestierte Jessica. »Du mußt es sehen. Hier, mach's mir nach. Ich habe zwei Augen, daher kann ich auch in die Tiefe sehen - zumindest konnte ich das, als ich noch Augen hatte -, aber stör dich nicht daran. Besonders gut kann ich nicht sehen, zugegeben, aber ich weiß, daß es zu schaffen ist. Was letztendlich zähltest das, was ich in meinem Geist habe, nämlich eine bildliche Vorstellung in allen Einzelheiten. Du kannst räumlich sehen - hämmere dir das in deinen Geist. Was weiter entfernt ist, sieht kleiner aus, obwohl du weißt, daß es das in Wirklichkeit nicht ist. Geröll umgibt das Loch, denn es gibt keinen Sonnenwind, der es davonwehen könnte; ein Komet, der dort eindringt, hätte keinen Schweif mehr. Demnach wird eine Unmenge an Gas vom Stern in den Raum geschleudert und ordnet sich rings um das Loch an. Es kann nicht hineinstürzen aufgrund der Kreisbahnbewegung, genauso wie wir nicht hineinstürzen können. Wir müssen auf einer Spiralbahn hineinfliegen - und darin liegt unsere Rettung, denn wenn es etwas gibt, was sich der Kraft eines Schwarzen Lochs widersetzen kann, dann ist dies die Kraft eines größeren Sterns. Dieses Loch ist sehr klein, nur ein paar Kilometer im Durchmesser, da bin ich sicher. Könnten wir es tatsächlich sehen, wäre es kleiner als ein Planet, kleiner als ein Mond, doch sehr dicht, sehr intensiv, während ein Stern tausend- vielleicht sogar millionenmal so groß ist. Der Gravitationsschacht des Sterns ist viel mächtiger, umgibt jedoch den des Lochs - tatsächlich befindet das Loch sich in einer Umlaufbahn um den Stern, oder zumindest umkreisen beide einen gemeinsamen Mittelpunkt - wiederhole ich mich? - und wir müssen auf einer geraden Bahn durch dieses Zentrum hindurch...«

»Keine gerade Bahn, du Plaudertasche«, korrigierte Heem sie. »Eine parabolische Kurve wahrscheinlich, auf der die wirkenden Kräfte sich gegenseitig aufheben. Sieh doch, der im Zwischenraum befindliche Nebel hat sich stellenweise in einer Kurve um das Loch angeordnet und umschließt es in einem...«

»In einem Viertelmond...«

»Dieser Kurve müssen wir mit hoher Geschwindigkeit folgen.«

»Du hast es gesehen!« rief sie reichlich verspätet. »Du hast >sieh doch< gesagt!«

»Ich hab' es - gesehen«, bestätigte Heem zweifelnd. Er war von ihrem

Geplapper abgelenkt worden und hatte unaufmerksam gedüst. Allerdings hatte er sich ihrer Kommunikationsweise bedient.

»Konzentriere dich, Heem! Bemühe dich, es deutlicher werden zu lassen! Du stehst so dicht davor - oh, ich könnte dich schon wieder küssen!«

»Untersteh dich!« sprühte Heem. Aber nicht mehr so heftig, wie er es normalerweise getan hätte.

Sie lachte. »Ich ärgere dich doch nur. Niemals würde ich so etwas Schreckliches tun. Sieh doch - die Viertelmondzone, dieses schüsselförmige Gebilde, welches das Loch umschließt -, wenn du es sehen kannst, dann kannst du auch hindurchfliegen, denn du bist ja ein hervorragender Pilot. Du brauchst nur entsprechende Informationen und Reflexe. Du kannst es, ich weiß, daß du es kannst!«

Heem versuchte es, doch der kurze Lichteindruck war schon wieder verblaßt. »Ich bin mir da nicht so sicher - was immer es war, es ist verschwunden.«

»Aber du hast es wahrgenommen, Heem! Ganz bestimmt! Versuch es nochmal!«

Er gehorchte, kam aber nicht weiter.

»Nun gut - dann müssen wir uns auf Umwegen herantasten«, entschied sie. »Paß mal auf, wir können doch Bilder austauschen. Zum erstenmal gesehen hast du, als du dich an Vergangenes erinnert hast; von dort aus mußt du weitergehen.«

»Erst einmal muß ich das Schiff ausrichten«, düste Heem. Er manövrierte sorgfältig und behutsam, programmierte das Schiff mit dem Geschmack der Nebelhülle und überließ es dann sich selbst. Er sparte damit Treibstoff, nun da er vielleicht noch weitere Verwendung dafür hatte.

»So - ich stelle mir jetzt wichtige Szenen aus meiner Vergangenheit vor, und du kostest Szenen aus deiner Jugend, und dann versuchen wir beide, sie in Sichtbilder umzusetzen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob das eine wissenschaftliche Methode ist, aber ich habe so ein Gefühl, als müßte es klappen. Wenn du erst einmal deine eigene Vergangenheit sehen kannst, müßtest du auch alles andere sehen können - und dort liegt der Schlüssel zu unserem Überleben. Möglich, daß ich auch meine eigene Vergangenheit schmecke und eine Vorstellung von dieser Wahrnehmungstechnik bekomme.«

»Wir müssen es geschafft haben, ehe wir die Nebelhülle erreicht haben«, düste Heem. »Wenn wir erst einmal dort sind, dann muß ich mich auf die Steuerung des Schiffs konzentrieren und dafür sorgen, daß es in keinen der Gravitationsschächte stürzt. Auch die geringsten Kursänderungen können dabei lebenswichtig sein. Wenn ich dabei versage, war alles andere umsonst.«

»Wieviel Zeit haben wir noch?«

Heem nahm einige Umrechnungen vor. »Ich schätze zwei Chronosprühs etwa eine Stunde nach deinem Zeitmaß. Wir haben uns stetig genähert und beschleunigen jetzt im Freifall. Verglichen mit unserer früheren Geschwindigkeit ist am Ende unser Tempo enorm.«

»Eine Stunde!« rief sie. »Dann müssen wir uns aber beeilen!« Sie tauchte in ihre erste Vision ein und rollte ihn mit.

Jessica funkelte ihren Bruder trotzig an. »Jesse, ich weigere mich entschieden, so etwas noch einmal mitzumachen! Diese schreckliche Kuh - wie konntest du nur?«

Ihr Klon-Bruder spreizte die Hand in einer beschwichtigenden Geste. Er war ein schmächtiger, aber durchaus attraktiver junger Mann mit dunkelblauem Haar, das ihm in Locken in den hellblauen Nacken fiel, und mit ebenso blauen Augen. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, in ihrer Perfektion fast schon nichtssagend. An ihm war nichts übermäßig Aggressives oder Maskulines. Was natürlich von Vorteil war, denn die Gesichtszüge des Klon-Paares waren identisch. Doch wenn sie sich eine weibliche Perücke aufsetzte, war sie rundum eine Frau.

»Diese Kuh war die reinste Herausforderung, Jessica. Wärest du ein Mann, dann würdest du das verstehen. Nicht gerade der Typ, mit dem ich mein Leben teilen möchte, doch ansonsten...! Was für eine heiße Nummer!«

»Aber ich bin kein Mann, und ich verstehe nicht! Warum soll ich bei deinen Eskapaden immer die Leidtragende sein? Ich führe ein eigenes Leben, vergiß das nicht!«

»Aber nicht als mein Klon, hörst du!«

»Verdammt noch mal! Immer kommst du damit! Angenommen, du wärest mein Klon? Es ist einfacher, ein X-Chromosom zu entfernen als eines hinzuzufügen.«

Er hob eine Augenbraue. »Das, liebe Klon-Schwester, kommt auf die Technologie an. In unserem Fall hielt man es für geraten, den X-Faktor aus einer anderen Samenzelle derselben Bank mit einem geklonten Embryo zu verschmelzen, deshalb...«

»Ich kann nichts erkennen«, beschwerte Heem sich. »Ich schmecke die Unterhaltung, doch die Farbe des Pelzes - der Haare - kommt nicht durch.«

»Das ist doch erst der Anfang«, beschwichtigte Jessica ihn. »Eine Art Einstimmung. Jetzt tauche du einmal in deine Erinnerung, und ich werde versuchen, sie - sichtbar zu machen. Das machen wir jetzt abwechselnd, bis uns eine Verbindung gelingt.«

Die Arena befand sich auf neutralem Gebiet: in der Tropenregion der Erbs. Erbs bevölkerten den Zuschauerbereich, wo sie ihre Wurzeln gespannt in den Boden gebohrt hatten. Es machte ihnen Spaß, den Kämpfen zwischen Squams und HydrOs zuzusehen.

Heem rollte auf das Feld, um auf seinen Gegner zu treffen. Der Streit ging um fünf Täler entlang der Grenze: sollten sie von den HydrOs oder den Squams kontrolliert werden? Die Squams hatten die Gegend bereits erforscht, nahmen sie doch an, daß sie ihrem Gebiet zugeschlagen würde; Heem war ab und zu Zeuge dieser Aktivitäten geworden. Deshalb war er hier; er hatte ein ganz spezielles Motiv für seine Kampfbereitschaft. Diese Auseinandersetzung würde die Entscheidung bringen, ob Schlängelschrecks Arbeit sich für die Squams auszahlte.

Unglücklicherweise war es nicht Schlängelschreck, der das Duell ausfechten sollte, sondern ein anderer Meister der Squams. Voller Selbstvertrauen, ja, fast schon gelangweilt wand die Kreatur sich über den Boden, wußte sie doch, daß kein HydrO einem Squam gefährlich werden konnte. Allerdings hatte bisher kein Squam mit einem HydrO seine Kräfte gemessen, der so streitbar und erfahren war wie Heem...

»Nein, nicht diese Erinnerung; das ergibt viel zu viel Aktion und zu wenig Szenerie. Wir brauchen eine hauptsächlich visuelle Erinnerung, etwas Bildhaftes, Farbe, etwas Handfestes. Geh zurück nach Morgendunst.«

Heem begab sich ins Morgendunsttal, obgleich er sehr gerne seinen Sieg über den Squam-Meister vorgeführt hätte - immerhin hatte dieser Sieg ihn zu Heem, dem Helden unter seinesgleichen, gemacht. Für eine Weile jedenfalls.

Er erinnerte sich an den Geschmack seines Erwachens unter Wasser, wie er begriff, daß er den Zusammenstoß mit Schlängelschreck überlebt hatte, es ihm aber nicht gelungen war, den Squam zu töten. Das Wasser um ihn herum schmeckte sauer nach seiner Scham über dieses Versagen.

»Aber Wasser kann nicht gesehen werden«, sagte Jessica. »Es ist grünlich, manchmal blau...«

»Es schmeckt grün«, düste Heem.

»Nein, nein! Es sieht grün aus! So wie dies!« Und sie entwickelte die Vision von einem kleinen See auf ihrem heimatlichen, menschlichen Landsitz. »Grün.« Sie reagierte mit einem unwilligen mentalen Kopf schütteln.

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»Oh, jetzt habe ich die Erinnerung übernommen! Eigentlich sollte das deine Vision sein. Ich bin dabei nur Beobachter.« Sie konzentrierte sich. »So, ich ziehe mich wieder in den Hintergrund zurück - so wie jetzt.«

Dieses Spiel der Geschmacksnuancen war ein interessanter Effekt. »Wie jetzt?« wiederholte Heem, wobei er ihren Rückzug imitierte.

»Verschwinde gefälligst in deiner Erinnerung!« schnappte sie.

Er rollte aus dem Wasser heraus und versuchte seine grüne Farbe zu schmecken und seine Nässe zu sehen. Er kehrte in Schlängelschrecks Lager zurück. Wie er es befürchtet hatte, war der Squam verschwunden und hatte seine gesamte Ausrüstung mitgenommen bis auf die defekte Maschine, die Heem umgekippt hatte. Die Höhle war völlig leer.

Aber vielleicht könnte er den Squam wieder aufstöbern und ihn dann töten. Heem wußte nun, daß auch andere Täler existierten, und er wußte auch, wie er es schaffte, daß Flachsegler ihn hintrugen, wohin er wollte. Und, vielleicht, wußte er auch, wie man mit einem Squam fertig wurde. Man brauchte die Bestie nur an einen ungünstigen Ort zu locken, wo sie vom Absturz bedroht wäre, dort ihre Gliedmaßen unschädlich zu machen, und sie dann hinunterstoßen...

»Die Landschaft, Heem - wie sieht sie aus?«

Heem konzentrierte sich auf den Geschmack von Boden, Wasser und Pflanzen. Etwas ölige Substanz war aus der abgestürzten Maschine herausgesickert und hatte den Boden mit ihrem Aroma getränkt.

»>Sieh dir das an!« Der Geschmack tiefroter Tannen mit grünen Nadeln versetzt machte sich breit, als wäre er über dem Tal Morgendunst ausgeschüttet worden. Oder rote Nadeln mit grün schmeckendem Holz.

Doch wenn er versuchte, alles zu sehen, schlüpfte er beinahe in diese Szene hinein. Jessica und ihr Bruder wandelten, als Weibliche verkleidet, durch den Wald ihres Landsitzes. Jesse bekräftigte seine Abmachung mit ihr, ihr in Frauengestalt ein Alibi zu verschaffen. Jedoch war es nicht zu übersehen, daß ihn sein Vorhaben in keiner Weise schreckte; er betrachtete die Episode als ein Spiel.

»Nein, dorthin will ich nicht!« protestierte Jessica.

»Aber ich glaube, ich fange an zu sehen...«

»Nein!«

»Für jemanden, der mich so lange genadelt hat, bis ich meine geistige Intimsphäre öffnete...«

»Ach - ich denke, das habe ich verdient. Na schön, Heem, wenn du es sehen kannst, dann schau ruhig zu. Meine erste sexuelle Vorstellung als

Frau.«

»Ich kann es nicht sehen«, gestand Heem. »Ich nehme starke Geschmacksreize auf, jedoch...«

»Es war sowieso nicht besonders«, meinte sie erleichtert. »Jesse hänselte mich noch Monate danach mit Geschichten von Kühen und Bullen, von Gänsen und Gantern, und es machte ihm richtig Spaß. Er hatte nicht ganz unrecht. Ich hab's getan, hatte jedoch nicht viel Vergnügen dabei. Gelegenheitssex - das ist nichts für - ich meine, es sollte schon ein etwas tieferes Gefühl dabei sein - ach, du bist ja ein Mann, du würdest es sowieso nicht verstehen.«

»Richtig.«

»Später vertrat er mich bei einer Klon-Party. Danach kamen wir besser miteinander zurecht; wir verstanden uns gegenseitig viel besser. Du denkst vielleicht, daß Klons sich von Anfang an gut verstehen, aber unsere Erfahrungen waren unterschiedlich, und dann der geschlechtliche Unterschied...« Sie verstummte.

»Ich wünschte, ich könnte sehen - dich sehen«, sagte Heem.

»Warum, Heem?« rief sie geschmeichelt. »Auch wenn du mich als Squam betrachtest?«

Heem war davon längst abgekommen. Er hielt sie nun für eine Person; sie zu sehen, würde lediglich ihre Fremdheit bestätigen. Er hatte daran gedacht, sie zurückzuhalten, wußte er doch, daß sie es nicht leiden konnte, ohne ihr Gewand betrachtet zu werden, aber dann hatte er sich zurückgehalten. Er wollte sie sehen, und zwar nicht als eine Squam. Er hatte wenig Interesse an Sex mit einer Alien, daher war ihre Episode nicht so wichtig, doch sie noch deutlicher wahrzunehmen, als sie normalerweise erschien - warum reizte ihn diese Vorstellung so sehr?

Er zog sich in seine eigene Erinnerung zurück. Als er das MorgendunstTal verließ und über die Bergkette in ein weites Hochland mit unterschiedlichen Aromen gelangte und die Spuren unbekannter HydrOs entdeckte, litt er kurzzeitig unter Desorientierung. Er bremste den Flachsegler und rollte herunter. Was stimmte nicht? Er war unfähig, sich zu konzentrieren, zu funktionieren, dabei war es eher ein inneres als ein äußeres Übel. Er stoppte.

Lange Zeit blieb er auf dem Fleck liegen, wo er angehalten hatte. Sein Bewußtsein kam und ging. In seinem Geist bildeten sich seltsame Ideen und Konzepte. Was... warum... ?

»Heem - was ist los? Ist dir schlecht?«

Er reagierte nicht auf den störenden Gedanken. Seine gesamte Vergangenheit schien um ihn herumzuwirbeln und verdampfte und verfestigte sich auf verwirrende Weise. Seine Jugend im Steilfall-Tal, der Tod seiner Geschwister, seine Ankunft im Morgendunst-Tal, Schlängelschreck...

»Heem, dieser Nebel kommt immer näher! Wenn wir es mit dem Sehen nicht schaffen und den Antrieb des Schiffes nicht bald aktivieren...«

Moon von Morgendunst, die vergnügliche Entdeckung der Kopulation, dann Tragödie, der Feldzug gegen den bedrohlichen Squam...

»Ich kann es nicht allein bewerkstelligen! Ich bin kein Pilot, Heem. Du mußt endlich zu dir kommen!«

Heem bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Mehr und mehr kam es ihm so vor, als hätte er zu übereilt gehandelt, indem er sich erst mit einzelnen Details beschäftigte anstatt mit dem Großen, Ganzen. Er hatte physisch gegen einen einzigen Squam gekämpft, als er eigentlich die Umstände und Bedingungen hätte vernichten sollen, die einem solchen Feind Zugang zu einem Tal der HydrOs gestatteten. Er hatte sich geweigert, den Keim des Lebens im Tal zu hinterlassen, weil damit die Schrecken seiner eigenen Entwicklung wieder aufgelebt wären; er hätte die Herkunft der Squams erforschen müssen, um derartige Invasionen von vorneherein zu verhindern. Es hätte irgendwo Elternsquams geben können, die diese Kreaturen in hellen Scharen aussandten, um Täler zu entvölkern; dort hätte er zuschlagen müssen! Tatsächlich erschien jegliche sofortige persönliche Aktion sinnlos; erst einmal mußte man alles verstehen. Hätte er anfangs das Wesen der Squams begriffen...

Endlich wurde er von anderen HydrOs entdeckt. »Das schmeckt wie eine frühere Metamorphose«, sprühte einer.

»Prüf es nach«, düste ein zweiter.

Der erste nadelte Heem direkt an. »Wer bist du?«

»Heem von Steilfall«, nadelte Heem schwach, wobei er sich an einen Geschmack erinnerte, der fast verflogen war.

»Wie lautet dein Vorhaben?«

Vorhaben? Heem dachte angestrengt nach. Da war etwas mit einem tödlichen Gegner gewesen, ein Kampf - aber die Erinnerung verblaßte, als er nachhaken wollte. »Mein Vorhaben...« Irgendwie erschien alles unwichtig. Reiß dich zusammen, konzentriere dich! »Mein Vorhaben ist - das Verstehen zu erleichtern.« War das richtig? Irgendwie war er nicht fähig, sich auf irgend etwas Spezielles zu konzentrieren. Er konnte sich nicht erinnern...

»Willkommen im Kreis der Erwachsenen, Heem von Steilfall«, sprühte der HydrO. »Roll mit uns, und wir machen dich mit der Zivilisiertheit bekannt.«

»Metamorphose!« rief Jessica. »Dennoch...«

»Das ist es!« sprühte Heem. »Ich muß eine weitere Metamorphose durchmachen. Zum Zustand des Sehenkönnens.«

»Aber ich verstehe das nicht. In unserer Sphäre verwandeln Raupen sich in...«

»Alle HydrOs machen eine Metamorphose zum Erwachsenenstadium durch und vergessen dabei die Erlebnisse ihrer Jugend. Daher besitzt kein reifer HydrO ein subjektives Empfinden für Jugend oder Alter, für Entwicklung und Verfall. Durch die Metamorphose betritt er ein völlig neues Universum: die Zivilisiertheit. Und ich muß jetzt ins Universum des Sehens gelangen.«

»Aber du erinnerst dich doch...«

Abrupt drang er in sie ein. Sein Bewußtsein kreiste durch ihre Aura. Sie stieß einen unterdrückten Schreckensschrei aus, verschluckte ihn jedoch. Denn dazu hatte sie ihn ja die ganze Zeit gedrängt.

Und er konnte sehen. Die aktuellen Geschmackseindrücke vom Schiff verwandelten sich augenblicklich in optische Reize. Die Kontrollknöpfe hatten Erhebungen und Schatten und Tiefe, von oben beleuchtet vom Schimmer der Strahlungskontrollöffnung, dem Licht des Sterns. Die Wände wiesen Vorsprünge und Unregelmäßigkeiten auf und...

»Auch Farbe! Sieh doch die Farben, Heem!«

Graue Schatten mit grünen Flecken, die das abgeflossene Beschleunigungsbad hinterlassen hatte.

»Ich meinte draußen. Sieh doch den Schlüsselnebel!« Heem konzentrierte sich - und in einem weiteren Anfall von Sinneseindrücken nahm er den Nebel wahr, sah er die Schüsselform. Das Ding war undurchsichtig, wolkig, nebulös - wie sollte es auch anders sein! -, aber er nahm es mit einer Klarheit wahr, zu der sein Geschmackssinn niemals fähig gewesen wäre. Er sah Tiefe; die ihm nächste Seite schien tatsächlich größer zu sein als die ferne Seite, doch diese Verzerrung verlieh der Erscheinung eine Großartigkeit, die er anders nie wahrgenommen hätte. Er sah Gaswolken und Staubwirbel, die zwischen den widerstreitenden Gravitationsschächten hin und her gezerrt wurden und sich zum Teil auf Umlaufbahnen um Loch und Stern bewegten. Ihre Sternenseiten waren hell, ihre Lochseiten waren dunkel, und sie schienen sich wie die Körper monströser, deformierter Squams zu winden, wobei ihre Bewegungen im Moment seines Hinschauens.

»Ich sehe es«, nadelte Heem. »Eine neue Dimension der Wahrnehmung, fremd, schrecklich, wunderbar.«

»Und jetzt kannst du das Schiff lenken!« rief Jessica. Ihre Stimme ließ sich nicht mehr eindeutig erkennen wie vorher, denn er hatte sich eines großen Teils ihrer Aura bemächtigt, doch auch ihre verminderte Präsenz wirkte auf ihn ermutigend. »Ebenso wie du dich durch das Begriffsmuster hindurchlaviert hast, um zu diesem Schiff zu gelangen! Du kannst das Schiff geradewegs durch die Zwielichtzone hindurchsteuern.«

Fast war Heem davon überzeugt, daß ihm das gelänge. Auf jeden Fall war es eine würdige Aufgabe! Trotzdem mußte er ihre Begeisterung dämpfen. »Der Flug wird extrem schwierig. Noch niemals zuvor hat ein Vertreter meiner Spezies etwas Derartiges riskiert.«

»Weil deine Rasse bisher auch nicht sehen konnte!« hielt sie ihm begeistert entgegen. »Sicht ist die Sprache der Astronomie. Selbst wenn du die Sprühsignale der Schiffsinstrumente schmeckst, siehst du in Wirklichkeit - denn die Sensoren des Schiffs arbeiten ausschließlich optisch. Das müssen sie auch. In meinem eigenen Körper konnte ich die Sterne direkt sehen. Daher nehmen wir nun eine doppelte Übersetzung vor, von der Sicht zum Geschmack und wieder zur Sicht. Und mit dem Gesichtssinn können wir Dinge tun, die uns allein mit dem Geschmack nicht möglich wären, denn der Gesichtssinn arbeitet viel schneller. Deshalb weiß ich genau, daß wir...«

»Genug!« nadelte Heem. »Unsere Chancen bleiben weiterhin ungünstig.«

Doch nun hatte er seine Chance und sein Ziel. Heem konzentrierte sich, benutzte ihren Gesichtssinn und entwickelte seinen eigenen. Er sah das Glitzern planetarischer Fragmente, die um das Loch kreisten; tatsächlich handelte es sich um mächtige Ringe, die von der Sternseite her beleuchtet wurden, wobei die kristallinen Bestandteile lustig funkelten. Es gab in diesen Ringen deutlich wahrnehmbare Strudel, farblich unterschiedliche Zonen, die auf die Kräfte hinwiesen, die dort wirksam waren. Weiter vom Loch entfernt waren die Ringe gröber und hell und bestanden aus größeren Fragmenten; näher auf die Horrorsphäre des Nichtlichts zu bestanden die Ringe aus weißem Pulver, waren doch die größeren Steinbrokken von der fürchterlichen Gravitationskraft des Lochs zu Staub zermalmt worden. Denn je näher sich ein Objekt dem Primarkörper näherte, desto schneller mußte es sich auf seiner Umlaufbahn bewegen, und in einem Gravitationsschacht wie diesem mußten sich die ringinneren Gesteinsmoleküle schneller bewegen als die ringäußeren, wodurch der gesamte Brocken zersprengt wurde.

Und auch das Schiff würde dasselbe Schicksal erleiden, falls es in diese Zone geriet. Wenn das Ringen zwischen Stern und Loch zu heftig wurde, würde das Schiff sowieso zerrissen. Es sei denn, sie passierten die kritische Zone so schnell wie möglich. Eher schnell genug.

Sie stürzten auf das Loch zu und beschleunigten in der FreifallSpiralbahn. Heem richtete seine Düsen aus und aktivierte den Schiffsantrieb. Zuerst mußte er die Richtung des Freifalls korrigieren, damit er den Schüsselnebel der Interaktionszone erreichte. Zweitens mußte er so schnell wie möglich hindurchfliegen. Wenn auch die wirkenden Kräfte nicht so vernichtend wären, so verhielt es sich mit der Strahlung etwas anders. Er konnte sie jetzt sehen, diese intensive, brennende Helligkeit des Sterns. Das war nichts für lebende Wesen! Glücklicherweise ging etwas Kraft verloren, wenn die vereinigten Gravitationsschächte zweier stellarer Objekte das Schiff anzogen.

Nun veränderten die Materieringe ihre Lage, als durch das Herumschwenken des Schiffs der Sichtwinkel wechselte. Perspektive - das Wunder eines sich ändernden Anblicks, eine Steigerung der Realität des Sehens. Die Ringe wanden sich wie monströse Pythons durch den Raum - Jessicas Bild von einem squamähnlichen solarischen Monster -, die scheinbar zum Leben erwachten. Beide, Stern wie Loch, dehnten sich bedrohlich aus. Ebenso verhielt es sich aber auch mit dem Nebelsturm. Es war klar, daß Heem daraus seine Vorteile ziehen konnte. Mit einer Wahrnehmung wie dieser war die Steuerung des Schiffs kein Problem. Jedoch erschien die Turbulenz großräumiger. Würden sie diesen furchtbaren Interaktionskräften widerstehen können?

»Natürlich können wir!« vertrieb Jessica seine Zweifel mit einer nunmehr schwachen, aber überzeugten Stimme. »Gib volles Rohr, Heem, und dann ab mit dem Faden durchs Nadelöhr!«

Sie hatte wirklich Selbstvertrauen! Es war überaus schmeichelhaft für ihn, aber nichtsdestotrotz töricht; diese Nadel stach mitten in die Hölle.

Die Strahlung verschlimmerte sich. Sehr viel davon, klärte Jessica ihn auf, befand sich nicht im sichtbaren Spektrum, deshalb sah sie davon auch nicht mehr als Heem. Doch die Strahlung war da, heizte das Schiff auf und attackierte dessen Hülle. Heem würde einen Kurs suchen müssen, der soviel Gas und Staub wie möglich zwischen das Schiff und den Stern bringen würde - und das bedeutete, in gefährlicher Nähe zum Loch zu manövrieren. Der geringste Fehler würde sie ins Loch stürzen lassen, wo noch nicht einmal die Nähe des Sterns einen Schutz darstellte.

Als sie sich dem kritischen Punkt näherten, veränderte sich der Anblick noch schneller. Der wirbelnde Nebel, vor der riesigen blendend hellen Scheibe des Sterns nur eine zwergenhafte Erscheinung, ließ seinerseits das Loch winzig klein erscheinen. Aber es war das Loch, das für sie die größte Gefahr darstellte. Heem lenkte das Schiff unmerklich noch näher heran, um so dicht wie irgend möglich daran vorbeizufliegen, wozu die unerträgliche Strahlung ihn zwang.

Staubwolken huschten an der dem Stern zugewandten Seite vorbei und spendeten dem Schiff Schatten; dennoch war die Hitze enorm. Sein Körper hatte keine Möglichkeit, die Hitze abzustrahlen, da sie von außen eindrang. Die gegeneinander wirkenden Kräfte, die sich nahezu neutralisierten, steigerten sein Unbehagen. Sein Körper wurde zwar nicht zerrissen, doch er wußte sehr wohl, daß eine Steigerung dieser Belastung durchaus eine solche Wirkung haben könnte. Eher würde das Schiff im Widerstreit der Kräfte mitten durchgebrochen, und Heems weicher Körper würde ungeschützt dem Weltraum ausgesetzt. Das machte das ganze Unternehmen objektiv und subjektiv noch weitaus unangenehmer, als es wirklich war. Das kleine Schiff war nicht dafür gebaut, einer solchen Belastung standzuhalten.

Der Nebel wuchs. Nun erkannte Heem jedes Detail seiner Struktur. Tatsächlich erschien er völlig unbeweglich, doch Heems Eigenbewegung vermittelte ihm den Eindruck, als wäre auch der Nebel aktiv. Masse und Energie wurden vom Stern in den Raum geschleudert und wirbelten ins Loch; der Nebel war lediglich eine Zone der Instabilität, in der sich die Trümmer sammelten und verharrten, aus der sie aber auf den Stern zurückstürzten. Das meiste raste jedoch auf das Loch zu und hinterließ einen leeren Raum. Wie war es wohl in dieser Schüssel?

»Oh, die Hitze!« schrie Jessica. »Vielleicht ist es dort kühl!«

Dann tauchten sie immer noch beschleunigend in die Schüssel ein. Wie abgeschnitten verschwand das Licht. Heem, der gerade erst das Phänomen des Sehens kennengelernt hatte, erlitt einen Schock. »Ich kann nicht mehr sehen!«

»Ich weiß, was du empfindest«, tröstete Jessica ihn. »Aber du kannst immer noch schmecken. Draußen ist nur eine Wolke, die die Strahlung absorbiert, hier im Schiff hat sich nichts verändert. Die Wolke schirmt das Schiff ab, so daß wir abkühlen können, und sie schützt uns vor der tödlichen Strahlung.«

Das Schiff schüttelte sich und bockte. »Eine Sturmwolke!« sprühte Heem.

»In der bleiben wir nicht lange«, versicherte sie ihm. Sie war erstaunlich ruhig.

Und dann waren sie draußen. Aber nicht im Licht. Sie befanden sich im mächtigen Schatten der Schüssel. Auf der einen Seite waren die umherwirbelnden Wolken zu erkennen, und auf der anderen Seite zeigte sich ein Ring aus Sternen. Im Zentrum dieses Rings wurden die Sterne rötlich, blaß, verschwommen und verschwanden schließlich. Ihr Licht konnte nur bis zu einer bestimmten Grenze vordringen, daher war nichts mehr zu sehen. Nur ein großer schwarzer Fleck. Das Loch.

Heem löste seinen Blick von dem schrecklichen Schacht und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Sterne. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Nicht in dieser Weise, in direkter Sicht. Sie flimmerten in myriadenfacher Vielfalt, vorwiegend weiß, einige bläulich oder rötlich, einige hell, viele gedämpft. Sie füllten das Universum...

Sie waren verschwunden. Wieder hatte der Nebel sich um das Schiff geschlossen und schirmte alles ab, da sein Bogen breiter war als die Schüssel. Und wieder erschütterte eine Sturmböe das Schiff, und Heem mußte auf die Kontrollinstrumente achten. Die Balance zwischen Stern und Loch blieb eine heikle Angelegenheit.

Dann bemerkte er etwas anderes. Etwas fehlte. »Jessica?«

Wie aus weiter Ferne antwortete sie: »Hier bin ich, Heem.«

»Geht es dir gut? Deine Präsenz scheint abgenommen zu haben.«

»Ich - ich glaube es auch. Als du in meine Aura eindrangst - ich - von mir ist ja nicht mehr hier als nur meine Aura, deshalb - ich glaube, ich bin dabei, meine Identität zu opfern.«

»Fremde, ich wollte dich nicht auslöschen! Du wolltest doch, daß ich...«

»Ja, ja, das wollte ich auch, Heem. Ich hab' dich gedrängt, dich meines Wahrnehmungssystems zu bedienen, und zwar jeder Möglichkeit bis hin zur Farbensicht. Ich hatte nur nicht geahnt, wie grundlegend dieser Eingriff wäre.«

»Ich ziehe mich zurück.«

»Nein! Du mußt sehen können! Du mußt das Schiff von hier wegbringen, ehe die einander entgegenwirkenden Gravitationsschächte und Kraftfelder und die Strahlung und der Sturm uns vernichten.«

Das Schiff tauchte aus dem Nebel auf. Und man konnte wieder hinausschauen. »Ich versuch's«, versprach Heem. »Wir behalten unsere Beschleunigung bei. Ich muß eine Position weit genug vom Stern entfernt finden, um eine Schädigung durch seine Strahlung zu vermeiden, und weit genug vom Loch entfernt, um genügend Fluchtgeschwindigkeit beizubehalten. Wenn mir das gelingt und der Treibstoff ausreicht...«

»Oh, du schaffst es schon!« rief sie. »Ich weiß, daß es dir gelingt. Ich ziehe mich am besten zurück, damit du beim Lenken des Schiffs nicht gestört wirst.« »Einverstanden.« Das Ganze ähnelte stark seinen Manövern in der Säulenformation, nur waren in diesem Fall die Alternativen absolut tödlich. Wenn er sich nicht innerhalb gewisser Toleranzgrenzen halten konnte, dann würden sie Opfer der einen oder der anderen Gefahr.

Grundsätzlich kam es nur auf den Treibstoff an. Er mußte sich aus dem Anziehungsbreich des Lochs befreien und immer noch in der Lage sein, auf einem Planeten zu landen. Das hing von der Genauigkeit ab, mit der er durch das Nadelöhr geflogen war. Es gab keinen sicheren Bereich; Stern und Loch waren bereit, ihn an sich zu reißen, je nachdem, zu welcher Seite er abdriftete. Nun, da er keinen geraden Kurs mehr flog, würde er nicht direkt in einen der Gravitationsschächte hineinstürzen; er würde auf eine sich verkleinernde Umlaufbahn um Stern oder Loch einschwenken, doch das Ende wäre unvermeidlich.

Nun mußte er feststellen, wie genau er das Schiff auf Kurs gehalten hatte, wobei er seinen neuen Gesichtssinn benutzte. Er stoppte den Antrieb. Das Schiff setzte seinen Flug im Freifall fort, entfernte sich dabei vom Nebel, verlor jedoch an Geschwindigkeit. Bald schon würden seine Instrumente Stillstand melden, und die Katastrophe wäre vollkommen. Der Schaden war bereits angerichtet, entweder durch seine Fehleinschätzung oder durch die Turbulenzen des Nebels. Er wartete nur darauf, daß er sich bemerkbar machte.

Und - die Aussichten waren günstig. Die Stern-Loch-Formation wich allmählich zurück, zwar zunehmend langsamer, aber er bewegte sich noch immer mit einer hinreichenden Restgeschwindigkeit. Die Strahlung ließ nach. Die Wirkung der Kraftfelder verminderte sich. Es schien, als reichte seine Geschwindigkeit aus - falls er noch in der richtigen Richtung unterwegs war.

Als das Schiff seinen Flug fortsetzte, wurden die Zeichen deutlicher. Er war auf das Loch hin abgewichen. Doch sein neuerworbener Gesichtssinn und seine Beurteilung der Situation zeigten ihm, daß die Flugbahn des Schiffes weit genug am Loch vorbeiführte, so daß das größere Feld des Sterns dominierte. Wahrscheinlich würde er sogar noch dichter am Loch vorbeisteuern müssen. Damit erlebte er einen Konflikt zwischen seiner üblichen Wahrnehmung und seiner Sicht-Wahrnehmung. Es handelte sich nicht nur um eine unterschiedliche Perzeptionsweise, sondern auch um ein unterschiedliches Verständnis. Jessicas menschlicher Geist arbeitete nach einer völlig fremden Logik. Heem beschloß, das Risiko einzugehen und sich darauf zu verlassen.

Als er sich auf die Flugbahn konzentrierte und auf den richtigen Moment zur Kurskorrektur wartete, huschten Erinnerungsfetzen durch sein Bewußtsein. Der Tod des Gutsbesitzers, eine prächtige Begräbnisfeier, das

Erbe des Titels - doch all dies ergab für ihn keinen Sinn. Seine Rasse kannte kein subjektives Bewußtsein des Todes, kannte kein bewußtes Erwachsensein und deshalb auch keine Übergangsriten. HydrOs hatten keinen Besitz und deshalb auch kein Erbe. Dies waren die Erinnerungen des solarischen Geistes. Er war so tief eingedrungen, daß Jessicas Erinnerungen ihm vorkamen wie seine eigenen.

Und zwar sehr stark wie seine eigenen - denn diese waren verboten. Kein echter HydrO erinnerte sich an sein Jugendstadium. Heems Metamorphose war unvollständig, und das machte ihn zum Nichterwachsenen. Demnach wären die Erinnerungen einer weiblichen Alien normalerweise für ihn verboten gewesen.

Nun verschmolz ihr Status mit seinem und mit dem gegenwärtigen Problem. Im Weltraum wirkten tödliche Kräfte auf das zerbrechliche Schiff ein; nur wenn man sie genau gegeneinander abwog, konnte das Schiff seinen Weg sicher fortsetzen. Heem war von der Wucht seines Verbrechens an seiner Kultur getrieben worden, dem entgegenstand, daß seine Rasse dringendst seiner speziellen Begabungen bedurfte. Jessica und ihr Klon-Bruder hatten, da sie das Geheimnis ihrer Geschlechtsänderung vor ihren Gefährten geheimhalten mußten, einen Verlust ihrer materiellen Ressourcen hinnehmen müssen. Das Gut war bankrott; das hatten sie erfahren, als sie das Erbe übernahmen. Deshalb hatte Jesse einen Job angenommen - der gesamte Vorgang wurde von einem HydrO-Geist als abstoßend empfunden, jedoch glich er im großen und ganzen Heems eigener Reaktion auf die gegenwärtige Herausforderung. Als Jesse seine Aufgabe nicht hatte erfüllen können, hatte Jessica es für ihn getan. Indem sie Notwendigkeit und Risiko gegeneinander abwog.

Dies alles reichte bis in die Gegenwart; es war noch nicht abgeschlossen.

Und - seine Instrumente schwangen langsam herum und lieferten Daten, die seiner visuellen Intuition entsprachen. Er hatte recht getan, seiner neuen Wahrnehmungsweise zu vertrauen; das Schiff war auf Kurs geblieben. Eine vorher vorgenommene Korrektur hätte es abtreiben lassen. Er hätte Treibstoff verschwendet, vielleicht wäre er auch in den Stern gestürzt und vernichtet worden. Mit einer Treibstoffreserve hätte man auch eine zweite und dritte Kurskorrektur vornehmen können, doch in diesem Moment war die Manövrierfreiheit ziemlich eingeschränkt; jegliche Treibstoffverschwendung konnte sich am Ende als vernichtend herausstellen. Nur durch Jessicas Wahrnehmung und die Koordination eines Geistes, für den diese Wahrnehmungsweise natürlich erschien, konnte die Orientierung erfolgen. Der Gesichtssinn war notwendig gewesen, damit er sich überzeugen konnte, daß er nichts zu tun brauchte.

»Wir haben gewonnen«, verkündete er. »Das Sehvermögen hat den Erfolg bewirkt. Wir werden gefahrlos eine Planetenlandung vornehmen können.«

Von der Alien erfolgte keine Reaktion.

»Jessica«, nadelte er erschrocken. »Wo bist du?«

Er spürte ein schwaches Rühren einer Präsenz, doch sie hatte keine Kraft. O nein! Hatten die Kraftfelder und die Strahlung und der Streß ihre Aura derart in Mitleidenschaft gezogen, daß sie schon vor ihrer Zeit verblaßte? Oder hatte sie das, was von ihrer Persönlichkeit noch übrig war, für ihn geopfert, damit er sehen und seine wichtigste Entscheidung treffen konnte? Um welchen Preis hatte er diesen Sieg errungen?

»Fremde Weibliche!« sprühte er. »Wir haben unsere Differenzen, aber ich hatte niemals die Absicht, dich zu vernichten! Ich - ich weiß deine Gegenwart zu schätzen. Wie kann ich dich denn wieder in einen gesunden Zustand versetzen?«

Noch immer gab sie keine Antwort. Erneut überprüfte Heem den Kurs des Schiffes, dann richtete er seine gesamte Aufmerksamkeit nach innen.

»Jessica, ich hab' dir deinen Gesichtssinn weggenommen; ich will ihn dir wieder zurückgeben. Es ist ein hervorragendes Wahrnehmungsorgan, es rettete uns, doch es gehört dir. Ich übernahm deine Aura, nun nimm sie zurück. Ich habe dich angegriffen; ich entschuldige mich dafür. Du bist keine Squam, sondern eine wertvolle und fühlende Entität. Du sollst dich nicht auflösen. Ich brauche deine Gesellschaft.« Endlich redete sie, als befände sie sich jenseits des Sterns. »Ich glaube, ich habe mich überanstrengt und dabei das Bewußtsein verloren. Sind wir - wie ist das...?«

»Erfolg!« sprühte Heem voller Freude. »Wir sind noch am Leben. Das ist deiner Sicht zu verdanken.«

Sie kam allmählich zu Kräften. »Oh, ich hatte solche Angst.«

»Aber du warst auch davon überzeugt, daß ich es schaffen konnte! Es war allein deine Zuversicht, die mich hat durchhalten lassen!«

»Dem Himmel sei dafür Dank.«

»Willst du damit sagen, du hattest gar nicht richtig an mich geglaubt?«

»O nein, Heem. Aber ich hatte Angst, benahm mich richtig töricht...«

Sie hatte tiefe Angst gehabt, und keine törichte, das wurde ihm jetzt klar. Allerdings hatte sie ihn mit ihrer Zuversicht auch angestachelt, so daß er Dinge vollbringen konnte, zu denen er unter anderen Umständen niemals fähig gewesen wäre. Diese Erkenntnis verursachte in ihm eine völlig seltsame Reaktion. Als er sie in seinen Gedanken als abwesend wahrgenommen hatte, hatte er ein erstaunlich intensives Gefühl des Verlustes verspürt. Nun verspürte er eine Erleichterung, die an - aber dieses Konzept war und blieb undeutlich.

»Dennoch begrüße ich dieses Gefühl«, sagte Jessica. »Wir haben gemeinsam ein schreckliches Abenteuer überstanden.«

Doch er war zu müde, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Er hatte sehr viel von seiner eigenen Energie verbraucht, und als die Spannung nachließ, überkam ihn eine plötzliche Schwäche. Er mußte sich ausruhen, und sie ebenfalls. Er zog sich aus ihrem Wirkungsbereich zurück, und als letztes wich auch der Gesichtssinn von ihm. »Das Schiff befindet sich auf Kurs; wir können uns etwas ausruhen«, sprühte er und gestattete es sich, sich in einen Zustand völliger Entspannung zu versetzen.

»Ja«, gab sie zu, und in ihrem Benehmen war etwas sehr Weibliches und Angenehmes.

Er träumte, und nun waren die Träume sichtbar. Er sah einen Berghang, geschmückt mit wunderschönen Blumen und hohen roten Fichten, und neben ihm befand sich eine Präsenz, die ihn an Moon von Morgendunst erinnerte. Aber er konnte sie nicht so richtig sehen.

Rechtwinklig trafen sie auf die Säulenformation der am Wettrennen beteiligten Schiffe. Unter Zuhilfenahme ihrer neuen Wahrnehmungsweise beobachtete Heem die Lage durch die Perzeptionsorgane des Schiffs. Die Situation war für die HydrO-Wirte nicht besonders günstig; die ersten drei Schiffe waren Erbs und die nächsten sechs abwechselnd Squams und Erbs. Dahinter, in der Säule weit zurück, tauchten die ersten HydrOs auf.

»Etwas sehen zu können macht einen erheblichen Unterschied aus«, sprühte Heem. »Die Erbs verfügen über die Sicht, und sie beherrschen das Rennen. Wir können uns nur glücklich schätzen, daß das Rennen auf der Planetenoberfläche fortgesetzt wird, wo der Geschmackssinn von Vorteil ist.«

»Aber es sind doch in Wirklichkeit keine Erbs und Squams und HydrOs«, widersprach Jessica. »Sie dienen doch nur als Wirte für die anderen Konkurrenten von Tausendstern.«

»Trotzdem, wenn die HydrO-Wirte sich nicht bravourös schlagen, dann bedeutet das eine Niederlage für die gesamte Rasse, und unser Einfluß auf die Politik von Tausendstern wird abnehmen«, nadelte Heem. »Wir müssen davon ausgehen, daß auch echte Erb- und Squam-Vertreter zur Spitzengruppe gehören.«

»Und hinzu kommt nun auch der richtige HydrO-Repräsentant«, sagte sie. »Das mit unserer Abkürzung hat wirklich geklappt! Auf welchen Platz kommen wir nun?«

Heem betrachtete die Säule eingehend. »Auf den zwanzigsten. Das ist recht günstig.«

»Aber nicht so günstig wie der erste Platz.«

»Günstiger als der erste Platz. Die ersten Ankömmlinge müssen sich mit den Eigenarten der technischen Ausrüstung und der Landschaft auseinandersetzen. Es wird zu Unfällen, Stockungen, Behinderungen kommen. Die besten eines Wettrennens im Weltraum müssen nicht unbedingt auch zu den Besten bei einem Rennen auf solidem Untergrund gehören. Ich möchte fast wetten, daß keiner der ersten zehn des Weltraumrennens unter den ersten zehn zu finden sein wird, die den Ahnen-Fundort erreichen.«

»Keiner außer dir, Heem! Du hast schließlich deine Erfahrungen mit einer derartigen Wildnis.«

»Stimmt. Aber ich möchte lieber im Hauptfeld untertauchen und von den Fehlern der Führenden profitieren. Dann, zu einem späteren Zeitpunkt, werde ich mich vordrängen. Noch liegt ein beträchtliches Stück des Rennens vor uns.«

»Da hast du recht!« bekräftigte sie.

Heem düste eine Kurskorrektur, so daß das Schiff sich ohne Störungen in die Säule einfädelte. Das Schiff blieb weiterhin im Freifall und bremste so, ohne Treibstoff zu verbrauchen. Doch als er wieder in der Säule flog, wurde Treibstoff verbraucht, denn die Flucht vom Loch war geschafft.

»Haben wir noch genug Treibstoff übrig?« erkundigte Jessica sich besorgt. »Ich weiß, daß du es bereits erwähnt hast, doch nun, da wir an dem Punkt angelangt sind...

»Wir haben genug davon«, beruhigte er sie. »Dank unserer Sehfähigkeit schaffte ich den Flug durch den Nebel so gekonnt, daß ich nur die Hälfte von dem verbraucht habe, was eigentlich nötig gewesen wäre. Wir hätten mit dem Bremsvorgang später beginnen können und wären auf dem fünften oder sechsten Platz gelandet, aber ich ziehe es vor, das Ausmaß unseres Erfolges nicht allgemein bekannt zu machen. Deshalb werden wir uns mit dem absoluten Minimum an Verzögerung, dazu noch unsicher und lädiert, einordnen. Wir werden von unserem Flug zwischen Stern und Loch derart mitgenommen erscheinen, daß niemand uns für einen ernstzunehmenden Gegner hält.« »Heem, das ist skrupellos!«

»Ja. Aber erlaubt. Je länger wir als Konkurrenz nicht ernstgenommen werden, desto besser werden unsere Chancen für einen Überraschungserfolg sein. Hier geht es nicht um eine gesittete gesellschaftliche Auseinandersetzung. Wir befinden uns in einem verbissenen Kampf um die Rechte an dem Ahnen-Fundort.« »Du hast den Geist eines Solariers.« »Ich vermute, du meinst dies als Kompliment.« »Stimmt.«

»Dann muß es eins sein.« Das Gefühl, das er schon vorher kennengelernt hatte, kam nun noch eindringlicher zurück. »Ich habe von dir geträumt, konnte dich aber nicht sehen.« »Ich weiß.«

»Physisch bist du einem Squam am ähnlichsten, mit deinen Gliedmaßen und deiner Hörfähigkeit und der widerwärtigen Gewohnheit des Essens. Squams sind mir einfach zuwider. Außerdem bist du auch noch weiblich.« »Das bin ich.«

»Nun, ich halte mich nicht für genügend abgestoßen. Dein Geist ist eher wie meiner, trotz der grotesken Merkmale deiner Rasse. Als ich Angst hatte, daß du dich von mir getrennt hattest, konnte ich das kaum ertragen.«

Sie schwieg, aber an ihrer Stimmung konnte er ablesen, daß sie ihn verstand. Es war undenkbar für einen HydrO, jemandem zuzustimmen, der auch nur entfernt einem Squam ähnelte, aber in diesem Fall war etwas weniger Ausgeprägtes angeraten als Feindschaft. Vielleicht sollte er sie ähnlich betrachten wie die Erbs, fremd aber neutral, daher für ihn im Grunde nicht gefährlich. Immerhin teilte sie ja mit ihm das Sehvermögen. Dennoch war sie nicht neutral. Und auch nicht mehr richtig fremdartig. Warum dachte er nun über sie genauso, wie er früher einmal über Moon von Morgendunst gedacht hatte? Es konnte sicher nicht daran liegen, daß sie eine Weibliche war, denn den meisten Weiblichen stand er gleichgültig gegenüber.

Er hatte ein vages Gefühl, daß sie von all dem mehr verstand als er, jedoch ihre Reaktionen im Zaum hielt. Warum?

Jetzt meldete Jessica sich zu Wort. »Die Erbs - von denen hast du immer sehr wenig gehalten. Aber auf dem Planeten Exzenter treffen wir persönlich mit ihnen zusammen, nicht wahr? Und auch mit den Squams?«

»Richtig. Wir empfingen eine intellektuelle Herausforderung und eine Herausforderung, was das Lenken eines Raumschiffs angeht; auf dem Planeten kommt dann der physische Kampf. Und der wird gewisse gewalttätige Aspekte haben.«

»Das glaube ich auch! Dank deiner Rückerinnerungen habe ich jetzt eine Vorstellung davon, was ein Squam ist, und ich glaube, ich kann dir in diesem Bereich helfen. Weil ich gewisse, wie du das so freundlich ausgedrückt hast, Ähnlichkeiten aufweise. Aber von den Erbs weiß ich überhaupt nichts. Wenn du mir einen visualisieren könntest...«

Heem versuchte es. Er jonglierte mit ihrem Gesichtssinn, um eine Vision eines einzelnen Erb zu schaffen: eine pflanzenartige Kreatur, deren Wurzeln Wasser und Mineralien sammelten, ein massiver Stamm und eine Menge Blätter, die sich zu einem dichten Kelch anordnen konnten.

»Ist das alles? Eine Sonnenblume mit einer Faltblüte? Wie lebt sie? Will sagen, sie kann doch nicht nur von Wasser und Mineralien existieren, nicht wahr?«

»HydrOs leben ausschließlich von Stickstoff«, erinnerte er sie.

»Auch das habe ich noch nicht ganz begriffen«, gab sie zu. »Aber wenn dieser Erb eine Art Pflanze ist, dann braucht er ebenfalls Licht...«

»Er öffnet seine Scheibe aus wie Schuppen angeordneten Blättern, um das Sternenlicht aufzufangen.«

»Sonnenlicht, meinst du sicher. Eine Sonne ist ein Stern, stimmt. Wenn dort Wind aufkommt, dann fängt er sich in den Blättern, erzeugt ein Drehmoment und hebt die Energie für späteren Gebrauch auf.«

»Ich denke an eine Windmühle«, sagte sie unsicher. »Was ist mit der Selbstverteidigung? Angenommen, ein widerwärtiger Squam greift seine...«

»Es verändert die Scheibe zu einem Keil und jagt ihn in Squams Rüstung und schlitzt sie auf. Es gibt kaum einen Squam, der einem Erb widerstehen kann.«

»Aber dann die HydrOs - du scheinst vor den Erbs keine Angst zu haben...«

»Die Körper der HydrOs sind weich. Der Bohrer kann nirgends ansetzen. Wir schießen lediglich heiße Nadelstrahlen in den Mechanismus des Erb und stören dessen Funktionen oder wir höhlen seinen Stamm aus. Erbs stellen für uns keine Bedrohung dar.«

»Ich verstehe«, sagte sie zweifelnd.

Sie humpelten auf den zwanzigsten Platz in der Säule.

»H-Sechsundsechzig. Heem von Steilfall - bist du es?« fragte das Geschmacksnetz. »Wie konntest du dem Loch entkommen? Wir dachten schon, du hättest Selbstmord begangen.«

»Sei gegrüßt, H-Sechsundvierzig, Swoon von Süßsumpf. Mir wurde klar, daß ich nicht unter den ersten fünfzig landen würde, daher nadelte ich uns durch die Lücke zwischen Stern und Loch.« Heem wußte genau, daß andere Schiffe sich in diesen Dialog mit einschalteten. Deshalb machte er das beste daraus. »Ich fürchte, die Strahlung und die Flut...«

Er ließ den Geschmack zerfasern.

»Oh, das ist eine gute List!« sagte Jessica. »Ab jetzt werden sie vor dir keine Angst mehr haben.«

»Das hoffe ich.«

»Heem, in dem, was du sagst - ich meine deine begleitende Emotion - du hast das Ganze doch nicht als Teil einer Taktik eingefädelt, nicht wahr? Du versteckst dich.«

»Ich wußte ja, daß es eine Katastrophe wäre, eine fremde Weibliche in meinem Hirn zu haben«, nadelte Heem.

»Ach, jetzt hör endlich auf! Gemeinsam waren wir ganz groß, selbst wenn ich noch ein wenig schwach auf den Beinen bin. Nach dem Loch sollen wir uns in einem fairen Wettkampf noch fürchten?«

Heem gab im Geiste einen Sprühstoß der Resignation von sich. »Jetzt ist es passiert; du interessierst dich für meine Glaubwürdigkeit. Ich sollte dir alles gestehen, ehe wir auf dem Planeten landen.«

»Aha. Gibt es etwas, was ich noch immer nicht weiß? Heem - hat es mit deinem Problem zu tun, den Kampf gegen den Squam betreffend?«

»Es hängt damit zusammen. Ich täuschte die Veranstalter des Wettstreits. Ich kann einen Squam im fairen Kampf nicht besiegen. Und ich muß es ganz bestimmt tun, um noch Aussichten auf den Sieg zu haben.«

»Das begreife ich nicht. Du hast doch schon früher gelernt, wie man mit einem Squam fertig wird, nicht wahr? Und du hast es auch geschafft, oder? Indem du fünf Täler für die HydrO-Hegemonie erkämpftest, eines davon Morgendunst. Du hast bewiesen, daß du recht hattest; dein Wurf hätte in Morgendunst niemals überlebt, wenn die Squams sich in dieser Region breitgemacht hätten.«

»All das habe ich getan«, gab Heem zu. »Dennoch war dies der Beweis für mein letztendliches Versagen. Das, was ich als Jugendlicher gelernt hatte, konnte ich einsetzen, um den Squam im rituellen Zweikampf zu besiegen, und ich wurde zu einem Helden meiner Rasse. Doch die Erinnerung, die mir zum Erfolg verhalf, war illegal. Als jemand dieses Geheimnis verriet, galt ich augenblicklich als Gesetzloser. Doch niemand hatte Ahnung von meinem Geheimnis, noch nicht einmal ich selbst, denn im Zuge der Metamorphose zum Erwachsenenstadium werden alle Erinnerungen an das Jugendstadium ausgelöscht.«

»Aber du hast doch gerade gesagt - einen Moment mal -, du erinnerst dich doch! Das hat mich schon längst gestört. Du erzählst dauernd Dinge, an die du dich eigentlich gar nicht erinnern dürftest!« »Das - das ist ein anderer Aspekt meines Geheimnisses«, düste Heem widerstrebend. »Meine Metamorphose erwies sich als unvollständig. Anfangs erinnerte ich mich an gar nichts; dann drängte sich der Horror des Squam vor, und ich wußte, ich mußte den Squam - besiegen. Ich fing an, mich zu erinnern, wie ich vorgehen mußte. Wie ich mit heißen Nadelstrahlen seine Gliedertaschen beschießen mußte, was dazu führen würde, daß die Bestie ihre Gliedmaßen einzog und mich nicht angreifen könnte. Und wie ich sie von einem hochgelegenen Punkt herunterrollen mußte, damit sie durch den Sturz zerschmettert würde. In der Erb-Arena gab es unterschiedlich gegliedertes Terrain, das eine natürliche Umgebung simulieren sollte. Ich machte es mir erfolgreich zunutze. Und so gelang mir, was kein anderer HydrO schaffen könnte: Ich besiegte den Squam im Zweikampf. Erst als ich die Kreatur als Verlierer sah und die Erbs sie halbertrunken aus dem Wasser zerrten, erkannte ich, daß weniger Geschicklichkeit und Taktik das Werk vollbracht hatten, sondern meine Erinnerung. Und mir wurde bewußt, daß ich in Wahrheit kein richtiger Erwachsener war. Wäre das bekannt geworden, hätte man mich aus der Gesellschaft verstoßen, bis meine Metamorphose abgeschlossen gewesen wäre.«

»Illegale Erinnerungen!« rief Jessica. »Unsere Rasse ist ganz wild auf Erinnerungen! Ich erinnere mich zum Beispiel genau an meine Kindheit...«

»Du bist ja auch keine HydrO.«

»Du wurdest also zum Helden und qualifiziertest dich für den Wettstreit«, sagte Jessica. »Soviel erkenne ich nun. Und das erreichtest du nur durch einen Schwindel, wenn man die Maßstäbe deiner Kultur anlegt, denn du durftest dich nicht erinnern. Aber da du dich noch immer erinnerst, müßtest du doch mit einem Squam immer noch fertig werden, oder?«

»Nein. Nein. Als die Wahrheit über meinen Frevel bekannt wurde, stellten sich auch noch andere Erinnerungen ein, bis ich mich an alles erinnerte. Und mit diesen Erinnerungen ging das Jugendstadium einher...«

»Ja?« fragte sie eifrig und drängte ihn dazu weiterzureden.

»Und mit ihm auch das Bewußtsein um meine Sterblichkeit.«

»Soll das heißen, daß erwachsene HydrOs sich nicht darüber im klaren sind, daß sie sterben müssen? Das ist doch Unsinn! Swoon von Süßsumpf hat doch gerade erst von Selbstmord...«

»Sie kennen den Tod rein objektiv, als gegebene Tatsache, doch nicht subjektiv. Wir fürchten den Tod nicht oder sehen ihn als eine von vielen Möglichkeiten der Konfliktlösung an. Deshalb benutzte Swoon den Begriff eher zum Deutlichmachen meiner Fehlbeurteilung, indem ich eine

Taktik wählte, die man als selbstmörderisch bezeichnen kann; sie empfand den Tod dabei nicht als eine Art Ende. Ich schon - aber ich bin kein Erwachsener mehr; ich bin jetzt ein Schwachsinniger.«

»Heem, das ist doch lächerlich! Jede Kreatur muß irgendwann einmal sterben, und...«

»Das Bewußtsein des Todes als etwas Unberechenbares stellt sich erst nach der Metamorphose zum Greisenstadium ein, wenn die Sorgen und Probleme eines ganzen Lebens endlich beiseite gelegt werden. Dann sind die Erlebnisse des Erwachsenenstadiums vergessen, und die Entität ist in der Lage, über das Ende nachzudenken.«

»Das ist erstaunlich! Keine Sorgen wegen des Todes, kein subjektives Bewußtsein von Jugend oder Alter. Wie Menschen, die ständig denken, daß der Blitz schon irgendwo einschlagen wird, aber nicht bei ihnen. Du hast darüber vor kurzem eine Bemerkung gemacht, aber ich glaube, sie war nicht nur so dahergeredet!«

»Als meine Metamorphose zum Erwachsenenstadium unvollständig blieb, wurde ich mir wieder verstärkt des drohenden Untergangs bewußt. Ich wußte wohl, daß ich sterben könnte. Meine Kräfte erlahmten, ich wurde zum Feigling.«

Eine Weile schwieg sie. Das Schiff verlangsamte seinen Flug, behielt aber seinen Platz in der Säule. Dann sagte sie: »Heem, das kann ich nicht akzeptieren. So wie du das Begriffs-Quiz und den ersten Teil des Weltraumrennens hinter dich gebracht hast, und dann der riskante Locstern-Flug - du bist überaus mutig.«

»Das alles sind völlig natürliche HydrO-Fähigkeiten. Doch der Kampf gegen Squams gehört nicht dazu.«

»Dennoch könntest du dich dieser Herausforderung stellen, wie du es schon bei anderen Gelegenheiten getan hast.«

»Nein. Ich versuchte einmal mit der notwendigen Genauigkeit eine Squamattrappe zu benadeln. Ich schaffte es nicht. Meine Nadelstrahlen streuten. Meine Angst ließ mich danebenhalten.«

»Das stimmt nicht!« rief sie. »Du kannst doch die Squams nicht mehr fürchten als das Loch. Als du noch in deinem Jugendstadium warst, hat die Angst dich nicht beeinflußt. Ich habe mich in deinem Geist aufgehalten. Ich weiß, daß du kein Feigling bist!«

»Ich testete erneut meine Nadelstrahler, ehe ich in den Wettbewerb einstieg. Sie nadelten noch immer ungenau. Meine Angst...«

»Du warst auch überzeugt, daß du nicht aus dem Loch herauskommen würdest!« widersprach sie. »Aber als es soweit war, hast du dich blendend durch das Nadelöhr hindurchgefädelt.«

»Aber nur, weil ich mich deines Gesichtssinnes bediente und Energie aus deiner Zuversicht schöpfte. Aus deinen Reflexen. Kein HydrO hätte das ohne diese Unterstützungen schaffen können.«

»Und kein HydrO kann einen Squam bezwingen!« rief sie. »Aber dank des Gesichtssinnes hast du auch das geschafft, Heem. Ich war gar nicht so zuversichtlich; ich habe dich lediglich angefeuert, während ich vor Angst fast vergangen wäre, und nachdem die Gefahr vorüber war, mußtest du mich sogar wiederbeleben. Du warst der Starke, Heem, nicht ich! Ich hab' dir nur eingeredet, du könntest es schaffen, und du warst töricht genug, mir zu glauben, und dann hast du es wirklich geschafft. Begreifst du denn nicht - nicht die Feigheit bremst dich, sondern die mangelhafte Wahrnehmung! Bei deinen früheren Auseinandersetzungen hattest du stets Glück gehabt, doch du wurdest auch verwundet; und auch wenn deine Haut wieder heilte, so haben deine Nadeldüsen doch ihre Genauigkeit verloren. Du wurdest zweimal verbrannt, Heem! Narbengewebe behindert wahrscheinlich dein Zielorgan oder deine Wahrnehmung, so daß du nicht in die beabsichtigte Richtung zielst. Deine Haut funktioniert nicht mehr so gut wie vor der Verwundung. Sobald du weitere Informationen bekamst, wurde dir klar, daß du dich nicht auf dein Glück verlassen durftest, und da deine Nadeldüsen nicht mehr genau strahlen konnten, bekamst du es mit der Angst zu tun. Deine Furcht war eine normale Reaktion auf deine Unfähigkeit, und nicht anders herum. Mit Hilfe des Gesichtssinns konntest du es schaffen, indem du deine taktischen Kenntnisse einsetztest, ebenso wie du es beim Durchfädeln des Nadelöhrs von Lochstern getan hast. Und jetzt kannst du sehen, Heem! So lange, wie ich bei dir bin. Du kannst deinen Squam bezwingen! Da bin ich ganz sicher!«

»Und du erwartetest wirklich, daß ich dumm genug bin, dir noch einmal zu glauben?«

»Ja! Denn dies ist nichts Neues wie zum Beispiel das Umfliegen eines Schwarzen Lochs. Du hast schon früher mit den Squams zu tun gehabt.«

Verblüfft dachte Heem nach. »Das ist möglich. Ich bin mir meiner Sterblichkeit bewußt, aber ich bin tatsächlich durch das Kraftfeld des Lochs geflogen - mit deiner Hilfe. Warum sollte ich mich nicht an einen Squam heranwagen? Mit deiner Hilfe? Es wäre doch möglich, daß...« Er hielt inne. »Wie kommt es, daß deine Rasse sich an ihr Jugendstadium erinnern kann? Bei euch können doch nicht sämtliche Metamorphosen unvollständig sein!«

»Wir haben keine Metamorphose«, entgegnete sie überrascht. »Habe ich das denn nicht schon vorher gesagt?«

»Aber woher wißt ihr, wann ihr erwachsen seid?«

»Das verrät uns das Alter. Wenn wir eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren hinter uns haben, dann sind wir der Definition nach Erwachsene. Der Entwicklungsprozeß wird nicht unterbrochen, die Erinnerung geht auch nicht verloren.«

»In deinem Alter! Das ist unglaublich!«

»Manchmal erscheint es so«, gab sie bitter zurück. »Es gibt da auch noch einige psychologische Veränderungen, die die Reife signalisieren, aber letztendlich ist das Alter das Kriterium für den Tod.«

»Aber dann erinnerst du dich doch an die Schrecken deines Jugendstadiums! An den Tod deiner Schwestern...«

»Es gibt keine Schrecken, Heem. Unsere Eltern sorgen für uns, oder irgend jemand anderer, der verantwortlich ist. Kein menschliches Kind wird sich selbst überlassen, und nur wenige von uns sterben während der Kindheit. In unserem Fall starben unsere Eltern, ehe wir herangewachsen waren, und der Diener der Familie, Flowers, übernahm die Erziehung und sorgte für uns. So ist es in jeder solarischen Familie.«

»Das kann nicht sein! Schon nach wenigen Generationen würdet ihr keinen Lebensraum mehr haben. Es muß doch eine natürliche Kontrolle geben, so daß eine Rasse niemals zu zahlreich wird oder ausstirbt. Jedes geeignete Gebiet muß besät werden, während bevölkerte Regionen nicht neu besät werden dürfen.«

»Ich erkenne sehr wohl die Logik eures Systems, Heem«, sagte sie. »Aber sie ist sehr grausam. Wir produzieren jeweils nur ein oder zwei Nachkommen und unternehmen alles, damit sie am Leben bleiben. Das Endresultat ist das gleiche - und wir haben nicht mit den Problemen zu kämpfen, die eine Metamorphose mit sich bringt. Dich zu erinnern, Heem

- es ist furchtbar! Es gibt wirklich schreckliche Dinge, die du vergessen mußt. Kein Wunder, daß du deine Traumata hast. Mir erginge es nicht anders, wenn ich mit zweihundert Schwestern und ohne Eltern in einem Tal voller tödlicher Gefahren gelebt hätte und hätte mit ansehen müssen, wie meine Schwestern umkommen, alle außer mir, während ich mir bewußt bin, daß ich mein Überleben allein meinem Glück zu verdanken habe...«

»Deine Argumente und deine Lebensweise haben ihren Reiz«, düste Heem. »Ich glaube, ich würde lieber nach deiner Art als nach der Art der HydrOs leben.«

»Jetzt fang nicht schon wieder an, Verräterisches zu düsen«, wehrte sie ab. Dann wechselte sie das Thema. »Eine Sache beschäftigt mich noch. Wenn du der einzige Überlebende aus deinem Tal warst und die Metamorphose auf jeden Fall deine Erinnerung auslöschte - wie konnte irgend jemand wissen, daß du dich geweigert hast, den Keim des Lebens in Morgendunst zu säen?«

»Das hat mich auch beschäftigt«, gab Heem zu. »Das brachte mich doch dazu, verbotenerweise nach meinen verschütteten Erinnerungen zu graben. Das Morgendunst-Tal war leer, jedoch war das kein notwendiges Indiz für das Verbrechen, denn alle HydrOs konnten getötet worden sein, ehe ein Männlicher auftauchte, um bei der Neusaat zu assistieren. Es mußte jemand sein, der dort gewesen war und der mich persönlich kannte und der wußte, daß Männliche und Weibliche das Tal gemeinsam bewohnt und es leer zurückgelassen hatten.«

»Meen von Morgendunst!« rief Jessica aus. »Sie wurde nicht getötet. Sie wechselte nach Steilfall über, nicht wahr? Sie wußte Bescheid und konnte doch durchaus...«

»Dabei hätte sie sich selbst geschadet, denn auch sie verließ Morgendunst, ohne ihre Saat zu hinterlassen. Auch wenn sie es gewollt hätte, hätte ihr Versagen sie verdächtig gemacht.«

»Ja, diesen Aspekt der HydrO-Logik kenne ich bereits.« »Ich glaube nicht, daß sie mich verraten hätte, auch wenn sie ihre Erinnerung nicht im Prozeß der Metamorphose verloren hätte. Ich bin sogar sicher, daß sie geschwiegen hat, denn als man sie suchte, um der Wahrheit in dieser Sache auf den Grund zu gehen, fand man sie, und sie erinnerte sich nicht.«

»Aber es gab keine andere Person!«

»Doch, da war noch eine.«

Sie war verblüfft. »Du meinst doch nicht...«

»Schlängelschreck.«

»Der Squam! Aber...«

»Als mein Sieg über einen Squam bekannt wurde, erhielt Schlängelschreck Klarheit über meine Identität. Er kannte die Geographie dieser Gegend; immerhin hatte er sie erforscht. Der Name Steilfall genügte. Er dachte, er hätte mich in dem Tal getötet, als ich von dem Maschinengleiter stürzte. Nun wußte er, daß ich noch am Leben war. Er hatte innere Verletzungen, nachdem ich seinen Magen mit Nadelstrahlen eingedeckt hatte; obwohl die Angehörigen seiner Rasse andere Maschinen einsetzten, um ihn irgendwie wiederherzustellen, litt er sowohl unter physischen Schmerzen als auch unter der Schande, durch einen HydrO von seinem Posten vertrieben worden zu sein. Er war auf mich genauso wütend wie ich auf ihn. Er kommunizierte mit meinen Leuten und verriet mich. Sie mußten die Anklage bestätigen oder abweisen - und die Anklage entsprach der Wirklichkeit.«

»Dann ist Schlängelschreck ja zum zweitenmal dein Untergang! Er massakrierte deine Geliebte, dann verwandelte er dich von einem Helden in einen Verbrecher. Du hast wirklich einiges mit ihm auszufechten.«

»Und er mit mir. Soweit ich es beurteile, umgibt ihn noch immer der schwache Dunst einer durchstochenen Membran, was seinem Ansehen bei den Angehörigen seiner Rasse schadet und ihm die Paarung verbietet.«

»Gut für dich!« jubelte sie und klatschte geistig in die Hände. Heem erkannte, daß ihre Gliedmaßen überhaupt nicht denen eines Squam glichen; sie hatte eine weiche Hülle anstatt einer harten, und verfügte über fünf Extremitäten anstatt nur dreien.

»Schlängelschreck hat das Motiv, nach Ruhm zu streben«, fuhr Heem fort. »Seine Arbeit wurde durch meinen Sieg in der Arena null und nichtig, deshalb ist auch er ein Versager. Ich glaube, daß er an diesem Wettbewerb teilnimmt. Er ist ein Abenteurer, der mit besonderer Vorliebe in ferne Regionen vordringt und sich nur ungern bei Angehörigen seiner eigenen Rasse aufhält. Das war auch der Grund für seine Mission im Morgendunst-Tal.«

»Wo er munter die jungen HydrOs auffraß!«

»Das liegt in der Natur der Squams. Deshalb gehe ich davon aus, daß er sich auf Exzenter unter den Wirten befindet, sich dort behaupten und sich an den Hilflosen schadlos halten wird. Ich hoffe, daß es so ist; denn auf diese Weise treffen wir möglicherweise wieder aufeinander.«

»Aber wenn du doch Angst hast, dich mit einem Squam anzulegen...«

»Ich fürchte mich auch. Aber ich muß versuchen, die Angelegenheit, die ich in Morgendunst begonnen habe, endlich abzuschließen. Schlängelschreck muß getötet werden, und ich möchte derjenige sein, der ihn zur Strecke bringt. Irgendwann und irgendwie.«

»Und du nennst dich selbst einen Feigling!« hauchte sie bewundernd.

Ihre Haltung ihm gegenüber wurde immer positiver. Heem war sich darüber im klaren, daß es eher eine Folge ihrer fremdartigen Kultur war, doch es hatte durchaus seinen Reiz. Wahrscheinlich wäre er besser von einer Alien zur Welt gebracht worden.

Heem bremste ruckartig und schaffte es, in der Säule um eine weitere Position nach hinten zu rutschen. In seiner Nähe manövrierten Squam- Schiffe; er war überzeugt, daß sie seine Schwierigkeiten beim Landeanflug mit Befriedigung verfolgten. Als er sich seinem Landeplatz auf dem

Planeten näherte, gelang ihm das nur mit einem waghalsigen Manöver. Als das Schiff sich endlich auf das Landefeld senkte, war er an dreiundzwanzigster Stelle.

»Du treibst ein gewagtes Spiel«, stellte Jessica fest. »Komm, sehen wir zu, daß wir uns unseren Traktor sichern, und hoffen wir, daß wir das Rennen nicht um zwei Plätze verlieren.«

Er wollte gerade ihrer Aufforderung Folge leisten, als sich das Beschleunigungsbad leerte - denn er hatte es für den letzten entscheidenden Raketenstoß gebraucht - und das Kommunikationsnetz zum Leben erwachte. »Überstürze nur nichts, Heem von Steilfall«, sprühte der Geschmackstranslator. »Ich hatte mir schon gedacht, daß du an diesem Wettbewerb teilnimmst, zweifelte jedoch daran, daß du es bis hierher schaffen würdest. Ich glaube, schwach, wie du bist, wirst du nicht viel weiter kommen. Aber bitte stirb nicht gleich; erlaube mir wenigstens, das zu Ende zu bringen, was ich angefangen habe.«

»Schlängelschreck!« schrie Jessica. »Du hattest recht!« Heem, der unvermittelt in den Konflikt hineingesogen wurde, den er irgendwie auch gesucht hatte, war nicht fähig, seinem Widersacher zu antworten.

»Hast du dich in deinem Schiff aufgelöst, du dämlicher HydrO?« wollte der Squam mit einem spöttischen Aroma wissen. »Lös dich nur nicht ganz auf, ehe ich nicht gelandet bin; ich würde dich nämlich liebend gern mit meinen eigenen Scheren vernichten.«

Jessica, als sie feststellte, daß Heem zu einer Erwiderung unfähig war, übernahm sein Kommunikationssystem und antwortete für ihn. »Hab Dank für die gute Nachricht, Kinderschlächter«, sprühte sie. »Es wird mir ein Vergnügen sein, diesmal mehr als nur deinen Magen zu vernichten, du Monstrum.«

»Was rollst du da?« protestierte Heem geistig. »Ich kann doch nicht...«

»Ich mach' ihn mit Psychoterror fertig«, entgegnete sie. »Ich verunsichere ihn, so daß er nervös wird und Fehler macht. Das ist eine erfolgversprechende Taktik.«

»Warte am Landefeld auf mich, und wir werden feststellen, wer am Ende vernichtet wird«, entgegnete Schlängelschreck.

»Autsch«, sagte Jessica in Heems Geist. »Ich glaube, es hat nicht geklappt. Entweder er hat wirklich keine Angst, oder er ist ein hervorragender Bluff er.« Dann sprühte sie ins Kommunikationsnetz: »Warum soll ich wegen jemand wie dir, Squam, meine Mission verschieben? Fang mich, wenn du kannst.«

»Das werde ich auch, Feigling!«

Heem erlitt eine Geschmacksaufwallung faulig stinkender Schande. Hier, vor allen Wettstreitern, die sich noch im planetennahen Raum aufhielten, war er herausgefordert und zum Feigling abgestempelt worden. »Wir müssen auf sein Schiff warten!« nadelte er.

»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Jessica. »Offensichtlich hat der Squam bestimmte Gründe, warum das letzte Duell ausgerechnet hier stattfinden soll. Sonst hätte er nämlich die Neuigkeit über das Netz verbreitet. Vielleicht besitzt er in seinem Schiff eine Säurepistole, vielleicht will er es aber auch nur in einer Position wagen, wo ihm einige Squams behilflich sein können. Wir müssen ihm entweder aus dem Weg gehen oder uns ihm auf neutralem Boden zum Kampf stellen, wo wir eine gleichwertige Chance haben. Sehen wir zu, daß wir rauskommen, Heem.«

Sie rollte mit unbestechlicher Logik weiter! Natürlich würde der Squam keinen fairen Kampf liefern, wenn es eine Möglichkeit gab, sich durch einen Schwindel Vorteile zu verschaffen.

Benommen vom schnellen Rollen der Ereignisse rollte Heem hinaus.