Prolog

 Sie war schlank und geschmeidig und erstaunlich hübsch für ihre Art, und wenn sie rannte, so wehte ihr Haar in einem blauen Fächer. Auch ihre Haut war blau, dabei aber hell und fast durchscheinend zart. Nach capellanischen Maßstäben war sie eine Schönheit.

»Jess!« rief sie, als sie dem blauen Mann den Weg abschnitt. »Was willst du zu Hause?«

Er grinste, seine Zähne ein helles Strahlen zwischen den blauen Lippen. Er war bartlos und klein, ihr in Größe und Gestalt so ähnlich, wie ein Männlicher es sein konnte. »Ich fürchtete schon, du würdest nie danach fragen! Es ist eine Säge, was sonst!«

Sie küßte ihn mit jener gerade noch platonischen Leidenschaft, wie sie für diese solarische Subkultur typisch war, wobei ihre Zähne sich warnend in seine Lippen gruben. »Bist du etwa aus dem Trainingsprogramm entwischt? Wenn sie dich schnappen...« Sie verstummte, und ihr Gesicht verhärtete sich überaus reizvoll. »Was für eine Säge?«

Er trat zurück, strich mit einem Daumennagel über die durchscheinende Verpackung, ließ zu, daß sie aufklaffte und die Maschine freigab. »Ein superleistungsfähiger professioneller Hochleistungslaser«, verkündete er stolz. »Jetzt können wir die Balken für das Sommerhaus selbst zurechtschneiden. Ich schätze, die ersten nehmen wir schon heute nachmittag in Angriff.«

»Jess«, sagte sie beunruhigt. »Du hast doch nicht etwa...« Aber sie wußte aus seiner Aura, daß er nicht unter einem außergewöhnlichen Schuldgefühl litt.

»Natürlich hab' ich sie nicht gestohlen«, erwiderte er und funkelte sie in gespielter Entrüstung an. »Ich hab' sie einfach gekauft. Das ist etwas legaler so. Sie gehört uns, Jess, ganz und gar uns! Ist sie nicht ein Prachtstück?«

»Aber Jess - wir können es uns doch nicht leisten...«

»Mädchen, das Problem mit dir ist, daß du kein Vertrauen hast«, sagte er mit triumphierendem Ernst. Doch in seiner Aura war etwas, eine Erregung, die sich ihr durch die Interaktion ihrer Auren mitteilte. »Würde ich Geld verschwenden?«

»Jess - du hast doch nicht etwa erneut die Burg verpfändet? Du weißt, daß wir so gut wie pleite sind. Wir können kaum unser Faktotum, Flowers, bezahlen oder die Steuer austricksen! Abgesehen davon brauchst du meine Unterschrift, um...«

»Verpfänden, Himmel und Hölle!« rief er. »Ich hab' die alte Hypothek abbezahlt, oh du Spatzenhirnige.« Sogar seine Aura schien sich mit ihrer seltsamen Erregung über sie lustig zu machen.

»Nun red schon. Ich kann einen so riesigen Brocken nicht auf einmal verdauen. Was ist wirklich los, Jess? Sind dir die Kredithaie auf den Fersen?«

Er verlieh seinem Gesicht einen ernsthaften Ausdruck, jedoch vermittelte seine Aura das Gegenteil. »Paß auf, Jess, du mußt den Sicherungshebel umlegen, nämlich so, und schon kannst du mit dem Ding loslegen. Dann stellt man das Gerät auf das Material ein, das man damit schneiden will, was wir uns im Augenblick schenken können, denn es ist bereits auf einen Standardwert eingepegelt. Dann schaltet man es ein und...«

»Jess!« rief sie bestimmt. Diesmal versetzte ihre Aura der seinen einen heftigen Knuff.

»Jess«, erwiderte er ruhig.

»Jess, würdest du mir mal deine Aufmerksamkeit schenken?«

»Jessica, tue ich das nicht immer? Jedes kleine Bißchen, das ich erübrigen kann?« Seine Augen waren blaue Spiegel spöttischer Unschuld.

»Das Geld, Jess - das Geld.«

»Ist das nicht mal wieder typisch Frau«, hänselte er sie. »Da habe ich diese spitzenmäßige, supertolle Lasersäge, die wahre Königin unter allen Sägen in der Hand, und sie denkt an nichts anderes als an banale, weltliche Nebensächlichkeiten wie...«

»Jess, willst du, daß ich schwierig werde?«

Er wich mit einem Ausdruck des Schreckens zurück, den er. nicht lange aufrechterhalten konnte und der sich zu einem Lachen auflöste. »O nein! Alles, aber nicht das, Jessica! Alles, was du kannst, kann ich besser, nur das nicht! Oh, ich kann dich nicht ertragen, wenn du schwierig bist. Das liegt allein an dem X-Chromosom, klar; es ist vollgestopft mit Schwie...«

»Das stimmt nicht!«

»Doch, und wie das stimmt! Du bist die schwierigste Kreatur im gesamten System Capella! Du...«

»Ich dachte eher an eine andere Sache, Jess. In der ich viel besser bin als du.«

Er sah sie an, ein reizender Anblick in ihrem Zorn. »Das zählt nicht, Jess. Das ist eine Eigenschaft des Geschlechts. Um fair zu sein, müssen wir meine Beziehungen mit den deinen vergleichen und uns dann die Partnerwerte ansehen. Ich wette, ich...«

»Ich dachte an den Bereich der Kunstfertigkeit«, unterbrach sie ihn und wich seinem Köder aus. »Du kannst aus freier Hand nicht einmal ein halbwegs ansehnliches Hologramm zustande bringen.«

Er hob seine Hände in der äonenalten solarischen Geste der Kapitulation. »Ich ergebe mich, Schwesterlein. Zwei Dinge. Hologramm und schwierig sein. Wenn ich der weibliche Aspekt des Klons wäre, dann wäre ich darin auch ganz groß.«

»Wenn du der weibliche Aspekt wärest, Jess, dann hättest du niemals einen Kredit, den wir nicht haben, auf eine Säge verschwendet, die wir uns nicht leisten können, um damit ein Sommerhaus zu bauen, in dem wir niemals wohnen werden, da man uns aufgrund unserer Schulden von unserem Gut vertreiben wird. Und jetzt heraus damit, und versuch gar nicht erst zu lügen, denn du weißt ja, daß ich das in deiner Aura sofort spüren würde.«

»Das ist das Kreuz mit einer geklonten Aura«, klagte er. »Nichts bleibt geheim. Nicht eher, als bis ein Klon sich von seinem Erbgut befreit und sich zu weit von seinem Ursprung entfernt...«

»Das Geld, Jess«, bohrte sie.

»Nun, wenn du getreu deiner weiblichen Eigenart wirklich keine Ruhe geben willst - es ist der Vorschuß für die Mission.«

»Was für eine Mission? Du bist doch noch in der Ausbildung.«

»Nicht mehr. Sie brauchten einen anonymen Solarier mit einzigartigen Fähigkeiten, und ich brauchte eine schnelle monetäre Infusion, daher...«

» Wer brauchte? Für was? Wo?«

»Tausendstern.«

Sie starrte ihn sprachlos an.

»Segment Tausendstern«, wiederholte er und weidete sich an ihrer Verblüffung. »Du hast sicher schon mal davon gehört. Das fernste Segment der Milchstraßengalaxis, zwanzigtausend Parsec von hier entfernt, plus oder minus ein paar Lichtsekunden. Zahllose nichtmenschliche Intelligenzler zusammengepfercht in...«

»Ich hab' dieselben Kurse in Geographie besucht wie du. Hier im Segment Etamin haben wir genauso viele intelligente Spezies. Was ist mit Tausendstern?«

»Der Vorschuß beträgt zwanzigtausend Einheiten galaktischer Währung, zu denen noch einmal derselbe Betrag kommt, wenn die Mission erfolgreich abgeschlossen wurde. Diese Säge kostete nur fünftausend, und unsere Hypothek betrug zwölftausend, also haben wir noch dreitausend übrig, um...«

»Mit Elementarmathematik kenne ich mich auch ganz gut aus«, sagte sie schwach. »Aber dieses Honorar...«

»Schön, ich gebe zu, es ist ziemlich mickrig, aber...«

»Mickrig!« explodierte sie. »Willst du dich nicht endlich zusammenreißen? Es ist ein Vermögen! Wie kann eine Null wie du, Jess-Mann...«

»Aber es ist so, wie ich sagte, Jess-Mädchen. Ich brauche nur so zu tun als ob. Ich brauche die Mission noch nicht einmal erfolgreich durchzuführen, obwohl ich das natürlich tun werde. Du brauchst in Zukunft nicht mehr deine Gunst feilzubieten.«

»Ich verkaufe niemandem meine...« Sie brach mitten im Satz ab. »Versuch nicht, mich mit deinen Zweideutigkeiten abzulenken! Warum sollte das Segment Tausendstern einem anonymen solarischen Klon zwanzigtausend galaktische. Währungseinheiten als Vorschuß in den Rachen werfen?«

»Heh!« rief er und spielte den Beleidigten. »Glaubst du, ich bin nicht soviel wert, Jess?«

»Du bist eine Million wert, wenn du das richtige aristokratische Klon- Mädchen heiratest und das Besitztum erhältst«, sagte sie kalt. »Deshalb möchte ich deinen Kopf nicht auf dem königlichen Richtblock liegen sehen. Du bist kein wilder Riese wie Morrow, der es sich leisten kann...«

»Äh, Morrow«, fiel er ihr ins Wort. »Was gäbe ich für seine Muskeln, seine Moneten und seinen Massel, von seiner scharfen Frau ganz zu schweigen...«

»Jetzt hör endlich mit dem Herumgealbere auf und spuck's aus!«

Er spuckte es aus: »Jessica, ich weiß es nicht. Der Auftrag ist geheim. Aber er ist legal. Er wurde von Etamin und Sol übermittelt.«

»Vom Imperialen System und der Mutterwelt also«, sagte sie leise. »Dann muß die Mission legitim sein. Es sei denn, Andromeda hat wieder begonnen, Geiseln zu nehmen.«

»Unmöglich. Hast du vergessen, daß Melodie von Mintaka diese Möglichkeit ein für allemal beseitigt hat? Im letzten Jahrhundert hat es keine Geiselnahme mehr gegeben: der Wirt steuert den Körper, egal wie die Aura des Transferers beschaffen ist, außer der Wirt gestattet der fremden Aura, die Kontrolle zu übernehmen. Überdies stellt Andromeda keine Gefahr mehr dar; die Milchstraße kontrolliert sämtliche Sphären Andromedas.«

»Stimmt schon«, gab sie, wenn auch unsicher, zu. »Jedoch muß es sich um eine gefährliche Mission handeln. Völlig verrückt, wenn dafür ein derart hohes Honorar gezahlt wird.« Sie wandte sich ihm zu, und er spürte die Unruhe in ihrer Aura. »Jesse, du und ich stehen sich näher, als zwei andere Menschen es je getan haben, außer es sind gleichgeschlechtliche Klons, und manchmal glaube ich, daß wir einander noch näher sind, da wir unaufhörlich auf unsere Ähnlichkeit konzentriert waren. Wenn ich dich verlöre...«

Er dämpfte seine Begeisterung und reagierte auf ihre Worte mit gleichem Ernst. »Deshalb habe ich doch die Säge gekauft, Jessica. Ich wußte, daß du mitmachst. Es war keine Verschwendung; sie wird sich bereits in einem Jahr bezahlt gemacht haben, indem sie alle Bretter und Balken zurechtschneidet, die wir brauchen. Dies ist die große Chance, unsere Familie wieder in ihren aristokratischen Stand zu heben. Die Saat der Gütigen Königin Bess wird wieder aufblühen.«

»Aber die Mission! All das Geld für einen geheimen Auftrag! Warum ist er geheim, Jess? Weil sie sicher sind, daß du stirbst?«

»Danach habe ich gefragt. Ich hab' ein ziemlich schlaues Köpfchen, vergiß das nicht. Das verdanke ich meiner Ausbildung. Die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs liegt bei fünf Prozent. Das ist gar nicht übel, Jess. Eins zu zwanzig. Wenn ich also meinen Auftrag in Angriff nehme, habe ich eine fünfundneunzigprozentige Chance, am Leben zu bleiben - wahrscheinlich sogar achtundneunzigprozentig für einen Schlaukopf wie mich -, und eine hundertprozentige Sicherheit, den Vorschuß behalten zu können. Mag sein, daß die Erfolgsaussichten gering sind - das weiß ich nicht - auf jeden Fall werde ich wieder nach Hause zurückkehren, und dann brauchen wir das restliche Honorar überhaupt nicht mehr. Der Vorschuß allein wird unsere ökonomischen Probleme lösen. Ich bin entschlossen, dieses winzige Risiko auf mich zu nehmen - um unseres Schlosses, unseres Besitztums und unserer Familie willen. Ohne den Vorschuß besteht eine dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit, daß unser Besitz zwangsvollstreckt wird. Das weißt du selbst. Königliche Abkunft ist kein göttliches Privileg mehr. Stammen wir auch von der Königin Bess ab, so ist die Macht unserer Familie in den letzten tausend Jahren stetig weniger geworden, da wir verweichlichten. System, Sphäre und Segment sind erstarkt, während wir verblaßten. Das Universum braucht keinen Adel mehr. Und jetzt kann ich mit einer einzigen Aktion unseren früheren Status wiederherstellen - oder uns zumindest eine echte Chance bieten, den Verfall aufzuhalten. Ist das denn kein Wagnis wert?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie und biß sich auf die Lippe, so daß sie einen intensiveren Blauton annahm. »Einiges an dieser Abmachung erscheint doch sonderbar. Du hast den Auftrag doch nicht durch irgendwelche Verdienste erhalten, oder?«

Er bemühte sich gar nicht erst, seinen verletzten Stolz aufzupolieren. »Nein, es gibt eine Menge qualifizierter Kandidaten. Doch zwei Drittel von denen würden um keinen Preis einen geheimen Auftrag annehmen, und von den restlichen war ich der einzige mit adligem Blut in den Adern. Die Königswürde bedeutet Stolz, mehr Stolz als Geld oder Verstand. Das wissen sie. Wir würden sie niemals im Stich lassen, wenn es hart auf hart kommt, denn wir hassen nichts so sehr wie ein Scheitern. Das wäre schlecht für das Image. Deshalb war ich ihr bester Mann: ein qualifizierter, verwegener Royalist.«

»Verwegen - genau das ist es, Jess. Mir gefällt das alles nicht.«

Er lachte, doch seine Aura strafte ihn Lügen. »Komm schon, laß uns den ersten Balken schneiden, während wir nachdenken.«

Mit einem von Sorge überschatteten Lächeln gab sie nach.

Sie trugen die Säge zu ihrem Berghain aus Purpurkiefern. Das alte königliche Gut besaß einige der schönsten naturgewachsenen Holzbestände des Planeten. Einige der Kiefern stammten aus der Zeit von Königin Bess, die, wie es in den Legenden hieß, den fröhlichen grünen Flint von Außenwelt zu ihrem Geliebten erkoren hatte, von ihm einen Nachkommen empfing und nach der Niederkunft dieses Besitztum begründete. Ungeachtet des Gewichts dieses zweifelhaften historischen Anspruchs war es ein schöner Landsitz. Das Schloß besaß immer noch die Drachenställe und das gleichermaßen eindrucksvolle riesige Bett, wo der grüne Mann der Überlieferung nach so hervorragend gewirkt hatte. Unglücklicherweise hatte sich jene phänomenale Aura der Intensität zweihundert niemals in Flints Nachkommen manifestiert, und mit dem Niedergang der formellen Monarchie verkamen die Eigentümer des Gutes zu dessen Verwaltern.

Als der Zweite Energiekrieg im Cluster tobte, eintausend Jahre nach dem ersten, war aus dieser capellanischen Gegend kein Held mit hochintensiver Aura erstanden, der die Milchstraßengalaxis hätte retten können. Statt dessen war Melodie von Mintaka gekommen, eine fremdartige, nichtmenschliche Kreatur in einem solarischen Wirt. Sie hatte das Werk vollbracht, und sie war tatsächlich eine entfernte Nachkommin Flints von Außenwelt, allerdings aus dem nichtmenschlichen Familienzweig, aber der Glanz der Sphäre Sol war verblaßt, und das System Capella wurde zu einer Hinterwäldlerregion.

Das war zum Teil das, was den einzigartigen männlichweiblichen Klons Jess durch den Kopf ging, während sie sich der Gruppe Purpurkiefern näherten. Ein anonymes Überbleibsel eines ehemals so stolzen Systems einer früher großartigen Sphäre zu sein - es gab eine gewisse Unzufriedenheit, die die Generationen quälte. Die männlichen Angehörigen wollten wieder zum Status der Prominenz, wenn nicht sogar der Erhabenheit, zurückkehren, und die weiblichen Mitglieder, die in der Wahl der Mittel etwas vorsichtiger waren, strebten nach einem ähnlichen Ziel.

Jess aktivierte die Säge. Die Laserklinge sprang heraus, eine grellweiße Lanze, die in einer vorher eingestellten Entfernung endete. »Tritt zurück«, sagte er, aber sein Schwester-Ich brauchte keine ausdrückliche Warnung. Sie hatte Angst vor dem kurzen, tödlichen Strahl.

Er näherte sich einem Baum. Nicht einem der äonenalten Stämme, denn diese waren geradezu Denkmäler, sondern einem sehr schönen Jahrhundertexemplar. Dessen Borke war so blau wie seine Haut, die Nadeln schimmerten purpurn. »In welche Richtung neigt er sich?« erkundigte er sich.

Sie betrachtete den Baum, ging um den Stamm herum, wobei ihre Brüste sich vorwölbten, als sie den Kopf in den Nacken legte. Sie war sich ihrer weiblichen Attribute überaus bewußt, denn nur hier in der Abgeschiedenheit des Besitztums konnte sie zulassen, daß sie sich deutlich zeigten. Niemand draußen kannte sie so, wie sie wirklich war. »Keine Neigung«, entschied sie. »Ein perfekt ausbalancierter Baum.«

»Ich will keinen ausbalancierten Baum! Ich möchte einen, von dem ich vorher weiß, wo er hinfällt!«

»Dann nimm einen anderen Baum. Einer, der deinem Ungestüm eher zusagt.«

»Unausgewogen... Ungestüm«, murmelte er. Dann hob er die Säge. »Ich denke, ich sollte ein oder zwei Wucherungen entfernen«, sagte er und schwenkte den Laser neckend gegen ihren Busen.

Sie sprang zurück. »Wag das, und ich werde dort eine Schwellung entfernen«, entgegnete sie und wies auf seinen Schoß. »Deine rindsköpfige Freundin sähe das sicherlich gar nicht gern.«

Er reckte den Kopf vor. »Welche Rindsköpfige?«

»Diese Kuh Bessy natürlich.«

»Ach so, die Rindsköpfige meinst du.« Er zuckte die Achseln. »Wie geht es denn deinem geilen, gemeinen Bock, der glaubt, du seist eine Kammerzofe? Dort befindet sich die Schwellung, die man einmal gründlich trimmen muß.«

»Sei nicht eifersüchtig. Die Natur schenkt den Gemeinen Körper...« »Während ihnen der Intellekt versagt bleibt«, beendete er den Satz für sie.

»Du mußt jetzt einen Baum fällen.«

»Hhmm.« Er setzte das Sägeblatt an der Stelle gegen den Baum, wo der Stamm sich zur Wurzel verbreiterte, und führte die Klinge langsam durch das Holz.

»Sie funktioniert nicht«, stellte das Mädchen ganz besorgt fest.

»Das glaubst auch nur du, du dämliches Weib«, sagte er mit Genugtuung in der Stimme. Er führte den Schnitt zurück, ohne den Strahl vom Baum zu lösen. Der schmale Streifen grellweißen Leuchtens zwischen Säge und Baum färbte sich rot. »Autsch! Ich arbeite zu hastig; die Klinge wird stumpf. Lieber langsam. Das Blatt ist moleküldünn. Der sichtbare Streifen dient nur dazu, die Stelle zu markieren. Dennoch steckt im Schneiden von Holz eine Menge Arbeit. Man muß langsam schneiden, sich Zeit lassen. Siehst du?« Der Strahl hatte wieder seine ursprüngliche weiße Farbe angenommen.

»Aber ich sehe keinen Schnitt«, sagte sie.

Er ignorierte ihren Einwand und führte die Säge nach oben. Kurz darauf erschien der Strahl wieder. Der Baum stand unbewegt. »Und jetzt hol den Keil heraus«, forderte er sie auf.

»Klar doch.« Sie spielte das Spiel mit, stützte ihre Hände an der Stelle gegen den Stamm, wo sich der imaginäre Keil befand, zerrte mit vermehrter Kraft - und kippte hintenüber, als der Keil sich löste.

Ihr Bruder-Ich kicherte. »Jetzt heb dein fettes Hinterteil aus dem Gras und zieh deinen Rock runter. Ich bin nicht dein geschwollener Gemeinen-Freund. Ich werde den Baum dorthin fallen lassen.«

Sie sah auf den Keil in ihren Händen, dann zum Einschnitt im Baumstamm. Die Schnittkante war leicht gekrümmt, weil er die Säge unruhig geführt hatte, und an einer Stelle war die Schnittfläche stark aufgerauht, dort nämlich, wo er zu schnell gesägt hatte. Deshalb war der Keil auch nicht von selbst herausgefallen. Es gab keinen Zweifel, daß der Laser dieses Werk vollbracht hatte. Sie stemmte ihr schlankes Gesäß hoch. »Das ist aber eine tolle Maschine!« äußerte sie ihren unfreiwilligen Respekt.

»Das ist es, was diese Mission für uns bedeutet«, sagte er selbstgefällig. »Ich habe drei Tage frei, ehe ich mich zur Stelle melden muß; ich will mit dem Sommerhaus fertig werden.«

»In drei Tagen?« fragte sie ungläubig. »In dieser kurzen Zeit schaffen wir noch nicht mal das Fundament!«

»Stimmt schon, die Säge kann nicht für alles herhalten«, meinte er und überlegte, als er dem Baum mit der Säge von der anderen Seite zu Leibe rückte. »Du wirst wohl die letzten Feinarbeiten durchführen müssen, während ich weg bin. Dann bist du wenigstens beschäftigt, wenn du nicht gerade deine Klauen polierst. Die Mission dauert nur zehn Tage oder so. Für diese Zeitspanne ist die Bezahlung doch recht gut.«

»Das schon«, pflichtete sie ihm bei und betrachtete unwillkürlich ihre sauberen, kurzen, unpolierten Fingernägel. Ihr Verdacht meldete sich wieder. »An der ganzen Sache muß ein Haken sein.«

»Na schön, vielleicht ist die Mission wirklich unangenehm«, gab er zu, dabei seine Fortschritte beim Sägen aufmerksam beobachtend. »Ein widerlicher Transfer-Wirt. Ein riesiger Klumpen aus Erbrochenem oder anderem Mist. Das kann ich für zehn Tage schon aushalten. Und wenn die Mission erfolgreich verläuft und ich dann das Resthonorar bekomme...« Er warf ihr einen Seitenblick zu, und der Laserstrahl rutschte aus und verdarb den glatten Schnitt. »Wir könnten uns dann eine Heirat und die Reproduktionsgenehmigung für einen von uns leisten, und zwar klonfrei. Wir brauchen nicht mehr mit sterilen Partnern herumzumachen.«

»Ja...«, hauchte sie. »Endlich von dieser Einschränkung befreit zu sein. Ernsten, sinnvollen Sex zu erleben, eine Familie haben, Sicherheit...«

»Persönlichkeit, einen Status«, fügte er hinzu. »Holz!«

»Holz?«

»Das ruft man, wenn ein Baum gefällt wird.«

»Oh!« Sie sprang beiseite, als die Kiefer sich zu gravitätisch zur Seite zu neigen begann.

Der Aufprall war furchtbar. Purpurne Nadeln regneten herab, und ein kräftiger Ast wurde losgerissen und prallte ganz in der Nähe auf den Boden. Laut hallte das Krachen und wurde von den Bergen als Echo zurückgeworfen. Das untere Ende des Stammes rutschte vom Stumpf und schlug nach hinten aus, als wolle der Baumriese einen von ihnen in sein Verderben mitnehmen.

Bruder- und Schwester-Ich blieben für einen Moment stocksteif stehen, nahezu von dem überwältigt, was sie bewirkt hatten. Selbst ein vergleichsweise kleiner Baum wie dieser besaß eine enorme Masse! Ein größerer Baum hätte wahrscheinlich den ganzen Berg erzittern lassen.

Jesse hob erneut den Laser. »Und jetzt zu den Balken«, sagte er, wobei seine Stimme völlig ruhig klang, seine Aura jedoch aufzuflackern schien.

»Wie soll das denn gehen?«

»Ganz einfach, Dummchen. Miß mal ein Stück von zehn Metern Länge ab, und ich werde sofort mit dem Schneiden beginnen.«

»Muß das Holz nicht lagern?« fragte sie. »Angenommen, es verzieht sich?«

»Weißt du denn überhaupt nichts, Zelle von meiner Zelle? Das Holz der Purpurkiefer verzieht sich nie. Es schrumpft noch nicht einmal wesentlich. Oder biegt sich. Es wird dort hart, wo man es verbaut. Deshalb ist dieses Holz auch so wertvoll und muß geschützt werden, in dem man es auf Gütern wie dem unseren stehen läßt. So daß nur eine Art hegender Holzschlag betrieben wird, um die Wälder sinnvoll zu lichten. Es wird nicht forstweise gefällt. Wir sollten es gleich zurechtschneiden, solange es noch weich ist.«

»Oh.« Sie verfügte über die gleiche Intelligenz wie er und hatte dieselbe Ausbildung genossen, jedoch hatte sie speziell diese Information völlig versäumt. Manchmal hatten sie sich bei besonders langweiligen Lektionen gegenseitig vertreten, so daß einer alle möglichen Informationen aufschnappen konnte, die dem anderen fehlten. Allmählich begann sie sich von ihrem Bruder immer deutlicher zu unterscheiden, und die Tarnung gleicher Kleidung in der Öffentlichkeit würde nicht mehr lange wirksam sein.

Sie holte ihr Maßgerät heraus und berührte mit der kleinen Scheibe das untere Ende des Stammes, ging dann am Baum entlang, bis die Meßskala zehn Meter zeigte, dann berührte sie den Baum erneut. An dieser Stelle erschien nunmehr ein roter Punkt.

Er glättete das untere Ende, dann teilte er den Baum an der Zehn-MeterMarkierung. Der Stamm rutschte ein Stück und drückte sich dann in den schwammigen Untergrund. Nun drehte Jesse am Kontrollknopf und stellte die Säge neu ein. »Eigentlich tue ich das alles ja für dich. Ich werde wohl einen anderen adligen Klon heiraten müssen, während du dir eine echte Person suchen mußt, um mit ihr eine Familie zu gründen.«

»Willst du mit mir wetten? Es gibt in unserer Generation mehr männliche als weibliche Vertreter. Deshalb hat man mich operiert, um mich weiblich zu machen, womit die Wette sich erübrigen dürfte. Wahrscheinlich muß ich den Klon heiraten, während du dich mitten in der Masse der Gemeinen herumtummelst.«

»Das ist nicht schlecht«, gab er zu. »Ich muß zugeben, daß es einige Gemeine gibt, denen ich mal gerne nähertreten möchte. Das Klontum ist heutzutage doch ziemlich steril geworden; sehr wenige von uns haben noch Feuer im Herzen und Ehrgeiz. Die meisten gehören zur Prominenz und zwingen uns, dieses Spiel mitzuspielen. Tritt mal ein Stück zurück, Kleines. Was jetzt kommt, ist nicht ganz ungefährlich.«

Die Spitze des Laserstrahls zuckte vor. Jess paßte den Strahl der Länge des Stammes an, dann senkte er den Strahl, so daß er sich in die Rinde hineinbrannte. Er drehte den Stamm um ein Viertel seines Umfangs und brachte einen weiteren Schnitt an. Dann justierte er die Säge wieder auf ihre vorherige Länge und benutzte den Sägestrahl, um entlang einer Linie eine gerade Kante zu schaffen. Eine Meßtabelle an der Säge zeigte ihm genau an, wie er den Strahl zu führen hatte, um einen geraden Schnitt zu erhalten.

»Weißt du, eines Tages werden die anderen Klons merken, was mit dir los ist«, meinte er, während er mit seiner Arbeit fortfuhr. Jesse konnte niemals lange schweigen. »Wir können es nicht ewig geheimhalten.«

Sie wußte es. Sie hatte Alpträume über vorzeitige, unfreiwillige Entlarvung. Dennoch bewies ihre Antwort eine verbissene Tapferkeit. »Wenn du einen aristokratischen Partner findest, dann schaffen wir es. Es wäre schön, wenn wir diese Sicherung für eine weitere Generation aufrechterhalten und damit unser Geschlecht schützen könnten. Wenn erst einmal andere Klons darauf aufmerksam geworden sind, dann werden alle es uns nachmachen, und unser Geschlecht wird seinen Vorsprung einbüßen.«

Er nickte ernst. Mit vier Schnitten hatte er einen im Grundriß quadratischen Balken von zehn Metern Länge vor sich liegen. Die Unregelmäßigkeiten des Schnittes ließen ihn wie authentisch handgearbeitet erscheinen. »Na, gibt es einen perfekteren Firstbalken als diesen?«

»Nein«, erwiderte sie beeindruckt.

»Bist du mir immer noch böse, daß ich die Säge gekauft habe?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Fünftausend Kredits - davon kannst du dir kübelweise dein lächerliches Parfüm kaufen, um in den Augen der Gemeinen sexy zu erscheinen.«

»Die Säge wäre mir lieber.«

Er grinste zufrieden. »Ich nehme dich beim Wort. Den nächsten Balken schneidest du zurecht. Warum soll ich die ganze Arbeit tun?«

»Und die Hypothek auf das Schloß ist auch bezahlt«, sagte sie, und ihr gefiel diese Vorstellung immer besser. »Das ist das erste Mal, daß unsere Familie im Verlauf einer Generation schuldenfrei ist.«

»Aber wenn man bedenkt, wie gefährlich die Mission...«, neckte er sie.

»Ach, sei doch still!«

»Du weißt jetzt, wie man das Ding ein- und ausschaltet, Jess. Die Säge, meine ich. Sie ist nicht so schwer. Halte nur den Arm ganz ruhig und sieh zu, daß deine Zitzen nicht herumbaumeln und in den Strahl geraten.« »An mir baumelt überhaupt nichts, aber an dir!« Doch sie griff nach der Säge, begierig, ihre eigene Geschicklichkeit zu prüfen. Sie war natürlich im Geist männlicher Traditionen erzogen worden, und es gab verschiedene typische Aspekte, die ihr gefielen, wie zum Beispiel das Zuschneiden von Holzbalken.

»Wenn ich mit jemandem zusammen bin, der mich interessiert, dann baumelt an mir nichts.« Er griff nach der Meßscheibe und markierte ein weiteres Zehn-Meter-Stück. »Schneid ihn an dieser Stelle durch.«

Sie näherte sich ihm. »Den Baumstamm, nicht mich!« protestierte er und wich zurück, wobei er die Hände schützend vor sich hielt.

Sie zuckte die Achseln, als wäre sie enttäuscht, und setzte den Sägestrahl am Markierungspunkt an. Der Laser drang ins Holz ein. »Ich spüre noch nicht einmal einen Widerstand!«

»Stimmt. Es gibt beim Laser keinen Druck, kein Verkanten. Achte nur darauf, daß der Strahl immer weiß bleibt. Mit diesem Werkzeug können wir Bretter zurechtsägen, Rundbalken formen, Paneele polieren, Löcher bohren - alles mögliche! Ich will damit Holzdübel anfertigen, die die ganze Konstruktion zusammenhalten. Diese Säge hat spezielle Einstellungen, um Schrauben zu drehen, Nuten zu fräsen, für Gehrungen und Schnörkel. Man muß sie nur entsprechend programmieren. Mit dieser Säge können wir unser ganzes Haus bauen!«

»Du hast recht«, sagte sie und versuchte nicht länger, die Gekränkte zu spielen. »Wir brauchen die Maschine. Sie ist ihren Preis wert. Sieh du nur zu, daß du dich rechtzeitig zu deiner Mission meldest.«

»Es gibt so gut wie nichts, außer dem Tod, das mich davon abhalten könnte«, versicherte er ihr. »Und die Versicherung der Gemeinschaft der Wirte würde für die Vorauszahlung geradestehen, falls ich stürbe, ehe ich mich zur Stelle melde, so daß du sogar in diesem Fall das Geld behalten dürftest. Doch ich mache das alles nicht nur wegen des Geldes. Ich habe dieses Aristokratenleben endgültig satt. Ich möchte zur Abwechslung endlich mal ein richtiges Abenteuer erleben! Ich möchte hinaus zu den Sternen, möchte zu den fernsten Orten reisen, fremde Intelligenzen kennenlernen, das Universum sehen!«

»Ja...«, seufzte sie und beneidete ihn um sein zukünftiges Abenteurerleben.

»Sorge du nur dafür, daß ich rechtzeitig aufwache, um mich zum Transfer zu melden...«

Der Stamm war durchgetrennt, ehe sie sich versah. Er kippte weg und rollte auf sie zu. Er war schwer, an der Schnittstelle einen halben Meter dick: mächtig genug, um ein Bein zu zerquetschen. Jessica schrie in pa-

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nischem Schrecken auf und riß die wertvolle Säge aus dem Weg, den Finger immer noch um den Auslöser gekrampft. Jesse griff nach ihr und wollte sie aus der Rollbahn des Stammes zerren.

Der wild herumschwingende Laserstrahl strich über seine Wirbelsäule. Sein Hemd klaffte auf, sauber durchschnitten, doch im ersten Moment war kein Blut zu sehen. Er stürzte, seine Arme um ihre Schenkel geschlungen.

Der rollende Stamm kam wenige Zentimeter vor seinem Körper zur Ruhe, aufgehalten von einer Bodenwelle. Jessica, die wie in Trance reagierte, löste ihren Finger von der Auslösertaste, schaltete die Säge ab, legte sie vorsichtig nieder und fing ihren Bruder unter den Armen auf, als er mit dem Gesicht zuerst dem Erdboden entgegenkippte. »O Jesse, bist du verletzt?«

Doch noch während sie fragte, wußte sie, daß es stimmte. Seine Aura, die mit der ihren wirklich verschmolz, pulsierte hektisch. Der Laserstrahl, der auf Holzschnitt eingestellt war, hatte ihn nur kurz berührt - nicht lange genug, um seinen Körper zu zerschneiden oder auch nur das Rückgrat zu durchtrennen, doch es hatte gereicht, daß er rund einen Zentimeter tief eingedrungen war. An anderer Stelle hätte er eine schreckliche Fleischwunde davongetragen. An der Wirbelsäule war die Verletzung jedoch lebensgefährlich.

Sein Körper war paralysiert, doch er war bei Bewußtsein und konnte reden. »Jess...«, keuchte er, als sie ihn herumdrehte und mit zarten Händen den Schmutz aus seinem Gesicht wischte. »Meine Aura - ist sie...?«

»Jess, der Strahl hat deine Wirbelsäule getroffen«, sagte sie voller Entsetzen. »Deine Aura schwankt.« Sie kannte den Umfang, wenn nicht sogar die genaue Art der Verletzung, denn die sympathische Reaktion in ihrer eigenen Aura zielte auf die Wirbelsäule und ließ in ihren Beinen ein oberflächliches Taubheitsgefühl entstehen. Seine Aura schwankte? Das war eine Untertreibung. »Ich benachrichtige eine Ambulanz.« Sie suchte nach ihrem Kommunikator. Die Unfallrettung würde schon in wenigen Minuten auftauchen.

»Nein, Jess!« krächzte er. »Möglich, daß ich am Leben bleibe - wochenlang in einem Krankenhaus eingesperrt! Ich hab' nur noch zwei Tage Zeit!«

»Zur Hölle mit deinen zwei Tagen!« rief sie, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Du kannst deine Mission jetzt nicht antreten! Selbst wenn du nicht schwer verletzt wärest, würde deine Aura den Test nicht bestehen. Schließlich gibt sie auch deine seelische Verfassung wieder. Sie muß völlig gesund sein, wenn man bei der Prüfung durchkommen will! Ich passe gut auf dich auf. Das verspreche ich!«

»Töte mich«, bat er sie. »Sag, ich hätte einen Unfall gehabt. Streich mit dem Laser über meine Brust, langsam, und zerschneide mein Herz...«

»Nein!« schrie sie auf. »Jess, was redest du da?«

»Die Versicherung - Todesfall - nur wenn ich sterbe, reicht sie aus, um...«

»Jess!«

»Jess, ich darf mich nicht vor dieser Mission drücken. Der Vorschuß wäre verloren, die Versicherung würde nicht zahlen, und wir würden den gesamten Besitz verlieren, und das Ansehen der Familie wäre zerstört. Laß Flowers die Leiche abtransportieren. Er wird für dich aussagen. Er ist schon lange Zeit in diesem Geschäft tätig. Er hat schon früher Familienskelette präpariert, wette ich. Und er steht vollkommen loyal zu uns. Er wird es machen. Ich würde lieber sterben, als...«

»Jess, ich werde das niemals tun!« schrie sie. »Ich weiß, daß Flowers für uns aussagen würde. Das ist mir im Grunde auch gleichgültig. Ich liebe dich, Klon-Bruder! Es ist mir auch gleichgültig, was...«

Doch er war bewußtlos. Sie wußte es, weil seine Aura sich veränderte. Er hatte sich gegen die Bewußtlosigkeit gewehrt, bis er seine Botschaft herausgebracht hatte, und dann nachgegeben.

Sie führte den Kommunikator an ihren Mund - und hielt inne und überdachte die Situation, in der sie sich befanden. Der erste Gefühlssturm legte sich und ließ sie ihre augenblickliche Situation realistisch überdenken. Sie könnte das Leben ihres Bruders retten - für was? Für ein weiteres Leben in Armut und Schande? Er hatte genau den richtigen Vorschlag gemacht! Er war ein Spaßvogel, aber bestimmt kein Feigling. Er zog es vor zu sterben. Jetzt, sauber, schmerzlos, mit einer gewissen persönlichen Würde, sie verlassen und ihr die Sorge für das Ansehen der Familie und die Verwaltung des äonenalten Besitzes anvertrauen. Dies wußte sie - denn seine Aura war die ihre, sein Geist steckte in ihr, und sie teilte seine Ansichten. Sie waren von Adel! Wenn sie in ähnlicher Weise verwundet worden wäre und sowohl Ehre wie auch das Vermögen verspielt hätte, würde auch ihr der Tod als willkommene Lösung erscheinen.

Sie könnte es tun. Sie hatte die innere Kraft. Sie war in die königliche Familie hereingezüchtet - und weil sie von königlichem Geblüt war, würde man sie nicht befragen. Ihr Wort und der sichtbare Beweis würden ausreichen. Flowers würde sein professionelles Können einsetzen, um die Sache hieb- und stichfest zu machen. Sie könnte ihr Bruder-Ich töten und damit die Ehre und das Vermögen der Familie retten. Es war angeraten.

Dabei liebte sie ihn wie sich selbst. Wie sollte sie der Welt ohne ihn an ihrer Seite die Stirn bieten? Auch wenn er später geheiratet hätte und sie auch, wobei einer in den Rang der Königswürde erhoben würde und der andere fortan zu den Gemeinen zählte, stünden sie sich jedoch immer noch nahe, schließlich gehörten sie zum selben Klon.

Ihr Entschluß mußte in diesem Moment fallen. Ehe sein Metabolismus sich auf die Verletzung eingestellt hatte und eine biochemische AuraAnalyse ermöglichte, die ihre Verkleidung entlarvte. Jetzt, in dieser Minute - oder niemals!!!

Jessica hob die Säge auf und hielt sie über Jesses Körper. Sie wußte, was sie tun mußte, doch ihre Liebe wehrte sich mit gleicher Energie. Gab es denn keinen Ausweg?