Oder Jo hatte vorgehabt, sich eine Katze ins Haus zu holen. Ich ging zurück zu dem Schrank und sah mir die sechs Dosen genauer an. Das Futter war für Katzenkinder.

Es sah also tatsächlich so aus, als hätte Jo geplant, sich ein Kätzchen zuzulegen. Weshalb hatte ich das Gefühl, dass das wichtig war?

Ich zog meine Jacke an, setzte meine Wollmütze auf, rannte hinunter auf die Straße und klingelte bei Peter. Er machte sofort auf, als hätte er die ganze Zeit durchs Fenster nach mir Ausschau gehalten. Seine Katze lag auf dem Sofa. Obwohl sie schlief, zuckte ihr Schwanz ganz leicht.

»Das ist aber eine nette Überraschung!«, sagte Peter. Ich spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. »Tee?

Kaffee? Oder vielleicht einen Sherry? Bei diesem Wetter hat ein Sherry eine wärmende Wirkung.«

»Tee wäre wunderbar.«

»Ich habe gerade eine Kanne gemacht. Als hätte ich gewusst, dass Sie kommen. Ohne Zucker, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Diesmal nehmen Sie aber einen Keks dazu, ja? Obwohl Sie es immer so eilig haben. Ich sehe Sie bloß im Laufschritt kommen und gehen. Sie sollten sich ein bisschen mehr Zeit lassen.«

Ich nahm ein Ingwerplätzchen aus der Dose, die er mir reichte. Es war schon ein wenig weich.

»Ich wollte Sie fragen, ob ich ein paar Einkäufe für Sie erledigen könnte«, sagte ich. »Sie gehen bei diesem Wetter wahrscheinlich nicht so gern aus dem Haus.«

»Das ist der Anfang vom Ende«, antwortete er.

»Wie bitte?«

»Wenn man aufhört, seine Sachen selbst zu erledigen.

Ich verlasse das Haus dreimal täglich. Morgens hole ich mir am Kiosk meine Zeitung. Kurz vor dem Mittagessen mache ich einen kleinen Spaziergang, auch wenn es regnet, so wie heute, oder eiskalt ist. Nachmittags gehe ich mein Abendessen einkaufen.«

»Wenn Sie trotzdem etwas brauchen …«

»Es ist sehr lieb von Ihnen, an mich zu denken.«

»Wie heißt Ihre Katze?« Ich streichelte ihren getigerten Rücken. Sie streckte sich genüsslich und öffnete ein goldenes Auge.

»Patience. Sie ist inzwischen fast vierzehn. Das ist alt für eine Katze, müssen Sie wissen. Du bist eine alte Dame geworden«, fügte er an das Tier gewandt hinzu.

»Hatte Jo eigentlich auch eine Katze?«

»Sie wollte eine. Sie hat gesagt, sie brauchte ein wenig Gesellschaft. Manche Leute lieben Hunde, andere bevorzugen Katzen. Jo war der Katzentyp. Was sind Sie?«

»Ich bin nicht sicher. Sie wollte sich also eine Katze zulegen?«

»Sie ist zu mir gekommen und hat mich gefragt, wo sie eine bekommen könnte. Sie hat gewusst, dass ich Katzen liebe. Ich habe immer welche gehabt, seit meiner Kindheit.«

»Wann war das? Wann ist sie deswegen zu Ihnen gekommen?«

»Oh, vor ein paar Wochen. Kurz bevor Sie eingezogen sind, glaube ich. Das müssten Sie eigentlich wissen.«

»Woher sollte ich das wissen?«

»Wir haben zu dritt darüber gesprochen, an dem Tag, als Sie Ihre Sachen gebracht haben und wir uns draußen auf dem Gehsteig begegnet sind.«

»An dem Mittwoch?«

»Möglich, dass es ein Mittwoch war. Erinnern Sie sich denn nicht mehr daran? Jo hat gesagt, sie wolle sich eine zulegen.«

»Wann?«

»Noch am gleichen Nachmittag, falls irgendwo eine aufzutreiben wäre. Ihr schien sehr viel daran zu liegen. Sie hat gesagt, dass sie in ihrem Leben etwas ändern müsse.

Mit dem Kätzchen wollte sie anfangen.«

»Welchen Rat haben Sie ihr gegeben, als sie Sie gefragt hat, wo sie eines bekommen könnte?«

»Es gibt viele Möglichkeiten, an ein kleines Kätzchen zu kommen. Als Erstes kann man die Karten bei den Zeitungshändlern oder im Postamt durchsehen. Die meisten machen es so, glaube ich. Da findet sich immer etwas. Erst heute ist mir eine dieser Karten aufgefallen, als ich mir meine Zeitung holte.« Das Telefon läutete, und er sagte: »Tut mir Leid, meine Liebe, nun müssen Sie mich kurz entschuldigen. Ich glaube, das ist meine Tochter. Sie lebt in Australien, müssen Sie wissen.«

Während er abnahm, stellte ich meine Tasse ins Spülbecken. Ich winkte ihm zum Abschied zu, doch er hob kaum den Kopf.

Am liebsten hätte ich Ben angerufen, nur um seine Stimme zu hören. Es wurde bereits dunkel, obwohl es nicht einmal vier Uhr war. Einer jener düsteren, nieseligen Tage, an denen es nie richtig hell zu werden schien. Ich schaute durch das Fenster auf die Straße, die noch vor wenigen Tagen schneebedeckt gewesen war. Jede Spur von Farbe schien sich verflüchtigt zu haben. Alles war anthrazit und grau. Die Leute, die mit eingezogenem Kopf vorübereilten, sahen wie Gestalten aus einem Schwarzweißfilm aus.

Ich schrieb eine Neufassung meiner »Verlorenen Tage«.

Freitag, 11. Januar, Showdown bei Jay & Joiner.

Wütender Abgang.

Samstag, 12. Januar: Streit mit Terry. Wütender Abgang. Übernachtung bei Sadie.

Sonntag, 13. Januar. Vormittags Wechsel von Sadie zu Sheila und Guy. Shoppingtour mit Robin, viel zu viel Geld ausgegeben. Gegen Abend Drink mit Sam. Rückkehr zu Sheila und Guy.

Montag, 14. Januar. Treffen mit Ken Lofting, Mr. Khan, Ben Brody und Gordon Lockhart. Telefongespräch mit Molte Schmidt. Wagen vollgetankt. Treffen mit Ben auf einen Drink, dann gemeinsames Essen. Sex mit Ben.

Anruf bei Sheila und Guy, dass ich nicht bei ihnen übernachte. Nacht bei Ben.

Dienstag, 15. Januar. Cafébesuch mit Ben, Begegnung mit Jo. Aufbruch von Ben. Gespräch mit Jo, die mir Zimmer in ihrer Wohnung anbietet. Rückkehr zu Sheila und Guy, wo ich Nachricht hinterlasse, dass ich anderswo untergekommen bin. Mitnahme meiner Sachen. Fahrt zu Jos Wohnung. Buchung eines Venedig-Urlaubs. Anruf bei Terry wegen Abholung meiner Sachen am folgenden Tag.

Essensbestellung beim Inder. Aufnahme eines Videos?

Mittwoch, 16. Januar: Abholung meiner Sachen bei Terry, Transfer zu Jo. Treffen mit Peter, Gespräch über Jos Vorhaben, sich eine Katze zuzulegen. Telefonat mit Todd. Kauf eines Bonsai. Gegen Abend Besuch bei Ben.

Sex ohne Kondom. Rückkehr in Jos Wohnung.

Donnerstag, 17. Januar: Anruf im Polizeirevier Camden, um Jo als vermisst zu melden. Einnahme der ersten Pille danach.

Ich ging die Liste noch einmal durch. Demnach war Jo am Mittwoch verschwunden. Auf der Suche nach einem Kätzchen. Ich schrieb in Großbuchstaben »KÄTZCHEN«

unter die Liste und starrte ratlos auf das Wort. Das Telefon klingelte. Es war Carol von Jay & Joiner.

»Hallo Abbie«, begrüßte sie mich in herzlichem Ton.

»Tut mir Leid, wenn ich dich störe.«

»Tust du nicht.«

»Ich habe gerade ein seltsames Telefongespräch mit einem Mann geführt, der wollte, dass ich dir etwas ausrichte.«

»Ja?« Ich hatte plötzlich einen trockenen Mund.

»Sein Name war – Moment, ich habe ihn irgendwo aufgeschrieben. Na bitte, da ist der Zettel. Gordon Lockhart.« Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. »Er wollte deine Adresse oder Telefonnummer.«

»Du hast sie ihm doch nicht gegeben, oder?«

»Nein, du hast ja gesagt, dass ich das nicht soll.«

»Danke. Erzähl weiter.«

»Ich habe ihm geraten, einen Brief an uns zu schreiben, den wir dann an dich weiterleiten würden, aber er hat gesagt, er wolle sich bloß noch mal bedanken.«

»Oh. Verstehe.«

»Und er hat gesagt, du sollst die Wurzeln alle zwei Jahre stutzen, dann würde er nicht weiterwachsen. Kannst du damit was anfangen? Das hat er mir immer wieder gesagt.

Konnte gar nicht mehr davon aufhören. Im Frühling, hat er gesagt. März oder April.«

»Danke, Carol. Da geht’s bloß um einen Baum. Halt mich weiter auf dem Laufenden, ja?«

»Klar. Hat sich dein alter Herr schon bei dir gemeldet?«

»Mein Dad?«

»Er versucht wahrscheinlich gerade, dich anzurufen.«

»Dad?«

»Er hat gesagt, er könne dich nicht erreichen.

Anscheinend will er dir ein Geschenk schicken, hat aber deine neue Adresse verlegt.«

»Hast du sie ihm gegeben?«

»Na ja, es war doch dein Dad.«

»Schon gut«, stieß ich hervor. »Ich ruf dich später wieder an. Bis dann.«

Ich beendete das Gespräch, holte ein paarmal tief Luft und wählte dann von neuem.

»Hallo.«

»Dad? Hallo, hier ist Abbie. Dad, bist du das?«

»Natürlich bin ich das.«

»Du hast bei mir im Büro angerufen.«

»In welchem Büro?«

»Gerade eben. Du hast bei Jay & Joiner angerufen.«

»Warum sollte ich dort anrufen? Ich war gerade im Garten. Der Schnee hat die orangefarbene Kletterrose heruntergerissen. Ich glaube aber, ich kann sie retten.«

Mir war plötzlich kalt, als hätte sich die Sonne hinter den Wolken versteckt und ein eisiger Wind eingesetzt.

»Heißt das, du hast nicht in der Firma angerufen?«

»Nein. Das habe ich dir doch gerade gesagt. Du hast dich schon ein paar Wochen nicht mehr gemeldet. Wie geht es dir?«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu antworten, als es an der Tür klingelte. Einmal, lang und gleichmäßig.

Keuchend rang ich nach Luft. »Ich muss aufhören«, stieß ich hervor und sprang auf. Aus dem Hörer drang weiter die leise Stimme meines Vaters. Ich rannte aus dem Wohnzimmer in Jos Schlafzimmer hinüber und griff im Laufen nach meiner Tasche und meinem Schlüsselbund.

Es läutete erneut, zweimal kurz und heftig.

Ich fummelte ein paar Sekunden am Riegel herum, ehe es mir gelang, das Fenster hochzuschieben. Ich lehnte mich hinaus. Bis in Peters kleinen, verwucherten Garten waren es nur zweieinhalb Meter, aber es schien trotzdem schrecklich tief, und unter dem Fenster war der Boden betoniert. Ich überlegte, ob ich ins Wohnzimmer zurückkehren und die Polizei anrufen sollte, aber alles in mir drängte zur Flucht. Ich kletterte auf das Fensterbrett und drehte mich um, so dass ich mit dem Gesicht zum Haus kauerte. Ich holte einmal tief Luft und stieß mich ab.

Ich landete sehr unsanft, spürte die Wucht des Aufpralls mit dem ganzen Körper, verlor dabei das Gleichgewicht und schrammte ein paar Sekunden lang mit ausgestreckten Armen über den kalten Betonboden. Dann richtete ich mich auf und rannte los. Ich bildete mir ein, aus der Wohnung ein Geräusch zu hören. Meine Beine fühlten sich bleiern an, es kam mir vor, als könnte ich sie kaum dazu bringen, sich zu bewegen, als müsste ich sie mit aller Kraft über den durchweichten Rasen schleppen. Es war wie in einem Traum – einem Alptraum, in dem man rennt und rennt, ohne voranzukommen.

Der Garten wurde von einer hohen Mauer begrenzt. Sie war von zahlreichen Rissen durchzogen, und an einigen Stellen hatten sich Stücke aus dem brüchig gewordenen Mauerwerk gelöst. Eine Kletterpflanze, deren dunkelrote Äste bereits dick wie Schläuche waren, rankte in die Höhe. Ich fand ein Loch für eine Hand, für einen Fuß, versuchte mich hinaufzuziehen, glitt jedoch aus. Erst beim zweiten Versuch fand ich genug Halt. Ich hörte mich keuchen, oder war es ein Schluchzen? Ich konnte es nicht sagen. Schließlich hatte ich es geschafft, meine Hände erreichten den oberen Rand der Mauer, ich schwang erst das eine Bein hinüber, dann das zweite. Ohne zu überlegen, ließ ich mich in den angrenzenden Garten fallen, wo ich mit schmerzhaft verdrehtem Knöchel aufkam. Während ich mich aufrichtete und zu dem kleinen Weg humpelte, der auf die Straße hinausführte, sah ich aus dem Erdgeschoss des Hauses ein Frauengesicht zu mir herausspähen.

Ich wusste nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Im Grunde war es egal, Hauptsache, ich verschwand von hier. Obwohl mein Knöchel höllisch schmerzte, eilte ich im Laufschritt die Straße entlang. Ich spürte, wie mir das Blut an der Wange hinunterlief. Ein paar Meter weiter hielt ein Bus an. Ich humpelte auf ihn zu und sprang auf, als er gerade wieder losfuhr. Obwohl mehrere Bänke frei waren, setzte ich mich neben eine Frau mit einem Einkaufskorb und blickte mich ängstlich um.

Niemand war mir gefolgt.

Der Bus fuhr nach Vauxhall. Ich stieg am Russell Square aus und ging ins British Museum. Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr dort gewesen. Alles war ganz anders, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Der Hof wurde von einem großen Glasdach überspannt, und Licht flutete auf mich herab. Ich ging durch Räume mit antiken Töpferwaren, Räume mit großen Steinskulpturen, ohne die Ausstellungsstücke zu registrieren. Schließlich gelangte ich in einen Raum, der von großen, ledergebundenen Büchern gesäumt war. Einige waren auf Ständern ausgestellt und aufgeschlagen, damit die Besucher die kunstvollen Buchmalereien bewundern konnten. Das Licht in diesem Raum war weich, die Atmosphäre ruhig. Wenn überhaupt jemand etwas sagte, dann im Flüsterton. Ich saß eine ganze Stunde dort und starrte auf die Bücherreihen, ohne etwas wahrzunehmen. Ich ging erst, als das Museum schloss. Mir war klar, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte.

21

Als ich aus dem Museum trat, wurde mir bewusst, dass ich fror. Ich war ohne Jacke aus der Wohnung geflohen, trug nur einen leichten Pulli. Deshalb ging ich in der Oxford Street in den erstbesten Laden und verschwendete fünfzig Pfund für eine rote Steppjacke, in der ich aussah, als sollte ich eigentlich auf einem Bahnsteig stehen und mich um Zugnummern kümmern. Immerhin war sie warm. Ich fuhr mit der U-Bahn in den Norden der Stadt und stand kurze Zeit später vor Bens Haus. Doch er war nicht zu Hause.

Ich betrat ein Café, bestellte einen teuren Milchkaffee und gestattete mir nachzudenken.

Jos Wohnung war von nun an tabu für mich. Er hatte mich wiedergefunden und gleich wieder verloren, zumindest vorübergehend. Ich zermarterte mir den Kopf nach einer anderen Möglichkeit, aber es gab keine. Ein Mann hatte sich Carol gegenüber als mein Vater ausgegeben und ihr auf diese Weise meine Adresse entlockt. Ich unternahm einen schwachen Versuch, in die Rolle eines skeptischen Polizisten zu schlüpfen.

Ich versuchte mir einen wütenden Kunden vorzustellen oder einen unserer Subunternehmer, der mich so dringend persönlich sprechen wollte, dass er zu dieser ausgefeilten List gegriffen hatte, doch das war Unsinn. Es konnte sich nur um ihn handeln. Was würde er nun tun? Er hatte herausgefunden, wo ich wohnte, wusste aber nicht, dass ich das wusste. Zumindest nahm ich an, dass er es noch nicht wusste. Vielleicht glaubte er, dass ich unterwegs war und er nur auf mich zu warten brauchte. Falls dem so war, konnte ich jetzt die Polizei anrufen, sie konnten hinfahren und ihn verhaften, und alles wäre vorbei.

Dieser Gedanke war so verlockend, dass ich mich kaum zurückhalten konnte. Der Haken an der Sache war, dass Jack Cross definitiv nur noch einen Millimeter davon entfernt war, endgültig die Geduld mit mir zu verlieren.

Wenn ich jetzt wegen irgendeines Verdachts die Polizei rief, konnte es sein, dass sie gar nicht kommen würden.

Und wenn doch, würden sie womöglich feststellen, dass er nicht da war. Was sollte ich dann zu ihnen sagen: Schnappt euch den nächstbesten Mann, der gerade des Weges kommt, und fragt ihn, ob er mein Entführer ist?

Ich trank meinen Kaffee aus und ging zu Bens Wohnung zurück. Es brannte noch immer kein Licht. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, trieb ich mich vor dem Haus herum, stampfte mit den Füßen auf und rieb mir die Hände, um mich zu wärmen. Und wenn Ben noch eine Besprechung hatte? Wenn er plötzlich beschlossen hatte, sich mit jemandem auf einen Drink zu treffen, zum Essen oder ins Kino zu gehen? Ich versuchte, mir eine andere Übernachtungsmöglichkeit einfallen zu lassen, begann im Geiste eine Liste von Freunden zusammenzustellen, die ich überfallen konnte. Abigail Devereaux, die fliegende Holländerin, die von Haus zu Haus wanderte, auf der Suche nach einer Mahlzeit und einem Bett für die Nacht.

Die Leute würden sich hinter dem Sofa verstecken, wenn ich an der Tür klingelte. Als Ben schließlich die Treppe heraufkam, tat ich mir schon selbst richtig Leid.

Er blickte überrascht hoch, als ich aus dem Schatten trat, und ich begann mich prompt für meine Anwesenheit zu entschuldigen, doch mitten in meiner Entschuldigung brach ich in Tränen aus, was mich mit großer Wut auf mich selbst erfüllte, weil ich mich so erbärmlich aufführte, so dass ich anfing, mich wegen meiner Tränen zu entschuldigen. Ben stand also auf der Treppe vor seiner Wohnung und sah sich mit einer schluchzend vor sich hinstammelnden Frau konfrontiert. Recht viel schlimmer konnte es nicht mehr werden. Trotz alledem schaffte er es, die Arme um mich zu legen, seinen Schlüssel aus der Tasche zu fischen und die Tür aufzusperren. Ich wollte ihm erklären, was in Jos Wohnung passiert war, brachte aber keinen zusammenhängenden Satz heraus, entweder weil ich vor Kälte nur so schlotterte oder weil mein Vorhaben, es laut auszusprechen, mir erst richtig klar machte, wie beängstigend das Ganze gewesen war. Ben murmelte mir beruhigende Worte ins Ohr, führte mich ins Bad und drehte an der Wanne die Wasserhähne auf. Dann begann er die Reißverschlüsse und Knöpfe meiner Sachen zu öffnen.

»Schöne Jacke«, meinte er.

»Mir war kalt«, antwortete ich.

»Nein, wirklich.«

Er zog mir meinen Pulli über den Kopf und befreite mich aus meiner Hose. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild. Ich hatte von der Kälte ein rotes Gesicht und vom Weinen gerötete Augen. Mein ganzer Körper wirkte rot und wund, als wäre mir mit meinen Kleidern auch die Haut abgezogen worden. Das heiße Badewasser brannte im ersten Moment, fühlte sich dann aber wundervoll an.

Am liebsten hätte ich die Wanne nie wieder verlassen und den Rest meiner Tage wie ein urzeitliches Sumpflebewesen im Wasser verbracht. Ben verschwand und kehrte mit zwei großen Tassen Tee zurück, die er auf dem Wannenrand abstellte. Dann begann er sich auszuziehen. Eine gute Idee, fand ich. Er kletterte zu mir herein, verschränkte seine Beine in meine und benahm sich ansonsten wie ein vollendeter Gentleman: Er setzte sich nämlich auf die Seite mit den Wasserhähnen.

Nachdem er einen Waschlappen über sie drapiert hatte, konnte er sich einigermaßen bequem zurücklehnen.

Mittlerweile funktionierte mein Mund wieder, so dass es mir gelang, relativ gefasst über meine Flucht zu berichten

– wenn man das überhaupt so nennen konnte.

Ben wirkte ehrlich überrascht. »Um Gottes willen!«, sagte er. »Du bist hinten zum Fenster raus?«

»Ich hielt es nicht für ratsam, die Tür aufzumachen und ihn zum Tee einzuladen.«

»Und du bist ganz sicher, dass er es war?«

»Ich habe hin und her überlegt, welche andere Erklärung es geben könnte. Wenn dir etwas Plausibles einfällt, wäre ich dir ungemein dankbar.«

»Schade, dass du keinen Blick auf ihn werfen konntest.«

»Jos Wohnungstür hat keinen Spion. Außerdem wäre mir vor Angst beinahe das Herz stehen geblieben. Ich muss gestehen, dass sich ein Teil von mir am liebsten hingelegt und darauf gewartet hätte, bis er kommen und mir den Garaus machen würde, damit das alles endlich vorbei wäre.«

Ben griff nach einem zweiten Waschlappen und legte ihn auf sein Gesicht. Unter dem dicken Frotteestoff drang leises Gemurmel hervor.

»Tut mir Leid«, sagte ich.

Er zog den Waschlappen weg. »Was tut dir Leid?«, fragte er.

»Das alles. Es ist schon für mich allein schlimm genug, aber daran lässt sich nun mal nichts ändern. Mir tut es so Leid, dass du dich jetzt auch noch damit herumschlagen musst. Vielleicht haben wir uns einfach zum falschen Zeitpunkt kennen gelernt.«

»Du musst dich deswegen nicht entschuldigen.«

»O doch, das muss ich. Außerdem entschuldige ich mich schon im Voraus.«

»Wie meinst du das?«

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

»Na, dann schieß los!«

»Ich wollte dich bitten, für mich in Jos Wohnung zu gehen und meine Sachen zu holen.« Ben war anzusehen, dass er von dieser Idee nicht gerade begeistert war. Rasch schob ich eine hektische Erklärung nach: »Du verstehst bestimmt, dass ich selbst nicht mehr dorthin kann. Ich darf auf keinen Fall in die Wohnung zurückkehren. Er könnte mich beobachten. Aber dir wird nichts passieren. Er hat es nur auf mich abgesehen. Wenn er dich kommen sieht, denkt er höchstens, dass er sich in der Wohnung geirrt hat.«

»Verstehe«, sagte Ben, noch weniger begeistert als zuvor.

»Ja, klar, ich mache es.«

Die Atmosphäre hatte sich verändert. Ein Weile schwiegen wir beide.

»Bist du jetzt genervt?«, fragte ich schließlich, um das Schweigen zu brechen.

»Ich hatte eigentlich andere Pläne«, antwortete er.

»Ich weiß, ich weiß, für dich wäre es viel leichter gewesen, wenn du eine halbwegs normale Person kennen gelernt hättest. Nicht mit dieser blöden Geschichte.«

»Das habe ich damit nicht gemeint. Ich habe von uns beiden hier in diesem Bad gesprochen, jetzt in diesem Moment. Ich hatte eigentlich vor, dir zu helfen, dich zu waschen. Ich hätte deine Schultern abgenibbelt und mich anschließend zu deinen Brüsten vorgearbeitet. Dann wären wir miteinander ins Bett gegangen. Stattdessen muss ich mich wieder anziehen und womöglich auch noch umbringen lassen. Oder er foltert mich, um herauszubekommen, wo du bist.«

»Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sagte ich.

Das Ganze endete damit, dass Ben einen Freund namens Scud anrief. »Das ist nicht sein wirklicher Name«, erklärte er. Scud machte etwas mit Computergrafik, und in seiner Freizeit spielte er in einer Rugby-Mannschaft. »Er ist ein Schrank von einem Mann und hat außerdem einen Sprung in der Schüssel«, fügte Ben hinzu. Es gelang ihm, Scud zu überreden, gleich zu uns zu kommen. »Ja, jetzt sofort«, hörte ich ihn am Telefon sagen. Fünfzehn Minuten später stand Scud vor der Tür. Er war tatsächlich von recht kräftiger Statur. Es schien ihn zu amüsieren, eine neue Frau in Bens Bademantel kennen zu lernen, aber die knappe Version meiner Geschichte, die Ben ihm erzählte, verwirrte ihn sichtlich. Trotzdem zuckte er mit den Achseln und meinte, das wäre kein Problem.

Ich beschrieb den beiden kurz, wo meine Sachen zu finden waren.

»Und wenn ihr wieder geht, dann stellt bitte sicher, dass euch niemand folgt«, schloss ich.

Scud starrte mich an. Allem Anschein nach war er nun doch beunruhigt. Ich hatte nicht daran gedacht, dass vieles von dem, was ich von mir gab, auf normale, nicht vorbereitete Menschen wie das Geplapper einer Wahnsinnigen wirkte. Ben schnitt eine Grimasse.

»Du hast doch gesagt, es wäre nicht gefährlich.«

»Für euch nicht. Aber er könnte auf die Idee kommen, dass ihr zu mir gehört, und euch folgen. Haltet einfach die Augen offen.«

Die beiden Männer wechselten einen Blick.

Nach einer knappen Stunde war Ben zurück, einer Stunde, in der ich ein ganzes Glas Whisky trank und nervös Bens Zeitschriften durchblätterte. Als er hereinkam, sah er aus, als hätte er seine Weihnachtseinkäufe erledigt. Er ließ die prall gefüllten Plastiktüten auf den Boden fallen.

»Jetzt hat Scud etwas gut bei mir«, meinte er.

»Warum? Was ist passiert?«

»Immerhin habe ich ihn seiner Gattin und seinen Kindern entrissen und dazu angestiftet, gemeinsam mit mir die Wohnung einer Frau zu durchwühlen, die er gar nicht kennt. Und womöglich habe ich ihn dabei auch noch in kriminelle Aktivitäten verwickelt.«

»Wie meinst du das?«

»Jos Wohnungstür war offen. Gewaltsam aufgebrochen.«

»Aber es war doch die Kette vorgehängt.«

»Jemand muss sie eingetreten haben. Der ganze Türrahmen war kaputt.«

»Lieber Himmel!«

»Ja. Wir wussten nicht so recht, was wir tun sollten. Es ist wahrscheinlich nicht legal, am Ort eines Verbrechens herumzustöbern und Sachen einzupacken, die einem nicht gehören.«

»Er ist eingebrochen«, murmelte ich gedankenverloren vor mich hin.

»Ich glaube, ich habe alles«, fuhr Ben fort. »Deine Kleider, in erster Linie. Außerdem die Dinge, die du sonst noch wolltest. Deine Papiere, Sachen aus dem Bad.

Allerdings ohne Garantie, dass nicht ein Teil davon Jo gehört. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger legal erscheint mir die ganze Sache.«

»Großartig«, antwortete ich zerstreut. Ich hatte ihm bloß mit einem Ohr zugehört.

»Und hier ist das Foto von Jo, um das du gebeten hast.«

Er legte es auf den Tisch, und wir betrachteten es beide schweigend.

»Ich nehme an«, sagte Ben schließlich, »du weißt im Moment nicht, wo du hin sollst, und ich möchte auch keine große Sache daraus machen, aber du kannst gerne hier bleiben. So lange du magst.«

Ich musste schlucken. »Bist du sicher?«, fragte ich. »Du brauchst dich nicht verpflichtet fühlen, mir das anzubieten, nur weil ich mich gerade in dieser misslichen Lage befinde. Ich könnte sicher auch anderswo unterkommen.«

»Sei nicht albern.«

»Ich gefalle mir gar nicht in der Rolle der bemitleidenswerten, bedürftigen Frau, die sich einem Mann aufdrängt, der zu höflich ist, um sie wieder hinauszukomplimentieren.«

Er hob abwehrend die Hand. »Hör auf«, sagte er. »Halt einfach den Mund. Lass uns lieber schauen, wo wir die Sachen unterbringen.«

Gemeinsam fingen wir an, das seltsame Sortiment durchzugehen, das sich in den letzten paar Tagen angesammelt hatte.

»Ich wollte noch etwas sagen«, fuhr er fort, während er meine Unterwäsche sortierte. »Zumindest wollte ich die Möglichkeit ansprechen, dass es sich bei der Sache um einen normalen Einbruch gehandelt haben könnte.«

»Und was ist mit dem Typen, der bei mir in der Arbeit angerufen und sich als mein Vater ausgegeben hat?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht irgendeine Art von Missverständnis. Möglicherweise war das, was du an der Tür gehört hast, tatsächlich ein Einbrecher. Es kommt öfter vor, dass sie erst klingeln, um festzustellen, ob jemand zu Hause ist. Du hast nicht reagiert, ganz wie es deine Art ist, woraufhin der Übeltäter davon ausgeht, dass niemand da ist und einbricht. Das passiert in der Gegend öfter. Erst vor ein paar Tagen haben Freunde von mir, die gleich da um die Ecke wohnen, mitten in der Nacht ein lautes Krachen gehört. Als sie nach unten liefen, mussten sie feststellen, dass genau das Gleiche passiert war.

Jemand hatte die Tür eingetreten und sich eine Tasche und eine Kamera geschnappt. Vielleicht war es in deinem Fall ähnlich.«

»Hat etwas gefehlt?«

»Schwer zu sagen. Ein paar Schubladen standen offen.

Der Videorekorder war noch da.«

»Hmmm.« Ich war immer noch skeptisch.

Ben sah mich stirnrunzelnd an. Er schien angestrengt über etwas nachzudenken. »Was möchtest du heute zum Abendessen?«, fragte er schließlich.

Das gefiel mir. Mehr als das, ich war völlig begeistert.

Mitten in dem Chaos, das in meinem Leben gerade herrschte, stellte er mir diese Frage, als würden wir wie ein Paar zusammen leben. Was wir im Moment ja eigentlich auch taten.

»Egal«, antwortete ich. »Was du hast. Aber um noch mal auf deinen Einwand zurückzukommen: Jo ist verschwunden, ein Typ verschafft sich unter einem falschen Namen meine Adresse, ich höre jemanden an der Tür. Ich springe hinten aus dem Fenster, und er bricht ein.

So viele Zufälle gibt es nicht.«

Ben stand reglos wie ein Statue vor mir – allerdings eine Statue mit einem Damenslip in der Hand. Ich entriss ihm das Ding.

»Morgen rufe ich bei der Polizei an«, erklärte er.

»Inzwischen müssten Jos Eltern zurück sein. Wir werden nachher mit ihnen sprechen, und falls sie keine guten Nachrichten für uns haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als Jo als vermisst zu melden.«

Ich legte meine Hand auf seine. »Danke, Ben.«

»Ist das Whisky?«, fragte er. Sein Blick war auf mein Glas gefallen. Beziehungsweise sein Glas, streng genommen.

»Ja, du musst entschuldigen«, sagte ich. »Ich brauchte ganz dringend was für meine Nerven.«

Er griff nach dem Glas und nahm einen Schluck. Seine Hand zitterte.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Erinnerst du dich, dass du vorhin zu mir gesagt hast, wir hätten uns vielleicht zum falschen Zeitpunkt kennen gelernt? Ich hoffe, du hast damit Unrecht. Für mich fühlt sich das mit uns beiden sehr richtig an, und zwar in vielerlei Hinsicht. Ich fürchte nur, dass ich nicht der Typ bin, der in der Lage sein wird, dich mit den Fäusten zu verteidigen oder sich vor dich zu werfen, wenn jemand auf dich schießt. Im Grunde meines Herzens bin ich ein ziemlicher Angsthase um ehrlich zu sein.«

Ich küsste ihn, und unsere Hände fanden sich.

»Die meisten Menschen würden das nie zugeben«, sagte ich.

»Sie würden sich nur eine Ausrede einfallen lassen, um mich nicht im Haus haben zu müssen. Aber im Moment interessiert mich eigentlich nur dein Plan.«

»Was für ein Plan?«

»Er ging damit los, dass du mir die Schultern waschen wolltest. Den Waschteil können wir gerne weglassen.«

»Oh, der Plan«, sagte er grinsend.

22

»Weißt du, ich bin heute Morgen schon früh aufgewacht und konnte nicht mehr schlafen, und da habe ich nachgedacht. Du kennst das bestimmt, wenn man in der Dunkelheit liegt und die Gedanken durch den Kopf wirbeln? Wie auch immer, die Situation ist Folgende: Er ist hinter mir her, aber irgendwie bin ich auch hinter ihm her. Ich muss ihn kriegen, bevor er mich kriegt. Meinst du nicht auch?« Ich saß an Bens Küchentisch, bekleidet mit einem T-Shirt von ihm, und tauchte gerade eine Brioche in meinen Kaffee. Draußen war alles mit Raureif überzogen.

In der Küche roch es nach frischem Brot und Hyazinthen.

»Vielleicht hast du Recht«, meinte er.

»Was weiß er über mich? Er kennt meinen Namen. Er weiß, wie ich aussehe, zumindest ungefähr, wo ich bis vor ein paar Wochen gelebt habe, wo ich bis gestern gewohnt habe, wo ich arbeite beziehungsweise gearbeitet habe.

Und was weiß ich über ihn?« Ich hielt einen Moment inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken. »Nichts.«

»Nichts?«

»Gar nichts. Nicht das Geringste. Ich habe nur einen einzigen Vorteil: Er weiß nicht, dass ich weiß, dass er mir auf den Fersen ist. Er glaubt, er kann sich einfach von hinten an mich heranschleichen, aber in Wirklichkeit spielen wir das Kinderspiel, bei dem man um den Baum herumläuft und sich gegenseitig fängt und gleichzeitig voreinander davonläuft. Ihm ist nicht klar, dass ich weiß, dass er es nach wie vor auf mich abgesehen hat. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Abbie …«

»Da ist noch etwas. Ich folge nicht nur ihm – oder plane, ihm zu folgen, sobald ich einen Ausgangspunkt gefunden habe –, nein, ich folge auch mir selbst, der Abbie, an die ich mich nicht erinnern kann. Ich wandle sozusagen auf meinen eigenen Spuren.«

»Nicht so schnell, ich …«

»Vielleicht habe ich es nicht richtig ausgedrückt, aber ich gehe davon aus, dass die Abbie, an die ich mich nicht erinnern kann, bereits versucht hat, Jo zu finden. Das habe ich bestimmt getan, meinst du nicht auch? Wenn ich es jetzt tue, dann habe ich es sicher auch schon damals getan.

Hältst du das nicht für plausibel? Das ist es, was mir heute Morgen durch den Kopf gegangen ist.«

»Wann bist du aufgewacht?«

»Gegen fünf, glaube ich. Mir schwirrte so vieles im Kopf herum. Was ich jetzt brauche, ist ein konkreter Beweis, den ich Cross bringen kann. Dann werden sie endlich anfangen zu ermitteln. Wenn ich also meinen eigenen Spuren folge, die aller Wahrscheinlichkeit nach Jos Spuren folgen, dann lande ich am Ende vielleicht wieder dort, wo ich beim letzten Mal gelandet bin.«

»Was sich nach keiner guten Idee anhört, wenn man bedenkt, was passiert ist.«

»Der Haken an der Sache ist natürlich, dass ich meinen Spuren nicht folgen kann, weil ich mich an nichts erinnere.«

»Möchtest du noch Kaffee?«

»Ja, bitte. Leider weiß ich auch nicht, wohin Jo unterwegs war. Jedenfalls lag zwischen dem Zeitpunkt ihres Verschwindens und meiner Entführung nur eine kurze Zeitspanne. Jedenfalls weiß ich, dass Jo am Mittwochvormittag noch da war. Das hat mir ihr Nachbar Peter erzählt. Und ich bin mit ziemlicher Sicherheit am Donnerstagabend verschwunden.«

»Abbie.« Ben nahm meine Hände und hielt sie zwischen seinen fest. »Nun mal langsam!«

»Rede ich wirres Zeug?«

»Es ist erst zehn nach sieben, und wir sind spät ins Bett.

Ich bin noch nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.«

»Ich glaube, ich muss die Sache mit der Katze weiterverfolgen.«

»Wie bitte?«

»Jo wollte sich ein Kätzchen zulegen. Das weiß ich ebenfalls von Peter. Sie hatte schon alles Nötige gekauft.

Ich nehme an, sie hatte vor, sich so schnell wie möglich eins zu besorgen. Wenn ich herausbekäme, an wen sie sich deswegen wenden wollte, dann – na ja, mir fällt jedenfalls nichts Besseres ein. Irgendwo muss ich ja anfangen.«

»Folglich planst du jetzt, eine Katze aufzuspüren?«

»Ich werde in der Tierhandlung und in der Post nachfragen, wo die Leute oft Zettel aushängen. Und beim Tierarzt. Bei Tierärzten hängen bestimmt auch solche Notizen, meinst du nicht? Na ja, wahrscheinlich ist das Ganze sowieso ein sinnloses Unterfangen. Wenn du bessere Ideen hast, dann raus damit!«

Ben sah mich lange an. Mir ging durch den Kopf, dass er jetzt wahrscheinlich dachte: Lohnt sich das wirklich? Bis zu einem gewissen Grad war ich mir über meinen Zustand durchaus im Klaren. Ich mochte wirres Zeug reden, aber wenigstens war ich mir dessen noch bewusst.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er. »Ich muss im Büro ein paar Briefe abholen und den Jungs Instruktionen erteilen. In zwei Stunden bin ich wieder da, dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg.«

»Wirklich?«

»Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du allein durch die Gegend läufst.«

»Du weißt, dass du das nicht zu tun brauchst. Du bist nicht für mich verantwortlich.«

»Das Thema haben wir doch gestern Abend schon geklärt, wenn du dich erinnerst.«

»Danke«, sagte ich. »Vielen Dank.«

»Wie wirst du dir die Zeit vertreiben, bis ich wieder da bin?«

»Ich werde noch mal mit Cross sprechen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass er begeistert sein wird, von mir zu hören.«

»Du musst ihn trotzdem anrufen.«

»Ich weiß.«

»Ich werde es vom Büro aus noch mal bei Jos Eltern versuchen. Gestern Abend hat niemand abgenommen. Wir sollten auf jeden Fall mit ihnen reden, bevor wir uns an die Polizei wenden.«

»Ja, du hast Recht.«

Kurz vor acht brach Ben auf. Ich duschte so heiß, dass ich es gerade noch aushielt, und machte mir anschließend frischen Kaffee. Dann rief ich Cross an, erhielt aber nur die Auskunft, er werde erst nachmittags wieder in seinem Büro sein. Ich wäre vor Ungeduld fast in Tränen ausgebrochen. Ein halber Tag ist eine lange Zeit, wenn man das Gefühl hat, dass jede Minute zählt.

Ben würde erst in zwei Stunden zurückkehren. Ich räumte die Küche auf und bezog das Bett frisch. Sein Haus wirkte erwachsener als alles, was ich bisher gewohnt gewesen war. Ich fand, dass Terry und ich ein bisschen wie Studenten gehaust hatten. Alles in unserem Leben –

auch wo und wie wir wohnten – hatte etwas leicht Provisorisches gehabt, sich einfach irgendwie ergeben.

Wir waren einigermaßen zurechtgekommen, aber es war immer chaotisch gewesen und am Ende in Gewalt eskaliert. Bens Lebensweise dagegen war beständig. Er hatte sich einen Beruf ausgesucht, der ihm lag, und er lebte in einem schönen Haus, in dem jeder Raum in einer anderen Farbe gestrichen und mit sorgfältig ausgewählten Gegenständen ausgestattet war. Ich öffnete seinen Kleiderschrank. Er besaß nur zwei Anzüge, die aber sehr teuer aussahen. Seine Hemden hingen ordentlich auf Bügeln, und auf dem Boden des Schranks standen drei Paar Lederschuhe. Bei ihm ergaben sich die Dinge nicht bloß zufällig, dachte ich. Er wählte sie bewusst aus. Genau so hatte er mich ausgewählt, und er hatte mich vermisst, als ich fort war. Ich schauderte vor Freude.

Kurz nach zehn Uhr kam er zurück. Ich wartete schon auf ihn, eingehüllt in warme Sachen, ein Notizbuch in der Tasche. Ich hatte auch das Foto von Jo eingepackt, weil ich hoffte, dass es vielleicht eine gute Gedächtnisstütze für die Leute sein würde.

»Jos Eltern kommen erst morgen zurück«, erklärte er.

»Ich habe wieder mit der Frau gesprochen, die auf ihren Hund aufpasst. Sie haben noch eine Nacht in Paris angehängt. Am besten, wir fahren morgen Nachmittag zu ihnen. Es ist nicht so weit, gleich auf der anderen Seite der M25.«

»Das wird nicht einfach.«

»Ja.« Einen Moment lang wirkte sein Gesicht völlig ausdruckslos. Dann fügte er in betont fröhlichem Ton hinzu: »So, nun aber los. Zeit für die Katzenjagd.«

»Bist du sicher, dass du dir das antun willst? Ich meine, es ist wahrscheinlich sowieso für die Katz, im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Immerhin werde ich dich als Gesellschaft haben.« Er schlang einen Arm um mich, und wir gingen zu seinem Wagen. Ich musste kurz an mein eigenes Auto denken, das schon wieder auf einem Parkplatz für abgeschleppte Fahrzeuge stand, schob den Gedanken aber sofort wieder weg. Mit diesen Dingen würde ich mich später auseinandersetzen. Freundschaften, Familie, Arbeit, Geld (chronischer Mangel), Steuererklärungen, Strafzettel, längst überfällige Leihbücher aus der Bibliothek – das alles musste warten.

Wir parkten in einer kleinen Straße wenige hundert Meter von Jos Wohnung entfernt. Wir wollten eine Runde durch das Viertel drehen, aber es wurde ein langweiliges und frustrierendes Unterfangen. Unser Besuch beim Tierarzt brachte gar nichts. Von den Zeitungshändlern erkannte keiner Jos Foto, und nur in wenigen Läden gab es Karten, auf denen Haustiere angeboten wurden.

Nach fast zwei Stunden hatte ich mir lediglich drei Telefonnummern notiert. Während wir zum Wagen zurückgingen, rief Ben die Leute von seinem Handy aus an. Wie sich herausstellte, waren zwei der Karten erst in den letzten paar Tagen aufgehängt worden und somit irrelevant. Die dritte Karte hing schon länger, und als Ben anrief, erklärte die Frau, es sei noch ein Kätzchen übrig, für das sie bisher kein Zuhause gefunden habe, aber wir würden es wahrscheinlich nicht wollen.

Sie wohnte gleich um die Ecke, und wir beschlossen, sofort bei ihr vorbeizuschauen. Das Kätzchen war getigert und noch sehr klein. Die Frau, die groß und kräftig gebaut war, erklärte uns, es sei das schwächste Tier des Wurfs gewesen und deswegen so zart und zerbrechlich.

Außerdem räumte sie ein, dass mit seinen Augen etwas nicht in Ordnung sei. Es stoße überall an, erklärte sie, und trete in seinen Fressnapf. Sie nahm es hoch und setzte es auf ihre große, schwielige Hand, wo es herzzerreißend miaute.

Ich holte Jos Foto aus der Tasche und zeigte es ihr.

»Hat sich diese Freundin von uns bei Ihnen nach einer Katze erkundigt?«, fragte ich.

»Was?« Sie setzte den kleinen Tiger wieder auf den Boden und sah sich das Foto an. »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich würde mich bestimmt an sie erinnern.

Warum?«

»Oh, das ist eine zu lange Geschichte«, antwortete ich, und sie hakte nicht nach. »Wir gehen dann wieder. Ich hoffe, Sie finden bald ein Zuhause für Ihr Kätzchen.«

»Wohl kaum«, meinte sie. »Wer will schon eine blinde Katze? Ich werde sie ins Katzenasyl bringen müssen.

Betty wird sie schon aufnehmen.«

»Katzenasyl?«

»Na ja, das klingt vielleicht zu offiziell. Betty ist einfach eine Katzennärrin. Total verrückt. Ihr ganzes Leben dreht sich nur um Katzen, etwas anderes interessiert sie nicht.

Sie nimmt alle auf, die heimatlos herumstreunen.

Mittlerweile hat sie bestimmt an die fünfzig, und sie bekommen ständig Junge. Dabei ist ihr Haus nur klein.

Das muss man wirklich gesehen haben. Bestimmt treibt es ihre Nachbarn in den Wahnsinn. Wenn Sie nach einem Kätzchen suchen, sollten Sie bei ihr vorbeischauen.«

»Wo wohnt sie?«, fragte ich und zückte mein Notizbuch.

»Lewin Crescent. Die Nummer weiß ich nicht, aber Sie können es nicht verfehlen. Ein winziges Häuschen, bei dem im ersten Stock alle Fenster mit Brettern zugenagelt sind. Es sieht verlassen aus.«

»Danke.«

Wir gingen zum Wagen zurück.

»Lewin Crescent?«, fragte Ben.

»Warum nicht, nachdem wir schon mal hier sind.«

Wir sahen auf dem Stadtplan nach und fuhren hin. Im Wagen war es wunderbar gemütlich, doch draußen blies ein eisiger, schneidender Wind. Unser Atem bildete weiße Wolken. Ben nahm meine Hand und lächelte zu mir herunter. Seine Finger waren warm und stark.

Das Haus machte tatsächlich einen sehr heruntergekommenen Eindruck. Die Haustür wurde von erfrorenem Unkraut und ein paar halb verfaulten, mit Reif überzogenen Sonnenblumen eingerahmt, die Mülltonne quoll über. An der Hauswand zog sich ein breiter Riss nach oben, und die Farbe der Fensterbretter blätterte ab.

Ich drückte auf den Klingelknopf, hörte aber kein Klingeln, so dass ich vorsichtshalber auch kräftig klopfte.

»Hör dir das an«, sagte Ben. Durch die Tür waren Miauen, Fauchen und seltsame Kratzgeräusche zu vernehmen. »Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich auf Katzen allergisch reagiere? Ich bekomme Asthma, und meine Augen werden feuerrot.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Gesicht spähte zu uns heraus.

»Hallo«, sagte ich. »Entschuldigen Sie die Störung.«

»Sind Sie von der Stadt?«

»Nein. Uns hat bloß jemand erzählt, dass Sie viele Katzen haben.«

Die Tür schwang ein Stück weiter auf. »Dann kommen Sie rein – aber passen Sie auf, dass keine entwischt.

Schnell!«

Ich weiß nicht, was uns als Erstes entgegenschlug, die Wand aus Hitze oder der Geruch nach Katzenfutter, Ammoniak und Exkrementen. Überall tummelten sich Katzen. Sie lagen auf dem Sofa und den Sesseln, zusammengerollt vor dem elektrischen Heizkörper, als weiche braune Häufchen auf dem Boden. Einige putzten sich, ein paar schnurrten, zwei weniger friedliche Exemplare standen sich mit hohem Buckel und zuckendem Schwanz gegenüber und fauchten einander an.

Neben der Küchentür waren mehrere Schalen mit Futter aufgereiht, daneben drei oder vier Katzenklos. Das Ganze wirkte wie die widerliche Version eines Walt-Disney-Films. Ben blieb mit entsetzter Miene an der Tür stehen.

»Sie sind Betty, nicht wahr?« Ich versuchte, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Eine Katze schmiegte sich an meine Beine.

»Das ist richtig.«

Betty war schon alt. Ihr Gesicht war runzlig, die Haut an ihrem Hals faltig und schlaff. Ihre Finger und Handgelenke waren blau. Sie trug ein dickes, blaues Hemdblusenkleid, bei dem mehrere Knöpfe fehlten, und war von oben bis unten voller Katzenhaare. Aus ihrem zerfurchten Gesicht funkelten mich zwei gewitzte braune Augen an.

»Jemand hat uns erzählt, dass Sie streunende Katzen aufnehmen und manchmal an Leute abgeben, die ein Haustier suchen«, erklärte ich.

»Ich muss aber sicher sein, dass es sich um einen guten Platz handelt«, antwortete sie in scharfem Ton. »Da achte ich sehr darauf. Ich gebe sie nicht einfach an irgendjemanden ab. Das sage ich den Leuten immer wieder.«

»Wir glauben, dass eventuell eine Freundin von uns hier war.« Ich zog das Foto heraus.

»Natürlich war sie hier.«

»Wann?« Ich trat einen Schritt auf sie zu.

»Man dreht sich im Leben oft im Kreis, nicht wahr?

Aber sie kam nicht in Frage. Sie schien der Meinung zu sein, dass man eine Katze hinein- und hinausspazieren lassen kann, wie es ihr beliebt. Wissen Sie, wie viele Katzen jedes Jahr überfahren werden?«

»Nein«, antwortete ich. »Das weiß ich nicht. Sie wollten also nicht, dass sie eine von ihren Katzen bekam?«

»Sie schien sowieso nicht besonders erpicht darauf«, erwiderte Betty. »Sobald ich meine Zweifel an ihr geäußert hatte, war sie wieder draußen.«

»Und sie können sich nicht daran erinnern, wann das war?«

»Sagen Sie es mir.«

»Während der Woche? Am Wochenende?«

»Es war an dem Tag, an dem die Müllabfuhr kommt.

Die Männer klapperten gerade draußen herum, als sie da war.«

»An welchem Tag kommt denn bei Ihnen die Müllabfuhr?«

»Am Mittwoch.«

»Dann war es also ein Mittwoch«, schaltete sich Ben ein, der noch immer an die Haustür gelehnt stand. »Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern?«

»Ich weiß nicht, wieso Sie das so interessiert.«

»Wir wollen Sie nicht …«, begann ich.

»Vormittags oder nachmittags?«, fragte Ben.

»Nachmittags«, antwortete sie widerwillig. »Meistens kommt die Müllabfuhr, wenn ich den Katzen gerade ihren Tee gebe. Nicht wahr, meine Lieben?« fügte sie an den ganzen Raum gewandt hinzu, der seltsam zu brodeln und zu wogen schien, weil sich überall Katzen bewegten.

»Vielen Dank«, sagte ich. »Sie haben mir sehr geholfen.«

»Das haben Sie beim letzten Mal auch gesagt.«

Ich hatte bereits die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt und erstarrte mitten in der Bewegung. »Ich war schon mal hier?«

»Natürlich. Allerdings allein.«

»Betty, können Sie mir sagen, wann das war?«

»Sie brauchen nicht so zu schreien, ich bin weder taub noch blöd. Sie sind am Tag darauf gekommen. Haben Sie Ihr Gedächtnis verloren?«

»Nach Hause?«, fragte Ben.

»Nach Hause«, stimmte ich zu, lief aber sofort knallrot an, als mir bewusst wurde, was ich da eben gesagt hatte.

Ben, der meine Verlegenheit bemerkte, legte mir lächelnd eine Hand aufs Knie. Ich drehte mich zu ihm um, und wir küssten uns. Es war ein sehr sanfter Kuss, bei dem sich unsere Lippen nur ganz leicht berührten, und wir ließen dabei die Augen offen, so dass ich in seinen Pupillen mein Spiegelbild sehen konnte.

»Nach Hause«, sagte er noch einmal. »Heimwärts zu Toast und Tee.«

Nach dem Toast und dem Tee gingen wir ins Bett und liebten uns. Wir machten kein Licht, und während es draußen immer kälter und dunkler wurde, hielten wir uns fest und wärmten einander. Ausnahmsweise sprachen wir mal nicht über düstere Themen, sondern taten das, was alle frisch gebackenen Liebespaare tun: Wir fragten einander über unsere amouröse Vergangenheit aus.

Zumindest fragte ich ihn.

»Das habe ich dir schon erzählt«, antwortete er.

»Wirklich? Ach, du meinst, davor?«

»Ja.«

»Ist das nicht seltsam? Sich vorzustellen, dass ich all diese Dinge in mir trage – Dinge, die mir passiert sind, die du mir erzählt hast, Geheimnisse, Geschenke – und mich nicht mehr an sie erinnern kann? Wenn man sich an etwas nicht erinnert, dann ist das doch genau so, als wäre es nie passiert, oder?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er. Ich fuhr mit einem Finger seine Lippen nach. Er lächelte in der Dunkelheit.

»Du wirst es mir noch mal erzählen müssen. Wer war meine Vorgängerin?«

»Leah. Eine Innenarchitektin.«

»War sie schön?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwie schon. Sie war eine halbe Marokkanerin, mit sehr markanten Gesichtszügen.«

»Hat sie hier gewohnt?«

»Nein. Na ja, nicht richtig.«

»Wie lange wart ihr zusammen?«

»Zwei Jahre.«

»Zwei Jahre – eine lange Zeit. Was ist passiert?«

»Vor knapp einem Jahr hat sie sich in einen anderen verliebt und mich verlassen.«

»Ganz schön dumm von ihr«, sagte ich. »Wie kann man dich nur verlassen?« Ich streichelte sein weiches Haar.

Wir lagen unter der Bettdecke wie in einer kleinen Höhle, während sich die Welt draußen verdunkelte. »Warst du sehr verletzt?«

»Ja«, antwortete er. »Ich glaube schon.«

»Aber jetzt geht es dir wieder gut, oder?«

»Ja. Und wie!«

»Wir müssen über Jo reden«, sagte ich nach einer Weile.

»Ich weiß. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich so glücklich bin.« Er streckte den Arm aus und schaltete die Nachttischlampe an. Die plötzliche Helligkeit blendete uns so, dass wir beide blinzeln mussten. »Sie war also am Mittwochnachmittag auf der Suche nach einer Katze, und du warst am Donnerstag auf der Suche nach ihr.«

»Ja.«

»Du folgst deinen eigenen Spuren.«

»Wie diese verrückte Katzenfrau gesagt hat – man dreht sich im Leben oft im Kreis.«

23

Nachdem Ben gegangen war, um fürs Abendessen einzukaufen, rief ich aus einem spontanen Impuls heraus Sadie an.

»Hallo«, sagte ich. »Rate mal, wer hier ist!«

»Abbie? Mein Gott, Abbie, wo steckst du bloß? Ist dir eigentlich klar, dass ich nicht mal eine Telefonnummer von dir habe? Ich war gestern Abend bei Sam, er hat eine kleine Geburtstagsparty gegeben, und wir haben alle gesagt, wie seltsam es ist, dass du nicht bei uns bist. Wir haben sogar auf dich angestoßen. Na ja, eigentlich haben wir auf alle abwesenden Freunde angestoßen, aber damit warst hauptsächlich du gemeint. Keiner von uns hat gewusst, wie man dich erreichen kann. Du bist völlig von der Bildfläche verschwunden.«

»Ich weiß, ich weiß, und es tut mir Leid. Ihr fehlt mir alle sehr, aber ich – ich kann es jetzt nicht erklären. Ich hätte an seinen Geburtstag denken sollen, ich habe ihn noch nie vergessen, aber im Moment ist alles, na ja, ziemlich dramatisch.«

»Geht es dir gut?«

»Mehr oder weniger. Einerseits ja, andererseits nein.«

»Klingt sehr geheimnisvoll. Wann kann ich dich sehen?

Wo wohnst du?«

»Bei einem Freund«, antwortete ich vage. »Und wir sehen uns bestimmt bald. Ich muss nur noch ein paar Dinge klären. Du weißt schon.« Am liebsten hätte ich gesagt: Ich muss vorher noch mein Leben retten. Aber das klang zu verrückt. Es fühlte sich auch verrückt an, jedenfalls hier in Bens Haus, wo die Lichter brannten, die Heizkörper summten und aus der Küche das Geräusch der Geschirrspülmaschine herüberdrang.

»Ja, aber eins muss ich dir noch erzählen, Abbie: Ich habe mit Terry gesprochen.«

»Wie geht es ihm? Hat ihn die Polizei inzwischen auf freien Fuß gesetzt?«

»Ja. Ich glaube allerdings, sie haben ihn nur freigelassen, weil sie es gesetzlich nicht mehr vertreten konnten, ihn noch länger einzusperren.«

»Gott sei Dank. Ist er wieder viel auf der Piste?«

»Könnte man sagen. Er hat versucht, dich zu erreichen.«

»Ich werde ihn anrufen. Jetzt gleich. Demnach steht er immer noch unter Verdacht, oder wie?«

»Ich weiß es nicht. Er war nicht gerade in Höchstform, als ich mit ihm gesprochen habe. Ich glaube, er hatte schon einiges intus.«

»Sadie, ich muss jetzt aufhören. Ich werde gleich Terry anrufen. Und ich komme dich bestimmt bald besuchen, ganz bald.«

»Tu das.«

»Geht es Pippa gut?«

»Ja. Sie ist wundervoll.«

»Ich weiß. Du auch, Sadie.«

»Was?«

»Wundervoll. Du bist wundervoll. Ich bin froh, Freunde wie euch zu haben. Sag allen, dass ich sie liebe.«

»Abbie?«

»Allen. Sheila und Guy und Sam und Robin und – na ja, einfach allen. Wenn du sie siehst, dann sag ihnen, dass ich

…« In dem Moment fiel mein Blick auf den Spiegel über dem Kamin. Ich fuchtelte hysterisch mit der Hand herum, wie eine Opernsängerin. »Na ja, du weißt schon. Richte ihnen zumindest ganz liebe Grüße aus.«

»Geht es dir wirklich gut?«

»Das ist alles so seltsam, Sadie.«

»Hör zu …«

»Ich muss aufhören. Ich ruf dich wieder an.«

Ich wählte Terrys Nummer, ließ es sehr lange klingeln.

Gerade, als ich auflegen wollte, ging er ran.

»Hallo?« Seine Stimme klang undeutlich.

»Terry? Ich bin’s, Abbie.«

»Abbie«, sagte er. »O Abbie!«

»Sie haben dich gehen lassen.«

»Abbie«, wiederholte er.

»Es tut mir so Leid, Terry. Ich habe Ihnen gesagt, dass du es nicht gewesen sein kannst. Hat dein Dad dir erzählt, dass ich angerufen habe? Das mit Sally tut mir so Leid.

Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid mir das tut.«

»Sally«, sagte er. »Sie dachten, ich hätte sie umgebracht.«

»Ich weiß.«

»Bitte«, sagte er.

»Was? Was kann ich tun?«

»Ich muss dich sehen. Bitte, Abbie.«

»Das ist im Moment schwierig.« Ich konnte nicht in seine Wohnung – womöglich wartete er dort auf mich.

Die Haustür ging auf, und Ben kam mit zwei Tragetüten herein.

»Ich rufe dich gleich noch mal an«, sagte ich. »In ein paar Minuten. Geh nicht weg.« Nachdem ich aufgelegt hatte, drehte ich mich zu Ben um und erklärte: »Ich muss mich mit Terry treffen. Er hört sich fürchterlich an, und das ist alles nur meinetwegen. Ich bin es ihm schuldig.«

Seufzend stellte er die Tüten ab. »Und ich habe ein romantisches Abendessen für zwei geplant. Schön blöd!«

»Mir bleibt keine andere Wahl, oder? Verstehst du das?«

»Wo?«

»Wo was?«

»Wo willst du dich mit ihm treffen?«

»Nicht in seiner Wohnung, soviel steht fest.«

»Hier?«

»Das fände ich irgendwie seltsam.«

»Seltsam? Na dann – seltsame Sachen sind ja gar nicht unser Ding, stimmt’s?«

»Ein Café oder so was wäre besser. Kein Pub – er klingt sowieso schon betrunken genug. Wo kann man hier in der Nähe hingehen?«

»In der Belmont Avenue gibt es was, am Park am Ende der Straße. Das Soundso-Diner.«

»Ben?«

»Was?«

»Kommst du mit?«

»Ich fahre dich hin und warte im Wagen.«

»Ich bin dir dafür sehr dankbar.«

»Dann ist es jede Mühe wert«, antwortete er trocken.

Fünfundvierzig Minuten später saß ich in besagtem Diner (es hieß einfach nur The Diner), trank Cappuccino und beobachtete die Tür. Terry kam zehn Minuten später. Er war in einen alten Überzieher gehüllt und trug eine Wollmütze. Sein Gang wirkte etwas unsicher, sein Gesichtsausdruck wild.

Er kam an meinen Tisch und ließ sich etwas zu laut nieder. Als er seine Mütze abnahm, sah ich, dass sein Haar leicht fettig glänzte und seine Wangen zwar von der Kälte oder vom Alkohol gerötet waren, ansonsten aber ungewohnt eingefallen aussahen.

»Hallo Terry«, begrüßte ich ihn und legte meine Hände auf seine.

»Dein Haar wird wieder länger.«

»Tatsächlich?«

»O mein Gott!« Er schloss die Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Oh, ich bin so fertig! Ich könnte hundert Stunden durchschlafen.«

»Was darf ich dir bestellen?«

»Kaffee.«

Ich winkte der Kellnerin.

»Einen doppelten Espresso und noch mal einen Cappuccino.«

Terry zündete sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an und nahm sofort einen langen, tiefen Zug, was sein Gesicht noch eingefallener aussehen ließ.

»Ich habe der Polizei gesagt, dass du es nicht warst, Terry. Und wenn du möchtest, spreche ich auch mit deinem Anwalt. Das ist alles ein riesengroßer Irrtum.«

»Sie haben immer wieder behauptet, ich sei ein gewalttätiger Mann.« Die Kellnerin stellte den Kaffee auf den Tisch, doch Terry schien sie gar nicht zu bemerken.

»Es war, als würde sich mein ganzer Kopf mit Blut füllen.

Ich hätte dir niemals etwas getan. Sie haben geredet, als wäre ich ein bösartiger Mistkerl. Sie haben gesagt, ich hätte dich in den Nervenzusammenbruch getrieben …«

»Das haben sie gesagt?«

»Und Sally … Sally … O verdammt!«

»Terry. Nicht.«

Er begann zu weinen. Dicke Tränen liefen ihm über die Wangen und in den Mund. Er griff nach seiner Tasse, aber seine Hände zitterten so sehr, dass er große Pfützen Kaffee über den Tisch verschüttete.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte er, während er ohne großen Erfolg versuchte, den verschütteten Kaffee mit einer Serviette aufzuwischen. »Erst lief alles ganz normal, und dann ging plötzlich alles zum Teufel. Die ganze Zeit dachte ich, ich würde irgendwann aufwachen und feststellen, dass es nur ein schlimmer Traum war, und du würdest neben mir liegen oder Sally. Aber stattdessen bist du hier, und Sally ist tot, und die Polizei glaubt noch immer, dass ich es war. Ich weiß genau, dass sie das glauben.«

»Die Hauptsache ist, dass sie dich freigelassen haben«, antwortete ich. »Du warst es nicht, und sie dürfen das auch nicht länger behaupten. Du hast jetzt nichts mehr zu befürchten.«

Aber er hörte mir gar nicht zu. »Ich fühle mich so verdammt einsam«, sagte er. »Warum ich?«

Angesichts seines Selbstmitleids empfand ich einen Anflug von Zorn. »Oder warum Sally?«, erwiderte ich.

Am nächsten Morgen rief Ben bei Jos Eltern an. Sie waren aus dem Urlaub zurückgekehrt, ich konnte die Stimme der Mutter hören. Nein, erklärte sie, Jo sei nicht mit ihnen in Urlaub gefahren. Sie hätten sie vor ihrer Abreise das letzte Mal gesehen. Ja, natürlich, sie würden sich sehr über Bens Besuch freuen, wenn er in der Gegend wäre, und selbstverständlich sei es in Ordnung, wenn er eine Freundin mitbringe. Bens Gesichtszüge wirkten angespannt, seine Mundwinkel waren nach unten gezogen, als hätte er etwas Saures gegessen. Er sagte, wir würden gegen elf kommen.

Schweigend fuhren wir durch Nord-London zu ihrem Haus in Hertfortshire. Es war ein nebliger, feuchter Tag.

Die Bäume und Häuser, an denen wir vorbeifuhren, hatten etwas Düsteres, Bedrohliches. Jos Eltern lebten am Rand eines Dorfes, in einem flachen weißen Haus am Ende einer gekiesten Zufahrt. Nachdem wir von der Hauptstraße abgebogen waren, hielt Ben einen Moment an.

»Mir ist richtig übel«, erklärte er in wütendem Ton, als wäre das meine Schuld. Dann fuhr er weiter.

Jos Mutter hieß Pam und war eine gut aussehende, kräftige Frau mit einem festen Händedruck. Ihr Vater dagegen war dürr wie ein Skelett. Mit seinem ausgemergelten, von unzähligen Falten durchzogenen Gesicht wirkte er um Jahrzehnte älter als seine Frau, und als ich seine Hand schüttelte, hatte ich das Gefühl, ein Bündel Knochen in der Hand zu halten. Wir nahmen in der Küche Platz, und Pam bewirtete uns mit Tee und Keksen.

»Dann erzähl mal, wie es dir so geht, Ben. Es ist ja schon eine Ewigkeit her, dass Jo dich das letzte Mal mitgebracht hat …«

»Ich bin aus einem bestimmten Grund gekommen«, unterbrach Ben sie abrupt.

»Jo?«, fragte sie.

»Ja. Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Was ist mit ihr?«

»Wir wissen nicht, wo sie ist. Sie ist verschwunden. Ihr habt gar nichts von ihr gehört?«

»Nein«, antwortete sie im Flüsterton. Dann fügte sie lauter hinzu: »Aber du weißt ja, wie das bei ihr ist, sie verschwindet ständig irgendwohin, ohne uns etwas davon zu sagen. Manchmal meldet sie sich wochenlang nicht.«

»Ich weiß. Aber Abbie wohnt seit ein paar Wochen bei ihr, und Jo ist eines Tages einfach nicht nach Hause gekommen.«

»Nicht nach Hause gekommen«, wiederholte sie.

»Du hast keine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Im Cottage?« Ihr Miene hellte sich hoffnungsvoll auf.

»Sie fährt manchmal hin und haust eine Weile dort.«

»Da waren wir schon.«

»Oder bei ihrem Freund?«

»Nein.«

»Ich verstehe nicht so recht«, schaltete sich der Vater ein.

»Wie lange ist sie denn schon verschwunden?«

»Seit dem sechzehnten Januar«, antwortete ich.

»Zumindest nehmen wir das an.«

»Und heute haben wir den wie vielten? Den sechsten Februar? Das sind ja schon drei Wochen!« Pam stand auf.

Sie starrte einen Moment auf uns herunter und rief dann:

»Wir müssen sofort anfangen, nach ihr zu suchen! Auf der Stelle!«

»Ich gehe zur Polizei«, erklärte Ben und erhob sich ebenfalls. »Wir fahren gleich von hier aus hin. Wir haben schon mit ihnen gesprochen – zumindest hat Abbie das getan, aber sie nehmen so etwas nicht ernst, es sei denn, es handelt sich um ein Kind.«

»Und was soll ich machen?«, fragte Pam. »Ich kann doch nicht einfach herumsitzen und warten. Ich werde mich an die Strippe hängen und einen Rundruf starten.

Bestimmt gibt es eine ganz einfache Erklärung. Mit wem habt ihr schon gesprochen?«

»Vielleicht hat es wirklich nichts zu bedeuten«, antwortete Ben hilflos. »Womöglich geht es ihr bestens.

Es gehen schließlich dauernd Leute verloren und tauchen wieder auf.«

»Ja, natürlich«, antwortete Pam. »Du hast völlig Recht.

Das Wichtigste ist, dass wir nicht in Panik geraten.«

»Wir fahren jetzt schnurstracks zur Polizei«, sagte Ben.

»Ich rufe euch später an. In Ordnung?« Er legte seine Hände auf Pams Schultern und küsste sie auf beide Wangen. Sie drückte ihn einen Moment an sich. Jos Vater saß immer noch am Tisch. Ich betrachtete seine pergamentartige Haut, die Leberflecken auf seinen zerbrechlichen Händen.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst noch hinzufügen sollte. Es gab nichts hinzuzufügen.

»Ben, das ist Detective Inspector Jack Cross. Das ist Ben Brody. Er ist ein Freund von Josephine Hooper, von der ich Ihnen erzählt habe, als ich letzt …«

»Ich weiß. Ich habe Sie in ihrer Wohnung besucht, erinnern Sie sich? Sie haben mir gesagt, dass Sie ihre Sachen anhatten und dass Jo mit erstem Vornamen Lauren heißt.«

»Ich bin froh, dass Sie Terry freigelassen haben«, erklärte ich. »Nun, da Sie wissen, dass er es nicht wahr, muss Ihnen klar geworden sein, dass der wahre Schuldige noch frei herumläuft und dass Jo vielleicht …«

»Dazu kann ich im Moment noch keinen Kommentar abgeben«, antwortete Cross vorsichtig.

»Sollen wir Detective Inspector Cross erst einmal sagen, was wir mit Sicherheit wissen, Abbie?«

Cross sah ihn leicht überrascht an. Vielleicht hatte er gedacht, dass jeder, der mit mir zu tun hatte, verrückt sein musste: Kontaminierung durch schlechten Umgang.

Das meiste hatte ich ihm natürlich schon erzählt, aber aus meinem Mund hatte es bloß wie eine weitere Bestätigung meiner Paranoia geklungen. Es hörte sich wesentlich plausibler an, wenn jemand anders es aussprach.

Wir gingen sämtliche Punkte mehrmals durch. Das Ganze lief sehr formal ab, wie das Ausfüllen eines komplizierten Steuerformulars. Ich schrieb die Zeiten und Daten auf, die ich für die fehlende Woche zusammengetragen hatte, sowohl für mich als auch für Jo.

Dann überreichte ich Cross Jos Foto. Ben gab ihm die Telefonnummern ihrer Eltern und ihres Ex-Freunds und nannte ihm die Namen der Verlage, für die sie regelmäßig arbeitete.

»Was halten Sie davon?«, fragte ich Cross.

»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete er. »Aber ich bin nicht …«

»Die Sache ist …« Ich hielt inne und warf einen Blick zu Ben hinüber, bevor ich weitersprach. »Nun ja, falls ich Recht habe und Jo von dem gleichen Mann geschnappt wurde wie ich, dann habe ich die schlimme Befürchtung, dass sie mit ziemlicher Sicherheit oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit, Sie wissen schon …« Ich konnte das Wort nicht aussprechen – nicht, wenn Ben neben mir saß. Ich erinnerte mich nicht mal an die kurze Zeit, die ich Jo gekannt hatte. Er dagegen kannte sie schon sein halbes Leben.

Auf Cross’ Gesicht spiegelten sich gemischte Gefühle wider. Als wir uns das erste Mal begegnet waren, hatte er mir meine Geschichte ohne Zögern geglaubt, mich definitiv als Opfer gesehen. Dann hatte man ihn dazu gebracht, mir überhaupt nicht mehr zu glauben, und ich war in seinen Augen zum Opfer meiner eigenen Wahnvorstellungen geworden – eine arme Irre, mit der man Mitleid haben musste. Nun war er von Zweifeln erfüllt.

»Lassen Sie uns Schritt für Schritt vorgehen«, sagte er diplomatisch. »Als Erstes werden wir uns mit Ms.

Hoopers Eltern in Verbindung setzen. Wo sind Sie derzeit zu erreichen?«

»Bei mir«, antwortete Ben. Cross sah ihn ein paar Sekunden lang an, dann nickte er.

»Gut.« Er stand auf. »Ich melde mich bei Ihnen.«

»Allmählich glaubt er mir, meinst du nicht auch?«

Ben griff nach meiner Hand und begann mit meinem Ring herumzuspielen. »Meinst du, was dich oder was Jo betrifft?«

»Gibt es da einen Unterschied?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er.

»Das mit Jo tut mir so Leid, Ben. Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

»Ich hoffe immer noch, dass irgendwann das Telefon klingelt und sie am Apparat ist.«

»Das wäre schön«, sagte ich.

Er schenkte uns Wein nach.

»Musst du oft an die Tage denken, als du seine Gefangene warst?«

»Manchmal kommt es mir vor, als wäre es nur ein schrecklicher Alptraum gewesen, und dann denke ich: Vielleicht habe ich wirklich alles nur geträumt. Bei anderen Gelegenheiten – meistens in der Nacht oder wenn ich allein bin und mich besonders verwundbar fühle – ist es plötzlich wieder derart präsent, dass ich das Gefühl habe, alles von neuem zu durchleben. Als würde ich tatsächlich wieder in der Situation stecken. Als wäre ich nie aus jenem Raum entkommen und all das hier« – ich machte eine Handbewegung, die die hell erleuchtete Küche mit einschloss – »wäre der Traum. Alles purzelt durcheinander, meine Erinnerungen, meine Phantasien, meine Ängste. Weißt du, was ich manchmal für ein Gefühl habe, wenn ich in den frühen Morgenstunden aufwache und mir alles so düster und traurig erscheint? Dann habe ich das Gefühl, dass ich mich auf einem Rad befinde, das sich endlos dreht. Und dass ich alles schon mal getan habe

– was ja in gewisser Hinsicht auch stimmt, ich habe tatsächlich schon nach Jo gesucht, mich in dich verliebt –

und demnächst wieder in der Dunkelheit verschwinden werde.«

»Jetzt ist es bald vorbei.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja. Die Polizei wird sich darum kümmern – und glaub mir, diesmal ist ihnen bestimmt daran gelegen, alles richtig zu machen. Du versteckst dich einfach ein paar Tage hier bei mir, und dann ist dieser Alptraum vorbei, da bin ich sicher. Dann bist du abgesprungen von deinem Rad.«

24

Ben war im Büro, und ich gönnte mir mitten am Vormittag eine Dusche. Das war einer der vielen Vorteile von Bens Haus. Es war modern und technisch auf dem neuesten Stand, und die Dinge funktionierten auf eine Weise, wie ich es mir bis dahin kaum hatte vorstellen können. Terrys so genannte Dusche war ein Art tröpfelnder Wasserhahn knapp zwei Meter über der Badewanne gewesen. Selbst wenn das Wasser heiß war, wurden die Tropfen auf dem Weg nach unten kalt. Bens Dusche dagegen war eine richtige Hochleistungsmaschine mit einem scheinbar unerschöpflichen Vorrat an heißem Wasser und der Kraft und Konzentration eines Feuerwehrschlauchs. Hinzu kam, dass die Dusche kein Teil der Badewanne, sondern in einer eigenen Nische untergebracht und mit einer Tür versehen war. Ich kauerte in einer Ecke und stellte mir vor, mich auf einem Planeten zu befinden, der ununterbrochen mit heißem Regen bombardiert wurde. Natürlich war so ein Planet weniger vorteilhaft, wenn man essen, schlafen oder ein Buch lesen wollte, aber für eine Weile tat das Prasseln sehr gut. Ein heißer Wasserstrahl, der mit beträchtlicher Wucht meinen Kopf traf, war eine gute Art, mich vom Denken abzuhalten.

Am liebsten wäre ich bis zum Frühjahr dort geblieben oder wenigstens, bis der Mann gefasst war, aber irgendwann drehte ich doch das Wasser ab und trocknete mich so langsam und sorgfältig ab, wie sich das nur eine Frau ohne dringenden Termin leisten kann. Dann schlenderte ich in Bens Schlafzimmer hinüber und zog fast ausschließlich Sachen von ihm an: eine Jogginghose und ein schlabberiges blaues T-Shirt, das mir mehrere Nummern zu groß war, außerdem riesige Fußballsocken und ein Paar Hausschuhe, die ich ganz hinten in seinem Schrank fand. Anschließend schaltete ich in der Küche den Wasserkocher an und machte mir eine halbe Kanne Kaffee. Eines Tages würde ich anfangen müssen, darüber nachzudenken, wie ich meine berufliche Karriere aus ihrem derzeitigen Ruhezustand erwecken und wieder in Schwung bringen sollte, aber das konnte warten. Alles konnte warten.

Ich trank meinen Kaffee und unternahm ein paar halbherzige Versuche zu putzen und aufzuräumen, wusste in Bens Haus aber nicht gut genug Bescheid, um viel auszurichten. Ich hatte keine Ahnung, was in welche Schublade oder an welchen Haken gehörte, war andererseits aber auch nicht arbeitswütig genug, um den Boden zu schrubben oder etwas Ähnliches anzufangen, so dass ich mich am Ende darauf beschränkte, das Geschirr zu spülen, die Flächen abzuwischen und die Bettdecke glatt zu streichen. Selbst das nahm nur knapp eine Stunde in Anspruch. Noch immer galt es, einen leeren Tag zu füllen, bis Ben zurückkommen würde. Das bot mir Gelegenheit, meine Zeit auf eine Weise zu verbringen, wie ich es schon immer vorgehabt, aus Zeitmangel aber nie geschafft hatte: Ich konnte mich auf ein Sofa lümmeln, Kaffee trinken, Musik hören, ein Buch lesen und mich wie eine Frau mit Muße fühlen.

Frauen mit Muße hörten bestimmt nicht die klimpernde Popmusik, die den Großteil meiner eigenen Sammlung ausmachte. Sie verlangten nach etwas Kultivierterem. Ich ging Bens CDs durch, bis ich auf etwas stieß, das jazzig und anspruchsvoll aussah. Ich legte es ein. Es klang sehr erwachsen, ein bisschen wie ein Soundtrack zu einem Film, auf jeden Fall nicht wie etwas, das man sich einfach so anhörte, doch das war mir ganz recht so. Ich wollte in erster Linie lesen und Kaffee trinken und brauchte die Musik lediglich als Hintergrund. Das Problem mit so einem ganzen freien Tag war, sich auf ein bestimmtes Buch festzulegen. Ich war nicht in der Stimmung, mich mit einem ernsten Buch auseinanderzusetzen, und es hatte auch keinen Sinn, einen dicken Thriller in Angriff zu nehmen. Während ich einen Band nach dem anderen aus dem Regal zog und inspizierte, wurde schnell klar, dass ich gar nicht richtig in der Stimmung war, eine echte Frau mit Muße zu sein. Trotz meiner ausgiebigen Dusche und meines leeren Terminkalenders war ich noch immer sehr aufgeregt. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, konnte nicht aufhören, an die eine Sache zu denken, die ich eigentlich aus meinem Kopf verbannen wollte.

Ben besaß einen Stapel Fotobücher, die ich unentschlossen durchblätterte. Es fiel mir schwer, mich auf eines festzulegen. Schließlich entschied ich mich für das dickste, eine Sammlung von Fotos aus dem neunzehnten Jahrhundert. Es waren Bilder von exotischen Landschaften und dramatischen Ereignissen, Schlachten und Revolutionen und Katastrophen, aber ich achtete nur auf die Gesichter der abgebildeten Männer, Frauen und Kinder. Manche wirkten beunruhigt oder angstvoll.

Andere feierten auf Jahrmärkten oder Festen. Hin und wieder blickte sich ein Gesicht mit einem verschwörerischen Lächeln nach der Kamera um.

Was mir am meisten auffiel, war die Fremdheit dieser Gesichter. Ich musste daran denken – und konnte plötzlich an gar nichts anderes mehr denken –, dass all diese Menschen, die schönen und die hässlichen, die reichen und die armen, die Glückspilze und die Pechvögel, die bösen und die tugendhaften, die frommen und die gottlosen, eines gemeinsam hatten: Sie waren tot. Jeder einzelne von ihnen war irgendwo gestorben, letztendlich ganz allein, auf einer Straße, auf einem Schlachtfeld oder in einem Bett. All die Menschen in jener Welt gab es nicht mehr. Ich dachte über diese Tatsache nach, aber es war mehr als ein bloßes Nachdenken, eher eine schmerzhafte Empfindung, wie Zahnweh. Das war ein Teil dessen, worüber ich hinwegkommen musste. Ich ließ den Blick zu den höheren Regalfächern hinaufwandern, über die Rücken der kleineren Bücher, die keine Bilder enthielten.

Lyrik. Genau das brauchte ich jetzt. Wahrscheinlich hatte ich seit meiner Schulzeit höchstens zehn Gedichte in die Hände bekommen, doch nun empfand ich plötzlich das dringende Bedürfnis, ein Gedicht zu lesen. So ein Gedicht hatte außerdem den Vorteil, dass es kurz war.

Ben war offensichtlich auch kein großer Lyrikleser, aber es gab in seiner Sammlung ein paar Anthologien von der Art, wie sie Großeltern und Paten gern verschenken, wenn ihnen nichts anderes mehr einfällt. Die meisten von ihnen wirkten auf mich wie Schulbücher oder behandelten Themen, die mich nicht interessierten, wie zum Beispiel das Landleben, das Meer oder die Natur im Allgemeinen.

Dann aber fiel mein Blick auf einen Band mit dem Titel Gedichte von Sehnsucht und Verlust, und obwohl ich mir vorkam wie ein Alkoholiker, der nach einer Wodkaflasche griff, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich ließ mich mit meinem Kaffee auf der Couch nieder und tauchte in das Buch ein. Die Bedeutung der einzelnen Gedichte drang kaum in mein Bewusstsein. Stattdessen schien mir das Ganze eine ineinander verschwimmende Anhäufung von Kummer, Bedauern und Sehnsucht zu sein, unterlegt von grauen Landschaften. Ich kam mir vor wie bei einer Party, wo sich Depressive versammelt hatten, aber das war ein gutes Gefühl. Mein Versuch, so zu tun, als wäre ich glücklich und entspannt, war ein Fehler gewesen. Viel besser war es festzustellen, dass es noch andere verlorene Seelen gab, die ähnlich fühlten wie ich. Ich befand mich unter Freunden, und nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich lächelte, weil mir die beschriebenen Empfindungen so vertraut waren.

Da mir das Buch so gut gefiel, blätterte ich zum Anfang zurück, um zu sehen, wer diesen wundervoll düsteren Band zusammengestellt hatte, und fand bei dieser Gelegenheit heraus, dass jemand eine Widmung auf die Titelseite geschrieben hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich eine innere Stimme flüstern, dass es falsch war, die Widmung zu lesen. Ich ignorierte die Warnung. Schließlich hatte ich nicht in Bens Schreibtisch herumgestöbert und dabei sein Tagebuch oder alte Liebesbriefe gefunden. Eine Buchwidmung ist wie eine Postkarte, die man an eine Wand gepinnt hat. Selbst wenn sie an eine einzelne Person gerichtet ist, handelt es sich doch um eine Art öffentliche Erklärung. Zumindest redete ich mir das in diesem Sekundenbruchteil ein, doch als ich sah, dass die ersten drei Worte »Ben, mein Liebster«

lauteten, begann ich zu ahnen, dass es wohl doch nicht als öffentliche Erklärung gedacht war, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits weitergelesen: »Ben, mein Liebster. Dieses Buch enthält traurige Worte, die meine Gefühle besser zum Ausdruck bringen, als ich das könnte.

Das alles tut mir so Leid, und du hast wahrscheinlich Recht, aber ich fühle mich trotzdem wie entzweigerissen und in vielerlei Hinsicht ganz furchtbar. Und so etwas als Widmung in ein Buch zu schreiben, ist auch furchtbar. All meine Liebe, Jo.«

Die Widmung war mit November 2001 datiert.

Kein noch so winziger Teil von mir zog auch nur ansatzweise in Betracht, dass es sich um eine andere Jo handeln könnte. Ich hatte mehrere Tage in ihrer Wohnung verbracht und überall ihre Schrift gesehen, auf Einkaufslisten, Notizzetteln, Hüllen von Videokassetten.

Ich kannte diese Schrift fast so gut wie meine eigene. Mir wurde plötzlich siedend heiß, bis in die Finger- und Zehenspitzen, und dann begann ich heftig zu zittern.

Dieser verdammte Ben. Dieser verfluchte Ben. Er hatte mir alles über diese Leah erzählt, recht empfindlich getan, was ihre Beziehung betraf, mir beschrieben, was für eine schöne Frau sie gewesen sei und all das, und hatte dabei das unwichtige kleine Detail zu erwähnen vergessen, dass er nach der Trennung von ihr rein zufällig die Frau gevögelt hatte, in deren Wohnung ich zur Zeit wohnte –

die Frau, die rein zufällig vor kurzem verschwunden war.

Ich musste daran denken, wie er an ihrer Tür geklingelt hatte. Die beiden waren Freunde, da war das keine große Sache. Wir hatten viel Zeit damit verbracht, uns zu fragen, wo Jo sein könnte. Jedenfalls hatte ich mich das gefragt.

Was hatte er sich dabei gedacht? Fieberhaft ließ ich im Geist die Gespräche Revue passieren, die ich mit ihm geführt hatte. Was hatte er über Jo gesagt? Er hatte sie im selben Bett gevögelt wie mich, es aber nicht für nötig gehalten, das zu erwähnen. Wobei er anfangs ja auch nicht erwähnt hatte, dass er mich bereits vor meinem Verschwinden gevögelt hatte. Was er mir sonst wohl noch alles verschwieg?

Ich versuchte mir harmlose Erklärungen für seine Geheimniskrämerei zu überlegen. Er wollte mich nicht aufregen. Vielleicht wäre es peinlich gewesen. Doch die anderen Gründe drängten sich immer wieder in den Vordergrund. Ich musste in Ruhe über alles nachdenken, das Chaos in meinem Kopf auseinandersortieren. Ich begann im Geist bereits, mir verschiedene Geschichten zu erzählen, und jede von ihnen machte es dringend erforderlich, dass ich so schnell wie möglich aus Bens Haus verschwand. Ich warf einen Blick auf meine Uhr.

Der Tag erschien mir gar nicht mehr so lang. Ich lief in Bens Schlafzimmer und riss mir meine Sachen – seine Sachen – vom Leib, als wären sie verseucht. Dabei murmelte ich wie eine Geisteskranke vor mich hin. Ich war nicht sicher, ob ich es schaffen würde, eine sinnvolle Erklärung für all das zu finden, aber das Einzige, was Jo und ich definitiv gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass wir eine sexuelle Beziehung mit Ben gehabt hatten. Nicht nur das – wir hatten beide mehr oder weniger kurz vor unserem Verschwinden eine sexuelle Beziehung mit ihm gehabt. Rasch schlüpfte ich in meine eigene Kleidung. Es ergab einfach keinen Sinn. Ich musste anderswo darüber nachdenken, an einem ruhigen Ort, wo ich in Sicherheit war. Denn hier war ich nicht mehr sicher. Die Stille des Hauses erschien mir plötzlich bedrohlich.

Als ich mit dem Anziehen fertig war, sammelte ich eilig ein, was ich unbedingt brauchte. Schuhe, Tasche, Pulli, Börse, meine schreckliche rote Winterjacke. Spielte er mit mir? Er hatte mich angelogen oder es unterlassen, mir die volle Wahrheit zu sagen, und ich würde bestimmt nicht hier herumsitzen und warten, bis er nach Hause kam. Ich versuchte mir jene Stimme aus der Dunkelheit vorzustellen. Ich hatte auch Bens Stimme in der Dunkelheit gehört, neben mir im Bett. Er hatte mir ins Ohr geflüstert, gestöhnt, mir gesagt, dass er mich über alles liebte. Konnte es sich um dieselbe Stimme handeln?

Ich musste weiter Jos Spuren folgen, das war der Schlüssel. Ich hatte die Leute gefragt, ob sie Jo gesehen hätten. Vielleicht hätte ich ihnen noch eine andere Frage stellen sollen. Ich rannte zu Bens Schreibtisch hinüber und begann in den Schubladen herumzuwühlen. Ungeduldig schob ich Akten und Notizbücher zur Seite, bis ich endlich fand, was ich suchte. Einen Streifen Passfotos von Ben.

Einen Moment lang betrachtete ich die Aufnahmen. O

Gott, er war wirklich ein gut aussehender Mann. Ich hatte die Leute nach Jo gefragt, aber ich war nie auf die Idee gekommen, sie auch nach Ben zu fragen. Bisher war ich meinen eigenen Spuren gefolgt, die ihrerseits Jos Spuren folgten. Nun überlegte ich, ob es vielleicht sinnvoller war, Bens Spuren zu folgen. Ich zögerte einen Moment, dann griff ich nach seinem Mobiltelefon. Ich brauchte es dringender als er. Bevor ich ging, drehte ich mich noch einmal um und blickte zurück, als wollte ich mich von einem Ort verabschieden, an dem ich kurze Zeit glücklich gewesen war.

Jetzt konnte ich mich auf niemanden mehr verlassen. Ich musste schnell handeln. Mir gingen langsam die sicheren Orte aus.

25

Ich rannte. Rannte die Straße entlang, wo mir ein bitterkalter Wind ins Gesicht schlug und meine Füße auf dem eisigen Gehsteig ständig ausrutschten. Wo wollte ich hin? Ich wusste es nicht, ich wusste bloß, dass ich weg musste, einfach nur weg, an einen anderen Ort. Ich hatte das warme Haus verlassen, in dem es so angenehm nach Sägemehl roch, hatte die Tür hinter mir zugezogen und nicht einmal einen Schlüssel mitgenommen. Ich war wieder allein. Mir kam in den Sinn, dass ich mit meiner scheußlichen Jacke ein weithin sichtbares Ziel abgab, aber der Gedanke huschte mir nur ganz vage durch den Kopf, wie eine Schneeflocke, die rasch schmolz. Ich lief einfach weiter, an Häusern, Bäumen und Autos vorbei, die ich kaum registrierte. Selbst die Gesichter der mir entgegenkommenden Menschen nahm ich nur verschwommen wahr.

Am Ende der Straße zwang ich mich, stehen zu bleiben und mich umzublicken. Niemand schien von mir Notiz zu nehmen, auch wenn man sich nie so sicher sein konnte.

Denk nach, Abbie, befahl ich mir selbst. Denk nach, es geht um dein Leben. Aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich konnte nur fühlen und sehen. Vor meinem geistigen Auge tauchten Bilder auf. Ben und Jo, wie sie einander im Arm hielten. Erschöpft schloss ich die Augen und sah nur noch Schwärze, eine Schwärze, die sich anfühlte wie die Dunkelheit meiner verlorenen Zeit.

Ich spürte, wie sie sich ein weiteres Mal um mich legte, spürte wieder den Blick seiner Augen, die mich aus der Finsternis anstarrten. Erst Jo und dann mich. Ich sah einen Schmetterling auf einem grünen Blatt, einen Baum auf einem Hügel, einen träge dahinströmenden Fluss, das stille, tiefe Wasser eines Sees. Ich schlug die Augen auf.

Die schnöde graue Welt verdrängte alle anderen Bilder.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, diesmal langsamer, ohne ein konkretes Ziel zu haben. Ich ging am Park vorbei und den Hügel hinunter. Es zog mich zu Jos Wohnung, obwohl mir klar war, dass ich nicht dorthin durfte. Auf der belebten Hauptstraße, die von Läden gesäumt war, sah ich plötzlich Jos Gesicht. Blinzelnd starrte ich sie an, aber natürlich war es gar nicht Jo, sondern irgendeine Frau, die ihrer Wege ging, ohne zu ahnen, was sie für ein Glück hatte.

Ich wusste in groben Zügen, wie Jo ihre letzten Stunden in Freiheit verbracht hatte: Mittwochnachmittag war sie auf der Suche nach einem Kätzchen gewesen. Im Laufe dieses Mittwochnachmittags war sie verloren gegangen, und am nächsten Tag war ich ebenfalls verschwunden.

Nun suchte ich schon seit Tagen nach Anhaltspunkten, aber mehr hatte ich nicht in Erfahrung bringen können.

Nur dieses erbärmliche Fitzelchen einer Information. Im Grunde tappte ich noch immer im Dunkeln.

Ich machte auf dem Absatz kehrt, lief die Hauptstraße ein Stück zurück und bog dann in eine Straße ein, die Richtung Lewin Crescent führte. Ich ging die schmale Gasse entlang, bis ich zu dem schmuddeligen Häuschen mit den zugenagelten Fenstern kam, und klopfte an die Tür. Drinnen konnte ich Miauen hören, glaubte sogar einen schwachen Uringeruch wahrzunehmen. Dann kam jemand zur Tür geschlurft. Die Tür ging einen Spalt weit auf, und die alte Frau spähte misstrauisch zu mir heraus.

»Ja?«

»Betty?«

»Ja? Wer sind Sie?«

»Abbie. Ich war vor zwei Tagen schon mal hier. Ich habe Sie nach meiner Freundin gefragt.«

»Ja?«, sagte sie noch einmal.

»Darf ich reinkommen?«

Sie löste die Kette und machte die Tür ganz auf. Mir schlug heiße, abgestandene Luft entgegen, und ich hatte sofort wieder diesen scharfen Geruch in der Nase. Wie beim letzten Mal bewegte sich im ganzen Raum ein Teppich aus Katzen. Betty trug dasselbe blaue, mit Katzenhaaren bedeckte Hemdblusenkleid, dieselben abgewetzten Hausschuhe und dicken braunen Strümpfe.

Ich hatte den Eindruck, dass zumindest ein Teil des Ammoniakgeruchs von ihr ausging. Sie war so dünn, dass ihre Arme wie Stöcke und ihre Finger wie dürre Zweige aussahen.

»Soso, Sie schon wieder. Sie zieht es wohl immer wieder her, was?«

»Ich habe Sie etwas zu fragen vergessen.«

»Was denn?«

»Sie sagten, dass meine Freundin bei Ihnen war. Jo.« Sie reagierte nicht. »Die, die wegen eines Kätzchens zu Ihnen gekommen ist, der sie aber keines geben wollten, weil …«

»Ich weiß, wen Sie meinen«, fiel sie mir ins Wort.

»Ich habe Sie aber nicht nach dem Mann gefragt, mit dem ich da war. Moment.« Ich wühlte in meiner Tasche herum und holte den Streifen mit Bens Passfotos heraus.

»Hier, das ist er.«

Sie warf einen raschen Blick auf die Bilder. »Und?«

»Erkennen Sie ihn wieder?«

»Ich glaube schon.«

»Nein, ich meine, haben Sie ihn schon beim letzten Mal wiedererkannt? Als ich mit ihm hier war?«

»Sie sind eine sehr konfuse junge Dame«, erklärte sie, während sie sich zu einer roten Katze hinunterbeugte, die gerade mit dem Kopf gegen ihre Beine stupste. Das Tier schmiegte das Kinn an ihre Hand und begann laut zu schnurren.

»Mich würde bloß interessieren, ob sie ihn vorher schon einmal gesehen haben. Bevor ich mit ihm hier war.«

»Vorher?«

Ungeduldig unternahm ich einen weiteren Versuch:

»Haben Sie diesen Mann öfter als einmal gesehen?«

»Die Frage ist, wann?«

»Ja, genau.«

»Was?«

»Ich meine, ja genau, wann haben Sie ihn gesehen?«

Allmählich wurde mir leicht schummrig.

»Aber das wollte ich doch gerade von Ihnen wissen –

wann ich ihn Ihrer Meinung nach gesehen haben soll. Ja ist keine Antwort.«

Ich rieb mir die Augen. »Ich wollte bloß wissen, ob Sie ihn schon einmal gesehen hatten, bevor ich vor zwei Tagen mit ihm hier bei Ihnen war. Das ist alles.«

»Zu mir kommen alle möglichen Leute. Ist er von der Stadt?«

»Nein, er ist …«

»Denn wenn er von der Stadt ist, lasse ich ihn nicht mehr ins Haus.«

»Er ist nicht von der Stadt.«

»Katzen sind nämlich von Natur aus reinliche Wesen, müssen Sie wissen.«

»Ja«, antwortete ich dumpf.

»Manche Leute finden es auch nicht in Ordnung, dass sie so viel jagen. Aber das liegt nun mal in ihrer Natur.«

»Ich weiß.«

»Ich gebe meine Kätzchen nicht an Leute ab, die sie rauslassen. Das habe ich auch Ihrer Freundin gesagt. Als sie mir eröffnet hat, dass sie die Katze rauslassen will, habe ich ihr gesagt, dass ihr Heim kein geeigneter Platz für ein Kätzchen von mir ist, weil es sowieso bloß überfahren würde.«

»Ja. Danke. Entschuldigen Sie die Störung.« Ich wandte mich zur Tür.

»Ich bin nicht wie dieses Hippie-Pack.«

»Hippie-Pack?«

»Ja. Denen ist es egal, wo die Tiere landen.« Sie schnaubte missbilligend.

»Diese, ähm, diese Hippies haben auch so viele Katzen wie Sie?«

»Nicht so viele wie ich«, antwortete sie. »Nein.«

»Haben Sie Jo von ihnen erzählt?«

»Kann schon sein.«

»Betty, wo finde ich diese Leute?«

Ich weiß nicht, warum ich es so eilig hatte. Vielleicht aus Angst, die heiße Spur könnte kalt werden. Ich wusste, wo Jo nach ihrem Besuch bei Betty hingefahren war – oder wo sie möglicherweise hingefahren war, und das genügte mir. Nun war ich bis zur letzten oder vorletzten Stunde ihres letzten Tages vorgestoßen. Alles andere war verblasst, ich sah nur noch ihre zurückweichende Gestalt, in deren Fußspuren ich dahinstolperte. Aber wer folgte meiner Spur? Wer war hinter mir her?

Betty hatte von Hippies gesprochen, aber nach allem, was sie mir über sie gesagt hatte – ihre Dreadlocks und ihre Flickenklamotten –, ging ich davon aus, dass es sich um New-Age-Reisende handelte. Sie hatte mir erzählt, sie würden in einer verlassenen Kirche drüben in Islington hausen, und ich betete, dass sie noch nicht weitergezogen waren. Im Laufschritt eilte ich zur Hauptstraße zurück und winkte einem Taxi. Während der Fahrt blickte ich mich immer wieder über die Schulter um, hielt nach einem Gesicht Ausschau, das mir bekannt vorkam. Obwohl ich niemanden entdecken konnte, hatte ich das beängstigende Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Ich saß auf der Kante der Sitzbank und zappelte jedes Mal ungeduldig vor mich hin, wenn sich der Verkehr staute oder wir an einer roten Ampel anhalten mussten.

Als wir es endlich bis nach Islington geschafft hatten, wurde es bereits dunkel. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und konnte nicht einmal mehr sagen, welcher Tag gerade war. Ein Wochentag, so viel wusste ich. Die meisten Leute waren noch im Büro, saßen in geheizten Zimmern, tranken Kaffee aus einem Automaten, führten Besprechungen, die sie für ungemein wichtig hielten. Ich bezahlte die Taxifahrerin, stieg aus und musste gleich einer gefrorenen Pfütze ausweichen. Aus dem tief hängenden, sich verdunkelnden Himmel rieselten Schneeflocken herab. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und setzte mich in Bewegung.

Ein Teil der Kirche war bunt gestrichen, und über die Holzrippen der großen Eingangstür spannte sich ein asymmetrischer Regenbogen. An der Wand lehnte ein rostiges, rosa besprühtes Fahrrad, daneben ein alter Kinderwagen mit Holz und ein weiterer voller Konservendosen. An der Seite der Kirche parkte ein mit Spiralen und Blumen bemalter Lieferwagen, bei dem an sämtlichen Fenstern Jalousien heruntergelassen waren. Ein großer graubrauner Hund schnüffelte an den Reifen herum.

Ich hob den Türklopfer an und ließ ihn mit Schwung gegen die Tür prallen, die bereits einen Spalt offen stand.

»Einfach aufschieben und reinkommen!«, rief eine Frauenstimme.

Das Innere der Kirche war düster und verqualmt. Auf dem Boden war eine provisorische Feuerstelle mit ein paar Steinen errichtet, um die sich eine Gruppe von Leuten scharte. Fast alle waren in Decken oder Schlafsäcke gehüllt. Ein Mann hielt eine Gitarre, schien aber nicht darauf spielen zu wollen. Im hinteren Teil der Kirche, wo noch ein paar Bänke standen, sah ich weitere Gestalten.

Matratzen und Taschen waren über den Boden verteilt.

Eines der Buntglasfenster hatte einen großen Sprung.

»Hallo«, sagte ich unsicher. »Entschuldigung, dass ich einfach so hereinschneie.«

»Du bist hier jederzeit willkommen«, antwortete eine Frau mit kurz geschorenem Haar und Piercings in Augenbrauen, Nase, Lippen und Kinn. Als sie sich vorbeugte, um mir die Hand zu geben, klirrten an ihrem Arm dicke Kupferarmreifen.

»Ich heiße Abbie«, stellte ich mich vor und schüttelte ihre Hand, die in einem dicken Wollhandschuh steckte.

»Ich wollte nur fragen …«

»Wir wissen, dass du Abbie heißt – zumindest ich weiß es. Ein paar von uns sind erst in den letzten Tagen eingetroffen. Ich bin Crystal – erinnerst du dich? Du hast dir die Haare schneiden lassen, stimmt’s?«, fügte sie hinzu. »Möchtest du eine Tasse Tee? Boby hat gerade welchen gemacht. Boby! Noch eine Tasse Tee, bitte – wir haben Besuch! Du nimmst keinen Zucker, richtig? Ich merke mir immer, wie die Leute ihren Tee trinken.«

Boby kam mit einer Zinntasse voll schlammfarbenem Tee zu uns herüber. Er war klein und dünn, bleich und nervös. Seine Armyhose war ihm viel zu weit, und sein Hals wirkte durch seinen dicken Strickpullover noch dünner.

»Danke«, sagte ich. »Ich bin schon mal hier gewesen, nicht wahr?«

»Wir haben ein bisschen Bohnengemüse übrig. Möchtest du welches?«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich. »Vielen Dank.«

Der Mann mit der Gitarre strich mit den Fingern über den Hals seines Instruments und produzierte ein paar schräge Akkorde. Als er mich angrinste, sah ich, dass sein Mund voller schwarzer, zum Teil abgebrochener Zähne war. »Ich bin Ramsay«, stellte er sich vor. »Oder einfach Ram. Ich bin gestern von einer Umweltaktion auf hoher See zurückgekommen. Seit Wochen meine erste Nacht auf festem Boden. Und was hat dich hierher verschlagen?«

Da wurde mir klar, dass ich inzwischen aussah wie eine Streunerin. Ich war eine von ihnen geworden. Hier musste ich mir keine Mühe geben, um verstanden zu werden. Ich ließ mich am Feuer nieder und nahm einen Schluck von meinem lauwarmen, bitteren Tee. Der Rauch des Feuers brannte in meinen Augen.

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau«, antwortete ich.

»Aber Betty hat mir von euch erzählt.«

»Betty?«

»Die alte Frau mit den vielen Katzen«, mischte sich Crystal ein. »Du hast uns letztes Mal schon von ihr erzählt.«

Ich nickte. Mir war plötzlich friedlich zumute. Die Anspannung war von mir abgefallen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, tot zu sein. »Ja, wahrscheinlich«, antwortete ich.

»Wahrscheinlich habe ich euch auch schon nach meiner Freundin Jo gefragt.«

»Stimmt. Jo.«

»Ich habe euch gefragt, ob sie hier war.«

»Möchtest du eine Kippe?«, fragte Boby.

»Gern.« Ich griff nach der dünnen, selbstgedrehten Zigarette, die er mir hinhielt. Ram gab mir Feuer. Ich inhalierte und musste sofort husten, spürte einen Anflug von Übelkeit. Trotzdem zog ich gleich noch einmal. »War sie hier?«

»Ja«, antwortete Crystal. Sie sah mich an. »Bist du okay?«

»Ja.«

»Hier. Iss ein paar Bohnen.« Sie griff nach einer der Bohnendosen, die am Feuer standen, steckte einen Plastiklöffel hinein und reichte sie mir. Ich schob mir einen Löffel voll in den Mund. Widerlich. Noch einen.

Dann saugte ich wieder an der Zigarette, sog den beißenden Rauch in meine Lungen.

»Großartig«, sagte ich. »Danke. Demnach war Jo also wirklich hier?«

»Ja. Aber das habe ich dir schon beim letzten Mal erzählt.«

»Ich kann mich an vieles nicht erinnern«, erklärte ich.

»Das geht mir auch immer öfter so«, bemerkte Ram und versuchte sich an einem weiteren Akkord. Die Kirchentür ging auf, und ein Mann schob den Kinderwagen mit dem Holz herein. Nachdem er ein paar Scheite ins Feuer geworfen hatte, beugte er sich zu Crystal und küsste sie lange.

»Sie war also auf der Suche nach einem Kätzchen?«, fuhr ich schließlich fort.

»Weil diese verrückte Betty sich einbildet, dass wir hier Katzen haben.«

»Habt ihr denn keine?«

»Siehst du welche?«

»Nein.«

»Natürlich verirren sich hin und wieder ein paar Streuner zu uns, weil wir ihnen Milch und Futter geben. Und letzten Monat haben ein paar von uns an einer Aktion teilgenommen, bei der Katzen aus einem Labor befreit wurden. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, wie diese Betty von uns erfahren hat.«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Dann ist sie also einfach wieder gegangen?«

»Jo?«

»Ja.«

»Sie hat uns ein bisschen Geld für unsere Projekte gegeben. Einen Fünfer, glaube ich.«

»Und das war’s dann?«

»Ja.«

»Aha.« Ich blickte mich um. Vielleicht konnte ich mich ihnen anschließen, auch eine Reisende werden, mich wie sie von Bohnen ernähren, auf Steinböden oder auf Bäumen schlafen und Zigaretten drehen, bis meine Finger davon ganz gelb waren. Das wäre zumindest etwas anderes, als Büroeinrichtungen zu entwerfen.

»Ich habe ihr allerdings noch den Tipp gegeben, es bei Arnold Slater zu versuchen.«

»Arnold Slater?«

»Das ist der alte Mann, zu dem wir ein paar von den Streunern gebracht haben. Als die Hunde anfingen, Jagd auf sie zu machen. Er sitzt im Rollstuhl, kümmert sich aber trotzdem um sie.«

»Und zu ihm wollte Jo von hier aus?«

»Ich nehme es an. Hat sie jedenfalls gesagt. Du übrigens auch – beim letzten Mal, meine ich. Seltsam, nicht wahr?

Wie ein Déja-vu-Erlebnis. Glaubst du an so was?«

»Natürlich. Mein Leben ist wie eine Karussellfahrt, eine Runde nach der anderen.« Ich warf das Ende der selbstgedrehten Zigarette ins Feuer und trank meinen Tee aus. »Danke«, sagte ich. Dann wandte ich mich mit einem Ruck zu Boby um.

»Du hast eine große Spinnentätowierung, stimmt’s?«

Er lief knallrot an. Verlegen schob er seinen dicken Pulli hoch. Auf seinem flachen weißen Bauch prangte ein tätowiertes Netz, das sich offenbar bis nach hinten über seinen Rücken erstreckte, auch wenn ich diesen Teil nicht sehen konnte.

»Schau«, sagte er.

»Aber wo ist die Spinne geblieben?«, fragte ich.

»Das hast du letztes Mal auch gefragt.«

»Folglich bin ich eine konsequente Person«, meinte ich.

Beim Verlassen der Kirche stellte ich fest, dass es inzwischen dunkel geworden war. Hinter den Wolken konnte ich eine schmale Mondsichel ausmachen. Arnold Slater wohnte zwei Minuten von der Kirche entfernt, ein alter Mann im Rollstuhl. Jo hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn aufzusuchen, und ich hatte mit dem Gedanken gespielt, Jo zu folgen und ihn ebenfalls aufzusuchen … Genau in dem Moment, als ich auf die Straße hinaustrat, begann das Handy, das ich mir beim Verlassen von Bens Wohnung geschnappt hatte, laut zu läuten, und ich zuckte erschrocken zusammen. Rasch holte ich das Telefon aus der Tasche und nahm, ohne nachzudenken, den Anruf entgegen.

»Hallo?«

»Abbie! Wo zum Teufel steckst du, Abbie? Was machst du? Ich bin schon halb wahnsinnig vor lauter Sorge um dich. Den ganzen Tag habe ich versucht, dich zu Hause auf dem Festnetz zu erreichen, aber du hast nicht abgehoben, deswegen habe ich eher zu arbeiten aufgehört, aber als ich nach Hause kam, warst du nicht da …«

»Ben«, sagte ich schwach.

»Ich habe gewartet und gewartet. Ich dachte, du bist vielleicht einkaufen gegangen, aber dann fiel mir plötzlich auf, dass mein Handy nicht mehr am Ladegerät hing, und da habe ich es aufs Geratewohl probiert. Wann kommst du nach Hause?«

»Nach Hause?«

»Abbie, wann kommst du zurück?«

»Ich komme nicht zurück«, antwortete ich.

»Was?«

»Du und Jo. Ich weiß von Jo. Ich weiß, dass du mit ihr zusammen warst.«

»Jetzt hör mir mal zu, Abbie …«

»Warum hast du mir das nicht gesagt? Warum, Ben?«

»Ich hatte Angst, dass …«

» Du hattest Angst«, unterbrach ich ihn. » Du. «

»Lieber Himmel, Abbie!«, sagte er, doch ich beendete das Gespräch mit einem raschen Knopfdruck. Eine Weile starrte ich auf das Telefon in meiner Hand, als könnte es mich beißen. Dann ging ich die Namen in seinem Adressspeicher durch. Ich kannte keinen davon, bis ich Jo Hooper erreichte. Ich erkannte die Nummer, es war die ihrer Wohnung, aber dann folgte eine weitere Jo Hooper (mobil). Ich drückte auf den Knopf und hörte das Freizeichen. Gerade als ich auflegen wollte, nahm jemand ab. »Hallo«, flüsterte eine Stimme. So leise, dass ich es kaum verstand.

Ich sagte nichts, stand nur reglos da, das Handy gegen meine Wange gepresst. Während ich versuchte, die Luft anzuhalten, hörte ich ihn ganz leise atmen. Ein und aus, ein und aus. In meinen Adern breitete sich ein Gefühl von Kälte aus. Ich schloss die Augen und lauschte. Er sagte auch nichts mehr. Ich hatte ganz stark das Gefühl, dass er wusste, dass ich es war, und dass er wusste, dass ich wusste, dass er in der Leitung war. Ich konnte spüren, wie er lächelte.

26

Mir war, als würde ich im Traum einen Hang hinunterlaufen, der immer abschüssiger wurde, so dass ich nicht mehr anhalten konnte. Nichts an der Straße kam mir bekannt vor – weder der verkümmerte Baum, von dem ein abgebrochener Ast herabhing, noch die riesigen Holzstreben, die eine baufällige Häuserreihe am Einstürzen hinderten. Ich hatte einen seltsamen Geruch in der Nase und bildete mir ein, ein Stück weiter vor mir Schritte zu hören. Die von Jo. Meine eigenen. Wenn ich mich ein wenig beeilte, würde ich sie einholen.

Ich hatte mir Arnold Slaters Hausnummer auf den Handrücken geschrieben. Zwölf. Ganz am Ende der Straße. Mich beruhigte der Gedanke, dass ich zu einem alten Mann unterwegs war, der noch dazu im Rollstuhl saß. Er konnte es nicht sein. Außerdem hätte ich mich sowieso nicht mehr aufhalten lassen – nun, da ich Jo so knapp auf den Fersen war. Ich stellte mir vor, wie sie voller Ungeduld hier entlangmarschiert war. Konnte es denn wirklich so schwierig sein, eine Katze aufzutreiben?

Entlang der Straße fand sich die übliche Mischung aus restaurierten, verlassenen und vernachlässigten Häusern.

Nummer zwölf sah noch recht passabel aus. Offenbar gehörte das Gebäude der Stadt, denn es war ziemlich viel dafür getan worden, den Zugang zum Haus rollstuhlgerecht zu gestalten. Es gab eine Betonrampe und ein stabiles Geländer. Ich drückte auf den Klingelknopf.

Arnold Slater saß nicht in seinem Rollstuhl. Über seine Schulter sah ich den Stuhl zusammengeklappt in der Diele stehen. Trotzdem stellte der alte Mann für niemanden, der schneller war als eine Schildkröte, eine Bedrohung dar. Er trug einen Regenmantel und hielt sich am Türknauf fest, als würde er sonst umfallen. Mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn starrte er mich an. Ich musterte ihn ebenfalls aufmerksam, fragte mich, ob mir irgendetwas an ihm bekannt vorkam. Fragte er sich auch gerade, ob er mich schon einmal gesehen hatte?

»Hallo«, begrüßte ich ihn in fröhlichem Ton. »Sind Sie Arnold Slater? Ich habe gehört, dass Sie eventuell eine Katze zu verkaufen haben.«

»Herrgott noch mal!«, gab er zurück.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Haben Sie keine Katzen?«

Er schlurfte ein Stück zur Seite, um mich eintreten zu lassen.

»Doch, ein paar«, antwortete er mit einem kehligen Lachen.

»Kommen Sie herein.«

Ich warf einen Blick auf die dünnen, sehnigen Handgelenke, die aus seinem Regenmantel herausragten, überzeugte mich noch einmal davon, dass dieser Mann keine Gefahr für mich darstellte. Erst dann trat ich ein.

»Ich habe in der Tat Katzen«, erklärte er. »Darf ich vorstellen? Merry, Poppy und Cassie. Und das da drüben, das ist Prospero.«

Wie aufs Stichwort schoss eine senffarbene Gestalt den Gang hinunter und verschwand in der Dunkelheit.

Plötzlich hatte ich das Bild einer geheimen Gesellschaft vor Augen, ein Freimaurerbund etwa, in dem alle über London verteilten Katzennarren zusammengeschlossen waren, durch ihre Obsession miteinander verbunden wie die geheimen Flüsse unter der Stadt.

»Schöne Namen«, bemerkte ich.

»Katzen haben ihre eigenen Namen«, erklärte er. »Man muss sie nur erkennen.«

Mir war, als hätte ich Fieber. Seine Worte schienen von weit weg zu kommen und lange Zeit zu brauchen, bis sie mich erreichten. Ich fühlte mich wie jemand, der zu viel getrunken hatte, sich das aber nicht anmerken lassen wollte. Ich bemühte mich nach Kräften, eine fröhliche junge Frau zu spielen, die ganz versessen darauf war, ein Gespräch über Katzen zu führen.

»Katzen sind ein bisschen wie Kinder, nehme ich an.«

Er warf mir einen pikierten Blick zu.

»Nein, nicht wie Kinder. Jedenfalls nicht wie meine Kinder. Im Gegensatz zu denen können sie nämlich auf sich selbst aufpassen.«

Mir schwirrte der Kopf, und ich trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Die Leute in der Kirche haben mich an Sie verwiesen.

Sie haben gesagt, Sie hätten Katzen zu verkaufen.«

Wieder lachte er so heiser, als wäre etwas in seinem Hals stecken geblieben.

»Ich habe keine Katzen zu verkaufen. Warum sollte ich eine verkaufen wollen? Wie kommen die Leute bloß immer auf diese Idee?«

»Unter anderem darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.

Waren noch andere Leute hier, die Ihnen eine Katze abkaufen wollten?«

»Die sind doch alle verrückt. Nur weil ich ihnen mal eine Katze abgenommen habe, schicken sie jetzt dauernd Leute zu mir, als wäre hier eine Zoohandlung.«

»Welche Leute?«

»Törichte Frauenzimmer, die unbedingt eine Katze wollen.«

Ich zwang mich zu einem Lachen.

»Sie meinen, hier sind schon öfter Frauen aufgetaucht, die eine Katze kaufen wollten? Wie viele denn?«

»Zwei. Ich habe beiden gesagt, dass meine Katzen nicht zu verkaufen sind.«

»Das ist ja lustig«, sagte ich so beiläufig, wie es mir möglich war. »Ich glaube nämlich, dass es sich bei einer von den Frauen, die man zu Ihnen geschickt hat, möglicherweise um eine Freundin von mir gehandelt hat.

War es vielleicht diese hier?«

Ich hatte das Foto von Jo schon die ganze Zeit in meiner Jackentasche bereitgehalten. Nun zog ich es heraus und zeigte es Arnold. Einen Moment lang starrte er mich verwirrt an, dann wurde sein Blick misstrauisch.

»Was soll das? Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich habe mich nur gefragt, ob sie vielleicht eine von den Frauen war, die auf der Suche nach einer Katze zu Ihnen gekommen sind.«

»Warum wollen Sie das wissen? Ich dachte, Sie wollten eine Katze? Sind Sie von der Polizei oder so was?«

Meine Gedanken purzelten durcheinander, ich konnte fast hören, wie mein Gehirn in meinem Kopf vor Anstrengung summte. Ich fühlte mich total gehetzt, auf der Flucht vor und gleichzeitig auf der Jagd nach etwas, und nun musste ich mir auch noch eine halbwegs plausible Erklärung einfallen lassen, um diesem Mann begreiflich zu machen, was um alles in der Welt ich von ihm wollte.

»Ich bin auch auf der Suche nach einer Katze«, sagte ich.

»Ich wollte nur sicherstellen, dass ich tatsächlich da gelandet bin, wo meine Freundin war.«

»Warum fragen Sie sie nicht selbst?«

Am liebsten hätte ich laut losgeschrien. Verdammt noch mal, warum war er so begriffsstutzig? Ich musste einfach in das nächste Quadrat dieses lächerlichen Spiels gelangen, das ich da gerade spielte, und er war der Einzige, der mir dabei helfen konnte. Ich versuchte klar zu denken, aber es fiel mir schwer. Jedenfalls hatte die arme Jo ihre Katze hier nicht bekommen, so viel war klar.

»Tut mir Leid, Mr. Slater«, sagte ich. »Arnold. Ich möchte einfach nur eine Katze.«

»Das behaupten sie alle.«

»Wer?«

»Die Frau auf dem Bild.«

»Gott sei Dank!«, sagte ich zu mir selbst.

»Sie wollen alle eine Katze, und es muss unbedingt gleich heute sein. Es kann auf keinen Fall bis morgen warten.«

»Ich kenne dieses Gefühl. Man setzt sich etwas in den Kopf, und sei es nur ein Hamburger, und dann muss man einfach einen haben. Vorher kann man keine Ruhe geben.«

»Einen Hamburger?«

»Hören Sie, Mr. Slater, wenn ich zu Ihnen käme und Sie wegen einer Katze fragen würde, was ich ja in der Tat getan habe, und Sie zu mir sagen würden, dass Ihre nicht zu verkaufen sind, was sie ja tatsächlich nicht sind – was würden Sie mir dann empfehlen? Wohin würden Sie mich schicken?« Arnold Slaters Blick war immer noch auf Jos Foto gerichtet. Ich steckte es wieder in meine Tasche.

»Arnold«, sagte ich, diesmal leiser und drängender.

»Wohin haben Sie sie geschickt?«

»Wer war die andere?«

Er musterte mich jetzt aufmerksamer. Womöglich dämmerte ihm allmählich, dass er mich schon einmal gesehen hatte.

Ich zögerte einen Moment, aber es hatte keinen Sinn.

Mir fiel keine Möglichkeit ein, ihm eine Antwort zu geben, die auch nur annähernd an die Wahrheit herankam.

»Das spielt keine Rolle. Es ist keine große Sache, Arnold. Es geht nur um eine Katze. Ich möchte nur wissen, wo Sie die Frau hingeschickt haben.«

»Es gibt Zoohandlungen«, antwortete er. »Anzeigen in der Zeitung. Das ist der beste Weg.«

»Oh«, sagte ich. War es das? Eine Sackgasse?

»Ich habe sie zu einem Laden hier in der Nähe geschickt, gleich um die Ecke.«

Ich biss mir auf die Lippe und versuchte ruhig zu bleiben, als wäre das alles total unwichtig.

»Haben Sie noch mal etwas von ihr gehört?«, fragte ich.

»Ich habe sie lediglich weitergeschickt.«

»Dann hat sie ihre Katze wahrscheinlich bekommen.«

»Keine Ahnung. Ich habe nichts mehr von ihr gehört.«

»Jedenfalls klingt es, als wäre es die richtige Adresse für mich«, fuhr ich fort. »Eine gute Adresse, wenn man auf der Suche nach einer Katze ist.«

»So genau weiß ich das auch nicht«, antwortete er.

»Aber es ist gleich um die Ecke. Sie verkaufen dort alles Mögliche. In der Weihnachtszeit hauptsächlich Weihnachtsbäume. Ich habe dort Brennholz für meinen Kamin erstanden. Er hat es mir geliefert. Er hatte ein paar kleine Kätzchen. Ich wusste allerdings nicht, ob sie schon weg waren.«

»Wie heißt der Laden, Arnold?«

»Er hat keinen Namen. Erst war es eine Gemüsehandlung, aber nachdem sie die Ladenmiete erhöht hatten, waren mehrere andere Geschäfte drin, und dann kam Vic Murphy.«

»Vic Murphy«, wiederholte ich.

»Stimmt. Ich habe sie zu Vic geschickt. Aber auf dem Schild draußen steht immer noch Gemüsehandlung. Nein, nicht Gemüsehandlung. Buckley’s Fruit and Vegetable

»Wie komme ich da hin?«

»Es sind bloß zwei Minuten zu gehen.«

Allerdings dauerte es länger als zwei Minuten, bis Arnold mir den Weg erklärt hatte und ich ihn mit seinen Katzen und seiner verwirrten Miene zurücklassen konnte.

Wahrscheinlich dachte er immer noch über das Foto nach und fragte sich, was um alles in der Welt ich wohl im Schilde führte. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war erst kurz nach halb sieben. Ich würde nichts Leichtsinniges tun. Ich würde nur dort hingehen und aus sicherer Entfernung einen Blick auf den Laden werfen.

Schließlich sah ich inzwischen völlig anders aus. Mir würde nichts passieren. Trotzdem hatte ich ein beklemmendes Gefühl in der Brust, das mich nach Luft ringen ließ.

Um zu dem Laden zu gelangen, musste ich eine lange, triste Straße entlanggehen, vorbei an Häusern, deren Türen und Fenster zum größten Teil mit Brettern vernagelt waren. Ich kannte die Straße. Zuerst dachte ich, ein Teil meines verlorenen Gedächtnisses käme zurück, doch dann sah ich das Schild mit dem Straßennamen. Tilbury Road.

Von hier war mein Wagen abgeschleppt worden.

Obwohl es in erster Linie eine Wohnstraße war, gab es ein paar schäbige Läden. Eine Wäscherei, ein kleines Lebensmittelgeschäft mit Ständern voll Gemüse und Obst vor der Tür, ein Wettbüro und Buckley’s Fruit and Vegetable Shop. Er war geschlossen. Sehr geschlossen.

Ein grünes Metallgitter war heruntergezogen, und es sah aus, als wäre der Laden schon seit Wochen nicht mehr offen. Auf dem Gitter klebten Poster, die mit Graffitis übersprüht waren. Ich trat vor das Gitter und drückte dagegen, aber es rührte sich nichts. Ich spähte durch den Briefschlitz und konnte auf dem Boden einen hohen Stapel Post liegen sehen. Schließlich ging ich in den Laden nebenan. Hinter der Ladentheke standen zwei Asiaten. Der Jüngere füllte gerade den Zigarettenständer auf, während der andere, ein älterer Mann mit weißem Bart, die Abendzeitung las.

»Ich suche Vic Murphy«, sagte ich zu ihm.

Er schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht«, antwortete er.

»Er hat den Laden nebenan betrieben. Wo es Holz und Weihnachtsbäume zu kaufen gab.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Den gibt es nicht mehr. Geschlossen.«

»Wissen Sie, was aus dem Mann geworden ist?«

»Nein. Der Laden taugt nichts. Ständig kommen neue Leute, aber am Ende müssen sie alle wieder schließen.«

»Es ist wirklich wichtig, dass ich diesen Vic Murphy finde«, erklärte ich.

Die beiden Männer grinsten sich an. »Schuldet er Ihnen Geld?«

»Nein«, antwortete ich.

»Ich glaube, er hat ein paar Rechnungen nicht bezahlt.

Es waren schon ein paar Leute seinetwegen hier. Aber da war er längst weg.«

»Es gibt also keine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen?«

Der Mann zuckte erneut mit den Schultern. »Es sei denn, Sie fragen den Typen, der immer das Zeug für ihn ausgeliefert hat.«

»Wer ist das?«

»Er heißt George.«

»Haben Sie seine Telefonnummer?«

»Nein. Ich weiß aber, wo er wohnt.«

»Können Sie mir die Adresse sagen?«

»Baylham Road. Nummer neununddreißig, glaube ich.«

»Wie hat dieser Vic Murphy ausgesehen?«

»Ziemlich seltsam«, antwortete der Mann. »Aber man muss auch ziemlich seltsam sein, um so einen Laden zu betreiben. Ich meine, Holz und Weihnachtsbäume.

Schätzungsweise war der Typ nur irgendwie an einen Schwung Holz gekommen. Den wollte er verhökern, und anschließend ist er weitergezogen.«

»Hatte er Katzen?«

»Katzen?«

»Ich möchte eine Katze kaufen.«

»Dann sollten Sie in eine Zoohandlung gehen, meine Liebe.«

»Ich habe gehört, Vic Murphy habe Katzen verkauft.«

»Davon weiß ich nichts. Vielleicht hatte er eine. Es laufen immer ein paar Katzen herum, aber man weiß nie genau, wem sie gehören, stimmt’s?«

»Darüber habe ich noch nicht so genau nachgedacht«, antwortete ich.

»Sie mögen jeden, der sie füttert. Katzen, meine ich.«

»Wirklich?«

»Ganz anders als Hunde. Mit einem Hund ist man besser dran. Ein Hund ist ein richtiger Freund.«

»Das werde ich mir merken.«

»Und außerdem ein Schutz.«

»Ja.«

»Ich glaube nicht, dass Sie Ihr Geld zurückbekommen werden.«

»Was?«

»Von diesem Vic Murphy.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er mir kein Geld schuldet.«

»Das haben die anderen auch gesagt. Sie haben behauptet, sie seien Freunde von ihm. Um zu verhindern, dass er gleich Reißaus nimmt.«

Ich holte mein Foto von Jo aus der Tasche.

»War dieses Mädchen auch dabei?«, fragte ich.

Der Mann warf einen Blick auf das Bild.

»Sie ist eine Frau«, sagte er.

»Das stimmt.«

»Es waren lauter Männer. Bis auf Sie.«

27

Ich brach ein weiteres Mal auf. Inzwischen hatten die Leute ihre Büros verlassen und trotteten durch die kalten, dunklen Straßen nach Hause. Männer und Frauen, die mit gesenktem Kopf gegen den Wind ankämpften und nichts anderes im Sinn hatten, als möglichst schnell an einen warmen Ort zu gelangen. Ich dagegen hatte nichts anderes im Sinn, als möglichst schnell diese Adresse aufzusuchen.

Mir war klar, dass ich Jos Spur ebenso verloren hatte wie meine eigene. Dennoch hatte ich mein Ziel so verlockend nahe vor Augen gehabt, dass ich fest entschlossen war, auch noch dem letzten Anhaltspunkt zu folgen.

Ein Lastwagen donnerte vorbei und bespritzte mich von oben bis unten mit Matsch. Fluchend wischte ich mir die Spritzer aus dem Gesicht. Vielleicht sollte ich einfach nach Hause gehen? Aber wo war mein Zuhause? Ich würde wieder bei Sadie unterschlüpfen müssen. Allerdings konnte ich den Gedanken, dort wieder aufzutauchen, kaum ertragen – den Kreis zu schließen und genau dort zu enden, wo der Alptraum seinen Anfang genommen hatte, ohne das Geringste erreicht zu haben. Ohne auf etwas anderes gestoßen zu sein als auf Angst.

Ich blieb auf dem Gehsteig stehen, holte Bens Handy aus der Tasche und hielt es eine Minute lang reglos in der Hand, während links und rechts die Leute an mir vorbeidrängten. Schließlich schaltete ich es ein. Auf der Mailbox waren zwölf neue Nachrichten. Ich hörte sie ab.

Drei waren für Ben, von Leuten, deren Namen mir nichts sagten. Acht waren von Ben an mich, wobei jede verzweifelter klang als die vorherige. Die achte lautete einfach nur: »Abbie.« Das war alles. »Abbie.« Es hörte sich an, als würde mir jemand aus weiter Ferne zurufen.

Die letzte Nachricht war ebenfalls für mich, von Cross.

»Abbie«, begann er mit strenger Stimme. »Hören Sie mir zu. Ich habe gerade mit Mr. Brody gesprochen, der sich offenbar große Sorgen um Sie macht. Ich würde Ihnen dringend raten, uns zumindest wissen zu lassen, wo Sie sich aufhalten und ob Sie in Sicherheit sind. Bitte rufen Sie mich an, sobald Sie diese Nachricht erhalten.«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:

»Ich meine es ernst, Abbie. Setzen Sie sich mit uns in Verbindung. Sofort.«

Ich schaltete das Handy aus und steckte es wieder in meine Tasche. Jack Cross hatte Recht. Ich musste ihn sofort anrufen und ihm mitteilen, was ich entdeckt hatte.

Auf der anderen Straßenseite lag ein Pub, The Three Kings. Ein warmer Raum voller Rauch und Lachen, verschüttetem Bier und Klatschgeschichten. Ich würde schnell bei dem Typen mit dem Lieferwagen vorbeischauen und mir die Adresse von Vic Murphy geben lassen. Dann würde ich in den Pub gehen, mir einen Drink und Chips bestellen und anschließend Cross anrufen, um ihm mitzuteilen, was ich herausgefunden hatte. Dann konnte er damit machen, was er wollte. Ben würde ich auch anrufen. Ich musste ihm zumindest sein Handy zurückgeben. Und danach … aber ich wollte noch nicht daran denken, was ich danach tun würde, denn das war, als musste ich über eine weite Fläche brackigen braunen Wassers blicken.

Nachdem ich mich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte, fühlte ich mich besser. Noch diese Adresse, dann würde ich es sein lassen. Wenn es nur nicht so schrecklich kalt wäre. Meine Zehen schmerzten vor Kälte, meine Finger wurden taub, und die Haut in meinem Gesicht spannte und brannte, als würde der Wind sie mit groben Sandkörnern bombardieren. Der Gehsteig glitzerte vor Frost. Die parkenden Autos überzogen sich langsam mit einer dünnen Eisschicht. Ich ging schneller. Mein Atem bildete in der Kälte weiße Wolken, und das Luftholen tat mir in der Nase weh. Ich würde die Nacht auf Sadies Couch verbringen und mich am Morgen auf Wohnungssuche begeben. Ich musste mir auch einen neuen Job suchen, wieder ganz von vorn beginnen. Zum einen brauchte ich das Geld, aber noch dringender brauchte ich das Gefühl, wieder ein normales Leben zu führen. Als Erstes würde ich mir morgen einen Wecker kaufen und ihn auf halb acht stellen. Dann musste ich bei Ben meine Sachen abholen und Cross dazu bringen, mich zu Jos Wohnung zu eskortieren, damit ich dort meine restlichen Habseligkeiten holen konnte. Mein Leben war über ganz London verteilt. Ich musste es wieder einsammeln.

Ich bog nach links in eine schmalere, dunklere Straße ein. Der Himmel war klar, über mir glitzerten Sterne und eine dünne, kalte Mondsichel. In den Häusern, die ich passierte, waren die Vorhänge zugezogen, und das Licht, das das Leben anderer Menschen erhellte, fiel nur gedämpft zu mir heraus. Ich hatte alles in meiner Macht Stehende getan, dachte ich. Ich hatte nach Jo und nach mir selbst gesucht, doch keine von uns beiden gefunden. Wir waren verloren, und ich glaubte nicht mehr daran, dass Cross uns je finden würde, aber vielleicht würde er ihn finden, und ich wäre wieder sicher.

Eigentlich glaubte ich an gar nichts mehr. Die Vorstellung, nicht in Gefahr zu sein, erschien mir inzwischen genauso abwegig wie der Gedanke, dass mich jemand entführt und an einem dunklen Ort gefangen gehalten hatte, von wo mir schließlich die Flucht gelungen war. Die erinnerte und die verlorene Zeit schienen in meinem Kopf miteinander zu verschmelzen. Der Ben, den ich gekannt und vergessen hatte, schien sich von dem Ben, den ich neu entdeckt und dann wieder verloren hatte, nicht mehr trennen zu lassen. Die Jo, die ich kennen gelernt und mit der ich gelacht hatte, war verschwunden, sogar aus meinem Gedächtnis. Nichts davon hatte Substanz, alles war gleichermaßen Schall und Rauch. Dass ich es schaffte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, lag nur daran, dass ich mir selbst den Befehl dazu erteilt hatte.

Mit Fingern, die sich wie gefrorene Klauen anfühlten, zog ich die Wegbeschreibung aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Ich bog in die zweite Straße rechts ein, Baylham Road, die von Bodenschwellen durchsetzt und von hohen Ligusterhecken gesäumt war. Die Straße führte einen kleinen Hügel hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinunter. Auf beiden Seiten standen Häuser. In den meisten brannte Licht, und aus den Kaminen stiegen Rauchsäulen auf, friedliche Zeugen vom Leben anderer Leute.

Laut den Männern aus dem Laden lag Nummer neununddreißig auf der linken Straßenseite, direkt am Fuß des kleinen Hügels. Aus der Ferne war kein Licht zu sehen. Obwohl ich ohne große Erwartungen gekommen war, verstärkte sich mein trauriges Gefühl, einer falschen Spur zu folgen. Frustriert trottete ich den Hügel hinunter und blieb vor Nummer neununddreißig stehen.

Im Gegensatz zu den anderen Häusern war das Gebäude ein Stück von der Straße zurückgesetzt. Man betrat das Grundstück durch ein halb verrottetes Holztor, das locker in den Angeln hing und bei jedem Windstoß knarrte. Ich schob es auf. Es war mein letzter Versuch. Ein paar Minuten noch, dann hatte ich es geschafft. Dann hatte ich wirklich alles getan, was in meiner Macht stand. Vor mir erstreckte sich ein Hof voll zugefrorener Schlaglöcher.

Allerlei Gerümpel ragte aus der Dunkelheit auf: ein Berg Holzspäne, ein Schubkarren, ein rostiger Anhänger, ein Stapel Gummireifen, zwei Gebilde, die wie Nachtspeicheröfen aussahen, ein auf dem Rücken liegender Stuhl, von dem ein Bein fehlte. Das Haus lag auf der linken Seite des Hofs, ein zweistöckiges Ziegelgebäude mit einem kleinen Vorbau über dem Eingang. Neben der Tür standen ein gesprungener Terrakottatopf und ein Paar riesige Gummistiefel, die mich einen Moment lang hoffen ließen, dass der Mann doch zu Hause war. Ich drückte den Klingelknopf, hörte es drinnen aber nicht läuten, so dass ich stattdessen mit den Fäusten ein paarmal heftig gegen die Tür schlug. Während ich wartete, trat ich fest von einem Bein aufs andere, um meine Zehen wieder zu spüren. Im Haus regte sich nichts, niemand reagierte auf mein Klopfen. Ich presste das Ohr an die Tür und lauschte. Kein Laut war zu hören.

Dann war es das gewesen. Ich wandte mich zum Gehen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass der große Hof vor dem Haus früher Teil eines Pferdestalls gewesen sein musste. Unter dem klaren Himmel konnte ich einzelne Pferdeboxen erkennen, und bei genauerem Hinschauen sah ich, dass über jedem Tor in verblassten Großbuchstaben ein Name prangte. Spider, Bonnie, Douglas, Bungle, Caspian, Twinkle. Pferde aber waren keine mehr da, und alles deutete darauf hin, dass das schon seit langer Zeit so war.

Bei den meisten Boxen fehlte das Tor. Statt nach Stroh und Pferdemist roch es nach Öl, Farbe, Werkzeug. Bei einer der Boxen stand der obere Teil des Tors offen. Der Innenraum war feucht und mit allerlei Unrat vollgestellt –

Farbdosen, Holzplanken, Glasscheiben. Statt des Wieherns und Schnaubens von Pferden hing eine drückende Stille in der Luft.

Dann hörte ich plötzlich ein Geräusch. Ich hatte den Eindruck, dass es aus dem flachen Gebäude kam, gegenüber dem Haus auf der anderen Hofseite. Vielleicht war dieser George doch da. Ich machte ein paar Schritte in die Richtung des Geräuschs.

»Hallo?«, rief ich. »Hallo, ist jemand zu Hause?«

Keine Antwort. Ich blieb stehen und lauschte. In der Ferne waren Autos zu hören, und irgendwo spielte Musik, das schwache Dröhnen von Bässen bebte durch die Nachtluft.

»Hallo?«

Ich ging zu dem Gebäude hinüber und blieb zögernd davor stehen. Es war aus Ytongblöcken errichtet und hatte keine Fenster. Das große Tor war mit einem schweren Riegel verschlossen. Wieder hörte ich ein Geräusch, es klang wie ein langgezogenes Summen oder Stöhnen. Ich hielt die Luft an. Da hörte ich es ein weiteres Mal.

»Ist hier jemand?«, rief ich wieder.

Dann schob ich den Riegel hoch und stemmte mich gegen das schwere Tor, bis es so weit aufschwang, dass ich hineinspähen konnte, aber drinnen war es kalt und finster – wo das schwache Mondlicht nicht hinfiel, sogar stockfinster. Dort war bestimmt niemand, außer möglicherweise einem Tier. Ich dachte erst an Mäuse und Fledermäuse, dann an Ratten, die auch nie fern waren und sich von Essensresten und toten Tieren ernährten, von denen sie dick und aufgedunsen wurden. Ich stellte mir vor, wie sie hier unter den Bodenbrettern herumkrochen, mit ihren scharfen gelben Zähnen und dicken Schwänzen

… Wieder hörte ich dieses seltsame Geräusch. Der Gedanke an die Ratten ließ mich einen Moment zögern, doch ich schob das Tor auf und trat ein.

Nachdem sich meine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich schemenhafte Umrisse ausmachen: Strohballen, die am einen Ende des Raums aufgerichtet waren, ganz in meiner Nähe eine Maschine, vermutlich ein alter Pflug. Am anderen Ende etwas Undefinierbares. Was war das? Langsam schlich ich mich vorwärts. Hinter mir fiel das Tor knarrend ins Schloss, und ich streckte die Hände aus. Unter meinen Füßen spürte ich jetzt feuchtes Stroh.

»Hallo«, sagte ich noch einmal. Meine Stimme klang dünn und zittrig. Inzwischen hatte ich einen scharfen Geruch in der Nase – den Geruch von Kot und Urin.

»Ich bin da«, sagte ich. »Ich bin da.« Ich ging noch ein paar Schritte weiter, obwohl in meiner Brust ein Felsbrocken aus Angst saß, der meine Beine fast einknicken ließ. »Jo?«, fragte ich. »Jo? Ich bin’s, Abbie.«

Sie saß auf ein paar Strohballen am hinteren Ende des Gebäudes, von dem sie sich nur als dunkler Fleck abhob.

Ich tastete nach ihr: schmale Schultern unter meinen Händen. Sie roch ranzig – nach Angst und Kot und altem Schweiß. Ich ließ meine Hände nach oben gleiten, spürte den rauen Stoff, wo eigentlich ihr Gesicht sein sollte. Sie stieß durch den Stoff kleine Geräusche aus, und ihr Körper zuckte unter meiner Berührung zusammen. Als ich die Hand an ihren Hals legte, spürte ich den Draht. Vorsichtig tastete ich mich an ihrem Rücken hinunter, bis ich auf das steife, kalte Seil stieß, das um ihre Handgelenke gebunden war und von dort zur Wand hinter ihr führte. Als ich daran zog, spannte es sich, gab aber nicht nach. Sie war angebunden wie ein Pferd.

»Schsch!«, murmelte ich. »Ist ja gut!« Aus ihrem verhüllten Gesicht drang ein hohes Geräusch. »Beweg dich nicht, bleib ganz ruhig. Ich mache das. Ich werde dich retten. O bitte, bitte, halt still!«

Ich zerrte an der Kapuze. Meine Finger zitterten so heftig, dass ich es erst nicht schaffte, doch schließlich gelang es mir, sie ihr vom Kopf zu ziehen. In der Dunkelheit konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, und ihr Haar war nur ein fettiges Wirrwarr unter meinen Fingern.

Ihre eisigen Wangen waren tränennass. Sie stieß immer noch diese hohen, schrillen Geräusche aus, wie ein Tier, das in einer Falle festsaß.

»Schsch!«, zischte ich. »Sei still, bitte, nicht schreien!

Ich tu ja, was ich kann!«

Danach befreite ich sie von dem Draht um ihren Hals. Er schien an der Decke befestigt zu sein, weshalb sie den Kopf nach hinten legen musste. Da ich nicht sehen konnte, was ich tat, dauerte es eine Ewigkeit, und ich drehte erst in die falsche Richtung, so dass die Schlinge noch enger wurde. Ich spürte das heftige Pulsieren ihrer Halsschlagader. Immer wieder flüsterte ich ihr zu, dass alles gut werden würde, doch wir konnten beide das Entsetzen in meiner Stimme hören.

Ihre Fußgelenke waren ebenfalls zusammengebunden, das restliche Seil immer wieder um ihre Waden geschlungen, bis hinauf zu den Knien. Diesmal aber ging es leichter, als ich erwartet hatte. Bald waren ihre Beine frei, und sie trat um sich wie eine Ertrinkende, die versuchte, um jeden Preis an die Wasseroberfläche zu gelangen. Ihr linker Fuß stieß in meinen Bauch, ihr rechter traf mich am Arm. Ich warf meine Arme wie ein Rugbyspieler um ihre Knie und hielt sie fest.

»Bleib ganz still sitzen!«, flehte ich. »Ich tu wirklich mein Bestes!«

Als Nächstes tastete ich den Knoten hinter ihrem Rücken ab. Soweit ich das beurteilen konnte, saß er extrem fest.

Ich zog und zerrte vergeblich daran, konnte auch mit meinen Fingernägeln nichts ausrichten. Schließlich kniete ich mich hinter sie und bohrte meine Zähne in das Seil, das stark nach Öl schmeckte. Ich erinnerte mich an den Ölgeschmack, und ich erinnerte mich auch an den Geruch nach Exkrementen, der den Raum und meine Lungen erfüllte. Und an den Geruch der Angst. Daran, wie mein Herz gegen meine Rippen schlug und ich keuchend nach Luft rang, die Galle in meinem Hals hochstieg und alles rundherum finster war …

»Moment«, keuchte ich. »Ich versuche es vom anderen Ende. Keine Angst, ich lasse dich nicht allein. Bitte, bitte, bitte, hör auf, dieses Geräusch zu machen!«

Ich folgte dem Seil von ihren Handgelenken bis zur Wand, wo es offenbar an einem Metallhaken befestigt war. Wenn ich nur etwas sehen könnte. Ich wühlte in meiner Tasche, in der Hoffnung, dort wie durch ein Wunder Zündhölzer zu finden, oder ein Feuerzeug, irgendetwas. Das Einzige, was ich fand, war mein alter Autoschlüssel. Ich stieß die Spitze des Schlüssels in den dicken Knoten, grub sie so tief wie möglich hinein und bewegte sie hin und her, bis ich spürte, dass das Seil ein wenig nachgab. Meine Finger waren vor Kälte ganz steif.

Einmal ließ ich den Schlüssel fallen, so dass ich zwischen dem Stroh auf dem Boden herumkriechen und den rauen Untergrund nach dem Schlüssel abtasten musste. Sie fing wieder an, durch ihren Knebel gedämpfte Schreie auszustoßen, und richtete sich halb auf, ehe sie auf den Strohballen zusammenbrach.

»Halt den Mund!«, zischte ich. »Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund! Zerr nicht so an dem Seil, dadurch ziehst du den Knoten doch wieder fest! Halt still! Lass das Seil durchhängen. O Gott! Bitte, bitte, bitte!«

Ich mühte mich weiter mit dem Schlüssel ab, spürte, wie sich der Knoten lockerte, aber o Gott, es dauerte so lange!

Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Plötzlich schoss mir durch den Kopf, dass ich einfach weglaufen konnte.

Schnell! Lauf, Abbie, und hol Hilfe! Warum rannte ich nicht auf die Straße hinaus und schrie kreischend nach Hilfe? Ich konnte an sämtliche Türen hämmern und jeden Wagen anhalten. Ich musste sofort hier raus. Ich durfte auf gar keinen Fall hierbleiben. Das Seil gab weiter nach.

»Fast!« keuchte ich. »Ein paar Minuten noch, dann bist du frei. Schsch, sei bitte still!«

Geschafft! Ich richtete mich auf, zerrte ihr den Knebel aus dem Mund. Sie stieß ein schreckliches, heulendes Geräusch aus.

»Jo?«, flüsterte ich. »Bist du Jo?«

»Ich bin Sarah. Sarah. Hilf mir! Bitte hilf mir! O Gott, o Gott, o Gott!«

Mir wurde vor Enttäuschung ganz flau, doch dafür war jetzt keine Zeit. Keine Zeit für etwas anderes außer Flucht.

»Steh auf!«, sagte ich und packte sie am Unterarm.

Sie richtete sich halb auf, war aber so schwach, dass sie sich auf mich stützen musste.

»Still! Was ist das?«, keuchte ich.

Draußen war jemand. Auf dem Hof waren Schritte zu hören. In einiger Entfernung klackte etwas Metallenes, Ich stieß Sarah zurück auf die Strohballen, stopfte ihr den Knebel wieder in den Mund. Sie stieß ein gurgelndes Geräusch aus und begann sich schwach zu wehren.

»Sarah! Das ist unsere einzige Chance! Lass mich machen. Lass mich einfach machen. Ich bin hier, Sarah.

Ich werde dich retten? Okay?«

Ihre Augen flackerten vor Entsetzen. Ich tastete nach dem Draht, der wie ein überdimensionaler Spinnenfaden über mir hing, und legte ihn ihr wieder um den Hals, zog die Schlinge enger. Die Schritte kamen näher. Hektisch wickelte ich ihr das Seil um die Beine. Die Handgelenke.

Ich musste das Seilende finden. Ich beugte mich hinunter und ließ die Hände über den rauen Boden gleiten, bis ich es hatte. Die Schritte kamen immer näher. Ein pfeifendes Husten. Tief unten in meinem Hals brannte ein Schrei, aber ich schluckte ihn hinunter. Übelkeit. Pochendes Blut in meinen Ohren. Ich tastete erst den Boden und dann die Strohballen neben Sarahs zitternder Gestalt nach der Kapuze ab. Als ich sie endlich fand, zerrte ich sie ihr grob über den Kopf, spürte ihren Hals zurückzucken.

»Bleib ganz ruhig!«, zischte ich, ehe ich mich auf die andere Seite des Raums warf, hinter etwas Metallenes, an dem ich mir heftig das Schienbein anstieß. Mein Herz veranstaltete einen Trommelwirbel, den er garantiert hören würde, meine Atemgeräusche kamen mir wie laute Schluchzer vor, die er zwangsläufig registrieren musste, sobald er den Riegel hochgeschoben hatte, das Tor aufmachte und hereinkam.

28

Ich hatte mich rechts hinten in die Ecke zurückgezogen, möglichst weit vom Tor entfernt. Ich stand tief im Schatten, hinter einer undefinierbaren, vor sich hin rostenden Maschine, einer Ansammlung von Zahnrädern und Bolzen, die jedoch nicht miteinander verbunden waren. Selbst wenn er in meine Richtung blickte, würde er mich wahrscheinlich nicht sehen können. Wahrscheinlich.

Das war das problematische Wort. Ich wich so weit zurück, wie ich nur konnte. Ich spürte die eisige Feuchtigkeit der Wand an meinem Hals und durch mein kurzes Haar auch an meiner Kopfhaut. Inzwischen hatte er den Raum betreten. Ich hatte ihn durch Zufall gefunden.

Mit einer Mischung aus Schwindelgefühl und Übelkeit stürzte ich zurück in meinen Alptraum.

Als es mir schließlich gelang, einen Blick auf ihn zu werfen, war meine erste Reaktion: Das muss ein Irrtum sein. Solange er nur eine Stimme aus der Dunkelheit gewesen war, hatte ich ihn mir riesengroß und mächtig vorgestellt, wie ein Monstrum. Er war der finstere Gott gewesen, der mich bestrafen oder belohnen konnte, mich fütterte oder hungern ließ und der darüber entschied, ob ich leben oder sterben würde.

Nun erhaschte ich hin und wieder einen Blick auf ihn, wenn er in das schwache Mondlicht eintauchte, das durch das offen stehende Tor hereinfiel. Ich sah nur Teile von ihm, einen dicken Mantel und strähniges, teilweise ergrautes Haar, das er über seinen Glatzenansatz gekämmt trug. Von seinem Gesicht sah ich fast gar nichts. Es war größtenteils von etwas bedeckt, das wie der geblümte Schal einer alten Frau aussah. Ein unvoreingenommener Beobachter hätte es vielleicht für einen Schutz gegen Staub gehalten, ich aber wusste, was es war. Damit verfälschte er seine Stimme. Leise vor sich hinmurmelnd trug er einen Metalleimer herein, den er mit lautem Scheppern auf den Boden abstellte. Es gelang mir einfach nicht, meine Erinnerungen mit diesem schlurfenden, heruntergekommenen, unscheinbaren Mann in Einklang zu bringen. Wäre er in mein altes Büro gekommen, um dort die Fenster zu putzen oder den Boden zu fegen, hätte ich ihn vermutlich völlig übersehen. Er redete mit Sarah, als wäre sie ein etwas störrisches Schwein, dessen Stall ausgemistet werden musste.

»Na, wie geht’s dir?«, fragte er, während er neben ihr mit irgendwelchen Dingen hantierte, die ich nicht sehen konnte.

»Tut mir Leid, dass ich so lange weg war. Hatte viel zu tun. Dafür werde ich jetzt eine Weile hier bleiben. Ich habe mir extra Zeit genommen für dich.«

Er ging wieder hinaus, und für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Flucht zu wagen, doch er kam sofort zurück und stellte etwas Rechteckiges auf dem Boden ab, in dem es schepperte, wahrscheinlich einen Werkzeugkasten. Immer wieder ging er auf den Hof und trug oder zerrte von dort Dinge herein. Das meiste davon konnte ich nicht erkennen, weil es so dunkel war, aber ich identifizierte eine Laterne, eine Lötlampe und mehrere leere Kunststofftaschen, wie sie viele für ihre Sportsachen verwendeten. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter reglos in der Dunkelheit zu kauern und möglichst leise zu atmen. Jedes Mal, wenn ich die Position wechselte, raschelte das Stroh unter meinen Füßen. Auch meine Schluckgeräusche erschienen mir schrecklich laut.

Bestimmt hörte er das Donnern meines Herzens, das Rauschen meines Blutes, den Schrei in meinem Hals?

Während einer seiner kurzen Abwesenheiten griff ich in meine Tasche, und meine Finger schlossen sich um Bens Mobiltelefon. Langsam, ganz langsam zog ich es heraus und hielt es direkt unter mein Gesicht, wobei ich es, so gut es ging, mit der Hand abschirmte. Ich drückte einen Knopf, um das winzige Display zu beleuchten. Das Gerät gab einen leisen Piepton von sich. Für mich klang er laut wie Glockengeläut. Hatte er ihn gehört? Ein Gespräch kam nicht in Frage, doch vielleicht konnte ich eine Nachricht absenden oder eine Notrufnummer anwählen?

Ich starrte auf das Display. Würde er das Licht in der Dunkelheit nicht sofort bemerken? In der rechten oberen Ecke waren drei gestrichelte Linien zu sehen, die anzeigten, dass der Akku fast voll war. In der linken Ecke hätten eigentlich vier blütenförmige Symbole die Stärke des Empfangs anzeigen sollen, doch es war nur eine einzige Blüte dort, was bedeutete, dass ich überhaupt keinen Empfang hatte. Keine Chance. Ich konnte weder telefonieren noch eine SMS versenden und auch keine Anrufe oder Nachrichten empfangen. Ich schob das Telefon zurück in meine Tasche.

Am liebsten hätte ich losgeheult. Sofort nachdem ich Sarah entdeckt hatte, hätte ich nach draußen laufen und um Hilfe rufen sollen. Es wäre so einfach gewesen.

Stattdessen war ich mir selbst zurück in die Falle gefolgt.

Ich war wirklich mit Dummheit geschlagen. Mutlos blickte ich zu der Stelle hinüber, wo sich seine Silhouette von dem schwachen Licht abhob, das von draußen hereinfiel.

Im Geiste wog ich die Optionen gegeneinander ab. Ich konnte versuchen, durch die Tür zu entkommen, um Hilfe zu holen. Ein völlig hoffnungsloses Unterfangen. Er stand direkt neben dem Tor. Selbst wenn es mir gelang, ihn zu überraschen, hatte ich keine Chance. Ich konnte auf ihn losgehen, ihm eine über den Kopf ziehen, ihn vielleicht sogar k.o. schlagen. Würde ich es schaffen, mich an ihn heranzuschleichen, ohne dass er mich hörte? Konnte ich ihn überraschen? Unwahrscheinlich. Nein, meine einzige Chance war zu warten und zu hoffen, dass er irgendwann wieder gehen würde und ich dadurch meine Chance bekäme.

Die Vorstellung, weiterhin reglos im Schatten verharren zu müssen, weckte in mir den Wunsch, mich auf den kalten Steinboden zu werfen und loszuheulen. Ich fühlte mich so schrecklich müde, hätte so gern geschlafen. Ich wollte nicht sterben, doch ich war trotzdem nicht weit davon entfernt, mir zu wünschen, tot zu sein. Zumindest sind die Toten von Schmerz und Angst erlöst. Worin lag der Sinn, noch länger dagegen anzukämpfen?

Aber dann, fast ohne dass ich selbst es merkte, gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Während ich ihm zusah, wie er geschäftig herumhantierte und dieses arme Mädchen völlig verschnürt auf den Heuballen saß, kam es mir allmählich vor, als würde ich mich selbst betrachten.

Ich erinnerte mich an die Tage, als ich diejenige mit dem Draht um den Hals und der Kapuze über dem Kopf gewesen war. Ich hatte dort gesessen, die Zehen über dem Abgrund, und darauf gewartet, getötet zu werden, und ich wusste wieder genau, wie sich das angefühlt hatte. Damals hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, all das zu überleben.

Ich hatte nur noch um eine Chance gebetet, auf ihn losgehen zu können, ihm ein Auge auszukratzen, ihm etwas Schlimmes anzutun, bevor ich starb. Nun war diese Chance gekommen. Ich konnte ihn nicht überwältigen, das wäre zu viel verlangt gewesen, aber wenn er mich fand, konnte ich ihm zumindest Schaden zufügen. Ich brauchte unbedingt eine Waffe. Wie dumm, dass ich nichts eingesteckt hatte. In dem Moment hätte ich ohne Zögern alles, was ich je besessen hatte, gegen ein Küchenmesser oder eine Dose Reizgas eingetauscht. Doch ich zwang mich, nicht zu hadern. Ich war hier. Ich hatte keine Waffe.

Alles, was ich in die Hände bekam, war ein Gewinn.

Ich kauerte mich auf den Boden und begann in der Dunkelheit herumzutasten, ganz vorsichtig, um nirgendwo dagegenzustoßen. Meine rechte Hand berührte etwas Kaltes. Eine Metalldose, der Größe nach eine Farbdose.

Ich stupste versuchsweise dagegen. Sie war leer und somit nutzlos für mich. Daneben schlossen sich meine Finger um einen Griff. Er fühlte sich vielversprechender an, entpuppte sich aber als ein Pinsel mit steifen, verklebten Borsten. Sonst gab es nichts. Keinen Meißel, keinen Schraubenzieher, keine Metallstange. Nichts Spitzes, was ich umklammern konnte. Als ich mich wieder aufrichtete, knackten meine Knie. Wie war es möglich, dass er das nicht gehört hatte? Ich musste einfach warten, bis er weg war. Wenn er weg war, konnte ich hinauslaufen und die Polizei anrufen. Sarah befreien.

Der Mann bereitete etwas vor. Ich konnte nicht genau ausmachen, was er tat, hörte ihn aber leise vor sich hinmurmeln. Er erinnerte mich an meinen Vater, wie er an den Wochenenden war, den einzigen glücklichen Zeiten seines Lebens, wenn er den Gartenzaun reparierte, einen Fensterrahmen strich oder ein Bücherregal zusammenbaute.

Der Mann lockerte die Drahtschlinge um Sarahs Hals.

Ach ja, der Kübel. Die Gestalt mit der Kapuze wurde von den Heuballen gehoben, ihre Hose heruntergezogen.

Während sie sich über den Kübel kauerte, hatte er die Hände an ihrem Hals. Ich hörte es im Kübel plätschern.

»Gut gemacht, meine Schöne«, murmelte er, während er ihr die Hose wieder hochzog.

Mit lässiger, geübter Hand brachte er die Drahtschlinge um ihren Hals wieder so an, dass sie völlig hilflos war, legte dabei aber eine gewisse Zärtlichkeit an den Tag. Er schien sie mehr zu mögen, als er mich gemocht hatte.

Mich hatte er nie seine Schöne genannt, sein Ton war stets abweisend gewesen. Er hatte versucht, meinen Willen zu brechen.

»Du hast abgenommen«, stellte er fest. »Ich glaube, wir sind so weit. Du bist wundervoll, Sarah. Einfach wundervoll. Nicht wie die anderen.«

Er trat einen Schritt zurück, damit er sie besser betrachten konnte. Ich hörte ein metallisches, kratzendes Geräusch, dann flackerte plötzlich eine Flamme hoch. Er hatte die Laterne angezündet. Licht flutete durch den Raum. Erschrocken wich ich noch weiter hinter die Maschine zurück. Er musterte Sarah mit wohlgefälligem Gemurmel, befühlte ihre nackten Arme, ließ seine Finger an ihnen entlanggleiten, wie man ein Pferd befühlte, um zu sehen, ob sein Fieber nachgelassen hatte. Schließlich stellte er die Laterne auf dem Boden ab. Er hob die Arme, legte die Hände in den Nacken. Einen Moment lang kam er mir vor wie jemand, der gerade aufgewacht war und sich gähnend streckte, doch dann wurde mir klar, dass er seinen Schal löste. Er musste eine ganze Weile an dem komplizierten Knoten zerren und zupfen, bis er sich löste und ich im flackernden, orangefarbenen Licht der Laterne zum ersten Mal einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte.

Das Gesicht sagte mir nichts. Es kam mir nicht vertraut vor. Ich kannte ihn nicht. Schlagartig hatte ich das seltsame Gefühl, dass der Zeiger ein ganz kleines Stück nach vorne bewegt worden war und ich von einer Sekunde auf die andere einen klaren Blick bekam. Sogar in dem flackernden Laternenlicht nahm ich die Dinge plötzlich deutlich und scharf umrissen wahr. Von meinem Fieber war nichts mehr zu spüren. Sogar meine Angst hatte sich verflüchtigt. Ich hatte etwas wissen wollen, und nun wusste ich es. Selbst meine Gedanken waren jetzt klar und gradlinig. Ich konnte mich noch immer nicht erinnern, mein Gedächtnis war nicht zurückgekehrt. Der Anblick seines groben Gesichts löste keinen Schock des Wiedererkennens aus. Dennoch wusste ich jetzt, was ich so dringend wissen wollte.

Ich hatte geglaubt, es habe mit mir zu tun. Ich hatte in meinem chaotischen Leben festgesteckt, in meinem anstrengenden Job und meiner katastrophalen Beziehung, und hatte geglaubt und befürchtet und mir zusammengereimt, dass er – dieser Mann dort drüben – all das in mir gesehen hatte. Ich war auf eine Katastrophe zugesteuert, hatte sie geradezu selbst heraufbeschworen.

Er hatte das in mir erkannt, und deswegen waren wir füreinander geschaffen gewesen, hatten einander gebraucht. Ich hatte mich danach gesehnt, vernichtet zu werden.

Nun wusste ich, dass das nicht stimmte. Möglicherweise war ich unvorsichtig gewesen, erschöpft und durcheinander, aber ich war ihm dennoch rein zufällig in die Hände geraten. Nein, nicht einmal das. Ich würde es nie mit Sicherheit wissen, doch ich nahm an, dass Jo ihm über den Weg gelaufen war, verletzlich, verzweifelt und krampfhaft auf der Suche nach etwas – das perfekte Opfer für ihn. Ich hatte mir Sorgen um Jo gemacht und war ihrer Spur gefolgt und ebenfalls bei ihm gelandet. Dieser erbärmliche Verlierer dort drüben hatte nichts mit meinem Leben zu tun. Er war nur der Meteor, der auf mich herabgestürzt, das Erdbeben, das unter meinen Füßen losgebrochen war. Und gerade das war so komisch. Nun, da ich hier in der Dunkelheit kauerte und genau wusste, dass ich wieder in der Falle saß, fühlte ich mich plötzlich von ihm befreit.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, was passiert war.

Wahrscheinlich würde ich mich nie daran erinnern können. Trotzdem wusste ich jetzt genauer, was vor ein paar Wochen passiert war. Ich war dort draußen gewesen, im Land der Lebenden, und war dann versehentlich in sein Revier geraten, an den Ort, wo er seinem Hobby frönte.

Wie war das bei einem Zweikampf? Ich hatte gehört, dass erfahrungsgemäß derjenige gewann, der als Erster zuschlug. Jedenfalls konnte ich mir in etwa denken, was passiert war. Ich war auf der Suche nach Jo gewesen.

Dieser unscheinbare Mann war Teil des Hintergrundes gewesen, Teil des Mobiliars. Plötzlich war er in den Vordergrund gesprungen. Er hatte mich aus meiner Welt in die seine gezerrt. Diese Welt hatte nichts mit meiner zu tun, außer dass ich in ihr sterben sollte. Ich stellte mir vor, dass ich von diesem Mann, den ich vermutlich kaum richtig bemerkt hatte, überrascht worden war und mich zu spät zur Wehr gesetzt hatte. Ich hatte nicht mehr verhindern können, dass er meinen Kopf gegen die Wand schlug oder mir mit dem Knüppel eins überzog.

Ich zwang mich nachzudenken: Wenn er mich sieht, was wird er tun? Ich zwang mich, mir ins Gedächtnis zu rufen, was er mir angetan hatte. Nachdem ich wochenlang versucht hatte, diese fürchterlichen Erinnerungen zu verdrängen, kramte ich sie nun ganz bewusst wieder hervor. Diese Erinnerungen waren wie ein entzündeter, infizierter, verfaulender Zahn, den ich so fest wie möglich mit der Zunge bearbeitete, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sich Schmerz anfühlen konnte. Dann richtete ich den Blick wieder auf diesen Mann, der um Sarah herumscharwenzelte wie um ein Schaf, das zurück in den Stall geschafft werden musste. Koseworte vor sich hinmurmelnd, versetzte er ihr einen leichten Klaps und fuhr dann fort, Werkzeuge vorzubereiten. Er war zugleich der geduldige, sie umsorgende Geliebte und der geschäftige, leidenschaftslose Schlachter.

Offenbar setzte sie sich zur Wehr, denn er verpasste ihr einen weiteren leichten Klaps.

»Was ist denn los, mein Liebes?«, fragte er. Ich nahm an, dass sie unter ihrer Kapuze mit einem Stöhnen reagierte, auch wenn ich es nicht hören konnte. »Tu ich dir weh? Was? Was ist? Einen Moment, Liebes.«

Während er sie von ihrem Knebel befreite, konnte ich seinen keuchenden Atem hören. O ja, ich erinnerte mich nur allzu gut an dieses heisere Atemgeräusch.

»Was ist los?«, fragte er noch einmal. »Du hast versucht, dich zu befreien.«

Nun, da sie den Knebel los war, musste sie erst einmal husten.

»Ist ja gut, mein Liebling. Nicht so hektisch, denk an die Schlinge um deinen Hals!«

»Ich habe keine Luft mehr bekommen!«, stieß sie hervor.

»Ich dachte, ich muss sterben!«

»Ist das alles?«

»Nein, nein!«

Ein Verdacht begann sich in mir auszubreiten wie ein Tintenfleck, wurde rasch zur Gewissheit. Obwohl mir nun klar war, was gleich passieren würde, hatte ich keine Angst. Ich war bereits gestorben. Es spielte keine Rolle mehr.

»Was denn noch?«

»Ich will nicht sterben«, sagte sie. »Ich werde alles tun, um am Leben zu bleiben.«

»Du dummes kleines Luder. Ich hab es dir doch gesagt.

Ich will nichts von dir. Sie haben das Lösegeld nicht bezahlt. Habe ich dir das schon gesagt? Sie haben das Lösegeld nicht bezahlt. Und weißt du, warum nicht? Weil ich gar keines verlangt habe. Ha, ha, ha.«

Er lachte über seinen eigenen Witz.

»Und wenn ich Ihnen etwas verraten würde? Etwas wirklich Wichtiges? Würden Sie mich dann leben lassen?«

»Was denn zum Beispiel?«

»Würden Sie?«

Er schwieg einen Moment. Offenbar war er tatsächlich beunruhigt.

»Sag mir erst, was du weißt«, antwortete er in sanfterem Ton.

Sarah sagte nichts, schluchzte bloß.

»Raus damit, verdammt noch mal!«

»Versprechen Sie es mir? Versprechen Sie mir, mich am Leben zu lassen?«

»Erst musst du es mir sagen«, entgegnete er. »Dann lasse ich dich gehen.«

Nun folgte eine lange Pause. Ich konnte Sarah keuchen hören. Ich wusste genau, was sie sagen würde.

»Es ist jemand hier. Jetzt lassen Sie mich gehen.«

»Was sagst du da?«

Im selben Moment, als er aufstand, um sich umzusehen, trat ich aus dem Schatten. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, mich auf ihn zu stürzen, doch es wäre zwecklos gewesen. Uns trennten fast zehn Meter. Ihm blieb zu viel Zeit. Ich warf einen Blick auf das Tor hinter ihm. Es hätte genausogut auf dem Mond sein können. Er kniff die Augen zusammen. Im hinteren Teil des Raums, wo ich stand, weit weg vom Tor, war es nach wie vor ziemlich dunkel.

»Du?« fragte er und vergaß vor Verblüffung, den Mund wieder zuzuklappen. »Abbie. Wie zum Teufel bist du …?«

Ohne Sarah anzusehen, trat ich einen Schritt auf ihn zu.

Dabei blickte ich ihm direkt in die Augen.

»Ich habe dich gefunden«, sagte ich. »Ich wollte dich finden. Es hat mich einfach wieder hergezogen.«

»Ich habe überall nach dir gesucht.« Er blickte sich um.

Offenbar befürchtete er, es könnte noch jemand hier sein.

»Ich bin allein«, beruhigte ich hin. Ich hielt ihm meine Handflächen hin. »Schau. Ich habe nichts.«

»Was zum Teufel tust du hier?«, fragte er. »Jetzt hab ich dich. Du bist mir entwischt, aber jetzt hab ich dich.«

Ich lächelte ihn an. Inzwischen war ich völlig ruhig.

Nichts spielte mehr eine Rolle. Ich dachte wieder an jene Tage in der Dunkelheit. Stellte mir vor, wie meine Zunge gegen den faulig schmeckenden Knebel drückte.

Versuchte mich zu erinnern. Alles noch einmal zu durchleben.

»Was meinst du mit: ›Du hast mich?‹«, fragte ich. »Ich bin zurückgekommen. Ich wollte zurückkommen.«

»Das wird dir noch Leid tun«, entgegnete er. »Das wird dir noch verdammt Leid tun.«

Ich trat einen weiteren Schritt vor.

»Was willst du mit ihr?«, fragte ich. »Ich habe euch zugehört.« Ich wagte gleich noch einen Schritt. Nun trennten uns nur noch wenige Meter. »Ich habe gehört, wie du sie Liebes genannt hast. Dabei hatte ich das Gefühl, das hätte eigentlich ich sein sollen. Ist das nicht komisch?«

Sein Blick wurde wieder misstrauisch.

»Das ist gar nicht komisch«, antwortete er.

Ich trat noch einen Schritt auf ihn zu.

»Du hast mir gefehlt«, erklärte ich.

»Warum bist du dann davongelaufen?«, fragte er.

»Ich hatte Angst«, antwortete ich. »Aber hinterher habe ich nachgedacht. Du hast mich verstanden. Mir gesagt, was ich zu tun habe. Niemand hat mich jemals so verstanden wie du. Ich möchte dich auch verstehen.«

Er lächelte.

»Du bist verrückt, weißt du das?«

»Das macht nichts«, antwortete ich. »Ich bin hier. In deiner Hand. Um eines möchte ich dich allerdings bitten.«

Ich trat wieder einen Schritt vor. Nun stand ich schon fast vor ihm.

»Und das wäre?«

»Die ganze Zeit, die wir zusammen waren, warst du für mich nur diese Stimme in der Dunkelheit, die sich um mich kümmerte, mich fütterte. Ich habe die ganze Zeit über dich nachgedacht, mich gefragt, wie du wohl bist.

Erlaubst du mir, dass ich dich ein einziges Mal küsse?«

Ich ging die letzten paar Schritte, beugte mich ein Stück vor. Er roch unangenehm, süß und chemisch. »Nur ein einziges Mal. Das schadet doch nichts.« Aus der Nähe betrachtet, wirkte sein Gesicht sehr gewöhnlich. Es hatte nichts Beängstigendes an sich, nichts Besonderes.

»Schau«, sagte ich und hielt ihm meine leeren Hände hin,

»ich möchte dich nur ein einziges Mal berühren.« Als ich mich zu ihm vorbeugte, stellte ich ihn mir nicht als Menschen vor, sondern als Schafskopf. Das war entscheidend. Ich stellte mir den Kopf eines toten Schafs vor, der vom Körper abgetrennt worden war. »Nur einen einzigen Kuss. Wir sind beide einsam. So einsam. Nur einen.« Sanft berührte ich seine Lippen mit meinen. Nun hatte ich es fast geschafft. Fast. Ganz langsam. »Darauf habe ich so lange gewartet.« Während ich ihn ein weiteres Mal küsste, hob ich die Hände an sein Gesicht, berührte seine Schläfen ganz sanft mit meinen Handflächen. Warte.

Warte. Der Kopf eines toten Schafs. Zunge am fauligen Zahn. Ich wich mit meinem Gesicht ein Stück zurück, sah ihn einen Moment wehmütig an und schob ihm dann meine Daumen in die Augen. Es waren bloß die Augen im Schädel eines toten Schafs. Eines toten Schafs, das mich in der Dunkelheit festgehalten und gequält hatte. Ich wusste, dass meine Daumennägel sehr lang waren.

Während ich meine übrigen Finger wie Krallen in seine Schläfen schlug, bohrte ich ihm diese Nägel in die Augen.

Mit Interesse registrierte ich, dass meine Daumen, nachdem sie sich tief in seinen Kopf gedrückt und in seinen Augenhöhlen herumgekratzt hatten, mit einer Flüssigkeit bedeckt waren, einer wässrigen Flüssigkeit, durchzogen von gelben Schlieren, die wie Eiter aussahen.

Ich hatte damit gerechnet, dass er mich packen und in Stücke reißen würde. Dass er mich töten würde. Aber er fasste mich nicht mal an. Ich konnte einfach zurücktreten und meine schmierigen Daumen herausziehen. Tief aus seinem Inneren drang ein seltsamer Schrei, wie das Heulen eines Tiers. Er riss die Hand an den Kopf, sein Körper klappte in sich zusammen, und einen Moment später lag er sabbernd und wimmernd vor mir auf dem Boden. Ich trat einen Schritt zurück, außer Reichweite dieser winselnden Kreatur, die sich jetzt wie eine Larve auf dem Boden wand. Ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir damit die Daumen ab. Dann holte ich ein paarmal tief Luft, saugte meine Lungen voll Sauerstoff.

Ich fühlte mich wie eine Ertrinkende, die es wieder an die Wasseroberfläche geschafft hatte und nun die wundervolle, saubere, lebenspendende Luft einatmete.

29

Der Mond war immer noch da, wie die Sterne auch. Alles glitzerte vor Frost. Eine Welt aus Eis und Schnee und Stille. Die Kälte schnitt mir ins Gesicht. Ich atmete tief ein, spürte, wie die saubere Luft in meinen Mund und meinen Hals hinunterströmte. Als ich wieder ausatmete, blieb mein Atem als weiße Wolke in der Luft hängen.

»Oh-oh-ohhh, nu-nu.«

Die Geräusche, die Sarah ausstieß, klangen fast wie Tierlaute, ein mitleiderregender, schriller Wirrwarr aus Silben. Für mich ergaben sie keinen Sinn. Ich legte den Arm noch fester um ihre Schultern, um sie zu stützen.

Kraftlos hing sie an mir, weiter vor sich hinwimmernd. Ihr Körper fühlte sich so klein und schmächtig an, dass ich mich fragte, wie alt sie wohl war. Sie sah aus wie ein rotznasiges, ungewaschenes kleines Mädchen. Erschöpft ließ sie den Kopf auf meine Brust sinken. Ich konnte ihr fettiges Haar und ihren sauren Schweiß riechen.

Ich zog Bens Handy aus meiner Jackentasche.

Inzwischen hatte es wieder Empfang. Ich wählte die Notrufnummer.

»Welchen Service benötigen Sie?«, fragte eine Frauenstimme. Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

Eigentlich alle, bis auf die Feuerwehr. Ich erklärte, es handle sich um schlimme Verletzungen und ein schlimmes Verbrechen. Wir würden zwei Krankenwagen benötigen und die Polizei.

Nachdem ich das Telefon wieder verstaut hatte, betrachtete ich Sarah. Ihr kleines, leicht flaches Gesicht war gespenstisch bleich, ihre gesamte Stirn mit Pickeln übersät. Ihr Mund war geschwollen, die Lippen zu einem stummen Ausruf des Entsetzens verzogen. Sie sah wie ein gefangenes Tier aus. Dort, wo der Draht in ihren Hals eingeschnitten hatte, konnte ich einen blauen Streifen ausmachen. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie trug nur ein langärmeliges T-Shirt und eine Baumwollhose, dazu dicke Socken, aber keine Schuhe.

»Moment.« Ich zog meine Steppjacke aus und legte sie um ihre Schultern. Ich klappte den Kragen hoch, damit auch ihr Gesicht vor der Kälte geschützt war. »Du hast mein Shirt an«, stellte ich fest und legte von neuem den Arm um sie.

Ein Laut entrang sich ihrem zitternden Körper. Offenbar wollte sie mir etwas sagen, aber ich konnte sie nicht verstehen.

»Sie werden gleich hier sein«, versuchte ich sie zu beruhigen.

»Du bist jetzt in Sicherheit.«

»Es tut mir so Leid!«, stieß sie hervor.

»Ach, das.«

»Das war nicht ich. Nicht ich. Ich war wahnsinnig vor Angst. Ich dachte, ich müsste sterben.« Sie fing zu weinen an.

»Ich wusste, dass ich gleich sterben würde. Ich war wahnsinnig!«

»Ja«, antwortete ich. »Ich war genauso wahnsinnig.

Aber jetzt bin ich es nicht mehr.«

Die Wagen kamen mit Blaulicht und Sirene den Hügel herunter. Zwei Ambulanzen und zwei Polizeiwagen.

Türen schwangen auf. Sanitäter sprangen heraus und eilten auf uns zu. Gesichter blickten auf uns herunter, Hände schoben uns auseinander. Tragbahren wurden auf dem Boden abgestellt. Ich schickte ein paar von den Männern nach drinnen. Neben mir hörte ich Sarah weiterweinen, bis nur noch ein raues, heiseres Schluchzen aus ihrer Kehle drang. Mehrere Stimmen redeten beruhigend auf sie ein.

Das Wort »Mummy« schnitt durch das Stimmengewirr.

»Wo ist Mummy?«

Jemand legte mir eine Decke um die Schultern.

»Mir fehlt nichts«, erklärte ich.

»So, nun legen Sie sich bitte hier drauf.«

»Ich kann gehen.«

Drinnen wurden Rufe laut. Einer von den Männern in grünen Overalls kam herausgerannt und flüsterte einem jungen Polizisten etwas zu.

»Lieber Himmel!« Der Polizist starrte mich an.

»Er ist ein Killer«, sagte ich.

»Ein Killer?«

»Jetzt sind wir vor ihm sicher. Er kann nichts mehr sehen. Er ist nicht mehr gefährlich.«

»Nun wollen wir Sie in den Krankenwagen bringen, meine Liebe.« Der Mann bemühte sich um einen beruhigenden Ton, als wäre ich vor Schock hysterisch.

»Sie sollten Detective Inspector Jack Cross informieren«, fuhr ich fort. »Mein Name ist Abigail Devereaux. Abbie. Ich habe ihm die Augen ausgestochen.

Er wird mich nie wieder ansehen.«

Sie brachten Sarah als Erste weg. Ich kletterte in den zweiten Krankenwagen, noch immer in die Decke gehüllt.

Zwei Leute stiegen nach mir ein, ein Sanitäter und eine Polizeibeamtin. Ich hörte noch, dass der Geräuschpegel hinter mir anschwoll, Stimmen hektisch durcheinanderriefen, ein dritter Krankenwagen mit heulender Sirene die Straße herunterkam, doch darum musste ich mich nicht mehr kümmern. Ich ließ mich auf meinem Sitz zurücksinken und schloss die Augen, nicht weil ich müde war – das war ich nicht, ich fühlte mich sogar sehr wach und klar im Kopf, als hätte ich lange und gut geschlafen –, sondern, um die Lichter und das Durcheinander um mich herum auszublenden und all den Fragen ein Ende zu setzen.

Ich fühlte mich so sauber und warm. Mein Haar war frisch gewaschen, meine Haut geschrubbt, meine Finger- und Zehennägel kurz geschnitten. Ich hatte mir dreimal die Zähne geputzt und anschließend mit einer grünen Flüssigkeit gegurgelt, dank der sich mein Atem bis in meine Lungen hinunter minzfrisch anfühlte. Ich saß im Bett, bekleidet mit einem lächerlichen rosafarbenen Nachthemd, zugedeckt mit einem steifen, hygienischen Laken und mehreren Schichten dünner, kratziger Decken, trank Tee und aß Toast. Drei Tassen siedend heißen, stark gezuckerten Tee und ein Stück schlaffen weißen Toast mit Butter. Oder Margarine, das war wahrscheinlicher. Im Krankenhaus bekommt man keine Butter. Auf dem Schränkchen neben meinem Bett stand ein Plastikkrug mit Narzissen.

Ein anderes Krankenhaus, ein anderes Zimmer, eine andere Aussicht, andere Krankenschwestern, die mit Thermometern, Bettpfannen und Teewagen herumsausten, andere Ärzte mit Klemmbrettern und müden Gesichtern, andere Polizisten, die mir nervöse Blicke zuwarfen und gleich wieder wegsahen, aber immer noch derselbe alte Jack Cross, der mit gebeugten Schulter neben meinem Bett saß und dabei selbst ein bisschen wie ein Kranker aussah. Er hatte die Hand an die Wange gelegt, als hätte er Zahnschmerzen, und starrte mich an, als würde ich ihm Angst machen.

»Hallo, Jack«, sagte ich.

»Abbie …«, begann er, brach aber gleich wieder ab.

Seine Hand verlagerte sich ein Stück, so dass sie nun seinen Mund bedeckte. Ich wartete. Schließlich wagte er einen zweiten Anlauf. »Fühlen Sie sich einigermaßen?«

»Ja«, antwortete ich.

»Die Ärzte haben gesagt …«

»Es geht mir gut. Sie wollen mich nur noch ein paar Tage zur Beobachtung dabehalten.«

»Das überrascht mich nicht, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, ich …« Er rutschte auf seinem Stuhl herum und rieb sich die Augen. Dann setzte er sich aufrechter hin, holte tief Luft und sah mir direkt in die Augen. »Wir hatten Unrecht. Es gibt dafür keine Entschuldigung.« Ich sah ihm an, dass er trotzdem einen Moment versucht war, all die Gründe und Entschuldigungen vorzubringen, sie dann aber hinunterschluckte.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie das wirklich getan haben.« Er ließ sich wieder zurücksinken und legte wie vorher die Hand ans Gesicht. »Was für ein Chaos, von Anfang bis Ende. Sie können uns alle in die Pfanne hauen.«

»Ist er tot?«

»Nein, er ist in einer Spezialklinik.«

»Oh.«

»Wissen Sie, was Sie mit ihm gemacht haben?«

»Ja.«

»Seine Augen.« Er sagte das ganz leise. Mir war nicht recht klar, ob er mich dabei mit Bewunderung, Entsetzen oder Abscheu ansah. »Sie haben sie ihm halb ins Gehirn geschoben. Ich meine … lieber Himmel!«

»Mit den Daumen«, sagte ich.

»Mein Gott, Abbie, bestimmt sind Sie …«

»Ich hatte nichts anderes.«

»Wir müssen später eine formelle Aussage von Ihnen aufnehmen.«

»Natürlich. Wie geht es Sarah?«

»Sarah Maginnis steht unter Schock und befindet sich in einem Zustand der Unterernährung. Wie Sie damals. Es wird ihr bald wieder besser gehen. Möchten Sie sie sehen?«

Ich überlegte einen Moment. »Nein.«

»Es tut ihr sehr Leid, Abbie.«

»Sie wissen Bescheid?«

»Sie kann über nichts anderes reden.«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Vielleicht war es Glück für mich«, sagte ich. »Er wollte sie töten. Er hatte seinen Schal abgenommen. Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Vielleicht wäre ich nur dagestanden und hätte ihm dabei zugesehen. Niemand hätte es mir zum Vorwurf machen können, oder? Die arme, traumatisierte Abbie.«

»Ich glaube nicht, dass Sie einfach nur so dagestanden wären.«

»Gibt es etwas Neues in Sachen Jo? Hat er etwas gesagt?«

»Ich denke, er wird noch eine ganze Weile nichts sagen.

Was Miss Hoopers Verschwinden betrifft, beginnen wir gerade mit unseren Ermittlungen.«

»Sie kommen zu spät.«

Er hob die Hände, ließ sie dann aber resigniert auf seinen Schoß zurückfallen. Ein paar Minuten lang saßen wir beide schweigend da. Eine Krankenschwester kam herein und sagte, jemand habe an der Rezeption Blumen für mich abgegeben. Sie legte einen Strauß feuchter Anemonen auf mein Schränkchen. Ich griff danach und roch an den Blumen. Sie hatten Wassertropfen auf ihren leuchtenden Blütenblättern und dufteten nach Frische. Ich legte sie zurück. Cross’ Gesicht wirkte vor Erschöpfung ganz grau.

»Sagen Sie mir, was Sie über ihn wissen«, bat ich ihn.

»Wir sind erst ganz am Anfang. Sein Name ist George Ronald Sheppy. Er ist einundfünfzig Jahre alt. Er ist vorher nur ein einziges Mal straffällig geworden, wegen Tierquälerei. Die Sache liegt Jahre zurück. Er ist mit einer kleinen Strafe davongekommen. Recht viel mehr wissen wir noch nicht. Wir haben mit einigen Nachbarn von ihm gesprochen. Er hat sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen – ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem. Möbelpacker, Volksfestmechaniker, Lastwagenfahrer. Alles nicht sehr aufschlussreich.«

»Und die anderen Frauen?«

»Die anderen Namen«, berichtigte mich Cross.

»Natürlich werden wir auch in diese Richtung weiter ermitteln, vor allem jetzt – wir werden überprüfen, ob vermisste Frauen aus den Gegenden, in denen er gearbeitet hat, in Frage kommen. Vielleicht, wenn wir mehr wissen

…« Er zuckte resigniert mit den Achseln. »Besser, Sie erwarten sich nicht zu viel davon.«

Dann waren die Namen also nach wie vor nur Silben, die mir in der Dunkelheit zugeflüstert worden waren.

»Kümmert sich jemand um Sie?«, fragte er.

»Mehrere Ärzte, aber mir fehlt nichts.«

»Nein – ich habe gemeint, jemand, der Ihnen hilft. Mit dem Sie reden können. Nach allem, was Sie durchgemacht haben.«

»Ich brauche keine Hilfe.«

»Abbie, ich war dort, ich habe gesehen, was von ihm übrig ist.«

»Sie meinen, ich müsste deswegen traumatisiert sein?«

»Nun ja …«

»Ich habe ihm die Augen ausgestochen.« Ich hielt beide Hände hoch und starrte auf meine Finger. »Ich habe meine Daumen in seine Augäpfel gedrückt und ihm auf diese Weise die Augen ausgestochen. Das war kein traumatisches Erlebnis, Jack. Das traumatische Erlebnis war die Entführung. In einem Keller gefangen gehalten zu werden, eine Kapuze über dem Kopf, einen Knebel im Mund und in der Dunkelheit von Augen angestarrt, von Händen berührt zu werden. Das war traumatisch. Zu wissen, dass ich sterben würde und niemand mir helfen konnte. Das war traumatisch. Ihm zu entkommen und dann herauszufinden, dass niemand mir glaubte. Von neuem in Gefahr zu sein, wo ich doch eigentlich in Sicherheit hätte sein sollen. Das war traumatisch. Das andere nicht. Das war lediglich Notwehr. Mein letzter verzweifelter Versuch, am Leben zu bleiben. Nein, ich glaube nicht, dass ich noch Hilfe brauche. Vielen Dank.«

Während meines Monologs war er zurückgesunken, als würde ich mit den Fäusten auf ihn eintrommeln. Als ich fertig war, nickte er und ging.

Ben kam in der Mittagspause – seiner Mittagspause. Im Krankenhaus ist schon gegen halb zwölf Mittagszeit, und das Abendessen gibt es um fünf. Danach zieht sich der Abend endlos hin, bis es Nacht wird, dann zieht sich die Nacht endlos hin, bis es endlich wieder Morgen wird. Er beugte sich über mich, um mir mit kalten Lippen einen nervösen Kuss auf die Wange zu drücken. Er trug wieder seinen wundervollen langen Mantel. Verlegen hielt er mir eine Schachtel Pralinen hin, die ich wortlos entgegennahm und auf mein Kissen legte. Er setzte sich, und wir sahen uns an.

»Ich habe dir noch etwas mitgebracht«, sagte er schließlich und zog ein glattes hölzernes Oval aus seiner Tasche, Es war honigfarben und von dunkleren Linien durchzogen. »Hainbuche«, erklärte er. »Ein ganz besonderes Holz. Ich habe es gestern Abend in meiner Werkstatt für dich gemacht, während ich auf dich gewartete habe. Ich habe so sehr gehofft, dass du doch noch kommen würdest.«

Ich schloss meine Faust um das Holz. »Es ist wunderschön. Vielen Dank.«

»Möchtest du schon darüber sprechen?«

»Eigentlich nicht.«

»Kannst du dich inzwischen an irgendwas erinnern? Ist dein Gedächtnis zurückgekehrt?«

»Nein.«

Einen Moment schwiegen wir beide.

»Das mit Jo tut mir Leid«, fügte ich dann hinzu. »Sie ist tot.«

»Das weißt du doch gar nicht. Jedenfalls nicht mit Sicherheit.«

»Sie ist tot, Ben.«

Er stand auf, trat an das kleine, geschlossene Fenster und blickte starr über die Hausdächer hinweg in den blauen Himmel. Er verharrte ein paar Minuten reglos. Ich nehme an, er weinte.

»Abbie«, sagte er, als er sich wieder dem Bett zuwandte,

»ich war halb wahnsinnig vor Sorge um dich. Ich wollte dir helfen. Ich wollte nicht, dass du das allein durchstehen musst. Egal, was du wegen mir und Jo empfunden hast, du hättest nicht einfach davonlaufen sollen, als würdest du mich für den Mörder halten. Ich weiß, dass du durcheinander warst und böse auf mich. Das verstehe ich ja auch. Aber du hättest sterben können. Und es war nicht richtig, Abbie«, sagte er. »Es war nicht in Ordnung.«

»Ben.«

»Okay, okay … hör zu, das wegen mir und Jo tut mir Leid – zumindest tut es mir Leid, dass du es auf diese Weise erfahren hast. Was aber nicht heißen soll, dass es mir Leid tut, dass ich eine Affäre mit ihr hatte. Das ist eine andere Geschichte, und wenn du möchtest, werde ich sie dir eines Tages erzählen. Es soll auch nicht heißen, dass ich mein Schweigen in diesem Punkt inzwischen für völlig falsch halte. Wir beide, du und ich, haben am verkehrten Ende angefangen. Unserer Beziehung fehlte die übliche Reihenfolge. Wäre alles ganz normal gelaufen, hätten wir uns langsam kennen gelernt und einander irgendwann unsere Vergangenheit gebeichtet, aber wir kannten uns noch kaum, und plötzlich warst du bei mir im Haus und hattest Angst um dein Leben, und alles war so hektisch und unsicher. Ich wollte unsere Beziehung nicht damit beginnen, gleich alle meine Karten auf den Tisch zu legen.

Ich hatte Angst, dich wieder zu verlieren.«

»Und deswegen hast du unsere Beziehung lieber mit einer Lüge begonnen«, stellte ich fest.

»Es war keine Lüge.«

»Streng genommen nicht. Moralisch gesehen schon.«

»Es tut mir Leid, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe«. Er setzte sich wieder neben mich, und ich hob die Hand, um über sein schönes weiches Haar zu streichen.

»Und mir tut es Leid, dass ich einfach so davongelaufen bin«, sagte ich. »Hier, nimm eine Praline.«

»Nein, danke.«

Ich nahm eine. Karamell.

»Es gibt inzwischen ein paar Worte, die für mich eine andere Bedeutung haben als beispielsweise für dich«, fuhr ich fort.

»Dunkelheit. Stille. Winter.« Ich suchte eine weitere Praline aus. »Gedächtnis«, fügte ich hinzu und schob mir die Schokolade in den Mund.

Ben griff nach meiner freien Hand. Mit der anderen hielt ich noch immer sein Holzei umklammert. Er drückte sie an sein Gesicht. »Ich liebe dich«, sagte er.

»Ich glaube, ich war eine Weile wahnsinnig. Das ist jetzt vorbei.«

»Du siehst auch anders aus«, stellte er fest.

»Wunderschön.«

»Ich fühle mich tatsächlich anders.«

»Was wirst du jetzt tun?«

»Ein bisschen Geld verdienen. Mir mein Haar wieder wachsen lassen. Nach Venedig reisen.«

»Möchtest du weiter bei mir wohnen?«

»Ben …«

»Ich würde mich freuen.«

»Nein. Ich meine, ich glaube nicht, dass du dich wirklich freuen würdest, auch wenn es sehr nett von dir ist, mir das anzubieten. Jedenfalls möchte ich es nicht.«

»Verstehe.« Er legte meine Hand aufs Bett und strich dann behutsam über meine Finger, einen nach dem anderen, ohne mich anzusehen.

»Du könntest mit mir ausgehen«, fuhr ich fort. »Wir könnten uns zu einem Rendezvous verabreden. Uns einen Film ansehen. Miteinander Cocktails trinken. Schön essen gehen.«

Er starrte mich mit einem fragenden, unsicheren Blick an.

Dann begann sich ein Lächeln auf seinem Gesicht auszubreiten. Die Haut um seine Augen verzog sich zu Lachfältchen. Er war wirklich ein netter Mann. Alles andere hatte ich mir nur eingebildet.

»Es wird Frühling«, sagte ich. »Da kann alles Mögliche passieren. Wer weiß.«

Noch jemand kam mich besuchen. Nun ja, natürlich kamen mich viele Leute besuchen, meine Freunde, einzeln oder in Gruppen, die meisten mit Blumen, manche mit Tränen in den Augen, andere verlegen kichernd. Ich umarmte liebe Menschen, bis mir die Rippen weh taten.

Es war, als fände in meinem Zimmer eine endlose Party statt – die Party, die ich mir eigentlich gewünscht hatte, als ich das erste Mal von den Toten zurückgekehrt war, mit dem Ergebnis, das ich stattdessen in eine Welt des Schweigens und der Scham eingetreten war –, doch jetzt musste ich feststellen, dass ich auf meiner eigenen Party eine Fremde war, die den anderen dabei zusah, wie sie Spaß hatten, und sich zwang mitzulachen, auch wenn sie den Witz nicht so richtig verstand.

Aber es kam noch jemand. Er klopfte höflich an, obwohl die Tür halb offen stand, und wartete, bis ich ihn aufforderte hereinzukommen.

»Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern«, sagte er.

»Ich bin …«

»Natürlich erinnere ich mich«, fiel ich ihm ins Wort.

»Sie haben zu mir gesagt, ich hätte ein sehr gutes Gehirn.

Sie sind Professor Mulligan, der Gedächtnismann, der einzige Mensch, den ich wirklich sehen möchte.«

»Dabei habe ich Ihnen gar keine Blumen mitgebracht.«

»Das ist mir sehr recht, ich werde nämlich heute Nachmittag entlassen.«

»Wie geht es Ihnen?«

»Gut.«

»Sie haben sich tapfer geschlagen«, sagte er. Wie beim letzten Mal empfand ich seine Art als sehr wohltuend. Er gab mir ein gutes Gefühl.

»Jack Cross hat mir erzählt, dass Sie damals für mich eingetreten sind.«

»Na ja …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Sie haben die Besprechung unter Protest verlassen.«

»Genutzt hat das leider auch nichts. Sagen Sie, ist Ihr Gedächtnis inzwischen zurückgekehrt?«

»Nein. Nicht wirklich«, antwortete ich. »Manchmal habe ich das Gefühl, da ist etwas, ganz am Rand meines Bewusstseins, aber ich kriege es nicht zu fassen, und sobald ich den Kopf ein wenig drehe, ist es wieder weg.

Manchmal kommt mir die verlorene Zeit wie eine Flutwelle vor, die über mir zusammengeschlagen ist und jetzt ganz langsam zurückebbt. So unendlich langsam, dass ich es gar nicht richtig wahrnehmen kann. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Oder die Erinnerung kommt irgendwann Stück für Stück zurück.

Halten Sie das für möglich?«

Er beugte sich vor und sah mich an. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht darauf zählen«, antwortete er. »Alles ist möglich, aber wissen kann man es nie.«

»Lange habe ich gedacht, dass ich am Ende eine Antwort bekommen würde«, erklärte ich. »Ich dachte, ich würde ihn sehen, und alles würde mir wieder einfallen. Ich war davon überzeugt, die verlorenen Dinge irgendwann wiederfinden zu können. Aber so wird es nicht sein, habe ich Recht?«

»Was wollten Sie denn finden?«

»Mich.«

»Aha. Ja dann.«

»Ich werde diese verlorene Abbie nie zurückbekommen, stimmt’s?«

Professor Mulligan nahm eine der Blumen und roch daran. Er brach sie am Stielende ab und steckte sie sich ans Revers.

»Sie haben hoffentlich nichts dagegen?«, fragte er. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Versuchen Sie, nicht so viel darüber zu brüten, woran Sie sich nicht erinnern können. Setzen Sie sich lieber mit dem anderen auseinander. Mit den Dingen, an die Sie sich erinnern.«

Woran ich mich nicht erinnern kann. Manchmal zähle ich es an den Fingern ab: die Trennung von Terry, die Begegnung mit Jo, die Begegnung mit Ben, die Begegnung mit ihm. Für mich ist er immer noch namenlos, einfach nur »er«, der Mann, eine dunkle Gestalt, eine Stimme in der Dunkelheit. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich mich in Ben verliebt habe.

Ich erinnere mich auch nicht an die Woche, in der ich einfach nur glücklich war, auf eine glorreiche Weise glücklich. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich aus meinem Leben gerissen wurde. Ich erinnere mich nicht daran, wie ich mich selbst verlor.

Woran ich mich erinnere: eine Kapuze über meinem Kopf, eine Drahtschlinge um meinen Hals, einen Knebel in meinem Mund, ein Schluchzen in meiner Kehle, eine Stimme in der Nacht, ein Lachen in der Dunkelheit, unsichtbare Hände, die mich berühren, Augen, die mich beobachten, Entsetzen, Einsamkeit, Wahnsinn, Scham. Ich erinnere mich daran, gestorben zu sein, und ich erinnere mich daran, wie es war, tot zu sein. Ich erinnere mich an den Klang meines weiterschlagenden Herzens, an das Geräusch meiner nicht aussetzenden Atmung, an einen gelben Schmetterling auf einem grünen Blatt, einen silbrigen Baum auf einem kleinen Hügel, einen trägen Fluss, einen klaren See. An Dinge, die ich nicht gesehen habe und nie vergessen werde. Daran, noch am Leben zu sein. Ich erinnere mich.

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