Nicci French

In seiner Hand

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Ein atemberaubender Thriller um Erniedrigung, Hilflosigkeit, Psychoterror und die kalte Zufälligkeit des Sterbens.

Eine Frau wird entführt, gedemütigt und langsam um den Verstand gebracht. Sie weiß, dass am Ende des qualvollen Weges der Tod auf sie wartet. Nur durch einen Zufall kann sie ihrem erbarmungslosen Peiniger entkommen. Doch nach ihrer Rückkehr in die Welt der Lebenden muss sie feststellen, dass niemand ihre Geschichte glaubt.

Der wahre Alptraum hat für sie gerade erst begonnen …

ISBN: 3-570-00594-1

Original: Land of the Living

Deutsch von Birgit Moosmüller

Verlag: C. Bertelsmann

Erscheinungsjahr: 2003

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Als Abbie Devereaux die Augen öffnet. bleibt es dunkel.

Ein dröhnender Schmerz erfüllt ihren Schädel. Nur langsam begreift sie ihre Lage: gefesselt, mit einer Kapuze über dem Kopf, einer Schlinge um den Hals. Eine tödliche Falle. Und sie spürt den Atem eines Anderen. Ein Mann starrt sie an. berührt sie. erniedrigt sie. Sie kann sich nicht erinnern. wie sie in seine Gewalt gekommen ist. Sie weiß nur, dass sie sterben wird. Tag um Tag vergeht, und Abbie fühlt sich Stück für Stück ihrer Persönlichkeit beraubt. Mit letzter Willenskraft beschließt sie. wenigstens den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen. Der Versuch misslingt. doch ihr gelingt halbverhungert die Flucht.

Zurück in der Welt der Lebenden glaubt niemand Abbies Geschichte. Polizei, Ärzte und Psychologen sehen darin das Fantasieprodukt einer Frau, die hinter der Fassade von Attraktivität und Erfolg schon immer ein Opferdasein führte. Verzweifelt erkennt Abbie, dass sie immer noch in der Falle sitzt. Sie weiß, der Mann aus dem Keller wird nach ihr suchen. Erst wenn er sie getötet hat, wird man erkennen, dass sie ihre Geschichte nicht erfunden hat. Ihr bleibt nur die Flucht nach vorne. Mühsam rekonstruiert sie die Tage vor ihrem Verschwinden und sucht nach der Frau, die sie vor der Entführung war ….

»Die Lektüre dieses Romans ist wie eine Fahrt auf der Achterbahn. Langsam geht es nach oben, bevor man kopfüber nach unten mitgerissen wird. Und wie auf der Achterbahn möchte man manchmal die rasende Fahrt anhalten, aber das geht einfach nicht. Man muss durchhalten – bis zum erlösenden Ende. Nicci French hat einen wirklichen Klassiker geschrieben.«

SUNDAY EXPRESS über die englische Ausgabe FÜR TIMMY UND EVE

ERSTER TEIL

Dunkelheit. Lange Zeit nichts als Dunkelheit. Augen auf und zu, auf und zu. Noch immer Dunkelheit, in mir und um mich herum.

Ich hatte geträumt. Wurde umhergeworfen in einem tosenden, schwarzen Meer. Eingekreist auf einem nächtlichen Berg. Ein Tier, das ich nicht sehen konnte, schnüffelte um mich herum. Ich spürte eine feuchte Nase auf meiner Haut. Wenn einem bewusst wird, dass man träumt, wacht man auf. Manchmal gleitet man sofort weiter in den nächsten Traum, aber wenn man aufwacht und sich nichts ändert, dann muss es sich wohl um die Realität handeln.

Dunkelheit. Eine Dunkelheit, in der etwas lauerte.

Schmerz. Erst noch weit von ihr entfernt, kam er näher, wurde ein Teil von ihr. Ein Teil von mir. Ich war erfüllt von einem stechenden, quälenden Schmerz. Trotz der Dunkelheit konnte ich den Schmerz sehen. Gelbe, rote und blaue Blitze, die lautlos hinter meinen Augen explodierten.

Ich begann nach etwas zu suchen, ohne wirklich zu wissen, wonach. Ich wusste nicht, wo es steckte oder was es eigentlich war. Nightingale. Farthingale. Es kostete mich große Anstrengung, als müsste ich ein schweres Paket aus einem tiefen dunklen See hieven. Plötzlich hatte ich es. Abigail. Das klang vertraut. Mein Name war Abigail. Abbie. Tabbie. Abbie the Tabbie. Der andere Name war schwieriger. In meinem Kopf fehlten ein paar Dinge, und mein Nachname schien verloren gegangen zu sein. Ich erinnerte mich an eine Klassenliste. Auster, Bishop, Brown, Byrne, Cassini, Cole, Daley, Devereaux, Eve, Finch, Fry. Nein, halt. Zurück. Finch. Nein.

Devereaux. Ja, der war es. Ein Reim fiel mir ein. Ein Reim aus einer längst vergangenen Zeit. Nicht Deverox wie Box. Nicht Deveruh wie Schuh. Sondern Devereaux wie Show. Abbie Devereaux. Ich klammerte mich an den Namen wie eine Ertrinkende, als hätte mir jemand bei stürmischem Seegang einen Rettungsring zugeworfen.

Dabei spielte sich der Seegang hauptsächlich in meinem Kopf ab: Eine Schmerzwelle nach der anderen rollte herein und klatschte gegen die Innenseite meines Schädels. Ich schloss die Augen erneut, ließ meinen Namen los.

Alles lief ineinander. Alles existierte gleichzeitig. Wie lange dauerte das an? Minuten. Stunden. Dann aber begannen sich die Dinge wieder zu trennen und wie Gestalten aus einem Nebel zu lösen. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund und einen metallischen Geruch in der Nase, aber der Geruch bekam rasch eine modrige Note, die mich an Gartenschuppen, Tunnel und Keller denken ließ, an feuchte, schmutzige, vergessene Orte.

Ich lauschte. Nichts als das Geräusch meines eigenen Atems, unnatürlich laut. Ich hielt die Luft an. Stille. Nur noch mein Herzschlag. War das überhaupt ein Geräusch oder bloß das Blut, das durch meinen Körper gepumpt wurde und von innen gegen meine Ohren drängte?

Ich fühlte mich unwohl. Mein Rücken schmerzte, ebenso mein Becken und meine Beine. Ich drehte mich um. Nein, ich drehte mich nicht um. Ich konnte mich gar nicht bewegen. Ich hob die Arme, als müsste ich etwas abwehren. Nein. Die Arme bewegten sich nicht. War ich gelähmt? Ich spürte meine Beine nicht. Meine Zehen. Ich konzentrierte mich ganz auf meine Zehen. Die linke große Zehe rieb an ihrer Nachbarzehe. Die rechte große Zehe tat es ihr nach. Kein Problem. Die Zehen ließen sich bewegen. Sie steckten in Socken. Ich trug keine Schuhe.

Meine Finger. Ich drückte sie nach unten. Die Fingerspitzen berührten etwas Raues. Zement oder Stein.

War ich in einem Krankenhaus? Verletzt. Ein Unfall. Oder lag ich irgendwo und wartete darauf, gefunden zu werden?

Ein Eisenbahnunglück. Das Wrack eines Zugs. Wrackteile auf mir. In einem Tunnel. Hilfe unterwegs. Ich versuchte mir den Zug ins Gedächtnis zu rufen, konnte mich aber nicht erinnern. Oder ein Flugzeug. Ein Auto. Spät nachts am Steuer eingeschlafen. Ich kannte das Gefühl, hatte mich oft genug selbst in den Arm gekniffen, um wach zu bleiben, das Fenster geöffnet, um kalte Luft hereinzulassen. Vielleicht hatte es diesmal nicht geklappt.

Von der Straße abgekommen, eine Böschung hinuntergerast. Vielleicht hatte sich der Wagen überschlagen. Wann würde mich jemand als vermisst melden?

Ich durfte nicht warten, bis jemand kam und mich rettete. Womöglich würde ich vorher sterben, während ein paar Meter von mir entfernt die Leute zur Arbeit fuhren.

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich aufzurappeln.

Wenn ich bloß etwas sehen könnte. Kein Mond, keine Sterne. Vielleicht waren es bloß zwanzig Meter. Eine Böschung hinauf. Wenn ich meine Zehen spüren konnte, dann konnte ich mich auch bewegen. Als erstes musste ich mich umdrehen. Den Schmerz ignorieren. Ich versuchte es, aber diesmal spürte ich, dass mich etwas zurückhielt.

Ich war festgebunden. An den Fußgelenken und auf Höhe der Oberschenkel. An den Unterarmen und knapp über den Ellbogen. Über der Brust. Zumindest konnte ich ein wenig den Kopf heben, wie beim kläglichen Versuch eines Situps. Da war noch etwas anderes. Nicht nur Dunkelheit.

Es war dunkel, aber nicht nur das. Mein Kopf war bedeckt.

Ich versuchte, klar zu denken. Es musste einen Grund dafür geben. Gefängnisinsassen wurden festgebunden.

Manchmal auch Krankenhauspatienten, um sie vor weiterem Schaden zu bewahren. Beispielsweise, wenn sie auf einem Rollbett zu einer Operation gefahren wurden.

Ich hatte einen Unfall gehabt.

Einen Autounfall, das war am wahrscheinlichsten. Ernst, aber nicht lebensbedrohlich. Trotzdem konnte jede abrupte Bewegung gefährliche innere Blutungen zur Folge haben.

Bestimmt wartete ich bloß auf die Schwester oder den Anästhesisten. Vielleicht hatte man mir das Narkosemittel schon verabreicht. Oder ein Mittel, das mich auf die Narkose vorbereitete. Daher die Lücken in meinem Gedächtnis. Seltsam, dass es so still war, aber man hört ja oft von Leuten, die im Krankenhaus stundenlang auf einem Rollbett herumliegen, bis ein Operationssaal frei wird.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Ich schien nämlich nicht auf einem Rollbett zu liegen. Ganz zu schweigen von diesem Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel, nach alten, vor sich hin modernden Dingen. Meine Finger ertasteten nichts als Beton oder Stein. Mein Körper lag auf etwas Hartem. Ich versuchte nachzudenken. Nach großen Katastrophen wurden die Leichen oft in improvisierten Leichenhallen gelagert. In Sporthallen von Schulen.

Gemeindesälen. Vielleicht war ich ein Katastrophenopfer.

Vielleicht hatte man jeden freien Fleck genutzt, um die Verletzten unterzubringen – festgebunden, um sie vor weiteren Verletzungen zu bewahren. Aber zog man Katastrophenopfern Kapuzen über den Kopf? Chirurgen trugen kapuzenartige Kopfbedeckungen, jedoch nichts über den Augen. Vielleicht ging es darum, Infektionen zu vermeiden.

Ich hob erneut den Kopf. Mit dem Kinn erfühlte ich ein Shirt. Ich war bekleidet. Ja. Ich spürte Kleidung auf meiner Haut. Ein Shirt, eine Hose, Socken. Keine Schuhe.

Irgendwo in meinem Hinterkopf tauchten andere Gedanken auf. Grausame Gedanken. Gefesselt. Umgeben von Dunkelheit. Eine Kapuze über dem Kopf. Lächerlich.

Konnte es sich um einen Scherz handeln? Würden gleich alle aus ihren Verstecken springen, mir die Binde von den Augen reißen und »April April!« schreien? Aber war überhaupt April? Ich konnte mich an kaltes Wetter erinnern. War der Sommer schon vorbei, oder stand er erst noch bevor? Eigentlich eine dumme Frage, denn natürlich gab es immer einen Sommer, der schon vergangen war, und einen neuen, der bevorstand.

Lauter Sackgassen. Ich ging sie alle ab, ohne fündig zu werden. Irgendetwas war passiert, so viel wusste ich immerhin. Möglicherweise handelte es sich dabei um etwas Lustiges, auch wenn es sich nicht lustig anfühlte.

Vielleicht hatte sich aber auch etwas Schlimmes ereignet, und von offizieller Seite wurden gerade geeignete Maßnahmen ergriffen. Die Kapuze – oder der Verband, ja, wahrscheinlich handelte es sich um einen Verband. Das war plausibel. Vielleicht hatte ich eine Kopfverletzung davongetragen, meine Augen oder Ohren hatten Schaden genommen, und mein gesamter Kopf war zu meinem eigenen Schutz mit Verbänden umwickelt. Sie würden bald entfernt werden. Es würde ein wenig brennen. Eine freundlich dreinblickende Krankenschwester würde sich über mich beugen. Keine Sorge, es besteht kein Grund zur Sorge, würde sie zu mir sagen.

Es waren noch andere Möglichkeiten denkbar.

Furchtbare Möglichkeiten. Ich musste an den Steinboden unter meinen Fingern denken, an die feuchte Luft, wie in einer Höhle. Bis jetzt war da nur der Schmerz und das Chaos meiner Gedanken gewesen, aber plötzlich spürte ich noch etwas anderes. Angst sickerte wie Schlamm in meine Brust. Ich gab ein Geräusch von mir, ein leises Stöhnen. Offenbar war ich in der Lage zu sprechen.

Obwohl ich nicht wusste, wen ich rufen oder was ich sagen sollte, versuchte ich es ein wenig lauter. Ich hoffte, das Echo oder die Schärfe des Geräusches würde mir etwas über meinen Aufenthaltsort verraten, aber mein Ruf wurde durch die Kapuze gedämpft. Ich rief erneut, diesmal so laut, dass mein Hals schmerzte.

Nicht weit von mir entfernt bewegte sich etwas. Neue Gerüche stiegen mir in die Nase. Schweiß und Rasierwasser. Ich hörte jemanden atmen, polternd auf mich zukommen. Plötzlich war mein Mund voller Stoff.

Ich bekam kaum mehr Luft, nur noch durch die Nase.

Irgendetwas wurde fest um mein Gesicht gebunden.

Heißer Atem streifte meine Wange, dann drang aus der Dunkelheit eine Stimme an mein Ohr. Es war kaum mehr als ein Flüstern, heiser, gepresst und so undeutlich, dass ich mich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen.

»Nein«, sagte die Stimme. »Noch ein Mucks, und ich binde dir auch noch die Nase zu.«

Ich musste würgen. Der Stoff füllte meinen ganzen Mund aus, rieb gegen meinen Gaumen. Mein Hals schmeckte plötzlich nach Fett und ranzigem Kohl. Ein Krampf durchzuckte mich, und Übelkeit stieg wie Feuchtigkeit in mir auf. Ich durfte mich nicht übergeben.

Verzweifelt schnappte ich nach Luft, versuchte vergeblich, durch den Stoff zu atmen. Es ging nicht, mein Mund war völlig verstopft. Ich zerrte mit beiden Armen an den Fesseln und versuchte gleichzeitig Luft zu holen. Ich fühlte mich, als würde sich mein ganzer Körper auf dem rauen Steinboden zuckend aufbäumen, als wäre kein bisschen Luft mehr in mir, nur noch schmerzhaftes Vakuum und grelles Rot hinter meinen hervorquellenden Augen, und ein Herz, das hektisch durch meinen Hals nach oben drängte, während ein seltsam heiseres Geräusch aus meiner Kehle drang, wie ein Husten, der nicht zustande kommen wollte. Ich war ein sterbender Fisch.

Ein Fisch, der sich auf dem harten Boden hin und her warf. Gefesselt hing ich am Haken, aber in meinem Inneren schien sich alles zu lösen, als würden meine gesamten Eingeweide zerrissen. Fühlt sich das so an?

Wenn man stirbt? Wenn man lebendig begraben wird?

Ich musste atmen. Wie atmet man? Durch die Nase. Er hatte etwas von meiner Nase gesagt. Der Mann hatte gesagt, er werde mir als nächstes die Nase zubinden. Ich musste durch die Nase atmen. Jetzt. Es ging nicht, ich bekam auf diese Weise nicht genug Luft. Wieder versuchte ich, mich keuchend mit Luft voll zu saugen.

Meine Zunge war zu groß, um in dem winzigen Raum Platz zu finden, der in meinem Mund noch übrig war. Sie stieß immer wieder gegen den Stoff des Knebels. Ich spürte, wie sich mein Körper erneut aufbäumte. Langsam atmen. Ganz ruhig. Ein und aus, ein und aus. Immer weiter, bis ich nichts anderes mehr fühlte. Nur so würde ich am Leben bleiben. Atme, befahl ich mir selbst. Dicke, modrige Luft strömte in meine Nasenlöcher, ölige Fäulnis lief meinen Rachen hinunter. Ich versuchte, nicht zu schlucken, aber dann ließ es sich nicht länger vermeiden, und wieder schwappte Ekel in mir hoch, füllte meinen Mund. Ich konnte es nicht ertragen. Doch, ich konnte. Ich konnte, ich konnte, ich konnte.

Atme ein und aus, Abbie. Abbie. Ich bin Abbie. Abigail Devereaux. Ein und aus. Denk nicht nach. Atme. Du bist noch am Leben.

Der Schmerz in meinem Schädel wich ein Stück zurück.

Ich hob den Kopf ein wenig an, der Schmerz strömte hinter meine Augen. Ich blinzelte ein paarmal. Dieselbe tiefe Dunkelheit, egal, ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte. Meine Wimpern drückten gegen die Kapuze. Mir war kalt, so viel spürte ich inzwischen.

Meine Füße fühlten sich in den Socken wie Eiszapfen an.

Waren das meine eigenen Socken? Sie kamen mir so groß und rau vor, gar nicht vertraut. Meine linke Wade schmerzte. Ich versuchte die Beinmuskeln zu bewegen, um dieses Gefühl eines Krampfes loszuwerden. Plötzlich begann eine Stelle an meiner Wange unter der Kapuze zu jucken. Ein paar Sekunden lang lag ich reglos da, konzentrierte mich nur auf das Jucken, dann wandte ich den Kopf zur Seite und versuchte, die Stelle mit meiner hochgezogenen Schulter zu berühren. Ohne Erfolg. Ich verdrehte den Kopf, bis ich mein Gesicht über den Boden reiben konnte.

Außerdem war ich nass. Zwischen den Beinen und an den Oberschenkeln. Ich spürte die klamme Kälte unter meiner Hose. War das überhaupt meine Hose? Ich lag in meiner eigenen Pisse, umgeben von Dunkelheit, eine Kapuze über dem Kopf, gefesselt und geknebelt. Atme ein und aus, befahl ich mir selbst. Atme immer weiter, ein und aus. Versuch, die Gedanken langsam herauszulassen, einen nach dem anderen, damit du nicht darin ertrinkst.

Ich spürte den Druck der in mir aufgestauten Angst, mein Körper fühlte sich wie eine zerbrechliche Muschelschale an, zum Bersten gefüllt mit tosenden Wassermassen. Ich zwang mich, nur an die Atemluft zu denken, die durch meine Nasenlöcher ein und aus strömte. Ein und aus.

Jemand – ein Mann, der Mann, der den Knebel in meinen Mund gerammt hatte, hatte mich an diesen Ort gebracht. Er hatte mich hier festgebunden, ich war seine Gefangene. Warum? Darüber konnte ich noch nicht nachdenken. Ich lauschte, ob irgendetwas zu hören war, abgesehen vom Pfeifen meines Atems, dem Schlagen meines Herzens und dem kratzenden Geräusch, das meine Hände und Füße auf dem rauen Boden verursachten, wenn ich mich bewegte. Vielleicht war er noch hier, kauerte irgendwo im Raum. Aber es war kein anderes Geräusch zu hören. Im Moment war ich allein. Ich lag da und lauschte meinem Herzen. Die Stille erdrückte mich.

Ein Bild flatterte durch meinen Kopf. Ein gelber Schmetterling, der sich mit zitternden Flügeln auf einem Blatt niederließ. Es kam mir vor, als wäre plötzlich ein Sonnenstrahl auf mich gefallen. War das etwas, woran ich mich erinnern konnte, ein Augenblick, den ich aus der Vergangenheit herübergerettet und bis jetzt irgendwo aufbewahrt hatte? Oder war dieses Bild bloß ein zufälliges Produkt meines Gehirns, eine Art Reflex oder Kurzschluss?

Ein Mann hatte mich an einem dunklen Ort festgebunden.

Offenbar hatte er mich entführt und dann hierher gebracht.

Doch ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich zermarterte mir den Kopf, aber er war leer – ein leerer Raum, ein verlassenes Haus, kein Widerhall. Nichts. In meinem Hals kroch ein Schluchzen hoch. Ich darf nicht weinen, ermahnte ich mich. Ich muss nachdenken, aber vorsichtig, ohne die Angst nach oben zu lassen. Ich darf nicht in die Tiefe gehen. Ich muss an der Oberfläche bleiben. Nur über das nachdenken, was ich weiß. Fakten.

Langsam werde ich mir ein Bild zusammensetzen, und dann werde ich auch in der Lage sein, es mir anzusehen.

Mein Name ist Abigail. Abbie. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und ich lebe mit meinem Freund Terry, Terence Wilmott, in einer winzigen Wohnung in der Westcott Road. Das ist es: Terry. Terry wird sich Sorgen machen.

Er wird die Polizei anrufen, mich als vermisst melden. Sie werden mit Blaulicht und heulenden Sirenen herfahren und die Tür einschlagen. Licht und Luft werden hereinfluten. Nein, nur Fakten. Ich arbeite für Jay & Joiner, entwerfe Büroeinrichtungen. Ich habe einen Schreibtisch mit einem weißblauen Laptop, einem kleinen grauen Telefon, einem Stapel Papier, einem ovalen Aschenbecher voller Büroklammern und Gummibänder.

Wann war ich das letzte Mal dort? Das alles erschien mir unglaublich weit weg, wie ein Traum, der einem entgleitet, sobald man versucht, ihn zu fassen zu bekommen. Wie das Leben eines anderen Menschen. Ich konnte mich nicht erinnern. Wie lange lag ich schon hier?

Eine Stunde, einen Tag, eine Woche? Es war Januar, das wusste ich inzwischen – zumindest glaubte ich es zu wissen. Draußen war es kalt, und die Tage waren kurz.

Vielleicht hatte es geschneit. Nein, ich durfte nicht an Dinge wie Schnee denken, Sonnenlicht auf weißen Flächen. Ich musste mich auf das konzentrieren, was ich wusste: Januar, aber ob Tag oder Nacht konnte ich nicht sagen. Vielleicht war inzwischen schon Februar. Ich versuchte an den letzten Tag zu denken, an den ich mich klar erinnern konnte, doch das war, als würde ich in einen dichten Nebel blicken, in dem sich lediglich undeutliche Schatten abzeichneten.

Ich beschloss, mit dem Silvesterabend zu beginnen. Ich hatte mit Freunden getanzt, und um Mitternacht waren sich alle um den Hals gefallen. Ich hatte alle möglichen Leute auf den Mund geküsst, Leute, die ich gut kannte, und Leute, die ich erst ein paarmal getroffen hatte, sogar Fremde, die mit ausgebreiteten Armen und einem erwartungsvollen Lächeln auf mich zukamen, weil man sich an Silvester nun mal küsst. Aber an all das wollte ich jetzt nicht denken. Nach Neujahr, ja, da regte sich noch etwas in meinem Gedächtnis. Tage im Büro, klingelnde Telefone, Spesenrechnungen in meinem Eingangsfach.

Tassen mit kalt gewordenem, bitterem Kaffee. Aber vielleicht war das vorher gewesen, nicht danach. Oder vorher und nachher, tagein, tagaus. Alles erschien mir verschwommen und bedeutungslos.

Ich versuchte mich zu bewegen. Meine Zehen waren vor Kälte ganz steif, mein Nacken schmerzte, und in meinem Kopf pochte es. Ich hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Warum war ich hier, und was würde mit mir geschehen? Wie ein Opferlamm lag ich auf dem Rücken, Arme und Beine festgebunden. Eine Welle der Angst durchlief meinen Körper. Er konnte mich verhungern lassen. Mich vergewaltigen. Foltern. Er konnte mich töten.

Vielleicht hatte er mich schon vergewaltigt. Ich presste mich gegen den Boden und wimmerte ganz leise, tief unten in meinem Hals. Zwei Tränen stahlen sich aus meinen Augen. Ich spürte das Kitzeln und Brennen auf meiner Haut, als sie zu meinen Ohren hinunterliefen.

Nicht weinen, Abbie. Du darfst nicht weinen.

Denk an den Schmetterling, der nichts als Schönheit bedeutet. Ich stellte mir den gelben Schmetterling auf seinem grünen Blatt vor. Ich ließ meinen ganzen Kopf voll werden von diesem kleinen Wesen, das so zart und leicht auf dem Blatt saß, dass es jeden Moment weggepustet werden konnte wie eine Feder. Ich hörte Schritte. Sie klangen weich, als wäre der Mann barfuß. Sie kamen näher, brachen ab. Dann hörte ich jemanden heftig atmen, fast keuchen, als hätte er ein Stück klettern müssen, um zu mir zu gelangen. Starr vor Angst lag ich in der Stille. Er stand jetzt über mir. Ich hörte ein Klicken, und trotz meiner Kapuze war mir klar, dass er eine Taschenlampe eingeschaltet hatte. Ich konnte noch immer nichts erkennen, aber ich sah durch den Stoff, dass es nicht mehr völlig dunkel war. Offenbar stand er über mir und leuchtete mit einer Taschenlampe auf meinen Körper hinunter.

»Du hast dich nass gemacht«, murmelte er. Zumindest kam es mir durch meine Kapuze wie ein Murmeln vor.

»Dummes Mädchen.«

Ich spürte, wie er sich zu mir herunterbeugte. Ich hörte ihn atmen. Mein eigenes Atemgeräusch wurde lauter und schneller. Er schob die Kapuze ein wenig hoch und befreite mich erstaunlich sanft von dem Knebel. Ich spürte eine Fingerspitze auf meiner Unterlippe. Ein paar Sekunden lang konnte ich bloß erleichtert keuchen, die Luft in meine Lungen saugen. Dann hörte ich mich selbst

»Danke« sagen. Meine Stimme klang leise und schwach.

»Wasser.«

Er löste die Fesseln an meinen Armen und über meiner Brust, nun waren nur noch meine Beine gefesselt. Dann schob er einen Arm unter meinen Nacken und zog mich in eine sitzende Position. Eine neue Art von Schmerz pulste durch meinen Kopf. Ich wagte mich nicht zu bewegen, sondern ließ teilnahmslos über mich ergehen, dass er mir die Arme hinter den Rücken legte und an den Handgelenken zusammenband – so fest, dass mir die Schnur ins Fleisch schnitt. Handelte es sich überhaupt um eine Schnur? Es fühlte sich härter an, wie eine Wäscheleine oder Draht.

»Mach den Mund auf«, sagte er in seinem gedämpften Flüsterton. Ich tat, wie mir geheißen. Er schob einen Strohhalm unter die Kapuze und steckte ihn mir zwischen die Lippen.

»Trink.«

Das Wasser war lauwarm und hinterließ einen schalen Geschmack in meinem Mund.

Er legte eine Hand auf meinen Nacken und begann ihn zu massieren. Ich saß da wie gelähmt. Ich durfte weder aufschreien noch irgendein anderes Geräusch machen. Ich durfte mich auch nicht übergeben. Seine Finger drückten sich in meine Haut.

»Wo tut es weh?« fragte er.

»Nirgends.« Meine Stimme war nur ein Flüstern.

»Nirgends? Du wirst mich doch nicht anlügen?«

Wut fegte durch meinen Kopf wie ein herrlicher, tosender Wind, stärker als die Angst. »Du widerliches Stück Scheiße!«, schrie ich mit der schrillen Stimme einer Wahnsinnigen. »Lass mich los, lass mich sofort los, ich bringe dich um, du wirst schon sehen …«

Der Knebel wurde mir wieder in den Mund gerammt.

»Du bringst mich um. Das ist gut. Das gefällt mir.«

Lange Zeit konzentrierte ich mich nur aufs Atmen. Ich hatte von Menschen gehört, die sich in ihrem eigenen Körper eingesperrt fühlten wie in einem Gefängnis. Sie wurden von der Vorstellung gequält, niemals entkommen zu können. Mein Leben war nun reduziert auf das bisschen Luft, das durch meine Nasenlöcher strömte. Sollte mir diese Luftzufuhr auch noch abgeschnitten werden, würde ich sterben. Es gab solche Fälle. Leute wurden gefesselt und geknebelt, ohne dass ihre Entführer die Absicht hatten, sie umzubringen. Nur ein kleiner Fehler beim Binden – der Knebel zu nahe an der Nase –, und sie bekamen keine Luft mehr und starben.

Ich zwang mich, gleichmäßig zu atmen, ein eins-zwei-drei, aus eins-zwei-drei. Ein, aus. In einem Film, einer Art Kriegsfilm, den ich einmal gesehen hatte, hatte sich ein supertaffer Soldat vor dem Feind in einem Fluß versteckt und nur durch einen einzigen Strohhalm geatmet. Der Gedanke, dass ich nun in der gleichen Situation war, ließ meine Brust schmerzen, und mein Atem ging wieder stoßweise. Ich musste mich beruhigen. Statt an den Soldaten zu denken und daran, was passiert wäre, wenn irgendetwas den Strohhalm verstopft hätte, versuchte ich an das Wasser des Flusses zu denken, das in der glitzernden Morgensonne so kühl und ruhig ausgesehen hatte, so träge und schön.

In meinem Kopf floß das Wasser immer langsamer, bis es schließlich zum Stillstand kam. Ich stellte mir vor, wie die Oberfläche langsam zu Eis erstarrte, hart und klar wie Glas, so dass man die Fische darunter lautlos umherschwimmen sehen konnte. Ich konnte nicht anders.

Ich sah mich durch das Eis einbrechen, sah mich darunter gefangen. Ich hatte irgendwo gelesen oder gehört, dass zwischen Eisfläche und Wasser eine dünne Luftschicht liegt, und dass man, wenn man einbricht und das Loch nicht mehr findet, diese Luft atmen kann. Aber dann?

Vielleicht wäre es besser, einfach zu ertrinken. Vor dem Ertrinken hatte ich immer besondere Angst gehabt, bis ich irgendwann gelesen oder gehört hatte, dass es sich in Wirklichkeit um eine angenehme Todesart handelte. In diesem Moment erschien mir das sehr plausibel.

Unangenehm und schrecklich war bloß der Versuch, nicht zu ertrinken. Angst ist der Versuch, dem Tod zu entrinnen.

Sich dem Tod zu ergeben ist wie Einschlafen.

Eins – zwei – drei, eins – zwei – drei. Langsam wurde ich ruhiger. Manche Menschen, wahrscheinlich mindestens zwei Prozent der Bevölkerung, wären schon vor Panik oder Luftmangel gestorben, wenn ihnen widerfahren wäre, was mir gerade passierte. Demnach schlug ich mich immerhin tapferer als so manch anderer.

Ich lebte noch. Ich atmete.

Jetzt lag ich wieder ausgestreckt, an Händen und Füßen gefesselt, einen Knebel im Mund und eine Kapuze über dem Kopf.

Doch ich war nirgendwo mehr festgebunden. Ich kämpfte mich in eine hockende Position, stand dann ganz langsam auf. Versuchte aufzustehen. Mein Kopf stieß gegen ein Dach. Demnach war der Raum höchstens einen Meter fünfzig hoch. Keuchend vor Anstrengung, ließ ich mich wieder auf den Boden sinken.

Wenigstens konnte ich mich bewegen. Mich krümmen und winden wie eine Schlange im Staub. Was ich mich kaum traute. Ich hatte das Gefühl, irgendwo weit oben zu sein. Wenn er den Raum betrat, befand er sich unter mir.

Die Schritte und seine Stimme kamen von unten. Er musste irgendwo hinaufsteigen, um zu mir zu gelangen.

Vorsichtig streckte ich die Füße nach vorne aus, spürte aber nur den Boden. Mühsam drehte ich mich herum.

Mein T-Shirt hatte sich hochgeschoben, und die nackte Haut meines Rückens schabte schmerzhaft über den rauen Untergrund. Ich streckte erneut die Beine aus. Immer noch Boden unter meinen Füßen. Ganz langsam schlängelte ich mich vorwärts, ständig mit den Füßen tastend. Plötzlich spürte ich nichts mehr – nichts Hartes mehr unter mir.

Ausgestreckt über einem freien Raum, einer Leere.

Liegend schob ich mich weiter, Zentimeter um Zentimeter. Meine Beine baumelten bereits bis zu den Knien in der Luft. Ich winkelte sie an. Wenn ich jetzt den Oberkörper aufrichtete, würde ich über einem Abgrund sitzen, am Rand einer Klippe. Mein Atem begann panisch in meiner Brust zu flattern. Ich robbte rückwärts. Mein Rücken schmerzte, in meinem Kopf dröhnte und pochte es. Ich schlängelte und schleppte mich weiter rückwärts, bis ich gegen eine Wand stieß.

Ich setzte mich auf, presste meine gefesselten Hände gegen die Wand. Die Fingerspitzen spürten grobe, feuchte Ziegel.

Aufrecht schob ich mich an der Wand entlang, bis ich auf die Ecke stieß, und bewegte mich dann in der Gegenrichtung zurück. Meine Muskeln brannten vor Anstrengung. Der Raum musste etwa drei Meter breit sein.

Und etwa eins zwanzig tief.

Es fiel mir schwer, klar zu denken, weil der Schmerz in meinem Kopf mir immer wieder in die Quere kam. Hatte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen? Eine tiefe Schramme davongetragen? Oder war mit meinem Gehirn etwas nicht in Ordnung?

Die Kälte ließ mich zittern. Ich durfte nicht aufhören nachzudenken, musste meinen Kopf beschäftigt halten, ohne an die falschen Dinge zu denken. Auf irgendeine Art war ich entführt worden. Gegen meinen Willen wurde ich festgehalten. Warum wurden Menschen entführt? Wegen Geld oder aus politischen Gründen. Mein gesamtes Vermögen belief sich – nach Abzug der Beträge, die ich in letzter Zeit mit Kreditkarte bezahlt hatte – auf etwa zweitausend Pfund, wovon die Hälfte in meinem rostigen alten Wagen steckte. Politische Gründe kamen wohl auch nicht in Frage, ich war Beraterin in Sachen Büroeinrichtung, keine Botschafterin. Andererseits konnte ich mich an nichts erinnern. Womöglich befand ich mich in Südamerika oder im Libanon. Dagegen sprach, dass der Mann definitiv ein britisches Englisch gesprochen hatte, Südenglisch, soweit ich das anhand des leisen, undeutlichen Geflüsters beurteilen konnte.

Welche anderen Gründe konnte es geben? Ich hatte mich in eine Richtung manövriert, in der alles richtig übel aussah. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Beruhige dich. Beruhige dich, Abbie. Du darfst keine verstopfte Rotznase bekommen.

Er hatte mich nicht getötet. Das war ein gutes Zeichen.

Obwohl es nicht notwendigerweise ein wirklich gutes Zeichen sein musste – langfristig gesehen konnte es auch ein schlechtes Zeichen sein. Allein bei dem Gedanken wurde mir speiübel. Doch so war die Situation, mehr wusste ich nicht. Vorsichtig spannte ich meine Muskeln an, spürte meine Fesseln. Ich wusste nicht, wo ich war, wusste auch nicht, wo ich entführt worden war, oder wann oder wie. Oder aus welchem Grund. Ich konnte nichts sehen. Ich wusste nicht mal, wie der Raum aussah, in dem ich lag. Er fühlte sich feucht an. Vielleicht war es ein Keller oder ein Schuppen. Auch über den Mann war mir nichts bekannt. Oder die Männer. Oder wer sonst noch damit zu tun hatte. Wahrscheinlich hielt er sich ganz in der Nähe auf. Ich wusste weder, ob ich ihn kannte, noch wie er aussah.

Das war vielleicht gut so. Wenn ich ihn identifizieren könnte, dann würde er wahrscheinlich … wie auch immer, auf jeden Fall wäre das weniger gut. Profi-Entführer trugen Masken, damit die Geisel ihr Gesicht nicht zu sehen bekam. Dass er mir eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte, lief vielleicht auf dasselbe hinaus, bloß andersherum. Er tat auch irgendetwas mit seiner Stimme, dämpfte sie irgendwie, damit sie nicht wie eine menschliche Stimme klang. Es war sogar denkbar, dass er vorhatte, mich bloß eine Weile festzuhalten und dann wieder freizulassen. Er konnte mich in irgendeinem anderen Stadtteil von London aussetzen, und es wäre mir völlig unmöglich, ihn je wiederzufinden. Ich würde nichts über ihn wissen – nicht das Geringste. Das war die erste zumindest ansatzweise gute Nachricht.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon hier war, maximal konnten es drei Tage sein, vielleicht sogar nur zwei. Ich fühlte mich schrecklich, aber nicht besonders schwach. Ich war hungrig, aber noch nicht krank vor Hunger. Vielleicht zwei Tage. Terry hatte mich bestimmt schon als vermisst gemeldet. Ich war nicht zur Arbeit erschienen, sie hatten Terry angerufen, er hatte erstaunt versucht, mich auf meinem Mobiltelefon zu erreichen. Wo das wohl abgeblieben war? Unter Umständen hatte man die Polizei schon nach wenigen Stunden verständigt.

Bestimmt war mittlerweile eine große Suchaktion im Gang. Scharen von Polizisten, die Ödland durchkämmten.

Absolute Urlaubssperre. Spürhunde. Hubschrauber. Ein weiterer vielversprechender Gedanke. Man kann einen erwachsenen Menschen nicht einfach von der Straße zerren und irgendwo verstecken, ohne Aufsehen zu erregen. Bestimmt waren Polizisten unterwegs, die Häuser durchsuchten, mit Taschenlampen in dunkle Winkel leuchteten. Es konnte nicht mehr lang dauern, dann würde ich sie hören, sie sehen. Ich brauchte bloß am Leben zu bleiben, bis … einfach nur am Leben bleiben. Am Leben bleiben.

Ich hatte ihn angeschrien. Ich hatte gesagt, ich würde ihn umbringen. Sonst hatte ich nichts zu ihm gesagt, zumindest konnte ich mich an nichts erinnern, außer

»danke«, als er mir das Wasser zu trinken gab. Inzwischen hasste ich mich dafür, dass ich mich bei ihm bedankt hatte.

Als ich ihn angeschrien hatte, war er wütend geworden.

Was hatte er noch geantwortet? »Du willst mich umbringen? Das ist gut!« Irgendetwas in der Art. Nicht sehr vielversprechend. » Du willst mich umbringen?«

Vielleicht hatte er das deswegen so lustig gefunden, weil er seinerseits vorhatte, mich umzubringen.

Ich versuchte mich mit einem anderen Gedanken zu trösten. Vielleicht amüsierte ihn meine Drohung bloß deswegen, weil ich mich so vollkommen in seiner Gewalt befand, dass ihm die Idee, ich könnte es ihm heimzahlen, völlig lächerlich erschien. Auf jeden Fall war ich mit meinen heftigen Worten ein Risiko eingegangen. Ich hatte ihn wütend gemacht. Er hätte mich foltern oder schlagen oder alles Mögliche mit mir anstellen können. Aber er hatte nichts dergleichen getan. Das war unter Umständen eine wichtige Erkenntnis. Er hatte mich entführt, hatte mich gefesselt, und ich hatte ihn bedroht. Womöglich fühlte er sich unterlegen und unfähig, mir etwas anzutun, solange ich ihm die Stirn bot. Vielleicht, dachte ich, ist das die beste Art, ihn zu manipulieren. Indem ich mich nicht seinem Willen unterwarf. Möglicherweise hat er eine Frau entführt, weil er Angst vor Frauen hat und darin die einzige Möglichkeit sieht, zumindest eine Frau unter Kontrolle zu haben. Wahrscheinlich erwartet er, dass ich um mein Leben bettle und ihm auf diese Weise die Macht über mich gebe, die er sich erhofft. Doch wenn ich nicht kapituliere, dann läuft es nicht nach seinem Plan.

Vielleicht ist aber auch das Gegenteil der Fall.

Womöglich hat ihm meine Reaktion bloß gezeigt, dass er mich völlig in der Hand hat. Es ist ihm egal, was ich sage.

Er findet es lediglich komisch, hält ansonsten aber an seinem Plan fest. Bestimmt ist es entscheidend, ihm zu zeigen, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, damit es ihm schwerer fällt, mir etwas anzutun. Doch falls das auf ihn bedrohlich wirkt, macht es ihn womöglich nur noch wütender. Ich konnte nichts tun. Ich konnte mich weder zur Wehr setzen noch fliehen. Ich konnte nur Zeit schinden.

Wie stellte ich das am besten an? Indem ich ihn provozierte? Indem ich alles tat, damit er zufrieden war?

Indem ich versuchte, ihm Angst zu machen?

An der Schwärze um mich herum veränderte sich etwas.

Ich nahm ein Geräusch und einen Geruch war. Dann hörte ich wieder dieses heisere, krächzende Geflüster.

»Ich werde jetzt deinen Knebel herausnehmen. Wenn du schreist, schneide ich dir wie einem Vieh die Kehle durch.

Wenn du verstanden hast, was ich gesagt habe, dann nicke mit dem Kopf.«

Ich nickte hektisch. Die Hände – große, warme Hände –

machten sich hinter meinem Nacken zu schaffen. Der Knoten wurde gelöst, der Knebel grob aus meinem Mund gezerrt. Sofort begann ich zu husten. Eine Hand hielt meinen Kopf fest, und ich spürte, wie mir der Strohhalm in den Mund geschoben wurde. Ich saugte, bis mir ein zischendes Geräusch verriet, dass kein Wasser mehr da war.

»Da«, sagte er. »Da steht ein Kübel. Willst du ihn benutzen?«

»Wie meinen Sie das?« Ich musste ihn zum Reden bringen.

»Du weißt schon. Toilette.«

Er klang verlegen. War das ein gutes Zeichen?

»Ich möchte auf eine richtige Toilette.«

»Du gehst entweder auf den Eimer oder bleibst in deiner eigenen Pisse liegen, Süße.«

»Also gut.«

»Ich werde dich neben den Eimer stellen. Du kannst ihn mit deinen Füßen berühren. Dann gehe ich ein Stück weg.

Wenn du Faxen machst, schneide ich dich in Stücke.

Verstanden?«

»Ja.«

Es klang, als würde er ein paar Stufen hinuntersteigen, dann spürte ich seine Arme unter meinen Achseln, an meinem Rücken. Harte, starke Hände. Ich rutschte auf ihn zu, wurde gegen ihn gepresst. Er roch nach Tieren, Schweiß, etwas anderem, das ich nicht definieren konnte.

Ein Arm schob sich unter meine Oberschenkel. Ekel stieg in mir hoch. Einen Moment später wurde ich seitwärts geschwungen und dann sanft auf einem rauen, sandigen Boden abgestellt. Ich richtete mich auf. Meine Beine und mein Rücken schmerzten fürchterlich. Eine Hand packte mich an den Haaren, und ich spürte etwas Hartes, Kaltes an meinem Hals.

»Du weißt, was das ist?«

»Nein.«

»Die Klinge eines Messers. Ich werde jetzt den Draht lösen, mit dem deine Hände zusammengebunden sind. Der kleinste Mucks, und ich benutze das Messer.«

»Ich tu nichts. Ich will nur, dass Sie mich allein lassen.«

»Es ist dunkel. Ich gehe ein Stück weg.«

Ich spürte, wie sich hinter meinem Rücken der Draht lockerte. Er trat zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, doch einen Fluchtversuch zu unternehmen, aber dann wurde mir klar, wie sinnlos das war: noch immer teilweise gefesselt, eine Kapuze über dem Kopf, in einem dunklen Raum mit einem Mann, der ein Messer hatte.

»Nun mach schon«, sagte er.

Ich hatte kein dringendes Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen. Nur den Drang nach Bewegung. Ich befühlte meine Sachen. T-Shirt, Hose. Ich konnte das nicht.

»Du kriegst den Kübel erst morgen früh wieder.«

Morgen früh. Gut. Wenigstens eine Information. Also gut, also gut. Er behauptete, dass es dunkel war. Ich machte Knopf und Reißverschluss auf, zog Hose und Slip nach unten und setzte mich auf den Eimer. Bloß ein Tröpfeln. Ich stand wieder auf, zog die Hose hoch.

»Kann ich was sagen?«

»Was?«

»Ich weiß nicht, was das alles soll. Aber Sie dürfen das nicht. Sie werden nicht ungeschoren davonkommen. Ihnen ist vielleicht nicht klar, was passieren wird, wenn sie mich finden. Noch können Sie mich gehen lassen. Fahren Sie mich irgendwohin. Lassen Sie mich frei. Das war’s dann.

Bestimmt bin ich schon als vermisst gemeldet, sie werden nach mir suchen. Ich weiß, dass Sie mit mir machen können, was Sie wollen, und dass wahrscheinlich nichts Gutes für mich dabei herauskommt, aber man wird Sie erwischen. Wenn Sie mich gehen lassen, können wir beide einfach unser Leben weiterleben. Andernfalls werden Sie erwischt.«

»Das sagen sie alle. Wenn sie überhaupt etwas sagen.«

»Was?«

»Halt still.«

» Alle

Ich spürte, wie meine Hände wieder gefesselt wurden.

Anschließend wurde ich hochgehoben und wie ein kleines Kind auf einem hohen Regal abgesetzt. Wie eine Puppe.

»Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl er. »Und keinen Mucks!«

Ich blieb reglos sitzen. Ich hoffte, dass er jetzt wieder gehen würde.

»Mach den Mund auf.«

Er war neben mir. Der Knebel wurde mir in den Mund geschoben, ein anderes Stück Stoff fest um mein Gesicht gebunden. Ich hörte Schritte, dann spürte ich plötzlich, wie sich etwas um meinen Hals legte. Fest und eng. Ich wurde nach hinten gezerrt, bis ich die Wand in meinem Rücken spürte.

»Hör zu«, sagte die Stimme. »Das um deinen Hals ist eine Drahtschlinge. Sie ist hinter dir an einem Haken an der Wand befestigt. Hast du mich verstanden? Nicke mit dem Kopf.«

Ich nickte.

»Du befindest dich auf einer Plattform. Verstanden?«

Ich nickte.

»Wenn du dich von der Stelle rührst, fällst du hinunter, der Draht wird dir die Luft abschnüren, und du wirst sterben. Verstanden?«

Ich nickte.

»Gut.«

Dann herrschte Stille. Nur noch Stille. Mein Herz aber toste wie das Meer. Der Draht an meinem Hals brannte.

Ich atmete, ein und aus, ein und aus.

Ich stand auf einem hölzernen Steg, vor mir ein spiegelglatter See. Nicht ein Hauch von Wind. Tief unter mir sah ich glatte Kieselsteine, rosa, braun und grau. Ich ging leicht in die Knie, um meine Arme in das kühle, ruhige Wasser zu tauchen, als sich plötzlich etwas um meinen Hals legte, mich mit einem scheußlichen Ruck nach vorne kippen ließ, aber gleichzeitig von hinten festhielt. Das Wasser verschwand, verwandelte sich in tintenschwarze Dunkelheit. Die Schlinge grub sich in meinen Hals. Ich richtete mich auf. Für einen Moment war in mir nur Leere, dann durchflutete mich die Angst, strömte in alle Winkel meines Körpers. Mein Herz raste, mein Mund war trocken. Unter der Kapuze lief der Schweiß über meine Stirn, und ich spürte feuchte Haarsträhnen an meinen Wangen. Am ganzen Körper war mir kalter Angstschweiß ausgebrochen, ich fühlte mich zittrig und klebrig. Ein säuerlicher Geruch stieg mir in die Nase. Meine Angst war jetzt so real, dass ich sie riechen konnte.

Ich war eingeschlafen. Wie war das möglich? Wie konnte ich schlafen, wenn ich eine Schlinge um den Hals hatte wie ein Huhn, das wartete, bis ihm das Genick gebrochen wurde? Ich hatte mich immer gefragt, wie Gefangene in der Nacht vor ihrer Hinrichtung noch Schlaf fanden, doch ich hatte tatsächlich geschlafen. Wie lange?

Ich hatte keine Ahnung, vielleicht ein paar Minuten, vielleicht aber auch ein paar Stunden oder noch länger. Ich wusste nicht, ob es noch Nacht war oder schon Morgen.

Die Zeit war stehen geblieben.

Natürlich war die Zeit nicht stehen geblieben. Sie lief weiter, lief mir davon. In meinen Ohren dröhnte die Stille.

Irgendetwas würde passieren, das wusste ich, auch wenn ich nicht wusste, was und wann. Vielleicht jetzt gleich, sowie ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, vielleicht erst in einer Ewigkeit, nach einem endlosen Sumpf von Tagen. Mir fielen seine Worte wieder ein, und mit ihnen überfiel mich ein scharfes Brennen in der Magengegend. Es war, als säße in meinem Inneren ein räudiges Nagetier, das meine Eingeweide fraß. »Das haben sie alle gesagt.« Was hieß das? Ich wusste, was es hieß. Vor mir hatte es schon andere gegeben. Sie waren tot, und ich war die Nächste, die hier mit einer Schlinge um den Hals auf einem Mauervorsprung saß, und nach mir

– nach mir …

Atme und denke nach. Lass dir etwas einfallen.

Fluchtpläne zu schmieden war sinnlos. Alles, was ich hatte, waren mein Verstand und die Worte, die ich zu ihm sagte – wenn er mir diesen widerlichen Lumpen aus dem Mund zog. Ich begann im Geiste zu zählen. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Zählte ich zu schnell oder zu langsam? Ich versuchte, mein Tempo zu drosseln. Ich hatte Durst. Das Innere meines Mundes fühlte sich weich und faulig an. Sicher stank mein Atem mittlerweile schon. Ich brauchte Wasser, eiskaltes Wasser.

Literweise klares Wasser aus einer Quelle tief unter der Erde. Ich hatte überhaupt keinen Hunger mehr, aber sauberes kaltes Wasser in einem großen Glas mit klirrenden Eiswürfeln, das wünschte ich mir jetzt. Ich zählte weiter. Ich durfte nicht aufhören.

Eine Stunde, achtundzwanzig Minuten, dreiunddreißig Sekunden. Wie viele Sekunden waren das insgesamt? Ich versuchte weiterzuzählen und gleichzeitig die Summe auszurechnen, aber alles geriet durcheinander, und ich verlor beides, die Zeit und die Summe. Tränen liefen mir über die Wangen.

Ich schob die Beine nach vorn, streckte meinen Körper so weit ich konnte aus, und legte den Kopf in den Nacken, bis mir die Schlinge direkt unter dem Kinn in die Haut schnitt. Ein Balanceakt auf dem Mauervorsprung, dessen Kante sich hart in meinen Rücken drückte, während der untere Teil meines Körpers bereits überhing. Demnach musste der Draht knapp einen Meter lang sein. Ich glich einer Wippe, ich konnte nach hinten kippen, um wieder dazusitzen, abzuwarten und die Sekunden, Minuten und Stunden zu zählen, ich konnte aber auch nach vorn in die Dunkelheit kippen. Irgendwann würde er hereinkommen und mich dort hängen sehen, die Drahtschlinge um den Hals. Auf diese Weise würde ich ihm ein Schnippchen schlagen. Der Zeit ein Schnippchen schlagen. So einfach wäre das.

Ich schob mich in eine sitzende Position zurück. Mein Körper zitterte vor Anstrengung. Ich konzentrierte mich auf die Atmung, ein und aus. Ich dachte an den See aus meinem Traum, mit seinem ruhigen Wasser. Dann dachte ich an den Fluss mit seinen Fischen. An den gelben Schmetterling auf dem grünen Blatt. Bebend saß er dort, fast so leicht wie die ihn umgebende Luft. Schon der kleinste Windhauch würde ihn hinunterblasen. So ist das Leben, dachte ich. Auch mein Leben ist nun so zart und zerbrechlich.

Mein Name ist Abbie. Abigail Devereaux. Abbie. Ich wiederholte im Geist meinen Namen, versuchte ihn mir laut ausgesprochen vorzustellen, doch der Klang verlor rasch seine Bedeutung. Was bedeutete es schon, Abbie zu heißen? Nichts. Bloß eine Zusammenfügung von Silben.

Zwei Silben. Zweimal ein Mund voll Luft.

»Ich hatte einen Traum«, sagte ich. Meine Stimme klang heiser und schwach, als hätte die Drahtschlinge bereits meine Luftröhre beschädigt. »Ich bin eingeschlafen und habe geträumt. Haben Sie auch etwas geträumt? Oder träumen Sie nicht?« Ich hatte mir diese Sätze zurechtgelegt, während ich auf ihn wartete. Ich wollte ihm nichts Persönliches über mich erzählen, weil mir das gefährlich erschien, wollte andererseits aber auch nichts Konkretes über ihn erfahren, denn wenn ich etwas über ihn wusste, konnte er mich nicht mehr gehen lassen. Ich fragte ihn nach seinen Träumen, weil Träume etwas Persönliches und zugleich Abstraktes sind. Sie erscheinen uns wichtig, aber ihre Bedeutung ist oft vage, schwer greifbar. Nun aber, als ich meine geprobten Sätzchen laut aussprach, klangen sie bloß töricht.

»Doch, manchmal«, antwortete er neben mir. »Trink dein Wasser aus, dann kannst du auf den Kübel.«

»Haben Sie letzte Nacht geträumt?« fragte ich beharrlich weiter, obwohl ich wusste, dass es zu nichts führen würde.

Er war nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Wenn ich den Arm ausstreckte, könnte ich ihn berühren. Ich widerstand dem plötzlichen Drang, ihn zu packen und aufheulend um Gnade zu bitten.

»Wenn man nicht schläft, kann man auch nicht träumen.«

»Sie haben nicht geschlafen?«

»Trink.«

Ich nahm wieder nur ein paar kleine Schlucke, um das Trinken so lange wie möglich hinauszuzögern. Mein Hals schmerzte. Es war Nacht gewesen, doch er hatte nicht geschlafen. Was hatte er getan?

»Leiden Sie unter Schlaflosigkeit?« Ich bemühte mich um einen mitfühlenden Ton, aber meine Stimme klang schrecklich gekünstelt.

»So ein Blödsinn«, antwortete er. »Man arbeitet, und dann schläft man, wenn einem danach ist. Egal, ob Tag oder Nacht. Das ist alles.«

Durch die Kapuze drang ein schwaches, körniges Licht.

Wenn ich den Kopf anhob und nach unten blickte, konnte ich vielleicht etwas sehen, seine ausgestreckten Beine neben mir, seine Hand auf der Kante des Mauervorsprungs. Ich durfte nicht schauen. Ich durfte nichts sehen, nichts wissen. Ich musste im Dunkeln bleiben.

Ich begann mit gymnastischen Übungen. Zog die Knie hoch und ließ sie wieder sinken. Fünfzigmal. Dann streckte ich die Beine aus und versuchte, mich aus dem Liegen aufzusetzen. Es gelang mir nicht. Kein einziges Mal.

Gefangene in Einzelhaft wurden oft verrückt, das hatte ich mal gelesen. Bestimmt hatte ich mir damals vorzustellen versucht, wie es sich anfühlen mochte, ganz allein eingesperrt zu sein. Manchmal sagten solche Menschen dann Gedichte auf, aber ich kannte keine Gedichte, zumindest fiel mir keines ein. Ich kannte ein paar Kinderreime. Mary hatte ein kleines Lamm. Hickory, dickory, dock. Der fröhliche, drängende Rhythmus erschien mir obszön und wahnsinnig, ein beharrliches Pochen im Inneren meines schmerzenden Kopfes. Ich könnte selbst einen Vers dichten. Was reimte sich auf dunkel? Gemunkel? Furunkel? Ich konnte nicht dichten, hatte es noch nie gekonnt.

Ich versuchte noch einmal, mein Gedächtnis zu durchforsten – nicht mein Langzeitgedächtnis, die Erinnerungen an meine Jugend, meine Freunde und meine Familie, an die Dinge, die mich zu dem Menschen machten, der ich war, das Verstreichen der Jahre, die sich wie die Ringe eines Baumstamms aneinanderreihten –

nein, daran wollte ich nicht denken. Ich musste mich auf mein Kurzzeitgedächtnis konzentrieren, die Erinnerungen, die mir sagen würden, wie ich in den Raum gekommen war, in dem ich mich jetzt befand. Aber da war nichts.

Eine dicke Wand trennte mein Hier und Jetzt von meiner Zeit davor. Ich begann in Gedanken das Einmaleins aufzusagen. Eine Weile ging es gut, dann verhedderte ich mich. Alles geriet durcheinander. Ich fing erneut zu weinen an. Lautlos.

Ich schob mich vorwärts, bis ich unter meinen Füßen die Kante spürte. Ich kämpfte mich in eine sitzende Position.

So hoch konnte das doch nicht sein. Er hatte unter mir gestanden und mich hinuntergehoben. Eins zwanzig, vielleicht eins fünfzig, mehr bestimmt nicht. Ich versuchte, meine gefesselten Füße zu bewegen, holte tief Luft und bewegte mich noch ein paar Zentimeter vor, so dass ich auf dem Rand saß. Ich würde bis fünf zählen, dann würde ich springen. Eins, zwei, drei, vier …

Ich hörte ein Geräusch. Am anderen Ende des Raums.

Pfeifendes Lachen. Er sah zu. Wie eine Kröte kauerte er in einer Ecke und beobachtete, wie ich jämmerlich auf der Plattform herumzappelte. In meiner Brust stieg ein Schluchzen hoch.

»Nur zu! Spring!«

Ich wich ein Stück zurück.

»Du wirst schon sehen, was passiert, wenn du fällst!«

Noch ein Stück weiter zurück. Meine Beine befanden sich jetzt wieder auf dem Mauervorsprung. Ich schob mich bis zur Wand zurück, wo ich zusammensank und liegen blieb. Unter der Kapuze liefen mir die Tränen über die Wangen.

»Manchmal macht es mir Spaß, dich zu beobachten«, erklärte er. »Das merkst du gar nicht, stimmt’s? Du weißt nicht, wann ich hier bin und wann nicht. Ich kann ziemlich leise sein.«

In der Dunkelheit lauerten also Augen, die mich beobachteten.

»Wie spät ist es?«

»Trink dein Wasser.«

»Bitte. Ist noch Vormittag oder schon Nachmittag?«

»Das spielt keine Rolle mehr.«

»Kann ich …?«

»Was?«

Was? Ich wusste es nicht. Worum sollte ich bitten? »Ich bin nur ein ganz normaler Mensch«, sagte ich. »Nicht gut, aber auch nicht schlecht.«

»Jeder erreicht irgendwann den Punkt, an dem er nicht mehr kann«, antwortete er. »Das ist das Entscheidende.«

Kein Mensch weiß vorher, was er in einer solchen Situation tun würde. Kein Mensch kann das wissen. Ich dachte an den See, den Fluß und den gelben Schmetterling auf dem grünen Blatt. Danach stellte ich mir einen Baum vor, einen Baum mit einem silbrig glänzenden Stamm und hellgrünen Blättern. Eine Weißbirke. Ich platzierte sie auf einem sanft geschwungenen grünen Hügel und ließ einen leichten Wind durch sie hindurchfahren, raschelnd ihre Blätter umdrehen, dass sie glitzerten und leuchteten, als würden zwischen den Ästen Lichter aufblinken. Dann ließ ich eine kleine weiße Wolke genau über dem Baum Halt machen. Hatte ich so einen Baum schon einmal gesehen?

Ich konnte mich nicht erinnern.

»Mir ist sehr kalt. Könnte ich eine Decke haben?

Irgendetwas zum Zudecken.«

»Bitte.«

»Was?«

»Du musst bitte sagen.«

»Bitte. Bitte geben Sie mir eine Decke.«

»Nein.«

Plötzlich war ich wieder von einer rasenden Wut erfüllt.

Mein Zorn war so groß, dass ich das Gefühl hatte, daran zu ersticken. Ich schluckte schwer, musste unter meiner Kapuze blinzeln. Ich stellte mir vor, wie er mich betrachtete, während ich reglos dasaß, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, den Hals in einer Schlinge, den Kopf mit einer Kapuze bedeckt. In der Zeitung sah man manchmal Fotos von Leuten, die auf einen Platz geführt wurden, um dort von einer bereitstehenden Reihe bewaffneter Männern erschossen zu werden. So kam ich mir auch vor. Wenigstens konnte er meinen Gesichtsausdruck unter der Kapuze nicht sehen. Er wusste nicht, was ich gerade dachte. Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst ausdruckslos klingen zu lassen.

»Dann eben nicht«, sagte ich.

Würde er mir wehtun, wenn der Zeitpunkt gekommen war? Oder würde er mich einfach langsam zugrunde gehen lassen? Ich war nicht besonders tapfer im Ertragen von Schmerzen. Bei einer Folterung würde ich sofort zusammenbrechen und jedes Geheimnis preisgeben, da war ich sicher. Doch meine Situation war noch viel schlimmer. Sollte er mich tatsächlich foltern, konnte ich nichts tun, um ihn zum Aufhören zu bewegen, weil ich keine Informationen preiszugeben hatte. Vielleicht würde er ja Sex von mir wollen. In der Dunkelheit auf mir liegen und mich dazu zwingen. Mir die Kapuze vom Kopf zerren, mein nacktes Gesicht betrachten, den Knebel aus meinem Mund ziehen und seine Zunge hineinschieben.

Seinen … Ich schüttelte heftig den Kopf. Der Schmerz in meinem Schädel war fast eine Erleichterung.

Ich hatte mal gelesen oder gehört, dass eine Gruppe von Soldaten, die sich einer besonderen Elitetruppe anschließen wollten, den Befehl bekamen, eine weite Strecke mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken zu laufen. Sie rannten und rannten, und als sie schließlich ihr Ziel erreichten, dem Zusammenbruch nahe, gab man ihnen den Befehl, die ganze Strecke wieder zurückzulaufen.

Man glaubt, man kann nicht mehr, aber man kann.

In jedem Menschen steckt mehr, als man denkt.

Verborgene Tiefen. Zumindest redete ich mir das ein. Wo lag wohl meine eigene Belastungsgrenze?

Ich wachte auf, weil mir jemand eine Ohrfeige verpasste.

Ich wollte nicht aufwachen. Wozu auch? Wofür lohnte es sich noch aufzuwachen? Ich wollte mich bloß zusammenrollen und schlafen. Weitere Ohrfeigen. Die Kapuze wurde hochgeschoben, der Knebel aus meinem Mund gezogen.

»Bist du wach?«

»Ja. Hören Sie auf.«

»Ich habe Essen für dich. Mach den Mund auf.«

»Was für Essen?«

»Was zum Teufel spielt das für eine Rolle?«

»Erst trinken. Mein Mund ist so trocken.«

Gemurmel in der Dunkelheit. Sich entfernende Schritte.

Das war gut. Ein winziger Sieg. Ein klitzekleines Stück Kontrolle. Ich hörte ihn wieder zu mir heraufkommen. Der Strohhalm schob sich in meinen Mund. Ich war furchtbar durstig, hatte aber auch das starke Bedürfnis, die Fasern und Flusen des schrecklichen alten Lumpens wegzuspülen, der mich so lange am Atmen gehindert hatte.

»Mund auf!«

Ein Metalllöffel wurde mir in den Mund geschoben. Er war mit irgendetwas Weichem beladen. Plötzlich erschien mir die Vorstellung, etwas zu essen, das ich nicht sehen konnte und das mir von diesem Mann in den Mund geschoben wurde, der mich irgendwann umbringen würde, derart ekelhaft, dass ich das Gefühl hatte, gleich auf rohem Menschenfleisch herumkauen zu müssen. Ich begann zu würgen und zu spucken.

»Verdammt noch mal!«, fluchte er. »Entweder du frisst jetzt dieses Zeug, oder ich streiche dir für einen Tag das Wasser!«

Einen Tag. Das war gut. Wenigstens hatte er nicht vor, mich schon heute umzubringen.

»Moment, gleich!«, sagte ich und holte ein paarmal tief Luft.

»Jetzt geht es.«

Der Löffel kratzte in einer Schüssel, ich spürte ihn wieder in meinem Mund. Ich leckte ihn ab und schluckte.

Es war etwas Haferbreiartiges, bloß fader, weicher und leicht süßlich. Es schmeckte wie einer dieser laschen Babybreis, die man aus Pulver anrührt. Vielleicht war es aber auch eine der Spezialzubereitungen, wie man sie in der Apotheke kaufen kann, gedacht für Leute, die sich gerade von einer schweren Krankheit erholen. Ich schluckte. Eine weitere Portion Brei wurde mir in den Mund geschoben. Insgesamt vier Löffel voll. Er wollte mich offenbar nicht mästen, bloß am Leben erhalten. Als ich fertig war, bekam ich noch ein wenig Wasser.

»Pudding?« fragte ich.

»Nein.«

Mir kam ein Gedanke. Ein wichtiger Gedanke.

»Wann sind wir uns begegnet?«

»Wie meinst du das?«

»Seit ich hier aufgewacht bin, habe ich ganz schreckliche Kopfschmerzen. Waren Sie das? Haben Sie mir auf den Kopf geschlagen?«

»Worauf willst du hinaus? Willst du mich verarschen?

Versuch das bloß nicht! Denk dran, was ich dir antun könnte.«

»Ich will Sie nicht verarschen. Das ist überhaupt nicht meine Absicht. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann

… nicht einmal da bin ich sicher. Es ist alles so verschwommen. Ich weiß noch, dass ich im Büro war, und ich erinnere mich an …«

Ich wollte sagen »meinen Freund«, da schoss mir durch den Kopf, dass das vielleicht keine so gute Idee war, weil er vermutlich eifersüchtig werden würde. »Ich erinnere mich an meine Wohnung. Dass ich irgendetwas in meiner Wohnung gemacht habe. Dann bin ich hier aufgewacht und weiß weder, wie ich hergekommen bin, noch, wie wir uns kennengelernt haben. Ich wollte Sie lediglich bitten, mir davon zu erzählen.«

Eine ganze Weile herrschte Stille. Ich fragte mich schon, ob er gegangen war, da hörte ich plötzlich ein pfeifendes Geräusch, das ich geschockt als Lachen identifizierte.

»Was?« fragte ich. »Was ist daran so lustig?«

Sprich weiter, Abbie. Halte die Kommunikation aufrecht. Und denk nach. Die ganze Zeit dachte ich krampfhaft nach. Ich musste daran denken, am Leben zu bleiben, daran denken, nichts zu fühlen, denn irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich instinktiv, wie fatal es für mich wäre, wenn ich mir gestattete, etwas zu fühlen – als würde ich mich von einer Klippe in die Dunkelheit stürzen.

»Ich geh dir nicht auf den Leim«, sagte er.

»Auf den Leim?«

»Du trägst eine Kapuze. Du kannst mein Gesicht nicht sehen. Deswegen versuchst du, clever zu sein. Du glaubst, wenn du es schaffst, mir einzureden, du hättest mich nie gesehen, lasse ich dich vielleicht gehen.« Wieder dieses pfeifende Lachen. »Darüber denkst du nach, während du hier liegst, nicht wahr? Denkst du wirklich daran, in die Welt zurückzukehren?«

Schlagartig fühlte ich mich so elend, dass ich beinahe losgeheult hätte. Aber seine Worte verrieten mir auch, dass wir uns tatsächlich schon über den Weg gelaufen waren. Er hatte mich nicht einfach in einer dunklen Gasse hinterrücks gepackt und mir eines über den Schädel gezogen. Kannte ich diesen Mann? Würde mir sein Gesicht vertraut vorkommen, wenn ich es sehen könnte?

Würde ich seine Stimme wiederkennen, wenn er normal mit mir spräche?

»Wenn Sie mir sowieso nicht glauben, dann spielt es doch keine Rolle, wenn Sie mir davon erzählen, oder?«

Der Lumpen wurde mir wieder in den Mund gerammt.

Ich wurde hinuntergehoben und zum Eimer geführt.

Zurückgetragen. Wieder auf dem Mauervorsprung abgesetzt. Diesmal ohne Drahtschlinge. Ich schloss daraus, dass er nicht vorhatte, das Gebäude zu verlassen.

Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht, nahm deutlich seinen Geruch wahr.

»Du liegst hier und versuchst dir auf alles einen Reim zu machen. Das gefällt mir. Du glaubst, wenn du mich davon überzeugen kannst, dass du nicht in der Lage bist, mich zu identifizieren, dann werde ich bloß eine Weile mit dir spielen und dich dann laufen lassen. Aber du verstehst nicht. Du begreifst nicht, worum es mir geht. Trotzdem gefällt mir das.«

Ich lauschte seinem kratzigen Flüstern, horchte in mich hinein, ob mir die Stimme irgendwie bekannt vorkam.

»Jede ist anders. Kelly beispielsweise. Nehmen wir Kelly.« Er rollte den Namen in seinem Mund herum, als wäre es ein Karamellbonbon. »Sie hat nur geheult, die ganze Zeit geflennt. Es war von mir gar nicht geplant, sie flennte bloß dauernd. Da war es eine gottverdammte Erleichterung, ihr einfach das Maul zu stopfen.«

Nicht weinen, Abbie. Du darfst ihm nicht auf die Nerven gehen. Du darfst ihn nicht langweilen.

Der Gedanke kam aus der Dunkelheit. Er hat mich bis jetzt am Leben erhalten. Das hieß aber nicht, dass er meinem Leben nicht trotzdem schon ein Ende gesetzt hatte. Ich befand mich nun seit zwei, drei oder vier Tagen in diesem Raum. Man kann wochenlang ohne Nahrung leben, aber wie lange kommt ein Mensch ohne Wasser aus? Wenn ich einfach nur in diesen Raum gesperrt worden wäre, ohne dass sich jemand um mich gekümmert hätte, dann wäre ich jetzt bereits tot oder läge im Sterben.

Das Wasser, das ich getrunken hatte, war sein Wasser. Das Essen in meinem Bauch war sein Essen. Ich war wie ein Tier auf seinem Bauernhof. Ich gehörte ihm und wusste nichts über ihn. Außerhalb dieses Raums, draußen in der Welt, galt dieser Mann wahrscheinlich als häßlich, abstoßend, als Versager. Vielleicht war er zu schüchtern, um mit Frauen zu reden, vielleicht schikanierten ihn seine Kollegen.

Hier aber war ich sein Eigentum. Er war mein Gebieter, mein Vater und mein Gott. Wenn ihm danach zumute war hereinzukommen und mich lautlos zu erdrosseln, konnte er das tun. Ich musste jede wache Minute darauf verwenden, über die Frage nachzudenken, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Wie ich ihn dazu bringen konnte, mich zu lieben oder zumindest zu mögen oder aber Angst vor mir zu haben. Falls es ihm darum ging, den Willen einer Frau zu brechen, bevor er sie tötete, dann musste ich stark bleiben. Falls er Frauen wegen ihrer Feindseligkeit ihm gegenüber hasste, dann musste ich nett zu ihm sein. Falls er gern Frauen quälte, die ihn zurückwiesen, dann musste ich … was? Ihn annehmen?

Welcher Weg war der richtige? Ich wusste es nicht.

Auf jeden Fall und vor allen Dingen musste ich aufhören, mir einzubilden, dass es wahrscheinlich keine Rolle spielte, was ich tat.

Ich zählte nicht, wie viele Minuten ich die Drahtschlinge nicht trug. Es erschien mir nicht wichtig. Nach einer Weile kam er wieder herein. Ich spürte seine Gegenwart. Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich erschrocken zusammenfahren. War er gekommen, um nachzusehen, ob ich noch lebte?

Ich hatte zwei Möglichkeiten. Ich konnte der Situation mithilfe meiner Phantasie entfliehen. Der gelbe Schmetterling. Kühles Wasser. Wasser zum Trinken und zum Untertauchen. Ich versuchte, in Gedanken meine alte Welt wieder auferstehen zu lassen. Meine Wohnung. Ich ging durch die Räume, betrachtete die Bilder an der Wand, berührte den Teppich, benannte die Gegenstände in den Regalfächern. Ich ging durch das Haus meiner Eltern. Es gab seltsame Leerstellen. Den Gartenschuppen meines Vaters, die Schubladen von Terrys Schreibtisch.

Trotzdem. Es gab so viel in meinem Kopf. So viele Dinge.

Dort drinnen und dort draußen. Aber manchmal, wenn ich durch diese imaginären Räume wanderte, verschwand plötzlich der Boden unter meinen Füßen, und ich fiel.

Diese Gedankenspielchen würden mich vielleicht davor bewahren, wahnsinnig zu werden, doch es ging nicht nur darum, dem Wahnsinn zu entgehen. Ich musste vor allem am Leben bleiben. Ich musste Pläne schmieden und versuchen, meinen Wunsch, ihn zu töten, in die Tat umzusetzen. Ich wollte ihn verletzen, ihm die Augen auskratzen, ihn zu Brei stampfen. Alles, was ich brauchte, war eine Gelegenheit, aber ich sah keine Möglichkeit, wie sich eine solche ergeben sollte.

Ich versuchte mir vorzustellen, dass er doch noch niemanden umgebracht hatte. Vielleicht log er, um mir Angst zu machen. Es gelang mir nicht besonders gut, mir das einzureden. Ich hatte es nicht mit einem harmlosen, obszönen Anrufer zu tun. Ich war hier, in diesem Raum.

Er hatte es nicht nötig, Geschichten zu erfinden. Obwohl ich nichts über diesen Mann wusste, war mir instinktiv klar, dass er das hier nicht zum ersten Mal machte. Er hatte Übung. Er hatte alles unter Kontrolle. Meine Chancen standen schlecht. Egal, welchen Plan ich mir aus den Fingern saugte, es bestand keine große Aussicht auf Erfolg. Aber mir fiel sowieso nichts ein, was auch nur ansatzweise Erfolg versprochen hätte. Mein einziger Plan bestand darin, alles so lange hinauszuzögern, wie ich konnte. Dabei wusste ich nicht einmal, ob wirklich ich diejenige war, die da etwas hinauszögerte. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass das alles zu seinem Zeitplan gehörte. Mein ganzes Gerede, all meine schwachen Pläne und Strategien waren bloß ein Surren in seinen Ohren, als würde eine Stechmücke seinen Kopf umschwirren. Wenn es an der Zeit war, würde er die Mücke einfach erschlagen.

»Warum tun Sie das?«

»Was?«

»Warum ich? Was habe ich Ihnen getan?«

Ein pfeifendes Lachen. Ein Lumpen in meinem Mund.

Wieder machte ich gymnastische Übungen, zog die Knie an den Körper. Mehr als sechzehnmal schaffte ich nicht.

Meine Kondition hatte deutlich nachgelassen.

Warum ich? Ich wollte mir diese Frage eigentlich nicht mehr stellen, aber ich konnte nicht anders. Ich hatte schon öfter Fotos von ermordeten Frauen gesehen, in der Zeitung oder im Fernsehen. Aber keine Fotos von ihren Leichen.

Zumindest konnte ich mich nicht erinnern. Nein. Auf den Fotos, die ich gesehen hatte, hatten sie noch nicht gewusst, dass sie mal in die Nachrichten kommen würden. Ich nehme an, die Familien wählen für die Leute vom Fernsehen immer die hübschesten und fröhlichsten Fotos aus. Meist handelt es sich dabei wohl um Aufnahmen aus Highschool-Jahrbüchern, die zu stark vergrößert werden und dadurch leicht verschwommen und gruselig wirken.

Die Frauen auf diesen Fotos wissen noch nicht, was ihnen zustoßen wird, aber wir wissen es.

Ich konnte nicht glauben, dass ich eine von ihnen sein würde. Terry würde meine Sachen durchsehen und ein Foto finden. Wahrscheinlich das unvorteilhafte, das ich letztes Jahr für meinen Pass hatte machen lassen, auf dem ich aussehe, als hätte ich etwas im Auge und gleichzeitig einen scheußlichen Geruch in der Nase. Er würde es der Polizei geben, und sie würden es vergrößern, bis es ganz verschwommen wirkte, und ich würde wegen meiner Ermordung berühmt werden. Das war unfair.

In Gedanken zählte ich die Frauen aus meinem Bekanntenkreis durch, die in letzter Zeit Schlimmes erlebt hatten. Da war beispielsweise Sadie, deren Freund sie hochschwanger einen Monat vor Weihnachten sitzen gelassen hatte. Oder Marie, die immer wieder zur Chemotherapie ins Krankenhaus musste und nur noch mit Turban herumlief. Pauline und Liz hatten ihren Job in der Firma verloren, als Laurence letztes Jahr alle überflüssigen Arbeitsplätze wegrationalisiert hatte. Er hatte es ihnen am Freitagabend gesagt, als alle anderen bereits gegangen waren, und als wir am Montagmorgen zur Arbeit kamen, waren sie schon weg. Obwohl seitdem ein halbes Jahr vergangen war, überfielen Liz deswegen immer noch Weinkrämpfe. Trotzdem hatten sie alle mehr Glück als ich. Im Laufe der nächsten Tage würde ihnen das klar werden. Sie würden von meiner Ermordung hören und selbst zu Miniberühmtheiten werden. Aufgeregt würden sie zu Bekannten und Arbeitskollegen sagen: »Du hast doch bestimmt in der Zeitung von dieser Frau gelesen, Abbie Devereaux? Ich habe sie gekannt. Ich kann es noch gar nicht fassen!« Und sie würden alle völlig geschockt sein und sich insgeheim damit trösten, dass sie selbst zwar auch ihre Probleme hatten, aber wenigstens nicht ganz so viel Pech wie Abbie Devereaux. Gott sei Dank hatte es Abbie getroffen und nicht sie selbst.

Aber Abbie Devereaux bin ich, und das alles ist einfach nicht fair.

Er kam herein und legte mir die Schlinge um den Hals. Ich würde erneut die Sekunden zählen. Ich hatte darüber nachgedacht, wie ich es am besten anstellte, mich nicht wieder zu verheddern, und mir einen Plan zurechtgelegt.

Sechzig Sekunden pro Minute, sechzig Minuten pro Stunde. Das ergibt 3600 Sekunden. Ich würde mir vorstellen, dass ich in einer Stadt, deren Name mit A beginnt, einen Hügel hinaufstieg, einen Hügel mit dreitausendsechshundert Häusern. Ich würde im Vorbeigehen die Häuser zählen. Leider fiel mir keine Stadt ein, die mit A beginnt. Doch, Aberdeen. Ich ging in Aberdeen den Hügel hinauf. Eins, zwei, drei, vier … Als ich oben angelangt war, begann ich in Bristol von neuem.

Dann war Cardiff an der Reihe, dann Dublin, Eastbourne, Folkestone, und als ich in Gillingham die erste Hälfte des Hügels hinter mich gebracht hatte, kam er zurück und nahm mir die Schlinge ab. Sechseinhalb Stunden.

Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Zweimal morgen, stimmte das? Was gab es noch für Sprichwörter?

Denk nach, Abbie, denk nach. Zu viele Köche verderben den Brei und gleich und gleich gesellt sich gern und Gegensätze ziehen sich an und eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Abendrot Schönwetterbot. Morgenstund hat Gold im Mund. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Marmorstein und Eisen bricht … Nein, das war etwas anderes. Ein Lied. Ein Liedtext, kein Sprichwort. Wie ging die Melodie? Ich versuchte mich zu erinnern, die Musik in meinen Kopf zu holen und in dieser stillen, bedrückenden Dunkelheit ihren Klang zu hören, aber es gelang mir nicht.

Mit Bildern ging es leichter. Ein gelber Schmetterling auf einem grünen Blatt. Flieg nicht weg. Ein Fluss mit Fischen darin. Ein See mit klarem, sauberem Wasser. Ein sanft geschwungener Hügel, und auf seiner Kuppe ein silbriger Baum, dessen Blätter sich im Wind hoben. Was noch? Nichts mehr. Nichts. Es war zu kalt.

»Hallo. Ich habe gehofft, dass Sie bald kommen.«

»Du hast dein Wasser noch nicht ausgetrunken.«

»Das hat doch keine Eile, oder? Es gibt so vieles, was ich Sie fragen wollte.«

Er stieß einen leisen, kehligen Laut aus. Ich zitterte, aber vielleicht lag das bloß daran, dass ich so fror. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals wieder warm zu fühlen oder sauber. Oder frei.

»Schließlich sind wir beide hier ganz allein, zwei erwachsene Menschen. Wir sollten uns besser kennen lernen. Miteinander reden.« Er gab mir keine Antwort, womöglich hörte er mir gar nicht zu. Ich holte Luft und sprach weiter: »Immerhin müssen Sie mich aus einem bestimmen Grund ausgesucht haben. Sie kommen mir vor wie ein Mensch, der nichts grundlos tut, habe ich Recht?

Sie gehen immer logisch vor, glaube ich. Das gefällt mir.

Logisch.« Ein seltsames Wort. Das alles klang so falsch.

»Sprich weiter«, sagte er.

Sprich weiter. Ein gutes Zeichen. Was sollte ich als Nächstes sagen? Über meiner Oberlippe spürte ich eine wunde Stelle. Ich leckte mit der Zungenspitze darüber. Sie fühlte sich wie ein Bläschenausschlag an. Vielleicht überzog sich mein ganzer Körper langsam mit Blasen und offenen Stellen. »Ja. Logisch. Zielsicher.« Nein. Definitiv das falsche Wort. Versuch es noch mal, Abbie.

»Zielgerichtet. Sie sind ein starker Mensch, habe ich Recht?« Er gab mir keine Antwort, aber ich hörte seinen heiseren Atem. »Ja, ich glaube, ich habe Recht. Männer sollten stark sein, obwohl viele von ihnen schwach sind.

Viele«, wiederholte ich. »Aber ich glaube, Sie sind auch einsam. Die Menschen erkennen Ihre Hoffnungen nicht.

Nein, Ihre Stärken, wollte ich sagen, Stärken, nicht Hoffnungen. Sind Sie einsam?« Es klang so, als würde ich Steine in einen tiefen Brunnen werfen. Ich sprach diese albernen Worte, und sie verschwanden in der Dunkelheit.

»Oder sind Sie gern allein?«

»Vielleicht.«

»Wir brauchen doch alle jemanden, der uns liebt«, fuhr ich fort. »Niemand kann ganz allein sein.« Ich würde alles tun, um zu überleben, dachte ich. Ich würde mich von ihm festhalten und vögeln lassen und dabei auch noch so tun, als würde es mir gefallen. Alles, nur um zu überleben.

»Bestimmt gibt es einen Grund, warum Sie ausgerechnet mich ausgesucht haben und nicht irgendeine andere.«

»Willst du meine ehrliche Meinung hören? Hm? Soll ich dir sagen, was ich glaube?« Er legte eine Hand auf meinen Oberschenkel, ließ seine Finger auf und ab gleiten.

»Ja. Sagen Sie es mir.« Lieber Gott, bitte mach, dass ich mich nicht übergeben oder laut schreien muss.

»Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie du im Moment aussiehst.« Er stieß wieder sein pfeifendes Lachen aus.

»Du glaubst, du kannst mit mir flirten, hm? Mich becircen wie irgendeinen Vollidioten. Aber du hast keine Vorstellung, wie du aussiehst, Herzchen. Du siehst überhaupt nicht wie ein Mensch aus. Du hast nicht mal ein Gesicht. Du siehst aus wie ein – ein – ein Ding. Oder ein Tier. Außerdem stinkst du. Du stinkst nach Pisse und Scheiße.« Wieder lachte er. Dabei verstärkte er den Druck seiner Finger auf meinem Oberschenkel, bis er mich so fest kniff, dass ich vor Schmerz und Demütigung aufschrie.

»Abbie, die sich solche Mühe gab«, flüsterte er. »Kelly, die weinte, bis sie starb, und Abbie, die sich Mühe gab.

Das reimt sich fast. Ich kann ein Gedicht aus euch machen. Abbie, die sich Mühe gab, bis sie am Ende trotzdem starb. Für mich macht es letztendlich keinen Unterschied.«

Abbie, die sich Mühe gab, bis sie am Ende trotzdem starb.

Reime in der Dunkelheit. Die Zeit lief mir davon, das wusste ich. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Sanduhr, den gleichmäßigen Strom des abwärts rieselnden Sandes. Erst, wenn der Sand zur Neige ging, schien er schneller zu fallen.

Er hob mich wieder von meinem Mauervorsprung.

Meine Zehen kribbelten, als würde jemand mit Stecknadeln hineinstechen, und meine Beine fühlten sich an, als gehörten sie nicht mehr zu mir. Sie waren steif wie Stöcke, nein, nicht wie Stöcke, eher wie Zweige, die jeden Augenblick zu brechen drohten. Ich taumelte so unsicher, dass er mich am Arm festhalten und stützen musste. Seine Finger gruben sich in meine Haut. Vielleicht hinterließen sie blaue Flecken, vier oben und einen unten. Ich spürte, dass im Raum Licht brannte, denn unter meiner Kapuze war es dunkelgrau, nicht schwarz. Er zerrte mich noch ein Stück weiter, dann sagte er: »Hinsetzen. Zeit für den Kübel.«

Er machte sich nicht die Mühe, die Fessel um meine Handgelenke zu lösen. Statt dessen übernahm er es selbst, mir die Hose hinunterzuziehen. Seine Hände glitten über meine Haut. Es war mir egal. Ich ließ mich auf dem Kübel nieder, legte die Finger hinter meinem Rücken an das kalte Metall und versuchte, ruhig zu atmen. Als ich fertig war, stand ich auf, und er zog mir die Hose wieder hoch. Sie war mir inzwischen viel zu weit. Einer spontanen Eingebung folgend, trat ich mit dem Fuß so heftig gegen den Eimer, dass er gegen seine Beine prallte und scheppernd umkippte. Ich hörte ein wütendes Grunzen und warf mich blind in Richtung des Geräuschs, wobei ich so laut schrie, wie es der Knebel in meinem Mund zuließ. Es klang nicht wie ein Schrei, eher wie ein schwaches Krächzen. Mit aller Kraft warf ich mich gegen ihn, aber es war, als würde ich gegen eine Wand laufen. Während er einen Arm hochriss um mich zu stoppen, rammte ich meinen Kopf gegen sein Kinn. Hinter meinen Augen explodierte ein roter Schmerz.

»Oh«, sagte er. Dann verpasste er mir einen Magenschwinger. Schlug ein zweites Mal zu. Hielt mich an der Schulter fest und rammte mir seine Faust in den Magen. »O Abbie!«

Ich saß wieder auf dem Mauervorsprung. Wo spürte ich eigentlich Schmerzen? Überall. Ich konnte die verschiedenen Teile meines Körpers nicht mehr auseinanderhalten, konnte nicht sagen, wo der Schmerz in meinem Kopf aufhörte und der Schmerz in meinem Hals begann, wo die Starre meiner Beine in die Kälte meines restlichen Körpers überging, wo der Eitergeschmack in meinem entzündeten Mund zur Übelkeit in meinem Magen wurde oder wo sich das Dröhnen in meinen Ohren in die Stille des Raums verwandelte. Ich versuchte, meine Zehen zu bewegen, doch es gelang mir nicht. Mühsam flocht ich meine Finger ineinander. Welche gehörten zur rechten Hand, welche zur linken?

Ich versuchte es wieder mit dem Einmaleins, kam aber nicht weit. Wie war das möglich? Sogar kleine Kinder können das Einmaleins, singen es in der Schule im Chor.

Ich konnte ihren Singsang in meinem Kopf hören, aber die Worte und Zahlen ergaben keinen Sinn.

Was wusste ich eigentlich noch? Ich wusste, dass ich Abbie hieß und fünfundzwanzig Jahre alt war. Ich wusste, dass draußen Winter war. Ich wusste auch noch andere Dinge. Gelb und Blau ergibt Grün – zum Beispiel, wenn das blaue Meer im Sommer über den gelben Sand wogt.

Sand besteht aus zermahlenen Muschelschalen. Aus geschmolzenem Sand entsteht Glas. Gläser für klares Wasser mit klirrenden Eiswürfeln. Aus Bäumen macht man Papier. Papier, Schere, Stein. Eine Oktave besteht aus acht Noten. Sechzig Sekunden ergeben eine Minute, sechzig Minuten eine Stunde, vierundzwanzig Stunden einen Tag, sieben Tage eine Woche, zweiundfünfzig Wochen ein Jahr. Die Monate mit dreißig Tagen heißen April, Juni, September und – weiter kam ich nicht.

Ich durfte nicht schlafen. Trotzdem schlief ich ein, versank in unruhige Träume. Irgendwann wachte ich plötzlich mit einem Ruck auf, weil ich ihn neben mir spürte. Diesmal hatte er kein Licht angeschaltet. Und kein Wasser dabei.

Zuerst hörte ich ihn nur atmen. Dann begann er zu sprechen. Gedämpftes Geflüster in der Dunkelheit.

»Kelly. Kath. Fran. Gail. Lauren.«

Ich saß reglos da.

»Kelly. Kath. Fran. Gail. Lauren.«

Es klang wie ein schleppender, monotoner Sprechgesang. Er wiederholte die fünf Namen immer wieder. Ich saß da und ließ den Kopf leicht nach vorn hängen, als würde ich noch schlafen. Mir liefen Tränen über die Wangen, was er nicht sehen konnte. Sie brannten auf meiner Haut. Ich stellte mir vor, dass sie wie Schnecken Spuren hinterließen. Silbrige Spuren.

Schließlich stand er auf und ging, ich weinte noch eine Weile lautlos in der Dunkelheit.

»Trink.«

Ich trank.

»Iss.«

Vier weitere Löffel von dem süßen Brei.

»Zeit für den Kübel.«

Mein Name ist Abbie. Abigail Devereaux. Bitte, jemand muss mir helfen! Bitte! Niemand wird mir helfen.

Gelber Schmetterling. Grünes Blatt. Bitte flieg nicht weg.

Fast zärtlich legte er mir den Draht um den Hals. Zum dritten Mal, oder war es schon das vierte Mal?

Ich spürte seine Finger an meinem Hals. Er vergewisserte sich, dass die Schlinge richtig saß.

Bestimmt kreisten seine Gedanken ununterbrochen um mich, so, wie ich ständig über ihn nachdenken musste.

Was empfand er für mich? Eine Art von Liebe? Oder war er wie ein Bauer mit einem Schwein, das vor der Schlachtung noch ein paar Tage im Stall gehalten und gefüttert werden musste? Ich stellte mir vor, wie er in ein, zwei Tagen hereinkommen und den Draht um meinen Hals zuziehen oder mir die Kehle durchschneiden würde, als wäre es eine lästige Pflicht.

Nachdem er gegangen war, begann ich wieder zu zählen.

Diesmal verwendete ich Ländernamen. Ich ging in Australien eine heiße, sonnenbeschienene Straße entlang und zählte die Häuser. Als ich in Belgien die Windungen einer mittelalterlichen Gasse hinaufstieg, regnete es. In China war es wieder heiß, in Dänemark unangenehm kalt.

In Ecuador stürmisch.

Als ich in Frankreich in einer langen, von Bäumen gesäumten Avenue gerade bei Nummer

zweitausenddreihunderteinundfünzig angelangt war, hörte ich draußen eine Tür zufallen, dann Schritte. Er war ungefähr fünf Stunden und vierzig Minuten weg gewesen.

Nicht so lang wie das Mal davor. Er machte sich meinetwegen Sorgen. Oder es war Zufall, wie lange er wegblieb. Was spielte das für eine Rolle?

Wieder bekam ich ein paar Löffel von dem Brei, weniger als beim letzten Mal. Ich wurde nicht gemästet. Er gab mir gerade so viel, dass ich zwar immer dünner wurde, aber am Leben blieb. Zeit für den Kübel. Dann zurück auf den Mauervorsprung.

»Du bist müde«, sagte er.

»Was?«

»Du redest nicht mehr so viel.«

Ich beschloss, noch einmal den Versuch zu unternehmen, geistreich und charmant und stark zu sein.

Es war, als müsste ich einen unglaublich schweren Sack einen steilen Berg hinaufzerren.

»Fehlt Ihnen mein Gerede?« Meine Stimme schien von weit her zu kommen.

»Du lässt nach.«

»Nein, ich lasse nicht nach. Ich bin nur ein bisschen schläfrig. Müde. Sie wissen ja sicher, wie das ist. Sehr müde. Ich höre Echos in meinem Kopf.« Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich sagte, aber die Worte schienen nicht mehr richtig zusammenzupassen.

»Können Sie damit leben?«, fragte ich, ohne so recht zu wissen, was ich damit eigentlich meinte.

»Du hast keine Ahnung, womit ich leben kann. Du weißt gar nichts über mich.«

»Ein bisschen weiß ich schon. Natürlich gibt es auch vieles, was ich nicht weiß. Immerhin weiß ich, dass Sie mich entführt haben. Ich wüsste gern, warum ausgerechnet mich. Das gehört zu den Dingen, die ich nicht weiß. Bald wird man Sie erwischen. Die Polizei wird kommen. Ich lausche ständig, ob ich ihre Schritte schon höre. Sie werden kommen und mich retten.«

Wieder stieß er neben mir sein pfeifendes Lachen aus.

Ich schauderte. Oh, mir war so kalt. Ich war völlig ausgekühlt, dreckig, alles tat mir weh, und ich hatte Angst.

»Das ist kein Witz«, fuhr ich fort, obwohl mich das Sprechen anstrengte. »Jemand wird kommen und mich retten. Irgendjemand. Terry. Ich habe einen Freund, müssen Sie wissen. Terence Wilmott. Er wird kommen.

Und ich habe einen Job. Ich arbeite bei Jay & Joiner. In einer verantwortungsvollen Position. Ich sage den Leuten, was sie zu tun haben. Sie werden mein Verschwinden nicht einfach ignorieren.« Es war ein Fehler, ihm solche Sachen zu erzählen. Ich versuchte meine Worte in eine andere Richtung zu lenken. Meine Zunge fühlte sich geschwollen an, mein Mund trocken. »Oder die Polizei.

Man wird mich finden. Sie sollten mich gehen lassen, bevor sie mich finden. Ich werde nichts sagen. Ich werde Sie nicht verraten, habe ja auch gar nichts zu erzählen. Es gibt nichts, was ich verraten könnte.«

»Du redest zu viel.«

»Dann reden Sie. Reden Sie mit mir.« Ich wusste nur eins: Ich durfte nicht zulassen, dass er mir wieder einen Lumpen in den Mund stopfte und mir die Drahtschlinge um den Hals legte. »Was denken Sie gerade?«

»Du würdest nicht verstehen, was ich denke, selbst wenn ich es dir sagen würde.«

»Versuchen Sie es. Reden Sie mit mir. Wir könnten uns unterhalten. Gemeinsam einen Ausweg finden. Einen Weg, mich gehen zu lassen.« Nein, solche Dinge sollte ich nicht sagen. Ich sollte meine Gedanken für mich behalten.

Mich konzentrieren.

Lange Zeit kam aus der Dunkelheit keine Antwort. Ich stellte ihn mir vor, wie er da saß, ein widerliches, pfeifendes Ding.

»Du möchtest, dass ich mit dir rede?«

»Ja. Können Sie mir Ihren Namen sagen? Nein, nein, nicht Ihren richtigen Namen. Einen anderen – damit ich Sie irgendwie ansprechen kann.«

»Ich weiß, was du da gerade versuchst. Weißt du es auch?«

»Ich möchte mit Ihnen reden.«

»Nein, das möchtest du nicht, Herzchen. Du versuchst bloß, clever zu sein. Ein cleveres Mädchen. Du versuchst es auf der Psychoschiene.«

»Nein, das stimmt nicht.«

»Du glaubst, du kannst dich mit mir anfreunden.« Er lachte in sich hinein. »Du bist gefesselt, und du weißt genau, dass du mir nicht entkommen kannst. Dir ist klar, dass du mir nichts anhaben kannst. Ich habe die Situation unter Kontrolle. Du bist nur deswegen noch am Leben, weil ich es so will. Natürlich fragst du dich, was du tun kannst. Du vermutest, dass ich ein trauriger, einsamer Mann bin, der sich vor Mädchen fürchtet. Und dass ich dich gehen lassen werde, wenn du es schaffst, dich mit mir anzufreunden. Aber du begreifst überhaupt nichts.«

»Ich möchte nur reden. Die ewige Stille tut mir nicht gut.«

»Weißt du, manche schniefen bloß vor sich hin. Sie sind wie halb totgefahrene Tiere, die hilflos auf der Straße herumzappeln und nur darauf warten, von ihrem Leid erlöst und zu Tode getrampelt zu werden. Andere wiederum haben versucht, mit mir zu handeln. Fran zum Beispiel. Sie hat gesagt, sie werde alles tun, was ich wolle, wenn ich sie dann gehen ließe. Als ob sie irgendwas besessen hätte, womit sie hätte handeln können. Oder wie siehst du das?«

Mir war übel. »Ich weiß nicht.«

»Gail hat ständig gebetet. Jedes Mal, wenn ich ihr den Knebel rausnahm, habe ich sie beten gehört. Das hat ihr auch nichts geholfen.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Wie meinst du das?«

»Woher wollen Sie wissen, dass es ihr nicht geholfen hat? Das können Sie doch gar nicht wissen.«

»Ich weiß es, das schwöre ich dir. Komisch, nicht wahr?

Ein paar haben geheult, ein paar haben versucht, die Verführerin zu spielen. Ein bisschen hast du das auch versucht. Ein paar haben gebetet. Lauren dagegen hat gekämpft und gekämpft, keine Sekunde locker gelassen.

Ihr musste ich ganz schnell den Rest geben. Am Ende läuft es auf dasselbe hinaus.«

Am liebsten hätte ich losgeheult. Ich sehnte mich danach, stundenlang vor mich hinzuschluchzen und dabei von jemandem im Arm gehalten und getröstet zu werden.

Gleichzeitig wusste ich, dass ich genau das auf keinen Fall tun durfte, denn dann wäre ich das zappelnde verwundete Tier, und er würde mich zu Tode trampeln.

»Ist das wirklich wahr?«, fragte ich.

»Was?«

»Was Sie von diesen Frauen erzählen.«

Wieder dieses hustenartige Lachen.

»In ein paar Tagen wirst du bei ihnen sein. Dann kannst du sie selber fragen.«

Er ging, aber die Situation schien sich verändert zu haben. Nach ein paar Minuten war er wieder da, als würde es ihn unwiderstehlich zu mir zurückziehen. Ihm war noch etwas eingefallen. Nachdem er mir den Knebel vorhin bereits in den Mund geschoben hatte, zog er ihn nun wieder heraus. Ich spürte seine Lippen ganz nah an meinem Ohr, roch feuchte Wolle und seinen süßlichen, nach Fleisch und Zwiebeln stinkenden Atem.

»Eines Tages«, sagte er, »wahrscheinlich schon sehr bald und ohne vorherige Ankündigung, werde ich hier hereinkommen und dir ein Stück Papier und einen Stift in die Hand drücken. Dann kannst du einen Brief schreiben, einen Abschiedsbrief.

Egal, an wen du schreibst, ich werde ihn abschicken. Du kannst schreiben, was du willst, es sei denn, es gefällt mir nicht. Ich will kein Gejammere. Es kann so eine Art Testament sein, wenn du das möchtest. Du kannst jemandem deinen Lieblingsteddy vermachen, was auch immer. Und dann, wenn du den Brief geschrieben hast, werde ich die Tat vollenden. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ja oder nein.«

»Ja.«

»Gut.«

Er schob den Knebel in meinen Mund zurück. Dann verschwand er.

Ich fragte mich, worum Gail wohl gebetet hatte. Liebte ich das Leben ebenso sehr wie diese anderen Frauen? Kelly, die um ihr verlorenes Leben weinte. Fran, sie sich ihm voller Verzweiflung anbot. Lauren, die kämpfte. Gail, die betete. Worum? Vielleicht nur um Frieden. Erlösung. Ich bezweifelte, dass ich eine so gute Christin war wie Gail.

Wenn ich betete, würde es nicht um Frieden gehen. Ich würde um eine Waffe und freie Hände beten. Oder um ein Messer. Einen Stein. Einen Nagel. Irgendetwas, womit ich großen Schaden anrichten könnte.

Ein letzter Brief. Keine letzte Mahlzeit, sondern ein letzter Brief. An wen würde ich ihn adressieren? Terry? Was würde ich schreiben? Wenn du eine Neue kennen lernst, dann behandle sie besser, als du mich behandelt hast?

Lieber nicht. Meine Eltern? Ich stellte mir vor, einen noblen Brief mit weisen Gedanken über das Leben zu schreiben, der dafür sorgen würde, dass sich alle besser fühlten. Doch ich war weder weise noch großmütig noch tapfer, ich wünschte mir nur, dass das alles endlich aufhörte. Ich würde nicht in der Lage sein, diesen letzten Brief zu schreiben. Ich konnte einen Schrei in der Dunkelheit nicht in Worte fassen.

An meinem ersten Tag in diesem Raum – das ist nun schon sehr lange her – quälte mich der Gedanke, dass vermutlich nur wenige hundert Meter von mir entfernt andere Menschen ihr ganz normales Leben führten.

Menschen, die geschäftig irgendwohin eilten, während sie in Gedanken schon beim abendlichen Fernsehprogramm waren, in ihren Taschen nach Kleingeld wühlten oder überlegten, welchen Schokoriegel sie sich kaufen sollten.

All das erschien mir nun so weit weg. Ich gehörte nicht mehr in diese Welt. Ich lebte in einer Höhle tief unter der Erde, in die nie Tageslicht drang.

Während der ersten Zeit in diesem Raum quälte mich der Alptraum, lebendig begraben zu sein. Ich konnte mir damals nichts Beängstigenderes vorstellen. Ich war eingesperrt in einer dunklen Kiste und drückte gegen den Deckel der Kiste, aber er ließ sich nicht öffnen, weil er mit einer dicken, schweren Erdschicht bedeckt war, auf der ein Steinblock lag. Das schien mir das Beängstigendste zu sein, was meine Phantasie sich ausmalen konnte.

Inzwischen machte mir der Gedanke keine große Angst mehr, denn ich befand mich bereits in diesem Grab. Mein Herz schlug, meine Lungen atmeten, aber das spielte kaum eine Rolle. Ich war tot. Ich lag in meinem Grab.

»Habe ich mich gewehrt?«

»Wovon redest du?«

»Ich weiß nichts mehr. Ich möchte, dass Sie mir erzählen, wie es war. Bin ich freiwillig mit Ihnen gegangen? Oder mussten Sie mich zwingen? Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ich kann mich an nichts erinnern.«

Das übliche Lachen.

»Versuchst du es immer noch auf diese Tour? Dafür ist es nun zu spät. Aber wenn du dieses Spiel unbedingt spielen willst, meinetwegen. Ja, du hast dich gewehrt. Ich musste dich ziemlich hart anfassen. Du hast dich heftiger gewehrt als alle anderen. Ich musste dir ein paar verpassen, dich ruhig stellen.«

»Gut.«

»Was?«

»Nichts.«

Knie hoch, Abbie. Du darfst nicht schlappmachen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Du musst zehn schaffen. Versuch es.

Streng dich an. Sechs, sieben, acht, neun. Einmal noch.

Zehn. Eine schreckliche Übelkeit stieg in mir hoch. Du darfst nicht aufgeben. Atme, ein und aus. Nicht aufgeben.

Also gut. Mein letzter Brief. Er ist an niemanden gerichtet. Nun ja, vielleicht an jemanden, der gar nicht existiert, den ich vielleicht in der Zukunft kennen gelernt hätte. Wie bei einem Tagebuch. Als Teenager führte ich eine Weile Tagebuch, aber meine Einträge hatten stets einen peinlichen Tenor, als stammten sie von einer Fremden, noch dazu einer, die ich nicht besonders mochte.

Ich wusste nicht, für oder an wen ich das alles schrieb.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, mein Brief. Wann habe ich das letzte Mal einen Brief geschrieben? Ich kann mich nicht erinnern. Ich schreibe viele E-Mails und ab und zu mal eine Postkarte, aber ein richtiger Brief, das war schon eine Ewigkeit her. Ich hatte eine Freundin namens Sheila, die nach dem Studium für ein Jahr als freiwillige Helferin nach Kenia ging und dort in einem kleinen Dorf in einer Blockhütte lebte. Ich schrieb ihr ab und zu, wusste aber nie mit Sicherheit, ob meine Briefe überhaupt ankamen. Nach ihrer Rückkehr stellte sich heraus, dass sie tatsächlich nur zwei erhalten hatte. Ein seltsames Gefühl, jemandem zu schreiben und nicht zu wissen, ob der Adressat das Geschriebene jemals lesen wird. Es ist so ähnlich, als würde man jemandem etwas erzählen – etwas, das einem wirklich am Herzen liegt –, sich umdrehen und feststellen, dass der andere den Raum verlassen hat.

Mein Mund fühlte sich widerlich an, voller Blasen. Mein Gaumen war weich und geschwollen. Wenn ich schluckte, war es, als würde ich Gift schlucken, den Geschmack des Lumpens und meiner eigenen Fäulnis, also versuchte ich, möglichst nicht zu schlucken, aber das war sehr schwer.

Ich saß in der Dunkelheit und schob die Hände ineinander. Meine Nägel waren länger geworden. Es heißt ja immer, dass die Nägel auch nach dem Tod noch weiterwachsen, aber ich habe gehört, dass das nicht stimmt. Stattdessen schrumpft bloß die Haut, irgendetwas in der Art. Wer hat mir davon erzählt? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich hatte vieles vergessen. Es war, als würden die Dinge von mir abfallen, eines nach dem anderen – Dinge, die mich an das Leben banden.

Der Brief. Wem sollte ich meine Habseligkeiten hinterlassen? Besaß ich überhaupt etwas, das ich vererben konnte? Ich hatte weder ein Haus noch eine Wohnung.

Mein Auto war schon ziemlich verrostet. Terry verzog immer das Gesicht, wenn er es sah, aber auf eine amüsierte Weise, als wollte er sagen: »Frauen!« Einige Klamotten, nicht allzu viele. Die konnte Sadie haben, allerdings war sie seit der Schwangerschaft dicker als ich.

Ein paar Bücher. Ein bisschen Schmuck, nichts Teures.

Nicht viel. Es würde bloß zwei Stunden dauern, das alles zu sortieren.

Ich fragte mich, wie das Wetter draußen wohl gerade war. Vielleicht schien die Sonne. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das Sonnenlicht auf Straßen und Häuser fiel, doch es gelang mir nicht. Diese Bilder waren aus meinem Kopf verschwunden – der Schmetterling, der See, der Fluss, der Baum. Ich versuchte sie wieder heraufzubeschwören, aber sie lösten sich sofort auf.

Vielleicht war es draußen neblig, so dass man nur Schemen erkennen konnte. Ich wusste, dass es noch nicht Nacht war. Abends legte er mir immer eine Schlinge um den Hals und ließ mich für fünf oder sechs Stunden allein.

Ich bildete mir ein, ein Geräusch zu hören. Was war das?

Kam er auf mich zugeschlichen? War es jetzt so weit?

Ich hielt den Atem an, mein Herz raste und das Blut in meinem Kopf toste so laut, dass ich einen Moment lang nur das Rauschen in meinem eigenen Körper hörte.

Konnte man vor Angst sterben? Nein, da war niemand. Ich war noch immer allein auf meinem Mauervorsprung. Es war noch nicht so weit. Doch ich spürte, dass der Moment bald kommen würde. Er beobachtete mich. Er wusste, dass ich im Begriff war, mich aufzulösen, Stück für Stück.

Genau das wollte er. Ich wusste, dass er das wollte. Er wollte, dass ich aufhörte, ich selbst zu sein. Dann konnte er mich töten.

Blind sah ich mich selbst in der Dunkelheit sitzen. Wie kann das Gehirn wissen, dass das Gehirn nachlässt, wie kann der Geist seine eigene Auflösung spüren? Ist das so, wenn man verrückt wird? Gibt es eine Zeitspanne, in der man weiß, dass man verrückt wird? Wann gibt man auf und lässt sich mit einer schauerlichen Art von Erleichterung in den Abgrund fallen? Ich stellte mir ein Paar Hände vor, Hände, die sich an einen Felsvorsprung klammern, beharrlich festhalten, bis sich irgendwann die Finger ganz langsam entspannen und lösen. Man fällt durch den freien Raum, und nichts kann einen aufhalten.

Der Brief. Lieber wer auch immer, hilf mir, hilf mir, hilf mir, ich kann nicht mehr. Bitte. O lieber Gott, bitte!

Meine Augen brannten. Mein Hals schmerzte, noch mehr als sonst. Als würden raue, kleine Steinchen darin feststecken. Oder Glassplitter. Vielleicht hatte ich mich erkältet. Dann würde ich immer weniger Luft bekommen, meine Nase irgendwann völlig verstopfen.

»Trink.«

Ich trank. Diesmal nur ein paar Schluck.

»Iss.«

Vier Löffel Brei. Ich konnte kaum schlucken.

»Zeit für den Kübel.«

Ich wurde hinuntergehoben, wieder hinaufgehoben. Ich fühlte mich wie eine wertlose Plastikpuppe, Einen kurzen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, mich in seinen Armen aufzubäumen und nach ihm zu treten, aber ich wusste, dass er die Kraft besaß, das Leben aus mir herauszudrücken. Ich spürte seine Hände an meinem Brustkorb. Er konnte mit Leichtigkeit meine Knochen brechen.

»Zeit für die Schlinge.«

»Scheißkerl!« sagte ich.

»Was?«

»Du. Abschaum. Scheißkerl.«

Er schlug mir auf den Mund. Ich schmeckte Blut, süß und metallisch.

»Abschaum«, wiederholte ich.

Er stopfte mir den Knebel in den Mund.

Fünf Stunden vielleicht und ein paar Minuten. Wie lange war er fortgeblieben, als ich das letzte Mal gezählt hatte?

Bald würde er zurückkommen. Vielleicht würde er ein Stück Papier und einen Stift bei sich haben. Draußen musste es inzwischen Nacht sein. Wahrscheinlich war es schon seit Stunden dunkel. Vielleicht wurde der Himmel durch den Mond erleuchtet oder war mit Sternen übersät, Ich stellte mir unzählige Lichtpünktchen am schwarzen Firmament vor.

Hier war ich, ganz allein unter meiner Kapuze, in meinem Kopf. Hier war ich, und alles andere erschien mir nicht länger real. Anfangs hatte ich versucht, nicht an das Leben jenseits dieses Raums zu denken, an das normale Leben, wie es gewesen war. Ich hatte das Gefühl gehabt, mich mit diesen Gedanken selbst zu verhöhnen und in den Wahnsinn zu treiben. Nun, da ich mich daran erinnern wollte, konnte ich es nicht mehr, zumindest nicht vollständig. Es war, als wäre die Sonne hinter schwarzen Gewitterwolken verschwunden und die Nacht nicht mehr fern. Sie war tatsächlich nicht mehr fern.

Ich versuchte mich gedanklich in meine Wohnung zu versetzen, aber es ging nicht. Ebensowenig gelang es mir, mich im Büro bei der Arbeit zu sehen. Meine Erinnerungen lagen bereits größtenteils im Dunkeln.

Folgendes aber wusste ich noch: Ich sah mich in einem See in Schottland schwimmen, mir war entfallen, wann, vor Jahren, und das Wasser war so dunkel und moorig, dass man nicht hindurchsehen konnte. Nicht einmal meine Hände konnte ich richtig sehen, wenn ich sie vor mir ausstreckte. Wenn ich kraulte, sah ich silberne Luftblasen in dem schwarzen Wasser. Prickelnde Bläschen silbriger Luft.

Warum konnte ich mich daran erinnern, während andere Erinnerungen in der Dunkelheit versanken? Die Lichter gingen aus, eines nach dem anderen. Bald würde nichts mehr übrig sein. Dann hatte er gewonnen.

Plötzlich wusste ich, was ich tun würde. Ich würde keinen Brief schreiben. Ich würde nicht warten, bis er mit seinem Stück Papier hereinkam. Es gab ein letztes Restchen Macht, das mir geblieben war. Die Macht, nicht abzuwarten, bis er mich umbrachte. Es war nicht viel, aber alles, was ich hatte. Keine Erinnerung, keine Hoffnung, nur das. Eigentlich war es ganz einfach. Wenn ich weiter hier sitzen blieb, würde er mich früher oder später töten –

vermutlich eher früher als später, morgen oder übermorgen, ich spürte, dass der Zeitpunkt nahe war. Ich war ziemlich sicher, dass er die anderen Frauen tatsächlich umgebracht hatte und dasselbe auch mit mir vorhatte. Es würde mir nicht gelingen, ihn zu überlisten. Ich würde ihm nicht entwischen, wenn er mich von meinem Mauervorsprung hob. Ich würde ihn auch nicht dazu überreden können, mich freizulassen. Die Polizei würde nicht plötzlich hereinstürmen und mich retten.

Ebensowenig Terry. Niemand würde kommen. Ich würde nicht eines Morgens aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Alptraum gewesen war. Ich würde sterben.

Endlich gestand ich mir das ein. Wenn ich noch länger wartete, würde er mich umbringen. Mir blieb nicht die geringste Hoffnung. Meine jämmerlichen Versuche, dem Unabwendbaren zu trotzen, glichen dem Anrennen gegen eine unverrückbare Wand. Wenn ich mich jedoch von diesem Mauervorsprung warf, würde die Drahtschlinge meine Kehle durchtrennen. Das hatte er mir gesagt, und wenn ich mich vorbeugte, spürte ich den Draht um meinen Hals. Er war wohl davon ausgegangen, dass ich es nicht versuchen würde. Kein Mensch, der einigermaßen bei klarem Verstand war, würde sich umbringen, um nicht umgebracht zu werden.

Doch genau das würde ich tun. Mich hinunterwerfen.

Weil es das Einzige war, was ich noch tun konnte. Meine letzte Chance, Abbie zu sein.

Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Ich musste es tun, bevor er zurückkam. Solange ich den Willen dazu besaß.

Ich atmete ein und hielt die Luft an. Warum nicht jetzt, bevor ich den Mut verlor? Ich atmete aus. Weil es unmöglich ist, deswegen. Man denkt: eine Sekunde noch, eine weitere Sekunde Leben. Eine Minute noch. Nicht jetzt. Jederzeit, aber nicht jetzt.

Wenn man springt, heißt das: kein Atmen mehr und kein Denken, kein Schlaf und kein Wissen, dass man wieder aufwachen wird, keine Angst mehr, aber auch keine Hoffnung. Deswegen schiebt man es vor sich her, so, wie man sich beim Hinaufsteigen auf einen Sprungturm die ganze Zeit einredet, dass man es kann, bis man dann die oberste Stufe erreicht, die wackelige Plattform entlanggeht, einen Blick auf das türkisfarbene Wasser wirft und feststellt, dass es schrecklich weit entfernt ist.

Plötzlich weiß man, dass man es doch nicht kann. Dass es einfach nicht geht. Weil es unmöglich ist.

Aber dann tut man es. Widerstrebend. Während man sich in Gedanken umdreht und beeilt, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, stößt man sich ab und fällt.

Kein Warten mehr. Kein Entsetzen. Gar nichts mehr.

Vielleicht war es besser so. Wenn ich schon sterben musste, dann zu meinen eigenen Bedingungen.

Ich tue das, wovon ich weiß, dass ich es nicht kann. Ich springe. Ich falle.

Ein stechender Schmerz um meinen Hals. Farbige Blitze auf meiner Netzhaut. Ein kleiner Winkel meines Gehirns sah interessiert zu und sagte sich: So ist es also, wenn man stirbt. Das letzte Ringen nach Luft, die letzten Pumpversuche des Herzens, ehe man verlöscht.

Die Lichter verloschen tatsächlich, doch der Schmerz wurde heftiger und deutlich lokalisierbar. Mein Hals. Ein Kratzer an der Wange. Ein Bein fühlte sich an, als wäre es nach hinten verrenkt. Mein Gesicht, meine Brüste und mein Bauch waren so hart auf den Boden geprallt, dass mir schien, ich hätte die Wand mit mir heruntergerissen, und sie laste nun mit ihrem ganzen Gewicht auf mir.

Doch ich war nicht tot. Ich lebte.

Dann durchbohrte mich wie ein spitzer Stahlschaft ein Gedanke: Ich war nicht mehr festgebunden. Er war nicht da. Wie lang war er schon weg? Denk nach, Abbie. Denk nach! Diesmal hatte ich nicht gezählt. Ziemlich lang.

Meine Handgelenke waren noch immer hinter meinem Rücken gefesselt. Ich versuchte, sie zu befreien. Sinnlos.

Fast hätte ich aufgeschluchzt. Hatte ich mich hinuntergestürzt, nur um jetzt hilflos auf dem Boden zu liegen? Ich schwor mir, dass ich mich, falls mir gar nichts anderes übrig blieb, umbringen würde, indem ich mir auf dem Steinboden den Kopf einschlug. Wenn schon nichts anderes in meiner Macht lag, dann konnte ich ihm wenigstens seinen letzten Triumph über mich verweigern.

Mein ganzer Körper fühlte sich wund an, mager und schwach. Ich spürte eine neue Angst in mir. Ich hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes dem Tod in die Arme geworfen. Es war eine Art Betäubungsmittel gewesen.

Jetzt hatte ich eine neue Chance. Dieses Wissen brachte Gefühle in meinen Körper zurück. Ich war wieder in der Lage, große Angst zu empfinden.

Ich schwang mich herum. Nun lag ich rücklings auf meinen gefesselten Armen. Wenn ich sie bloß über meine Füße schieben könnte, damit sie vor meinem Körper wären! Es stellte sich als eine schwierige Turnübung heraus, und ich war alles andere als eine gute Turnerin. Ich hob die Füße vom Boden und streckte sie nach hinten, bis sie knapp meine Stirn berührten. Nun war der Druck von meinen Handgelenken genommen. Ich unternahm einen vorsichtigen Versuch, die Hände über meine Beine zu schieben. Unmöglich. Ich schob und schob. Nein.

Ächzend gab ich auf. Doch dann sagte ich mir, dass er bald zurückkommen und mich töten würde. Nie mehr würde ich eine Chance wie diese bekommen. Es musste gehen. Ich hatte ja schon gesehen, wie die Kinder es beim Spielen machten. Wahrscheinlich hatte ich es als kleines Mädchen auch gemacht. Ich würde mir sogar die Hände abhacken, um aus diesen Fesseln herauszukommen. Doch das brauchte ich gar nicht. Ich musste meine Hände bloß vor meinen Körper holen. Ich musste mich nur anstrengen.

Und ich schob mit aller Kraft. Obwohl ich das Gefühl hatte, mir die Arme von den Schultern zu reißen, schob ich immer weiter, bis sich meine Hände hinter meinen Oberschenkeln befanden. Wären meine Fußgelenke nicht ebenfalls gefesselt gewesen, wäre es einfacher gewesen.

Nun lag ich da wie ein verschnürtes Schwein, bereit, einen Bolzen in den Kopf gejagt zu bekommen. Ich zwang mich, an dieses Bild zu denken, während ich die Knie an die Brust presste und so weit in Richtung Kinn zurückzog, wie ich nur konnte, um auf diese Weise die Hände über meine Füße zu streifen. Die Muskeln an Rücken, Hals, Armen und Schultern schienen vor Schmerz aufzuschreien, aber plötzlich lagen meine Arme vor meinem Körper.

Keuchend hielt ich inne und spürte erst jetzt, dass mir der Schweiß in Strömen herunterlief.

Ich setzte mich auf und zog mir mit meinen zusammengebundenen Händen die Kapuze vom Kopf.

Dabei kam mir der Gedanke, dass er möglicherweise die ganze Zeit im Raum saß und mir zusah. Ich nahm den Knebel aus meinem Mund und saugte die Luft ein, als wäre sie kaltes Wasser. Es war dunkel. Nein, nicht völlig dunkel. Von irgendwoher fiel ganz schwaches Licht in den Raum. Ich betrachtete meine Handgelenke. Sie waren mit einem Draht zusammengebunden. Er war nicht verknotet, die Enden waren lediglich umeinander geschlungen. Mit den Zähnen ließ sich der Draht ziemlich leicht lösen, wenn es auch Zeit in Anspruch nahm. Zehn schreckliche Sekunden für jede Drahtwindung. Meine Lippen bluteten bereits. Nachdem ich die letzte Windung gelöst hatte, fiel der Draht einfach zu Boden, und meine Hände waren frei.

Kurz danach hatte ich auch meine Füße von ihren Fesseln befreit. Ich rappelte mich hoch, fiel aber mit einem Schmerzensschrei sofort wieder zu Boden. Meine Füße fühlten sich aufgequollen an, als würden sie jeden Moment platzen. Ich rieb meine Knöchel, bis ich wieder stehen konnte.

Ich blickte mich um. Obwohl es im Raum fast dunkel war, konnte ich Ziegelwände und den schmutzigen Zementboden erkennen. An einer Seite waren ein paar robuste Borde angebracht, auf dem Boden stapelten sich kaputte Paletten. Ich konnte den Mauervorsprung sehen, auf dem ich die letzten Tage verbracht hatte. Dann fiel es mir wieder ein. Ich befreite meinen Kopf von der Drahtschlinge. Ein Ende war an einem Haken befestigt, den ich mit meinem Körpergewicht aus der Wand gerissen hatte. Wie viel Glück hatte ich da gehabt? Vorsichtig befühlte ich meinen Hals.

Ich sah in die Richtung, aus der der Mann immer gekommen war. Dort befand sich eine geschlossene Holztür, deren Griff an der Innenseite fehlte. Ich versuchte sie mit den Fingern aufzuziehen, fand aber keinen Halt.

Ich musste mir etwas einfallen lassen. Auf der anderen Seite des Raums entdeckte ich einen dunklen Durchgang.

Ich ging hinüber und spähte in die Finsternis, konnte jedoch nichts erkennen. Die Vorstellung, dort hineinzugehen, erschien mir schrecklich. Der einzige Weg, von dem ich sicher wusste, dass er nach draußen mündete, führte durch die geschlossene Holztür. Vielleicht war es überhaupt der einzige Weg nach draußen. Was hatte es für einen Sinn, mich von diesem potenziellen Fluchtweg zu entfernen?

Mir war heiß und kalt zugleich. Keuchend rang ich nach Luft. Mein Herzschlag hallte in den Ohren wider, doch ich versuchte, mich zusammenzureißen und nachzudenken.

Was konnte ich tun? Mich irgendwo in der Dunkelheit verstecken? Vielleicht würde er in der Annahme, ich wäre entkommen, hinausrennen und dabei die Tür offen lassen.

Aber das erschien mir eher unwahrscheinlich. Aller Voraussicht nach würde er das Licht anschalten und mich sofort wieder schnappen. Oder ich suchte mir irgendeine Waffe, versteckte mich damit hinter der Tür und zog ihm eine über, wenn er hereinkam. Eine verlockende Vorstellung. Selbst wenn mein Plan scheiterte – und er würde mit Sicherheit scheitern –, böte sich immerhin eine Gelegenheit, ihm etwas anzutun, und das wünschte ich mir mehr als alles andere auf der Welt.

Nein, die größte Chance hatte ich, wenn ich versuchte, durch die Tür zu entkommen, während er fort war. Ich wusste nicht, ob die Tür abgesperrt war. Ich tastete den Boden ab. Vielleicht lag irgendetwas herum, das ich in den Türspalt schieben und als Hebel benutzen konnte. Erst kamen mir nur ein paar nutzlose Holzstücke unter die Finger, dann stieß ich auf ein schmales Stück Metall Wenn es mir gelang, es an der Tür festzuhaken, konnte ich sie unter Umständen aufziehen. Falls sich auf der anderen Seite ein Riegel befand, war ich vielleicht in der Lage, ihn durch den Türspalt hindurch mit dem Metallstreifen hochzuschieben. Ich trat an die Tür und tastete nach dem Spalt. Gerade wollte ich das Metall durchschieben, als ich ein Geräusch hörte. Es bestand kein Zweifel: das Klappern einer Tür, dann Schritte.

Die Idee, bei der Tür zu bleiben und mit ihm zu kämpfen, war einfach dumm. Auf Zehenspitzen durchquerte ich den Raum und schlich in die schreckliche Dunkelheit hinein. Falls es sich bloß um einen abgeschlossenen Lagerraum handelte, wäre ich dort gefangen wie ein Tier. Doch es war eine Art Korridor mit Durchgängen zu beiden Seiten. Ich musste mich so weit wie möglich entfernen, Zeit gewinnen. Vielleicht würde er zunächst diese Seitenräume durchsuchen. Ich stolperte weiter, bis ich am Ende des Gangs auf eine Mauer stieß.

Auch hier zweigte zu beiden Seiten je ein Durchgang ab.

Ich warf einen Blick durch den linken. Nichts als Finsternis. Also nach rechts. Dort war etwas. Ich konnte ein Licht erkennen. Oben an der Wand, auf der anderen Seite des Raums. Irgendetwas Fensterartiges. Hinter mir, weit hinter mir in der Dunkelheit hörte ich ein Geräusch, einen Schrei, eine Tür, Schritte, und von da an war es, als befände ich mich in einem jener Alpträume, in denen alles verkehrt herum läuft. Man läuft so schnell man kann, doch der Boden ist plötzlich wie Morast, man kommt nicht voran, wird verfolgt und tritt auf der Stelle. Ich überließ es irgendeinem primitiven, vom Instinkt gesteuerten Teil meines Gehirns, eine Entscheidung zu treffen und mein Leben zu retten. Ich weiß noch, dass ich mir irgendetwas schnappte. Sekunden später klirrte Glas, und ich zwängte mich durch einen Spalt, der sich viel zu schmal anfühlte, doch schon war ich hindurch. Ein brennender Schmerz durchzuckte meinen Körper. Dann hörte ich einen Knall.

Irgendwo hinter mir. Und einen Schrei.

Ich lief ein paar Stufen hinauf. Plötzlich spürte ich Wind auf meiner Haut. Luft. Ich war im Freien. In der Ferne sah ich Lichter. Ich rannte auf sie zu, rannte immer schneller, wie in Trance, ohne meine Umgebung wahrzunehmen. Ich lief einfach weiter, denn sobald ich stehen blieb, war ich tot. Steinchen und scharfe Gegenstände drückten sich in meine Fußsohlen. Bestimmt war er sehr schnell. Wie ein Kaninchen musste ich Haken schlagen. Dabei konnte ich nicht einmal richtig sehen, nach all den Tagen mit der Kapuze. Die Lichter brannten in meinen Augen. Sie wirkten grell und verschwommen zugleich, wie hinter Milchglas. Meine Schritte klangen unnatürlich laut. Lauf einfach weiter, Abbie! Denk nicht an deine Schmerzen.

Denk an gar nichts. Lauf!

Irgendwo tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich etwas finden musste, das sich bewegte. Ein Auto. Einen Menschen. Ich durfte nicht dort hinlaufen, wo es einsam war. Ich brauchte Menschen. Doch ich konnte nicht mehr rennen, konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich durfte nicht anhalten. Ich durfte einfach nicht. Plötzlich sah ich ein Licht, ein Licht in einem Fenster. Ich befand mich in einer Straße mit Häusern zu beiden Seiten. Einige waren mit Brettern vernagelt. Nein, mehr als das. Schwere Metallgitter schützten Türen und Fenster. Aber da brannte ein Licht. Ich hatte einen Moment großer Klarheit. Am liebsten wäre ich zu der Tür gelaufen und hätte schreiend auf sie eingehämmert, aber ein Rest von Verstand hielt mich davon ab. Ich wollte die Person in dem Haus ja nicht erschrecken, so dass sie einfach den Fernseher lauter stellte und gar nicht an die Tür kam.

Deswegen drückte ich nur wie eine Wahnsinnige auf den Klingelknopf. Weit drinnen hörte ich es läuten. Mach auf mach auf mach auf mach auf. Ich hörte Schritte. Langsam, leise, schlurfend. Endlich, nach einer Ewigkeit, ging die Tür auf, und ich fiel gleichsam mit ihr ins Haus, warf mich auf den Boden.

»Polizei! Bitte! Polizei. Bitte!«

Dann, ausgestreckt auf einem fremden Linoleumboden, stammelte ich nur noch »Bitte bitte bitte bitte bitte«.

ZWEITER TEIL

»Möchten Sie, dass ich gleich eine richtige Aussage mache?«

»Später«, antwortete er. »Zunächst unterhalten wir uns ein bisschen.«

Anfangs konnte ich ihn gar nicht richtig sehen. Ich nahm nur seine Silhouette vor dem Fenster meines Krankenhauszimmers wahr. Das Licht war zu grell für meine empfindlichen Augen, so dass ich den Blick abwenden musste. Erst als er näher an das Bett herantrat, war ich in der Lage, seine Gesichtszüge auszumachen, sein kurzes braunes Haar, seine dunklen Augen. Er war Detective Inspector Jack Cross. Der Mensch, dem ich jetzt alles überlassen konnte. Vorher musste ich ihm alles erzählen. Es gab so viel zu erklären.

»Ich habe schon mit jemandem gesprochen. Einer Frau in Uniform. Jackson.«

»Jackman. Ich weiß. Ich wollte selbst mit Ihnen reden.

Woran erinnern Sie sich?«

Ich erzählte ihm meine Geschichte. Er stellte Fragen, die ich zu beantworten versuchte. Eine gute Stunde später –

ich hatte gerade wieder eine seiner Fragen beantwortet –

verstummte er plötzlich, und ich hatte das Gefühl, alles gesagt zu haben, was sich zu der Sache überhaupt sagen ließ. Er schwieg mehrere Minuten, ohne mich ein einziges Mal anzulächeln oder auch nur anzusehen. Ich beobachtete sein wechselndes Mienenspiel. Er wirkte verwirrt, frustriert, tief in Gedanken versunken.

»Zwei Punkte noch«, sagte er schließlich. »Ihr Gedächtnis. Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können? Waren Sie im Büro? Zu Hause?«

»Tut mir Leid. Das ist alles so verschwommen. Ich habe Tage damit verbracht, über diese Frage nachzudenken. Ich erinnere mich an einzelne Szenen im Büro, aber auch in meiner Wohnung. Es gibt keinen definitiven letzten Moment.«

»Demnach können Sie sich also nicht erinnern, diesem Mann begegnet zu sein.«

»Nein.«

Er zog ein kleines Notizbuch und einen Stift aus einer Seitentasche seiner Jacke.

»Dann wären da noch die anderen Namen.«

»Kelly. Kath. Fran. Gail, Lauren.«

Er schrieb mit, während ich sie aufzählte.

»Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein? Vielleicht ein Nachname? Oder haben Sie eine Ahnung, wo er auf diese Frauen getroffen ist oder was er mit ihnen gemacht hat?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

Seufzend klappte er sein Notizbuch zu und stand auf.

»Bin gleich wieder da«, sagte er und verließ den Raum.

Ich hatte mich bereits an den Rhythmus des Krankenhauslebens gewöhnt, an das langsame Tempo mit den langen Pausen dazwischen, so dass ich sehr überrascht war, als der Detective keine fünf Minuten später in Begleitung eines älteren Mannes zurückkehrte. Der Mann trug einen perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug, aus dessen Brusttasche ein weißes Taschentuch ragte. Er griff nach dem Klemmbrett am Ende meines Bettes und machte dabei den Eindruck, als würde ihn die ganze Situation langweilen. Er fragte mich nicht nach meinem Befinden, sondern sah mich bloß an, als wäre ich ein Gegenstand, über den er auf der Straße gestolpert war.

»Das ist Dr. Richard Burns«, erklärte DI Cross. »Er ist für Ihren Fall verantwortlich. Wir werden Sie auf eine andere Station verlegen. Sie bekommen ein Einzelzimmer.

Mit einem Fernseher.«

Dr. Burns legte das Klemmbrett beiseite und nahm seine Brille ab.

»Miss Devereaux«, sagte er. »Wir werden uns eingehend um Sie kümmern.«

Die eisige Luft traf mein Gesicht wie eine Ohrfeige.

Keuchend rang ich nach Luft. Mein Atem hinterließ eine weiße Wolke. Das kalte, grelle Licht schmerzte in meinen Augen.

»Sie können sich wieder in den Wagen setzen, wenn Sie wollen«, sagte Jack Cross.

»Nein, ich finde es schön hier.« Ich legte den Kopf zurück und atmete tief durch. Der Himmel war blau, nicht die Spur einer Wolke war zu sehen, und die Sonne wirkte wie eine ausgewaschene Scheibe, spendete aber keine Wärme. Alles funkelte vor Frost. Das schmutzige alte London sah einfach wundervoll aus.

Wir standen in einer Straße, gesäumt von Reihenhäusern. Die meisten Eingänge waren mit Brettern vernagelt, bei einigen waren Metallgitter vor den Fenstern angebracht. Die kleinen Vorgärten standen voller Nesseln und Dornbüsche. Müll lag verstreut herum.

»Es war hier, nicht wahr?«

»Nummer zweiundvierzig«, antwortete Cross und deutete auf die andere Straßenseite. »Hier haben Sie Anthony Russell aus dem Nachtschlaf gerissen und halb zu Tode erschreckt. Können Sie sich wenigstens noch daran erinnern?«

»Nur undeutlich«, antwortete ich. »Zu dem Zeitpunkt war ich völlig panisch. Ich hatte das Gefühl, dass er mir unmittelbar auf den Fersen war. Ich habe so viele Haken geschlagen wie möglich, um ihn abzuschütteln.«

Ich blickte zu dem Haus hinüber. Es sah kaum verlassener aus als die übrige Straße. Cross beugte sich in den Wagen und holte einen Anorak heraus. Ich trug eine seltsame Zusammenstellung fremder Klamotten, die man im Krankenhaus für mich aufgetrieben hatte. Ich versuchte, nicht an die Frauen zu denken, die sie vor mir getragen hatten. Cross gab sich freundlich und entspannt.

Fast hätte man meinen können, wir würden zu einem Pub spazieren.

»Ich hatte gehofft, wir könnten Ihren Fluchtweg zurückverfolgen«, erklärte er. »Aus welcher Richtung sind Sie gekommen?«

Das war leicht. Ich deutete die Straße hinunter.

»Das ergibt Sinn«, meinte er. »Lassen Sie uns in diese Richtung gehen.«

Wir gingen die Straße entlang.

»Dieser Mann«, sagte ich. »Der aus Nummer zweiundvierzig.«

»Russell. Tony Russell.«

»Hat er ihn gesehen?«

»Er ist kein sehr hilfreicher Zeuge«, antwortete Cross.

»Der alte Tony Russell. Er hat sofort die Tür zugeknallt und die Notrufnummer gewählt.«

Ich rechnete damit, am Ende der Straße auf weitere Straßen mit Reihenhäusern zu treffen, doch plötzlich standen wir an der Ecke eines riesigen, baufälligen Anwesens, bei dem die Fenster eingeschlagen und die meisten Türen mit Brettern vernagelt waren. Direkt vor uns befanden sich zwei offene, bogenförmige Durchgänge, von denen straßabwärts weitere folgten.

»Was ist das?« fragte ich.

»Das Browning-Anwesen«, antwortete Cross.

»Wohnt hier noch jemand?«

»Es soll demnächst abgerissen werden. Eigentlich soll es schon seit zwanzig Jahren abgerissen werden.«

»Warum?«

»Weil es ein einziges Dreckloch ist.«

»Hier muss ich gefangen gehalten worden sein.«

»Können Sie sich erinnern?«

»Ich bin aus dieser Richtung gekommen.« Verzweifelt ließ ich den Blick auf und ab schweifen. »Ich bin unter einem dieser Torbogen hindurchgelaufen. Es muss in diesem Gebäude gewesen sein.«

»Meinen Sie?«

»Ich nehme es an.«

»Können Sie sich erinnern, durch welchen Torbogen Sie gelaufen sind?«

Ich wechselte auf die andere Straßenseite. Ich betrachtete das Gebäude so angestrengt, bis es weh tat.

»Sie sehen alle ziemlich ähnlich aus. Es war dunkel, ich bin wie eine Wahnsinnige gerannt. Es tut mir so Leid. Ich habe tagelang eine Kapuze über dem Gesicht getragen und hatte fast schon Halluzinationen. Ich war in einem schrecklichen Zustand.«

Cross holte tief Luft. Seine Enttäuschung war ihm anzusehen.

»Vielleicht können wir die verschiedenen Möglichkeiten zumindest ein wenig einschränken.«

Wir gingen die Straße auf und ab und traten durch die Torbogen in die verschiedenen Innenhöfe. Es war schrecklich. Ich konnte mir in etwa vorstellen, was der Architekt im Sinn gehabt hatte, als er den Gebäudekomplex plante. Es sollte wie ein italienisches Dorf mit Piazzen werden, offenen Plätzen, wo die Leute sitzen, spazierengehen und sich unterhalten können. Mit vielen kleinen Durchgängen und Querverbindungen. Aber es hatte nicht funktioniert. Cross zufolge hatten sich die Durchgänge als perfekte Verstecke und Fluchtwege entpuppt, als Hinterhalte für Schießereien und Überfälle.

Er zeigte mir eine Stelle, an der in einem Müllcontainer eine Leiche gefunden worden war.

Ich fühlte mich immer elender. All diese Plätze und Arkaden sahen gleich aus. Nichts davon kam mir bekannt vor. Cross hatte große Geduld mit mir. Eine Weile stand er einfach nur da und atmete weiße Wolken in die Luft, beide Hände in den Taschen. Dann begann er mich nach der Chronologie der Ereignisse zu fragen und nicht mehr nach der Richtung, aus der ich gekommen war. Ob ich mich erinnern könne, wie lange ich von dem Gebäude bis zu Tony Russells Haus gebraucht hatte? Ich versuchte, mir die Zeitspanne ins Gedächtnis zu rufen, kam aber zu keinem Ergebnis. Er ließ nicht locker. Fünf Minuten? Ich wusste es nicht. Länger? Kürzer? Ich wusste es nicht. War ich die ganze Strecke gerannt? Ja, natürlich. So schnell ich konnte? Ja, ich hatte das Gefühl gehabt, dass er mir dicht auf den Fersen war. Ich war so schnell gelaufen, dass es schmerzte. Wie lange ich wohl in der Lage wäre, mit Höchstgeschwindigkeit zu laufen? Ich wusste es nicht. Ein paar Minuten? Möglich. Die Umstände waren alles andere als normal gewesen. Ich hatte um mein Leben rennen müssen.

Der Tag erschien mir immer kälter und grauer.

»Ich bin Ihnen keine große Hilfe, nicht wahr?«, meinte ich.

Cross wirkte geistesabwesend, schien mich kaum zu hören.

»Was?« fragte er.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen.«

»Lassen Sie sich Zeit.«

Während der kurzen Fahrt zurück zum Krankenhaus war Jack Cross wortkarg und starrte aus dem Fenster. Einmal raunte er dem Fahrer ein paar Worte zu.

»Werden Sie das Anwesen durchsuchen lassen?«, fragte ich.

»Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte«, antwortete er.

»Es gibt dort über tausend verlassene Wohnungen.«

»Ich war ziemlich weit unten, glaube ich. In einem Keller. Höchstens im Erdgeschoss.«

»Miss Devereaux, das Browning-Anwesen nimmt fast einen halben Quadratkilometer ein. Dafür habe ich nicht genug Leute.«

Er begleitete mich bis zu meinem neuen Einzelzimmer.

Das war immerhin etwas, ein Zimmer ganz für mich allein. Er blieb im Türrahmen stehen.

»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Ich dachte, es würde besser laufen.«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, antwortete er mit einem Lächeln, das schnell wieder aus seinem Gesicht verschwand. »Wir sind auf Sie angewiesen. Sie sind alles, was wir haben. Wenn Ihnen noch etwas einfällt …«

»Was ist mit den anderen Frauen – Kelly, Kath, Fran, Gail und Lauren? Können Sie das nicht überprüfen lassen?«

Plötzlich sah Jack Cross aus, als hätte er von der ganzen Sache die Nase voll.

»Ich habe jemanden damit beauftragt. Aber das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie soll ich diese Namen Ihrer Meinung nach überprüfen lassen? Wir haben keine Nachnamen, keine Orts- oder Zeitangaben, nicht einmal ein ungefähres Datum. Wir haben gar nichts. Bloß ein paar gewöhnliche Vornamen.«

»Was kann man da machen?«

Er zuckte mit den Achseln.

Eine Krankenschwester rollte ein Tischchen mit einem Telefon herein und reichte mir ein paar Münzen. Ich wartete, bis sie den Raum wieder verlassen hatte, dann warf ich eine Zwanzig-Pence-Münze ein.

»Mum?«

»Abigail, bist du das?«

»Ja.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Mum, ich wollte dir sagen …«

»Mir ging es die letzten Tage ganz fürchterlich schlecht.«

»Mum, ich muss mit dir reden, dir etwas erzählen.«

»Mein Magen. Ich konnte vor Schmerzen nicht schlafen.«

Ich hielt einen Moment inne, holte tief Luft.

»Das tut mir Leid«, sagte ich. »Warst du schon beim Arzt?«

»Ich bin ständig beim Arzt. Er hat mir ein paar Tabletten gegeben, nimmt es aber nicht wirklich ernst. Ich habe kein Auge zugetan.«

»Das ist ja furchtbar.« Meine Hand umklammerte den Hörer. »Du könntest nicht für einen Tag nach London kommen, oder?«

»Nach London?«

»Ja.«

»Im Moment nicht, Abigail. Nicht in meinem Zustand.

Ich kann nirgend wohin fahren.«

»Mit dem Zug ist es bloß eine knappe Stunde.«

»Deinem Vater geht es auch nicht gut.«

»Was fehlt ihm?«

»Das Übliche. Aber warum kommst du uns nicht mal besuchen? Du warst schon eine Ewigkeit nicht mehr bei uns.«

»Ja.«

»Ruf aber vorher an.«

»Ja.«

»Ich muss aufhören«, sagte sie. »Ich mache gerade einen Kuchen.«

»Ja. Schon gut.«

»Melde dich bald mal wieder.«

»Ja.«

»Also bis dann.«

»Ja«, antwortete ich. »Bis dann, Mum.«

Ich wurde von einer großen Maschine aufgeweckt, die gerade zur Tür hereingeschoben wurde. Es war das riesige Monstrum einer Bodenreinigungsmaschine mit einer sich drehenden, kreisförmigen Bürste und Düsen, aus denen seifiges Wasser strömte. Zweifellos wäre es wesentlich effektiver gewesen, einen Eimer und einen Wischmop zu benutzen. Insbesondere in einem so kleinen Zimmer wie dem meinen war eine solche Maschine völlig sinnlos. Sie kam weder in die Ecken noch unters Bett, und Tische mochte sie auch nicht besonders, so dass sie der Mann, der ihr folgte, lediglich über die wenigen freien Flächen schob. Hinter ihm hatte ein weiterer Mann den Raum betreten. Dieser zweite Mann sah nicht aus wie jemand vom Reinigungspersonal, aber auch nicht wie ein Krankenpfleger oder Arzt, denn er trug schwarze Schuhe, eine weite braune Hose, eine marineblaue Jacke, die aussah, als wäre sie aus Sackleinen genäht, sowie ein kariertes Hemd mit offenem Kragen. Sein lockiges graues Haar kringelte sich in alle Richtungen. Er trug ein paar Akten unter dem Arm. An seinen Mundbewegungen konnte ich erkennen, dass er etwas zu sagen versuchte, doch der Lärm der Putzmaschine übertönte alles, woraufhin er verlegen an der Wand stehen blieb und wartete, bis die Maschine den Raum wieder verließ. Er blickte ihr skeptisch hinterher.

»Eines Tages wird jemand eine dieser Maschinen überprüfen und feststellen, dass sie überhaupt nichts bringen«, meinte er.

»Wer sind Sie?«, fragte ich ihn.

»Mulligan«, antwortete er. »Charles Mulligan. Ich bin gekommen, um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten.«

Ich kämpfte mich aus dem Bett. »Können Sie sich ausweisen?«

»Was?«

Ich ging an ihm vorbei auf den Gang hinaus und rief nach einer vorübereilenden Krankenschwester. Sie wirkte nicht begeistert, sah aber an meiner Miene, dass es wichtig war. Ich erklärte ihr, dass ein Fremder zu mir ins Zimmer gekommen sei. Nach einer kurzen Diskussion verließ er mit ihr den Raum, um einen Anruf zu tätigen. Ich legte mich wieder ins Bett. Wenige Minuten später ging erneut die Tür auf, und der Mann wurde von einer älteren Krankenschwester hereingeführt.

»Dieser Mann hat die Erlaubnis, Sie zu sehen«, erklärte sie.

»Er wird nur ganz kurz bleiben.«

Mit einem misstrauischen Blick auf Charles Mulligan verließ sie den Raum. Er nahm eine Brille mit Hornrand aus seiner Jackentasche und setzte sie auf.

»Das war wahrscheinlich sehr vernünftig von Ihnen«, sagte er. »Sehr pedantisch, aber wahrscheinlich auch sehr vernünftig. Jedenfalls wollte ich vorhin gerade sagen, dass Dick Burns mich gebeten hat, mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten.«

»Sind Sie Arzt?«

Er legte seine Akten auf den Tisch und zog sich einen Stuhl ans Bett.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?«

»Nein, tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Ja, ich bin Arzt. Zumindest habe ich die entsprechende Ausbildung, auch wenn ich nicht viel Zeit im Krankenhaus verbringe.«

»Sind Sie Psychiater? Oder Psychologe?«

Er stieß ein nervöses, abgehacktes Lachen aus.

»Nein, nein, eigentlich bin ich Neurologe, mehr oder weniger zumindest. Ich untersuche das Gehirn, als wäre es ein Gegenstand. Ich arbeite mit Computern und schneide Mäusegehirne in Scheiben, solche Sachen. Natürlich spreche ich auch mit Menschen. Wenn nötig.«

»Sie müssen entschuldigen, vielleicht bin ich ein bisschen schwer von Begriff«, sagte ich. »Aber warum sind Sie hier?«

»Wie gesagt. Dick hat mich angerufen. Ein faszinierender Fall.« Plötzlich nahm sein Gesicht einen besorgten Ausdruck an. »Mir ist natürlich klar, dass es für Sie eine furchtbare Erfahrung war. Es tut mir schrecklich Leid. Aber Dick hat mich gebeten, einen Blick auf Sie zu werfen. Falls Sie nichts dagegen haben.«

»Wozu?«

Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und wirkte plötzlich fast übertrieben mitfühlend.

»Dick hat mir ein wenig von dem erzählt, was Sie durchgemacht haben. Eine schreckliche Sache. Ich bin sicher, man wird Ihnen jemanden schicken, der mit Ihnen darüber spricht. Über das Trauma. Das alles.«

Er wirkte leicht verwirrt, als hätte er den Faden verloren.

Verlegen fuhr er sich mit den Fingern durch seine störrischen Locken, was aber nicht viel dazu beitrug, sie zu glätten.

»Hören Sie, Abigail. Ist es Ihnen Recht, wenn ich Sie so nenne?« Ich nickte. »Und Sie können mich Charlie nennen. Ich würde gern mit Ihnen über Ihren Gedächtnisverlust reden. Fühlen Sie sich dem schon gewachsen?« Wieder nickte ich.

»Gut.« Er lächelte leicht. Nun, da er bei seinem eigentlichen Thema angelangt war, wirkte seine Sprechweise, seine ganze Art viel selbstsicherer. Das gefiel mir. »So, jetzt werde ich mich einen Moment lang wie ein richtiger Arzt benehmen und einen Blick auf Ihren Kopf werfen. Ist Ihnen das Recht?« Ich nickte ein weiteres Mal. »Ich habe mir Ihren Krankenbericht angesehen.

Demnach hatten Sie eine Menge Blutergüsse am gesamten Körper, aber von Kopfschmerzen oder einer Kopfverletzung, irgendetwas in der Art, war nicht ausdrücklich die Rede.«

»Das ist aber das Erste, woran ich mich erinnern kann.

Nach der Phase, an die ich mich nicht erinnern kann, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich bin aufgewacht und hatte schreckliche Kopfschmerzen.«

»Aha. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir Notizen mache?« Er zog ein schäbiges kleines Notizbuch aus der Tasche und schrieb ein paar Worte. Dann legte er es aufs Bett und beugte sich vor. »Später wird man Sie abholen und in die Maschine stecken, um einen raschen Blick auf Ihr Gehirn zu werfen, aber das ist eine andere Art von Untersuchung. Darf ich?«

Während er das sagte, beugte er sich noch weiter vor und begann, ganz sanft mein Gesicht zu berühren, dann meinen ganzen Kopf. Ich liebe es, am Kopf angefasst zu werden. Das ist mein geheimer Fetisch. Das Schönste am Haareschneiden ist für mich der Moment, wenn mir ein anderer Mensch die Haare wäscht, seine Finger auf meine Kopfhaut legt. Terry machte das auch ab und zu.

Manchmal, wenn wir zusammen in der Badewanne saßen, wusch er mir das Haar. Das ist das Schöne an einer Beziehung, diese kleinen Freuden. Charles Mulligan murmelte leise vor sich hin, während seine Fingerspitzen über meinen Kopf wanderten. Als er eine Stelle über meinem rechten Ohr berührte, stieß ich einen kleinen Schrei aus. »Tut das weh?«

»Ja. Habe ich da was?« Er untersuchte die Stelle genauer.

»Es ist ein bisschen geschwollen und blau – ansonsten kann ich nichts Auffälliges entdecken.« Er lehnte sich zurück. »So, das war’s auch schon.« Er griff nach einer der Akten. Es dauerte eine Weile, bis er die richtige gefunden hatte. »Jetzt werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen, die Ihnen vielleicht ein wenig albern vorkommen werden. Ich bitte das zu entschuldigen. Außerdem wird das Ganze ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen. Fühlen Sie sich wirklich schon fit genug? Ich kann auch später oder morgen wiederkommen, wenn Sie eine Pause brauchen. Ich weiß, dass Sie eine harte Zeit hinter sich haben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte alles in meiner Macht Stehende tun, und zwar so schnell wie möglich.«

»Großartig.« Er öffnete eine große gedruckte Broschüre.

»Sind Sie bereit?«

»Ja.«

»Wie heißen Sie?«

»Gehört das schon zum Test?«

»Das ist eine Art philosophische Frage. Sie müssen ein bisschen Geduld mit mir haben.«

»Abigail Elizabeth Devereaux.«

»Wann sind Sie geboren?«

»Am 21. August 1976.«

»Wie lautet der Name unseres Premierministers?«

»Ist das Ihr Ernst? So schlimm steht es noch nicht um mich.«

»Ich teste verschiedene Gedächtnisarten. Es wird schon noch schwieriger.«

Also sagte ich ihm den Namen des Premierministers. Ich sagte ihm auch, welchen Wochentag wir hatten und dass wir uns gerade im St. Anthony’s Hospital aufhielten. Ich zählte von zwanzig rückwärts, in Dreiersprüngen wieder vorwärts, in Siebenersprüngen von hundert abwärts. Ich war ziemlich stolz auf mich. Dann wurde es schwieriger.

Er zeigte mir ein Blatt mit verschiedenen geometrischen Figuren, plauderte einen Moment lang über irgendetwas Albernes mit mir und zeigte mir dann ein weiteres Blatt mit geometrischen Figuren. Anschließend musste ich mir ins Gedächtnis rufen, welche Figuren auf beiden Blättern abgebildet waren. Danach las er mir leicht verlegen eine Geschichte von einem Jungen vor, der ein Schwein zum Markt brachte. Ich musste sie nacherzählen. Er zeigte mir Sterne und Dreiecke, die mit Farben kombiniert waren, dann Wortpaare. Schließlich legte er mir vier graphische Darstellungen vor, von denen jede jeweils komplizierter war als die vorherige. Die vierte sah wie ein von Vandalen verunstalteter Elektrizitätsmast aus. Mir wurde schon vom Hinschauen schwindelig, ganz zu schweigen von der Aussicht, diese Abbildung aus dem Gedächtnis nachzeichnen zu müssen.

»Da kriegt man ja Kopfschmerzen«, meinte ich, während ich mich damit abmühte.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte er besorgt.

»Ich wollte damit nur sagen, dass mir schon bei dem Anblick ganz schummrig wird.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, pflichtete er mir bei. »Ich bleibe bereits beim Rückwärtszählen hängen. Keine Angst, es sind bloß noch ein paar.«

Er begann mir Zahlensequenzen vorzulesen. Dreier- oder Vierergruppen waren ein Kinderspiel. Er hörte bei acht Zahlen auf, was ich gerade noch bewältigen konnte. Als er mich dann auch noch aufforderte, die Sequenzen rückwärts aufzusagen, wurde es wirklich anstrengend.

Zum Schluss holte er ein Blatt mit farbigen Quadraten heraus. Er deutete nacheinander auf mehrere Quadrate, und ich musste mir die Reihenfolge einprägen. Wieder rauf bis acht und dann rückwärts.

»Puh!«, sagte ich, als er das Blatt weglegte.

»Ja«, antwortete er. »Das war’s. Wir sind fertig.«

»Und? Habe ich bestanden? Habe ich einen Dachschaden?«

Er lächelte verschmitzt. »Schwer zu sagen. Ich habe keine Testergebnisse aus der prämorbiden Phase.

Entschuldigen Sie, ich weiß, das klingt ziemlich schlimm.

Ich meine damit die Phase vor dem Einsetzen des Gedächtnisverlusts. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie vorher noch besser waren. Sie haben ein bemerkenswert gutes Gedächtnis. Insbesondere Ihr räumliches Erinnerungsvermögen ist ausgezeichnet. Da würde ich jederzeit mit Ihnen tauschen.«

Ich spürte, wie ich gegen meinen Willen rot wurde.

»Vielen Dank, ähm, Charlie, aber …«

Einen Moment lang wurde seine Miene ernst, und er betrachtete mich eingehend.

»Was meinen Sie selbst?«, fragte er.

»Ich fühle mich gut. Ich meine, nicht wirklich gut. Ich habe Alpträume und durchlebe das, was mir passiert ist, im Geiste immer wieder neu. Aber ich kann klar denken.

Da ist nur diese Lücke in meinem Gedächtnis. Ich versuche permanent, mich zu erinnern, aber es ist, als würde ich in absolute Dunkelheit starren.«

Er begann, seine Testblätter wieder einzuordnen.

»Versuchen Sie, einen Blick auf die Ränder zu werfen«, schlug er vor. »Bleiben Sie bei Ihrer bildlichen Vorstellung von einem dunklen Bereich. Man könnte sagen, dass Sie es mit einem völlig dunklen und einem völlig hellen Bereich zu tun haben. Sie könnten sich auf den Teil konzentrieren, in dem die beiden Bereiche aufeinandertreffen.«

»Das habe ich schon getan, Charlie. Und wie ich das getan habe! Die Phase danach stellt kein Problem dar. Ich bin aufgewacht und war an besagtem Ort. Ich weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin, ich kann mich an keine Entführung erinnern. Mit der vorhergehenden Phase ist es schwieriger. Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich davor als Letztes gemacht habe. Es gibt keinen Punkt, an dem plötzlich alles abbricht. Ich kann mich lediglich dunkel daran erinnern, dass ich gearbeitet habe. Es ist, als wäre ich langsam in die Dunkelheit geglitten, ohne es zu bemerken.«

»Verstehe«, sagte Charles und notierte wieder etwas.

Das machte mich nervös.

»Ist das nicht etwas lächerlich? Das Entscheidende, woran ich mich erinnern müsste, ist weg. Es interessiert mich doch gar nicht, wie unser Premierminister heißt. Ich will nur wissen, wie ich entführt worden bin und wie der Kerl aussieht. Aber mir ist da ein Gedanke gekommen –

womöglich war das, was ich erlebt habe, so schockierend, dass ich einfach alles verdrängt habe. Halten Sie das für möglich?«

Mit einem Klick versenkte er die Mine seines Stifts. Als er meine Frage schließlich beantwortete, kam es mir fast vor, als müsste er ein leises Lächeln unterdrücken.

»Sie wollen wissen, ob unter Umständen all Ihre Erinnerungen zurückfluten würden, wenn ich meine Armbanduhr vor Ihrem Gesicht hin und her baumeln ließe?«

»Das wäre sehr hilfreich.«

»Vielleicht«, sagte er. »Aber ich bin sicher, Ihre Amnesie hat nichts mit einer Form von posttraumatischem Stress zu tun. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei nicht um ein psychologisches Symptom.«

»Wenn ich mit Cross spreche – so heißt der zuständige Polizeibeamte –, dann komme ich mir so lächerlich vor.«

»Ein derartiger Gedächtnisverlust ist sehr bedauerlich und frustrierend«, antwortete er, »aber nicht lächerlich.

Eine posttraumatische Amnesie nach einer äußerlichen Kopfverletzung wie der Ihren ist nicht ungewöhnlich. Am häufigsten kommt so etwas bei Autounfällen vor. Die Betroffenen schlagen sich beim Aufprall den Kopf an.

Wenn sie hinterher aufwachen, können sie sich an den Unfall nicht mehr erinnern, oft aber auch nicht an die Stunden oder sogar Tage davor.«

Vorsichtig berührte ich meinen Kopf. Er kam mir plötzlich so zerbrechlich vor.

»Post-traumatisch«, wiederholte ich. »Haben Sie nicht vorhin gesagt, es sei nichts Psychologisches?«

»Ist es auch nicht«, erwiderte er. »Psychogene Amnesie

– damit meine ich einen Gedächtnisverlust, der eher durch psychologische Einflüsse als durch eine Gehirnverletzung ausgelöst wird – ist in Fällen wie dem Ihren seltener und –

wie soll ich sagen – zweifelhafter.«

»Wie meinen Sie das?«

Er stieß ein vorsichtiges Hüsteln aus.

»Ich bin kein Psychologe, deswegen bin ich in dieser Hinsicht vielleicht voreingenommen, aber ein beträchtlicher Prozentsatz aller Mörder behauptet beispielsweise, sich nicht erinnern zu können, den Mord begangen zu haben. Dabei handelt es sich nicht um Leute, die körperliche Verletzungen davongetragen haben. Es sind verschiedene Erklärungen denkbar. Oft sind die Täter stark betrunken, was zu Blackouts und damit verbundenen Gedächtnislücken führen kann. Außerdem ist davon auszugehen, dass ein Mensch, der einen Mord begeht, unter extremem Druck steht, und zwar unter größerem als in fast allen anderen Stresssituationen, die man sich vorstellen kann. Das könnte sich ebenfalls auf das Erinnerungsvermögen auswirken. Ein paar von uns Skeptikern würden vielleicht auch sagen, dass es für einen Mörder oft sehr praktisch ist, wenn er behauptet, sich an das Geschehene nicht erinnern zu können.«

»Aber entführt zu werden und den Tod vor Augen zu haben, ist auch extrem stressig. Könnte diese Situation nicht doch dazu geführt haben, dass mir aus psychologischen Gründen alles entfallen ist?«

»Meiner Meinung nach nicht, aber wenn ich jetzt vor Gericht stünde und Sie wären ein Anwalt, könnten Sie mich dazu bringen zuzugeben, dass es möglich wäre. Ich fürchte, es werden noch einige Leute in Ihnen herumstochern wie in einem Versuchskaninchen, um Antworten auf genau solche Fragen zu erhalten.«

Er stand auf und schaffte es nach anfänglichen Schwierigkeiten, sich alle seine Akten wieder unter den Arm zu klemmen.

»Abigail«, sagte er dann.

»Abbie.«

»Abbie. Sie sind ein faszinierender Fall. Ich glaube nicht, dass ich der Versuchung widerstehen kann, noch einmal herzukommen.«

»Kein Problem«, antwortete ich. »Wie es aussieht, habe ich jede Menge Zeit. Eins muss ich Sie aber noch fragen: Besteht die Chance, dass meine Erinnerungen zurückkehren?«

Er zögerte einen Moment und zog dabei eine seltsame Grimasse, was wohl ein Zeichen dafür war, dass er nachdachte.

»Ja, das ist möglich.«

»Vielleicht durch Hypnose?«

Plötzlich wirkte er geschockt und begann in seiner Tasche herumzukramen, was mit einem Arm voller Akten ein besonders schwieriges Unterfangen darstellte.

Schließlich reichte er mir eine Karte.

»Da stehen mehrere Nummern drauf. Falls irgendjemand diesen Raum betritt und anfängt, Dinge vor ihren Augen baumeln zu lassen oder mit beruhigender Stimme auf Sie einzureden, dann rufen Sie mich sofort an!«

Mit diesen Worten ging er, und ich blieb mit meinem schmerzenden Kopf zurück. Einem Kopf mit einem schwarzen Loch.

»Haben Sie schon mit Ihrem Freund gesprochen?«

Ich brachte nur ein Murmeln zustande. Ich war noch gar nicht richtig wach. Besorgt beugte sich DI Cross über mich.

»Soll ich eine Schwester rufen?«, fragte er.

»Nein. Und um Ihre Frage zu beantworten: Nein, habe ich nicht.«

»Er scheint im Moment nicht auffindbar zu sein.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich habe schon drei Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen.

Bestimmt ist er beruflich unterwegs.«

»Kommt das oft vor?«

»Er ist IT-Berater, was auch immer das sein mag. Er fliegt ständig wegen irgendwelcher Sonderprojekte nach Belgien oder Australien oder weiß Gott wohin.«

»Aber Sie können sich nicht erinnern, wann Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«

»Nein.«

»Möchten Sie mit Ihren Eltern sprechen?«

»Nein! Nein, bitte nicht.«

Er schwieg einen Moment. Ich war ihm wirklich keine große Hilfe. Krampfhaft überlegte ich, wie ich Cross eine Freude machen könnte.

»Wäre Ihnen geholfen, wenn Sie sich in unserer Wohnung umsehen könnten? Ich nehme an, ich werde in ein, zwei Tagen ohnehin entlassen, aber vielleicht fände sich dort ein Anhaltspunkt. Vielleicht bin ich dort entführt worden. Unter Umständen habe ich einen Hinweis hinterlassen.«

Cross’ ausdruckslose Miene veränderte sich kaum.

»Haben Sie einen Schlüssel, den Sie mir geben können?«

»Wie Sie wissen, besitze ich zur Zeit nichts außer der Kleidung, die ich bei meiner Flucht getragen habe. Aber im Garten vor dem Haus, links neben der Tür, liegen zwei Dinger, die aussehen wie echte Steine. In Wirklichkeit handelt es sich um Scherzartikel, wie man sie bei manchen Versandhäusern bestellen kann. Einer von beiden ist hohl, und wir haben darin einen Ersatzschlüssel versteckt. Den können Sie benutzen.«

»Haben Sie irgendwelche Allergien, Miss Devereaux?«

»Ich glaube nicht. Einmal habe ich allerdings einen Nesselausschlag bekommen, nachdem ich Meeresfrüchte gegessen hatte.«

»Leiden Sie an Epilepsie?«

»Nein.«

»Sind Sie schwanger?«

Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass es weh tat.

»Es hat nichts zu bedeuten, aber wir sind gesetzlich verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass eine Computertomographie Nebenwirkungen haben kann, allerdings ist die Wahrscheinlichkeit extrem gering, praktisch zu vernachlässigen. Würden Sie bitte diese Einverständniserklärung unterschreiben? Hier und hier.«

Plötzlich klang die Schwester wie eine Stewardess. Ich musste an die Demonstration mit der Schwimmweste denken. Für den unwahrscheinlichen Fall einer Landung im Wasser.

»Ich weiß nicht einmal, was eine Computertomographie ist«, sagte ich, während ich unterschrieb.

»Keine Sorge, unsere Technikerin wird Ihnen gleich alles genau erklären.«

Ich wurde in einen großen, grell erleuchteten Raum geführt. Mein Blick fiel auf das Hightech-Rollbett, auf dem ich gleich liegen würde. Es war weich gepolstert und in der Mitte konkav. Dahinter führte ein weißer Tunnel ins Herz der Maschine. Das Ganze sah aus wie eine seitlich gekippte Kloschüssel.

»Miss Devereaux, meine Name ist Jan Carlton. Bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz.« Eine große, spindeldürre Frau, die mit einem Overall bekleidet war, deutete auf einen Stuhl.

»Wissen Sie, was eine Computertomographie ist?«

»Man hört öfter davon«, antwortete ich vorsichtig.

»Wir möchten, dass Sie vorbereitet sind. Ist Ihnen irgendetwas daran unklar?«

»Eigentlich alles, um ehrlich zu sein.«

»Nun, es handelt sich dabei einfach um eine bestimmte Art, ins Innere des Körpers zu sehen. Es ist auch eine Standarduntersuchung für alle Patienten, die eine Verletzung davongetragen haben und unter schweren Kopfschmerzen oder einem Trauma leiden.«

»Was muss ich tun?«

»Gar nichts. Wir werden Sie lediglich in dieses Ding da hineinfahren, das aussieht wie ein weißer Doughnut. Sie werden ein Summen hören und wahrscheinlich ein Licht kreisen sehen. Es wird gar nicht lange dauern. Sie brauchen nur still dazuliegen.«

Ich musste wieder einen Krankenhauskittel anziehen.

Dann legte ich mich auf das Rollbett und starrte an die Decke.

»Das fühlt sich jetzt wahrscheinlich ein wenig kalt an.«

Sie massierte ein Gel auf meine Schläfen, strich es in mein frisch gewaschenes Haar. Anschließend schob sie einen harten Metallhelm auf meinen Kopf.

»Ich ziehe jetzt diese Schrauben hier an. Sie werden sich eventuell ein wenig beengt fühlen.« Sie legte ein paar Gurte über meine Schultern, meine Arme und meinen Bauch, zog sie fest. »So, nun wird sich der Tisch in Bewegung setzen.«

»Tisch?« fragte ich schwach, während ich bereits in den Tunnel glitt. Wenige Augenblicke später lag ich im Inneren einer Metallkammer und hörte das Summen, von dem sie gesprochen hatte. Ich schluckte trocken. Es war nicht völlig dunkel, über meinem Kopf konnte ich farbige Linien kreisen sehen. Dort draußen, nur ein paar Schritte von mir entfernt, befand sich ein hell erleuchteter Raum mit einer kompetenten Frau, die sicherstellte, dass alles so war, wie es sein sollte. Dahinter lag ein weiterer Raum mit einem Computer, der Bilder von meinem Gehirn machte.

Ein Stockwerk höher waren mehrere Krankenstationen mit Patienten, Ärzten, Schwestern, Pflegern, Reinigungskräften, Besuchern. Menschen, die mit Klemmbrettern bewaffnet Rollbetten durch die Gänge schoben. Draußen wehte der Ostwind, und vielleicht schneite es auch. Ich lag hier unten in einer summenden Metallröhre.

Mir ging durch den Kopf, dass manche Menschen, wenn sie dasselbe durchgemacht hätten wie ich, bestimmt ein Problem damit hätten, auf diese Weise eingesperrt zu sein.

Ich schloss die Augen. Ich konnte meine eigenen Bilder heraufbeschwören. Konnte an den blauen Himmel denken, den ich heute Morgen gesehen hatte, dieses leuchtende Blau, das sich von Horizont zu Horizont erstreckt und so wundervoll geglitzert hatte. Ich konnte mir vorstellen, wie der Schnee sanft aus dem grauen, tief hängenden Himmel fiel und auf Häusern, Autos und kahlen Bäumen liegen blieb. In der Dunkelheit schien sich das summende Geräusch irgendwie zu verändern. Es glich plötzlich mehr einem Pfeifen. Und ich hörte Schritte. Schritte, die sich näherten. Schritte in der Dunkelheit. Ich öffnete den Mund, um zu schreien, brachte aber außer einem erstickten Wimmern nichts heraus.

Was passierte mit mir? Ich versuchte es noch einmal, aber irgendetwas verstopfte mir den Mund. Ich konnte nicht richtig atmen, jedenfalls nicht durch den Mund.

Keuchend rang ich nach Luft. Ich würde hier ersticken.

Meine Brust schmerzte. Ich konnte noch immer nicht richtig atmen. In kleinen, unregelmäßigen Mengen sog ich die Luft ein, jedoch ohne Erleichterung zu verspüren. Die Schritte kamen näher. Ich war gefangen und musste ertrinken. In Luft ertrinken. In meinem Kopf begann es laut zu tosen. Ich öffnete die Augen, um mich herum war es noch immer dunkel, doch als ich die Augen wieder schloss, sah ich Rot. Meine Augen glühten in ihren Höhlen. Dann ging plötzlich ein Riss durch das Tosen, als wäre mein Kopf zerplatzt, um das ganze Entsetzen herauszulassen.

Endlich konnte ich schreien. Die Röhre füllte sich mit dem Klang meines Heulens. Meine Ohren dröhnten, und mein Hals wurde rau, aber ich konnte nicht aufhören zu schreien. Ich versuchte, die Schreie in Worte zu verwandeln und »Hilfe!« oder »Bitte!« zu rufen, aber die Laute brachen sich, schlugen Blasen und flossen ineinander. Alles zitterte und bebte, dann blendete mich plötzlich grelles Licht, und ich spürte Hände auf mir.

Hände, die mich festhielten, mich nicht loslassen wollten.

Ich schrie. Heulte. Die Schreie strömten geradezu aus mir heraus. Ich konnte in dem grellen Licht nichts sehen. Alles tat mir weh. Alles um mich herum schien mich mit seinem ganzen Gewicht erdrücken zu wollen. Neue Geräusche kamen hinzu, irgendwo waren Stimmen zu hören, jemand rief meinen Namen. Aus dem blendenden Licht starrten mich Augen an, beobachteten mich, aber ich konnte mich nirgends verstecken, weil ich mich nicht bewegen konnte.

Finger berührten mich. Kaltes Metall streifte meine Haut.

Meinen Arm. Etwas Nasses. Dann etwas Spitzes. Etwas, das sich in meine Haut bohrte.

Plötzlich war alles ruhig, und ich hatte das Gefühl, als würden sich das schmerzende Licht und die schrecklichen Geräusche langsam von mir entfernen, immer schwächer werden. Alles wurde schwächer, entfernte sich und verwandelte sich in Grau, als würde die Nacht hereinbrechen. Gerade, als ich mir nichts sehnlicher wünschte als Tageslicht. Und Schnee.

Als ich aufwachte, wusste ich nicht, wie viele Tage und Nächte seitdem vergangen waren. Die Welt war in Schwarz und Weiß gehüllt, aber mir war klar, dass es nicht an der Welt lag, sondern an mir. Mir schien, als läge ein grauer Filter vor meinen Augen, der allem die Farbe nahm. Meine Zunge fühlte sich trocken und pelzig an. Ich war nervös und gereizt. Am liebsten hätte ich mich am ganzen Körper gekratzt oder aber jemand anderen gekratzt. Ich verspürte den dringenden Wunsch aufzustehen und etwas zu unternehmen, wusste aber nicht, was.

Mein Frühstück schmeckte nach Pappe. Jedes Geräusch ließ mich zusammenzucken.

Ich lag im Bett, hing eine Weile düsteren Gedanken nach und begann Pläne zu schmieden mit der Absicht aufzustehen und mir jemanden zu suchen, der hier etwas zu sagen hatte, um dem oder der Betreffenden mitzuteilen, dass es für mich an der Zeit war, nach Hause zu gehen.

Anschließend würde ich Detective Inspector Cross aufsuchen und ihm nahelegen, allmählich mit seinen Ermittlungen in die Gänge zu kommen. Mitten in diesen Überlegungen betrat eine Frau den Raum. Sie trug weder eine Schwesterntracht noch einen weißen Kittel, sondern eine graue Hose aus einem schimmernden Stoff und einen honigfarbenen Pulli dazu. Ich schätzte sie auf gute fünfzig.

Sie hatte rotes Haar, blasse, sommersprossige Haut und eine randlose Brille auf der Nase.

»Ich bin Dr. Beddoes«, stellte sie sich lächelnd vor.

»Irene Beddoes«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

»Ich war bereits gestern Nachmittag hier. Erinnern Sie sich an unser Gespräch?«

»Nein.«

»Sie sind immer wieder eingeschlafen. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nicht viel mitbekommen haben.«

Obwohl ich so lange geschlafen hatte, fühlte ich mich immer noch müde. Müde und grau.

»Ich hatte bereits Besuch von einem Neurologen«, antwortete ich. »Er hat mein Gedächtnis getestet.

Außerdem bin ich in eine Maschine gesteckt worden. Man hat meinen Körper nach Verletzungen abgesucht und mich ein bisschen aufgepäppelt. Darf ich fragen, warum Sie hier sind?«

Ihr besorgtes Lächeln verlor nur eine Spur von seiner Herzlichkeit.

»Wir dachten, Sie möchten vielleicht mit jemandem reden.«

»Ich habe schon mit jemandem von der Polizei gesprochen.«

»Ich weiß.«

»Sind Sie Psychiaterin?«

»Unter anderem.« Sie deutete auf den Stuhl. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?«

»Nein, natürlich nicht.«

Sie zog ihn zum Bett herüber und ließ sich darauf nieder.

Sie trug ein angenehmes, dezentes Parfüm, das mich an Frühlingsblumen erinnerte.

»Ich habe mit Jack Cross gesprochen«, erklärte sie. »Er hat mir Ihre Geschichte erzählt. Sie haben wirklich Schreckliches durchgemacht.«

»Ich bin einfach nur froh, dass ich davongekommen bin«, entgegnete ich. »Ich möchte nicht, dass Sie mich als Opfer sehen. Ich glaube, ich schlage mich recht wacker.

Ein paar Tage lang war ich tot. Das mag albern klingen, aber es stimmt. Obwohl ich nicht unter der Erde lag, sondern noch atmen und essen konnte, wusste ich, dass ich tot war. Ich gehörte nicht mehr in die Welt der anderen.

Wie soll man diese Welt nennen? Das Land der Lebenden? Wo sich die Menschen über Sex und Geld und unbezahlte Rechnungen Sorgen machen. Dass ich entkommen konnte, war hauptsächlich Glück, aber nun lebe ich wieder und betrachte jeden Tag als Geschenk, von dem ich nicht mehr geglaubt habe, dass es mir noch vergönnt sein würde.«

»Ja«, sagte Dr. Beddoes, wirkte aber nach wie vor besorgt.

»Hinzu kommt, dass ich nicht krank bin. Ich weiß, dass ich ein paar Blessuren davongetragen habe. Ich weiß auch, dass mit meinem Gedächtnis etwas nicht in Ordnung ist, weil mir jemand einen Schlag auf den Schädel verpasst hat, aber alles in allem fühle ich mich recht gut. Ein bisschen neben der Spur vielleicht. Ich muss allerdings zugeben, dass ich es mir ganz anders vorgestellt habe.«

»Was? Was haben Sie sich anders vorgestellt?«

»Meine Rückkehr in die Freiheit. Ich liege hier in diesem Bett, trage ein altes kratziges Nachthemd, das mir nicht gehört, bekomme schreckliches Essen vorgesetzt und werde ständig von Leuten besucht, die sich mit besorgter Miene an mein Bett setzen und mit sanfter Stimme auf mich einreden, als müssten sie mich davon abhalten, von einem Fensterbrett in die Tiefe zu springen. Dabei habe ich eigentlich nur den Wunsch, in meine Wohnung zurückzukehren und mein Leben weiterzuleben. Meine Freunde zu sehen. Wieder in einen Pub zu gehen oder in ein Café, in meinen eigenen Klamotten eine ganz normale Straße entlangzuschlendern, tanzen zu gehen. Am Sonntagvormittag im Bett zu liegen, während die Sonne durch das Fenster hereinfällt, zu essen, was und wann ich möchte, nachts unten am Fluß spazierenzugehen … Aber dieser Mann ist noch dort draußen, in der Welt, in der ich wieder leben möchte. Falls es Sie wirklich interessiert –

das ist es, was mir nicht aus dem Kopf geht. Der Gedanke, dass er immer noch dort draußen herumläuft.«

Einen Moment lang schwiegen wir beide. Mein Ausbruch war mir ein wenig peinlich, doch sie wirkte nicht allzu geschockt.

»Ihre Wohnung«, sagte sie. »Wo ist die?«

»Es ist nicht wirklich meine«, antwortete ich.

»Eigentlich gehört sie meinem … dem Typen, mit dem ich zusammenlebe. Terry.«

»Hat er Sie schon besucht?«

»Er ist nicht da. Ich habe versucht, ihn anzurufen, aber er ist wohl beruflich unterwegs – er reist viel.«

»Haben Sie schon mit jemand anderem gesprochen?

Familienmitgliedern oder Freunden?«

»Nein. Ich möchte erst mal hier raus, dann werde ich mich mit ihnen in Verbindung setzen.« Sie sah mich erstaunt an, so dass ich das Gefühl hatte, eine Erklärung abgeben zu müssen.

»Ich schiebe es wohl noch ein bisschen vor mir her, allen meine Geschichte erzählen zu müssen«, gab ich zu. »Ich weiß nicht, wo ich da anfangen soll. Ich weiß auch nicht, wie ich sie erzählen soll, denn sie ist ja noch nicht zu Ende. Ich hätte gern ein richtiges Ende, bevor ich mit dem Erzählen anfange, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Sie wollen, dass er vorher gefasst wird?«

»Ja.«

»Aber vielleicht könnten Sie in der Zwischenzeit mit mir darüber reden?«

»Vielleicht«, antwortete ich vorsichtig. »Mein größter Wunsch wäre allerdings, endlich hier rauszukommen. Das ist das Einzige, was mir am Herzen liegt. Dieses Krankenhaus kommt mir wie eine Zwischenstation auf meinem Weg aus dem Gefängnis in die Freiheit vor. Ich fühle mich hier wie in einem Niemandsland.«

Dr. Beddoes betrachtete mich einen Moment. »Ihnen ist etwas Schreckliches zugestoßen, Abbie. Sie werden in diesem Krankenhaus von mindestens fünf verschiedenen Kapazitäten betreut, von der Polizei ganz zu schweigen.

Es ist ein beträchtliches logistisches Problem, all diese Leute dazu zu bringen, miteinander zu kommunizieren.

Aber soweit ich es beurteilen kann, ist man sich darüber einig, dass Sie noch ein paar Tage bleiben sollten. Zum einen weiß ich, dass die Neurologen Sie noch eine Weile zur Beobachtung hierbehalten wollen, nur sicherheitshalber. Und bei der Polizei ist man offensichtlich sehr beunruhigt. Der Mann, mit dem Sie zu tun hatten, scheint ausgesprochen gefährlich zu sein, und aus diesem Grund sähen es die Beamten lieber, wenn Sie in einer sicheren Umgebung bleiben würden, bis gewisse Entscheidungen gefallen sind.«

»Glauben sie, ich bin noch in Gefahr?«

»Ich kann nicht für die Polizei sprechen, aber ich denke, diese Frage ist extrem schwierig zu beantworten. Genau das ist ein Teil des Problems. Auf jeden Fall würde ich die nächsten paar Tage gern nutzen, um mit Ihnen zu sprechen. Selbstverständlich liegt die Entscheidung bei Ihnen, aber ich glaube, es könnte Ihnen helfen. Und nicht nur das. Es ist durchaus denkbar, dass wir im Verlauf unserer Gespräche auf Details stoßen werden, die für die Polizei von Nutzen sein können. Natürlich wäre das nur ein positiver Nebeneffekt. Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie einzig und allein den Wunsch haben, Ihr normales Leben wieder aufzunehmen.« Sie legte eine überraschende, sehr lange Pause ein, die mich irritierte.

»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll«, fuhr sie schließlich fort. »Die Rückkehr in Ihr altes Leben wird Ihnen unter Umständen nicht so leicht fallen, wie Sie jetzt vielleicht glauben. Es könnte sein, dass von einer Erfahrung wie dieser etwas zurückbleibt.«

»Sie meinen, ich bin verseucht?«

»Verseucht?« Für einen Moment schien es, als könnte sie die Verseuchung riechen oder würde zumindest versuchen, sie zu erschnüffeln. »Nein. Aber Sie führten ein normales Leben, aus dem Sie plötzlich herausgerissen und in eine schreckliche Situation versetzt wurden. Nun müssen Sie zur Normalität zurückkehren. Sie müssen entscheiden, wie Sie mit dem, was Ihnen zugestoßen ist, umgehen wollen. Wir alle müssen Wege finden, mit Dingen umzugehen, die uns widerfahren sind. Meiner Meinung nach könnten Sie das besser, wenn Sie mit mir über Ihre Erlebnisse reden würden.«

Ich wandte den Blick von ihr ab und sah wieder das Grau der Welt. Als ich erneut zu sprechen begann, waren meine Worte eher an mich selbst gerichtet als an sie.

»Ich weiß nicht, wie ich auf vernünftige Weise mit der Tatsache umgehen soll, dass mich jemand entführt hat und umbringen wollte. Das ist das Erste. Mein zweites Problem ist, dass mein Leben bereits vor dieser Sache nicht wirklich glatt lief. Aber ich will es versuchen.«

»Wir treffen uns einfach zu einem zwanglosen Gespräch«, schlug sie vor. »Sie müssen dabei nicht auf einer Couch liegen. Wenn Sie wollen, können wir uns auch in einer angenehmeren Umgebung unterhalten.«

»Das wäre großartig.«

»Vielleicht finde ich sogar einen Ort, wo es einen anständigen Kaffee gibt.«

»Das wäre die allerbeste Therapie.«

Lächelnd stand sie auf und schüttelte mir die Hand, bevor sie ging. Als Dr. Beddoes gekommen war, hätte ich ihr am liebsten den Rücken zugedreht und die Augen geschlossen. Nun, nachdem sie sich verabschiedet hatte, wurde mir zu meiner eigenen Überraschung klar, dass ich sie bereits vermisste.

»Sadie?«

»Abbie!« Ihre Stimme klang herzlich und klar. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete mich. »Von wo aus rufst du an?«, fragte sie mich. »Bist du immer noch im Urlaub?«

»Im Urlaub? Nein. Nein, Sadie, ich bin im Krankenhaus.«

»O mein Gott! Was fehlt dir denn?«

»Könntest du eventuell vorbeikommen? Ich kann am Telefon nicht darüber reden.«

»Woher weiß ich, dass er mich nicht vergewaltigt hat?«

Jack Cross saß auf dem Stuhl neben meinem Bett und zupfte am Knoten seiner Krawatte herum. Auf meine Frage nickte er zunächst nur, dann erwiderte er: »Wir können das natürlich nicht mit Sicherheit ausschließen, aber es gibt keine Hinweise in diese Richtung.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Nach Ihrer Einlieferung ins Krankenhaus hat man Sie, nun ja, genau untersucht, und so weiter und so weiter.«

»Und?«

»Und man hat nichts gefunden, was auf einen sexuellen Missbrauch hingedeutet hätte.«

»Das ist ja schon mal etwas.« Ich fühlte mich seltsam leer.

»Was ist dann passiert?«

»Wir versuchen uns gerade ein Bild davon zu machen«, antwortete er vorsichtig.

»Aber …«

»Eine der Personen, mit denen wir natürlich gerne sprechen würden, ist Ihr Freund, Terence Wilmott.«

»Und?«

»Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihrem Freund beschreiben?«

»Warum um alles in der Welt wollen Sie das wissen?

Was hat Terry mit der ganzen Sache zu tun?«

»Wie gesagt, wir versuchen gerade, uns ein Bild zu machen.«

»Nun ja, unsere Beziehung ist ganz in Ordnung«, erklärte ich abwehrend. »Natürlich haben wir unsere Höhen und Tiefen.«

»Welche Art von Tiefen?«

»Es war nicht Terry, falls Sie das denken.«

»Was?«

»Er hat mich nicht entführt. Mir ist klar, dass der Mann seine Stimme verstellt hat und ich sein Gesicht nie zu sehen bekommen habe, aber es war nicht Terry. Ich weiß, wie Terry riecht. Ich kenne ihn in- und auswendig. Wo auch immer er gerade sein mag, er wird bald zurückkommen. Dann können Sie mit ihm reden.«

»Im Ausland ist er jedenfalls nicht.«

»Ach?« Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. »Woraus schließen Sie das?«

»Sein Pass befindet sich noch in seiner Wohnung.«

»Tatsächlich? Dann treibt er sich wohl irgendwo hier in England herum.«

»Ja. Irgendwo.«

Ich stand vor dem Spiegel und sah mich einer Fremden gegenüber. Diese Person war nicht mehr ich. Ich war eine andere geworden. Eine dünne Frau mit verfilztem Haar und Blutergüssen im Gesicht. Ein Wesen mit kalkgrauer Haut, scharf hervorstehenden Knochen und glasigen, angsterfüllten Augen. Ich sah aus wie eine Tote.

Ich traf mich mit Dr.

Beddoes im Garten des

Krankenhauses. Trotz der Kälte hatte ich das starke Bedürfnis, draußen an der frischen Luft zu sein. Die Krankenschwestern hatten einen überdimensionalen erdbeerroten Steppmantel für mich aufgetrieben. Der Garten war ganz offensichtlich darauf ausgelegt, nervenkranke Patienten zu beruhigen. Es war zu schattig für Gras, aber es gab Pflanzen mit riesigen dunkelgrünen Wedeln. Das Zentrum der Anlage bildete ein Brunnen, ein großer Bronzetrog, bei dem das Wasser stets überlief und an der Außenseite hinunterrann. Da Dr. Beddoes noch nicht da war, schlenderte ich hinüber und sah ihn mir genauer an. Auf den ersten Blick sah das Ganze aus wie eine richtige Wasserverschwendungsanlage, aber dann entdeckte ich auf dem Grund des Gefäßes eine Öffnung und folgerte daraus, dass das überlaufende Wasser abfließen und wieder hochgepumpt werden konnte. Ein endloser Kreislauf.

Irene Beddoes erschien mit zwei Tassen Kaffee und in Zellophan verpackten Keksen. Wir ließen uns auf einer leicht feuchten Holzbank nieder. Sie deutete auf den wasserüberfluteten Brunnentrog.

»Das Ding ist angeschafft worden, weil ich der Meinung war, es würde entspannend wirken, wie in einem japanischen Zen-Garten«, erklärte sie. »Inzwischen finde ich es eher ein wenig gruselig.«

»Warum?«

»Gab es in der antiken Hölle nicht jemanden, der dazu verdammt war, bis in alle Ewigkeit zu versuchen, einen riesigen Tontopf mit Wasser zu füllen – einen Tontopf, der ein Loch hatte?«

»Das wusste ich nicht.«

»Ich hätte es Ihnen nicht erzählen sollen. Nun habe ich Ihnen womöglich die Freude daran verdorben.«

»Mir gefällt der Brunnen. Das Plätschern des Wassers ist angenehm. Für mich ist es ein fröhliches Geräusch.«

»So war es gedacht«, meinte sie.

Es war ein wundervolles, wenn auch etwas seltsames Gefühl, an diesem sonnigen Wintertag draußen zu sitzen.

Ich nippte nur hin und wieder an meinem Kaffee. Ich musste aufpassen. Meine Nerven waren bereits angeschlagen. Zu viel Koffein würde mir vermutlich den Rest geben.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie. Das schien mir ein ziemlich ungeschickter Einstieg zu sein.

»Wissen Sie, was mich an diesem Krankenhausleben nervt? Obwohl alle nett zu mir sind und ich sogar ein Einzelzimmer mit Fernseher habe, stört es mich, dass die Leute nicht anklopfen müssen, bevor sie eintreten.

Menschen, die ich noch nie gesehen habe, stürmen herein und putzen den Raum oder bringen mir etwas zu essen.

Die Netten unter ihnen nicken mir wenigstens noch zu, die anderen erledigen einfach ihre Arbeit.«

»Macht Ihnen das Angst?«

»Ja, natürlich. Ich meine, mir machen zur Zeit viele Dinge Angst – es macht mir Angst, darüber nachzudenken, wie es war. Das alles in Gedanken wieder und wieder zu durchleben, als hätte es nie aufgehört. Das Ganze schlägt dann irgendwie über mir zusammen, als befände ich mich unter Wasser. Als müsste ich ertrinken.

Die meiste Zeit versuche ich, nicht daran zu denken. Ich versuche, es von mir wegzuschieben. Vielleicht sollte ich das nicht tun. Glauben Sie, es wäre gesünder, sich damit auseinanderzusetzen?« Ich ließ ihr keine Zeit für eine Antwort. »Das andere, was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass der Täter noch nicht gefasst ist. Vielleicht wartet er bloß darauf, dass ich mich hier herauswage und er mich wieder schnappen kann. Wenn ich daran denke, bekomme ich sofort Atemprobleme. Alles in meinem Körper scheint vor Angst zu erstarren. Ja. Ja, ich habe Angst. Allerdings nicht immer. Manchmal fühle ich mich auch wie ein richtiger Glückspilz und freue mich, noch am Leben zu sein. Trotzdem wünschte ich, sie würden ihn endlich erwischen. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals wieder sicher fühlen werde, bis das nicht der Fall ist.«

In Irene Beddoes Gegenwart hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, über das sprechen zu können, was in jenem Raum mit mir passiert war und was ich dabei empfunden hatte. Sie war keine enge Freundin von mir. Ihr konnte ich von meinem Gefühl erzählen, mich selbst zu verlieren und Schritt für Schritt zu einem Tier degradiert zu werden oder zu einem Gegenstand. Ich erzählte ihr von seinem Lachen, seinem Flüstern, dem Kübel. Ich erzählte ihr, dass ich mit nassgepinkelter Hose aufgewacht war. Ich erzählte ihr auch, dass ich alles getan, alles über mich ergehen lassen hätte, um am Leben zu bleiben. Sie hörte schweigend zu, während ich redete und redete, bis meine Stimme müde wurde. Irgendwann hielt ich inne und lehnte mich zu ihr hinüber.

»Glauben Sie, Sie können mir helfen, mich an meine verlorenen Tage zu erinnern?«

»Mir geht es in erster Linie um das, was in Ihrem Kopf vor sich geht, was Sie durchmachen mussten und immer noch durchmachen. Wenn bei meiner Arbeit etwas herauskommt, das die polizeilichen Ermittlungen weiterbringt, dann ist das ein positiver Nebeneffekt. Die Beamten von der Polizei tun alles, was in ihrer Macht steht, Abbie.«

»Ich glaube nicht, dass ich ihnen viele Anhaltspunkte geben konnte.«

»Ihre Aufgabe ist es, wieder ganz gesund zu werden.«

Ich lehnte mich zurück und ließ den Blick die Fassade des Krankenhauses hinaufwandern. Aus dem ersten Stock blickte ein kleiner Junge mit hoher Stirn und ernstem Gesicht auf uns herunter. Von draußen drang Verkehrslärm zu uns herein, Motorengebrumm und Hupen.

»Wissen Sie, was einer meiner schlimmsten Alpträume ist?«, fragte ich sie.

»Was?«

»Ich habe zur Zeit viele Alpträume. Beispielsweise, wieder in jenem Raum zu sein. Es ist allerdings auch unerträglich für mich, hier in dieser Zwischenwelt zu leben, wo ich mir wie in einer Falle vorkomme. Manchmal aber habe ich die größte Angst davor, dass nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus – meiner Rückkehr in mein altes Leben – alles wieder seinen normalen Gang gehen und der Mann niemals gefasst werden wird. Dass die einzige bleibende Spur von ihm die Erinnerungsfetzen in meinem Kopf sein werden, die wie Würmer umherkriechen und mich von innen auffressen werden.«

Irene musterte mich aufmerksam.

»Haben Sie Ihr altes Leben nicht gemocht?«, fragte sie mich.

»Ist Ihnen der Gedanke, in dieses Leben zurückzukehren, unangenehm?«

»So habe ich das nicht gemeint«, entgegnete ich. »Ich kann nur die Vorstellung nicht ertragen, dass bei der ganzen Sache unter Umständen nichts herauskommt. Und dass mich das den Rest meines Lebens verfolgen wird.

Wie bei den Menschen, die an dieser besonderen Form von Taubheit leiden, Sie wissen schon, eigentlich ist es gar keine Taubheit. Das Problem ist nicht die Stille, sondern ein Geräusch, das die Leute in den Ohren haben, das stets vorhanden ist, bis es sie irgendwann in den Wahnsinn treibt, so dass manche sich sogar umbringen, nur um dieses Geräusch nicht mehr hören zu müssen.«

»Würden Sie mir ein wenig über sich erzählen, Abbie?

Über Ihr Leben vor dieser ganzen Sache?«

Ich trank einen Schluck Kaffee. Erst war er zu heiß gewesen, nun war er zu kalt. »Wo soll ich anfangen? Ich bin fünfundzwanzig. Ähm …« Ich hielt inne, wusste nicht, wie ich fortfahren sollte.

»Wo arbeiten Sie?«

»Seit gut zwei Jahren schufte ich wie eine Irre für eine Firma, die Büros ausstattet.«

»Was genau machen Sie da?«

»Wenn ein Unternehmen ein neues Büro einrichtet, machen wir so viel oder so wenig, wie die Auftraggeber wollen. Manchmal kümmern wir uns nur um die richtige Tapete, manchmal um die gesamte Ausstattung, von den Stiften bis hin zum Computersystem.«

»Macht Ihnen das Spaß?«

»Eigentlich schon. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, auch in zehn Jahren noch dasselbe zu machen –

wenn ich genauer darüber nachdenke, glaube ich nicht einmal, dass ich in einem Jahr noch dabei sein werde. Ich bin in diesen Job irgendwie hineingestolpert und habe festgestellt, dass ich recht erfolgreich bin. Manchmal sitzen wir bloß herum und drehen Däumchen, aber wenn wir Termindruck haben, arbeiten wir oft bis zum Morgengrauen. Das ist es, wofür uns die Leute bezahlen.«

»Und Sie haben einen Freund?«

»Ja. Ich habe Terry durch meine Arbeit kennengelernt.

So lernen sich die meisten Paare kennen, nicht wahr? Ich wüsste nicht, wo ich sonst jemanden kennenlernen sollte.

Er ist Informatiker, und ich bin vor etwa einem Jahr bei ihm eingezogen.«

Sie saß schweigend da und schien darauf zu warten, dass ich weitersprach, also tat ich ihr den Gefallen, zum einen, weil ich grundsätzlich zu viel rede, besonders, wenn sonst niemand spricht – und zum anderen, weil mir danach zumute war. Ich wollte endlich über ein paar Dinge reden, die ich nie zuvor in Worte gefasst hatte.

»Ehrlich gesagt waren die letzten paar Wochen nicht gerade berauschend. In vieler Hinsicht waren sie sogar ziemlich übel. Ich habe zu viel gearbeitet, er auch – und wenn er zu viel arbeitet, dann trinkt er auch zu viel. Ich glaube nicht, dass er Alkoholiker ist, er trinkt einfach, um sich zu entspannen. Allerdings entspannt er sich nicht wirklich, jedenfalls nicht lange. Irgendwann wird er entweder weinerlich oder wütend.«

»Wütend worüber?«

»Schwer zu sagen. Alles. Das Leben. Mich. Er wird wütend auf mich, weil ich gerade da bin, glaube ich. Dann wird er, nun ja, er …« Ich hielt abrupt inne. Es fiel mir schwer weiterzusprechen.

»Er wird gewalttätig?«, fragte Irene Beddoes.

Ich hatte das Gefühl, einen Hang hinunterzurutschen, an dessen Fuß Dinge auf mich warteten, von denen ich noch nie jemandem richtig erzählt hatte.

»Manchmal«, murmelte ich.

»Schlägt er Sie?«

»Ihm ist ein paarmal die Hand ausgerutscht, ja. Ich habe mich immer für die Sorte Frau gehalten, die sich bloß ein einziges Mal von einem Mann schlagen lässt. Hätten Sie mich vor ein paar Monaten gefragt, dann hätte ich Ihnen geantwortet, dass ich mich sofort umdrehen und gehen würde, wenn ein Mann auf die Idee käme, mich zu schlagen. Aber das habe ich nicht getan. Ich weiß selbst nicht, warum. Es tat ihm immer gleich so schrecklich Leid, und ich hatte wohl Mitleid mit ihm. Klingt das sehr dumm? Ich hatte das Gefühl, dass er da etwas tat, was ihn selbst mehr verletzte als mich. Wenn ich jetzt darüber spreche – ich habe im Grunde noch nie wirklich darüber gesprochen –, dann kommt es mir vor, als würde ich von einer anderen erzählen, nicht von mir selbst. Ich bin normalerweise nicht die Sorte Frau, die bei einem Mann bleibt, der sie schlecht behandelt. Ich bin – na ja, eher die Sorte Frau, die aus einem Keller entkommen ist und jetzt ihr Leben weiterleben möchte.«

»Sie haben da ein richtiges Heldenstück geliefert«, meinte sie, und es klang herzlich.

»So sehe ich das nicht. Wirklich nicht. Ich habe lediglich getan, was ich konnte.«

»Das war offensichtlich ziemlich viel. Ich habe mich recht eingehend mit diesem Psychopathen beschäftigt …«

»Das haben Sie mir noch gar nicht gesagt«, unterbrach ich sie. »Sie sagten doch, Sie wären Psychiaterin und würden sich für diese ganze Seite des Falls nicht interessieren.«

»Sie haben in dieser Situation zunächst erstaunlich starke Nerven bewiesen, sich ausschließlich aufs Überleben konzentriert. Zudem ist Ihnen diese bemerkenswerte Flucht gelungen. Dafür gibt es kaum einen Präzedenzfall.«

»Sie kennen nur meine Version. Vielleicht habe ich auch übertrieben, um noch heldenhafter dazustehen.«

»Ich wüsste nicht, was es da zu übertreiben gäbe«, widersprach sie. »Schließlich sind Sie hier. Sie sind am Leben.«

»Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Jedenfalls wissen Sie jetzt alles über mich.«

»Das würde ich nicht sagen. Vielleicht können wir uns die nächsten ein, zwei Tage noch ein paarmal zusammensetzen.«

»Das wäre schön«, antwortete ich.

»Ich hole uns gleich etwas zu essen. Sie müssen am Verhungern sein. Doch vorher möchte ich Sie noch um einen Gefallen bitten.«

»Um welchen?«

Sie antwortete nicht gleich. Stattdessen begann sie in ihrer Umhängetasche zu kramen. Während ich ihr dabei zusah, schoss mir durch den Kopf, dass sie genau die Art Mutter war, die ich mir selbst ausgesucht hätte: warmherzig, wo meine Mutter kühl war, ruhig und selbstsicher, wo meine Mutter zur Hysterie neigte, intelligent, wo meine Mutter, nun ja, nicht gerade Einstein war – alles in allem eine interessante Frau.

Schließlich zog sie eine Aktenmappe aus ihrer Tasche, legte sie auf den Tisch und nahm ein Blatt heraus, ein Formular, das sie vor mich hinlegte.

»Was ist das?«, fragte ich. »Wollen Sie mir eine Versicherung aufschwatzen?«

Sie blieb ernst. »Ich möchte Ihnen helfen«, antwortete sie.

»Und um Ihren Fall richtig beurteilen zu können, würde ich mir gern ein möglichst vollständiges Bild von Ihnen machen. Ich würde mir gern Einblick in Ihre sämtlichen bisherigen Krankenakten verschaffen, und dafür brauche ich Ihr Einverständnis. Sie müssten hier unterschreiben.«

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte ich. »Meine Krankenakten?

Das sind doch nur Stapel von Aufzeichnungen über Impfungen vor irgendwelchen Urlauben und Antibiotika, wenn ich die Grippe hatte.«

»Es könnte trotzdem hilfreich sein«, entgegnete sie und reichte mir einen Stift.

Achselzuckend unterschrieb ich.

»Na, dann viel Spaß, ich beneide Sie nicht. Und jetzt, was tun wir jetzt?«

»Ich fände es schön, wenn wir uns noch etwas unterhalten würden«, antwortete sie. »Beziehungsweise, wenn Sie weiter erzählen würden. Fangen Sie doch einfach an, mal sehen, wo uns das hinführt. Aber vorher hole ich uns was zu essen.«

Nachdem sie mit Sandwiches, Salat, Mineralwasser, Tee und Keksen zurückgekehrt war, tat ich wie mir geheißen.

Ich ließ meinen Worten freien Lauf. Und während ich erzählte, wanderte die Sonne über den Himmel.

Manchmal, wenn ich an die bleierne Müdigkeit dachte, die während des ganzen letzten Jahres mein Leben geprägt hatte, weinte ich auch ein bisschen, doch meist redete ich, hörte gar nicht mehr auf zu erzählen, bis ich völlig erschöpft war, es im Garten bereits dunkel und kalt zu werden begann und Irene mich durch hallende Korridore zurück zu meinem Zimmer führte.

Auf meinem Bett lag ein großer Strauß Narzissen, daneben ein alter Briefumschlag mit einer Nachricht für mich: »Schade, dass du nicht da warst. Ich habe gewartet, solange es ging. Ich komme wieder, sobald ich Zeit habe.

Alles Liebe, ich denke an dich, Sadie.«

Ich musste mich aufs Bett setzen, weil mir vor lauter Enttäuschung die Beine den Dienst versagten.

»Wie kommen Sie mit Ihren Ermittlungen voran?«

»Wir haben zu wenig Anhaltspunkte, um richtig ermitteln zu können.«

»Was ist mit den anderen Frauen?«

»Wir haben nur fünf Vornamen.«

»Sechs. Wenn man mich mitzählt.«

»Wenn Sie …«

Cross hielt inne und senkte verlegen den Kopf.

»Wenn mir irgendetwas einfällt«, sagte ich, »werden Sie der Erste sein, der davon erfährt.«

»Dies ist Ihr Gehirn.«

»Mein Gehirn.« Ich starrte auf das Röntgenbild vor uns und berührte meine Schläfen. »Ein seltsames Gefühl, sich sein eigenes Gehirn anzusehen. Und, ist damit alles in Ordnung?«

Charlie Mulligan lächelte mich an.

»Wenn Sie mich fragen, sieht es ziemlich gut aus.«

»Vielleicht ein bisschen düster.«

»Es sieht genau so aus, wie es aussehen soll.«

»Trotzdem kann ich mich noch immer nicht erinnern. In meinem Leben klafft ein Loch.«

»Das wird vielleicht auch so bleiben.«

»Ein katastrophenförmiges Loch.«

»Oder die Erinnerung wird langsam zurückkehren und das Loch füllen.«

»Kann ich das irgendwie beeinflussen?«

»Denken Sie nicht ständig daran. Entspannen Sie sich.«

»Und das sagen ausgerechnet Sie mir.«

»Es gibt Schlimmeres, als ein paar Tage seines Lebens zu vergessen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Wie auch immer, ich muss los.«

»Zurück zu Ihren Mäusen.«

Ich griff nach seiner ausgestreckten Hand. Sein Händedruck war warm und fest. »Ja, zurück zu meinen Mäusen. Lassen Sie es mich wissen, falls Sie etwas brauchen.«

Falls ich etwas brauche, wobei Sie mir weiterhelfen können, dachte ich, nickte aber bloß und versuchte dabei zu lächeln.

»Ich habe gelesen, dass man sich im Leben nur zwei- oder dreimal richtig verliebt.«

»Glauben Sie, das stimmt?«, fragte Irene Beddoes.

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Was mich betrifft, so habe ich mich entweder überdurchschnittlich oft verliebt oder aber nie so richtig. Es beginnt ja in der Regel damit, dass man weder schlafen noch essen kann, sich ständig schwindelig und atemlos fühlt und nicht so recht weiß, ob man total glücklich oder total unglücklich ist. Man möchte einfach nur bei ihm sein, und der Rest der Welt kann sich zum Teufel scheren.«

»Ja.«

»Dieses Gefühl hatte ich schon oft, aber es hält meist nicht lange an. Manchmal bloß ein paar Tage oder bis man das erste Mal Sex hatte. Danach geht es zurück, und man muss sehen, was einem noch bleibt. Oftmals nicht besonders viel. Wie bei einem Feuer, von dem nur Asche übrig bleibt. Man denkt sich: Wozu eigentlich dieser ganze Wirbel? Manchmal liegt einem der betreffende Mensch weiterhin am Herzen, man mag und begehrt ihn immer noch. Aber ist das dann Liebe? Am heftigsten verliebt war ich während meiner Studienzeit. Wie sehr ich diesen Jungen vergöttert habe! Aber das war auch nicht von Dauer.«

»Hat er Sie verlassen?«

»Ja. Ich habe wochenlang geheult. Ich dachte, ich würde nie darüber hinwegkommen.«

»Und Terry? Ist die Beziehung mit ihm stärker als Ihre früheren?«

»Zumindest länger, was vielleicht auch schon etwas aussagt, auf eine gewisse Bindung hinweist. Oder auch nur auf Ausdauer.« Ich stieß ein Lachen aus, das gar nicht wie mein normales Lachen klang. »Ich meine, ich habe das Gefühl, ihn inzwischen wirklich gut zu kennen. Ich kenne ihn auf eine Weise, wie ich kaum einen anderen Menschen kenne. All die intimen kleinen Dinge, die er vor anderen Menschen verbirgt … Und je besser ich ihn kenne, desto mehr Grund hätte ich eigentlich, ihn zu verlassen, aber desto schwerer fällt es mir. Ergibt das Sinn?«

»Es klingt ein bisschen so, als hätten Sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen.«

»Viele Menschen haben zeitweise das Gefühl, in der Falle zu sitzen, was ihre Beziehungen betrifft, meinen Sie nicht?«

»Sie haben also sowohl in der Arbeit als auch zu Hause das Gefühl, in der Falle zu sitzen?«

»Ganz so dramatisch würde ich es nicht formulieren. Ich habe allerdings zugelassen, dass sich ein bestimmter Trott in mein Leben eingeschlichen hat.«

»Aus dem Sie schon seit längerem ausbrechen wollen?«

»Man rutscht ganz langsam in so etwas hinein. Erst wenn es sich zu einer richtigen Krise ausgewachsen hat, merkt man plötzlich, wo man steht.«

»Das heißt also …?«

»Dass ich in einer Krise stecke.«

Als Irene am nächsten Tag in mein Zimmer trat … Mein Zimmer. Ich ertappte mich immer öfter bei diesem Gedanken. Als wollte ich den Rest meines Lebens dort verbringen. Als wäre ich nicht mehr in der Lage, mit der Welt draußen klarzukommen – einer Welt, in der ich wieder gezwungen wäre, Dinge für mich zu kaufen und Entscheidungen zu treffen.

Sie wirkte so ruhig wie immer. Lächelnd fragte sie mich, wie ich denn geschlafen hätte. In der richtigen Welt fragten einen die Leute auch manchmal, wie es einem gehe, wollten es aber gar nicht wirklich wissen, sondern erwarteten die Antwort »gut«. Es kam höchst selten vor, dass jemand fragte, wie man geschlafen habe, ob man auch genug esse und wie man sich fühle, und es auch tatsächlich wissen wollte. Irene Beddoes wollte es wissen.

Sie sah mich mit ihren intelligenten Augen an und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Also behauptete ich, gut geschlafen zu haben, obwohl es gar nicht stimmte. Das war ein weiterer Punkt, der mich am Krankenhaus störte.

Natürlich hatte ich mein eigenes Zimmer, aber solange dieses Zimmer nicht auf einer Insel mitten im Pazifik lag, wurde man trotzdem um halb drei Uhr morgens von einer schreienden Frau geweckt. Jemand eilte herbei und kümmerte sich um sie, ich aber starrte die verbleibende Nacht in die Dunkelheit und dachte an Sterben und Tod, an den Keller und die Stimme in meinem Ohr.

»Gut, danke«, sagte ich noch einmal.

»Ihre Akte ist eingetroffen«, bemerkte sie.

»Welche Akte?«

»Die mit Ihrer Krankengeschichte. Die ich bei Ihrem Hausarzt angefordert habe.«

»Ach so«, sagte ich. »Das hatte ich schon wieder völlig vergessen. Ich nehme an, sie enthält eine Menge schlimme Dinge, die vor Gericht sämtlich gegen mich verwendet werden können.«

»Warum sagen Sie das?«

»War nur ein Scherz. Nun werden Sie gleich sagen, dass es so etwas wie ›nur ein Scherz‹ nicht gibt.«

»Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie wegen schwerer Depressionen behandelt worden sind.«

»Wie bitte?«

Sie warf einen Blick in ihr Notizbuch.

»Im November 1995 wurde Ihnen ein Antidepressivum verschrieben.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Versuchen Sie es.«

Ich überlegte einen Moment. 1995. Da hatte ich studiert.

Mein Zusammenbruch.

»Das muss die Zeit gewesen sein, als Jules sich von mir trennte. Ich habe Ihnen gestern davon erzählt. Ich steigerte mich damals in einen schrecklichen Zustand hinein, war fest davon überzeugt, dass mein Herz gebrochen war. Nun ja, wahrscheinlich war es das auch. Ich kam morgens nicht mehr aus dem Bett, weinte die ganze Zeit. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Seltsam, wie viel Wasser man in sich hat. Schließlich hat mich eine Freundin dazu gebracht, den College-Arzt aufzusuchen. Er hat mir ein paar Pillen verschrieben, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob ich sie überhaupt genommen habe.« Als ich mir meiner Wortwahl bewusst wurde, musste ich lachen. »Wenn ich sage, ich kann mich nicht erinnern, dann meine ich damit keinen weiteren Fall von Amnesie.

Das Ganze ist bloß schon so lange her und war mir später nicht mehr wichtig.«

»Warum haben Sie die Sache gestern nicht erwähnt?«

»Mit sieben oder acht Jahren bekam ich zum Geburtstag ein Taschenmesser geschenkt. Unglaublich, aber wahr.

Ungefähr acht Minuten später versuchte ich, im Garten an einem Stück Holz herumzuschnitzen und stieß mir das Messer dabei in den Finger.« Ich hielt die linke Hand hoch. »Sehen Sie, da ist immer noch eine hübsche Narbe.

Es hat wie verrückt geblutet. Vielleicht bilde ich mir das bloß ein, aber jedes Mal, wenn ich die Narbe ansehe, spüre ich, wie es sich anfühlte, als ich mit dem Messer abrutschte und die Klinge in meinen Finger glitt. Das habe ich gestern auch nicht erwähnt.«

»Abbie, wir haben über Ihren psychischen Zustand gesprochen. Darüber, wie Sie auf Stress reagieren.

Trotzdem haben Sie das nicht erwähnt.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass ich es auf dieselbe Weise vergessen habe wie meine Entführung durch diesen Mann? Außerdem habe ich sehr wohl darüber gesprochen.

Ich habe Ihnen doch bei unserem gestrigen Gespräch davon erzählt.«

»Ja, aber Sie haben nicht erwähnt, dass Sie deswegen in ärztlicher Behandlung waren.«

»Nur weil mir das nicht relevant erschien. Ich hatte an der Uni eine Affäre mit einem Jungen, und als die Sache schief ging, wurde ich depressiv. Gut, vielleicht haben Sie Recht, vielleicht ist es tatsächlich relevant. Ich nehme an, in gewisser Hinsicht ist alles relevant. Vielleicht habe ich das nicht erwähnt, weil es so traurig war und ich mich so allein gelassen fühlte.«

»Allein gelassen?«

»Ja. Natürlich. Schließlich war ich verliebt und er nicht.«

»Ich habe bei der Durchsicht Ihrer Akten besonders darauf geachtet, wie Sie auf andere Stresssituationen in Ihrem Leben reagiert haben.«

»Wenn Sie meine Entführung durch einen Psychopathen, der vorhatte, mich zu töten, mit den Phasen meines Lebens vergleichen wollen, in denen ich mich von einem Freund trennte oder unter einem Ekzem litt, das ich zwei Jahre lang nicht mehr loswurde – sind Sie schon an diesem Punkt meiner Akte angelangt? –, nun, dann kann ich dazu bloß sagen, dass sich das einfach nicht vergleichen lässt.«

»Eins haben all diese Situationen gemeinsam: dass Sie sie erlebt haben. Ich suche nach Verhaltensmustern.

Dieses Ereignis zählt zu den Dingen, die Ihnen in Ihrem Leben widerfahren sind, und wie alles, was Ihnen widerfährt, wird es Sie auf irgendeine Art und Weise geprägt haben. Ich hoffe, ich kann helfen, dafür zu sorgen, dass es keine schlimmen Auswirkungen auf Sie haben wird.«

»Aber es passieren nun mal Dinge im Leben, die einfach furchtbar sind, und dieses Erlebnis gehört definitiv dazu.

Es wird immer ein furchtbares Erlebnis für mich bleiben, ich kann es nicht in etwas Positives umwandeln. Wichtig ist meiner Meinung nach einzig und allein, dass dieser unglaublich gefährliche Mann gefasst und eingesperrt wird, damit er nie wieder einem Menschen so etwas antun kann.« Ich blickte aus dem Fenster. Über dem Krankenhauskomplex leuchtete ein klarer blauer Himmel.

Ich konnte die Kälte draußen nicht spüren, aber ich konnte sie sehen. Allein dieser Anblick bewirkte, dass mir die Luft in diesem verhassten Raum plötzlich unerträglich stickig erschien. »Noch etwas.«

»Was?«, fragte Irene.

»Ich muss hier raus. Und zwar schnell, sonst schaffe ich es nie mehr. Ich muss schleunigst wieder ein normales Leben führen. Ich schätze, ich kann nicht einfach aufstehen und diese geborgten Kleidungsstücke anziehen –

obwohl, wenn ich es mir recht überlege, warum eigentlich nicht? Nein, ich werde mit Dr. Burns sprechen oder eine Nachricht bei seiner Sekretärin hinterlassen und ihn davon in Kenntnis setzen, dass ich morgen von hier verschwinde.

Ich werde bei Jack Cross eine Adresse hinterlassen, unter der ich zu erreichen bin. Und wenn Sie dann immer noch Interesse daran haben, mit mir zu sprechen, dann bin ich gerne bereit, mich an einem Ort Ihrer Wahl mit Ihnen zu treffen. Aber hier kann ich nicht länger bleiben.«

Irene Beddoes reagierte wie immer mit Verständnis, als hätte sie nichts anderes von mir erwartet.

»Vielleicht haben Sie Recht«, meinte sie. »Könnten Sie uns trotzdem noch einen Gefallen tun? Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass sich viele verschiedene Ärzte und Abteilungen um Sie kümmern. Es tut mir Leid, dass Sie oft so lange warten mussten, aber Sie können sich sicher vorstellen, wie kompliziert es ist, all diese Leute zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammenzubringen und sie zu einer Entscheidung zu bewegen. Ich habe gerade erfahren, dass für morgen früh eine Besprechung mit allen Beteiligten angesetzt ist. Es wird dabei um die Frage gehen, wie in Ihrem Fall weiter verfahren werden soll. Ein wesentlicher Punkt wird Ihre Entlassung sein.«

»Kann ich mitkommen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kann ich mit zu dieser Besprechung?«