Zum ersten Mal erlebte ich Irene für einen Moment sprachlos.

»Tut mir Leid, aber das geht nicht.«

»Sie meinen, da werden Dinge zur Sprache kommen, die ich vielleicht nicht hören möchte?«

Sie setzte ihr beruhigendes Lächeln auf.

»Aber nein. Patienten nehmen an solchen Besprechungen einfach nicht teil. Das ist so geregelt.«

»Meiner Meinung nach handelt es sich hier nicht so sehr um einen medizinischen Fall, sondern um eine polizeiliche Ermittlung, an der ich sehr wohl beteiligt sein sollte.«

»Niemand will Ihnen etwas verheimlichen. Ich werde hinterher sofort zu Ihnen kommen und Bericht erstatten.«

Ich sah sie nicht an. Mein Blick wanderte erneut zum Fenster.

»Ich werde mit gepackter Tasche auf Sie warten«, erklärte ich.

An diesem Nachmittag hatte Jack Cross keine Zeit für mich, er war zu beschäftigt. Statt seiner kam ein minder wichtiger Detective namens Lavis. Er war so groß, dass er aus reiner Gewohnheit ständig den Kopf einzog, und das, obwohl mein Zimmer fast drei Meter hoch war. Er war definitiv nur ein Ersatzmann, behandelte mich aber ausgesprochen freundlich, als hätte er das Gefühl, mit mir gegen den Rest der Welt antreten zu müssen. Der Stuhl, auf dem er neben meinem Bett Platz nahm, wirkte unter ihm lächerlich klein.

»Ich habe versucht, Cross zu erreichen«, sagte ich.

»Er ist unterwegs«, antwortete Lavis.

»Ja, das hat man mir auch gesagt. Ich hatte trotzdem gehofft, er würde mich zurückrufen.«

»Er ist recht beschäftigt. Deswegen hat er mich geschickt.«

»Ich wollte ihn darüber informieren, dass ich vorhabe, das Krankenhaus zu verlassen.«

»In Ordnung«, antwortete Lavis, als hätte er gar nicht richtig mitbekommen, was ich gesagt hatte. »Ich werde es ihm ausrichten. Man hat mich geschickt, damit ich ein paar Dinge mit Ihnen bespreche.«

»Und die wären?«

»Gute Nachrichten«, verkündete er in munterem Ton.

»Ihr Freund. Terry Wilmott. Wir haben uns seinetwegen langsam ein wenig Sorgen gemacht, aber er ist wieder aufgetaucht.«

»War er beruflich unterwegs oder auf Sauftour?«

»Er trinkt manchmal gern einen über den Durst, oder?«

»Hin und wieder.«

»Ich habe ihn gestern kennen gelernt. Er wirkte etwas blass, aber ansonsten recht fit.«

»Hat er gesagt, wo er war?«

»Angeblich war er krank. Er sagte, er sei in einem Cottage in Wales gewesen, das einem seiner Freunde gehört.«

»Das klingt ganz nach Terry. Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Er hatte nicht viel zu dem Thema zu sagen.«

»Dann hat sich das Geheimnis also gelüftet«, meinte ich.

»Der Idiot. Ich werde ihn anrufen.«

»Demnach hat er sich noch nicht bei Ihnen gemeldet.«

»Bis jetzt nicht.«

Lavis schien sich unbehaglich zu fühlen. Er erinnerte mich an einen schüchternen Jugendlichen, der schon rot wurde, wenn man ihn nach der Uhrzeit fragte.

»Der Boss hat mich mit ein paar Nachforschungen beauftragt«, erklärte er. »Ich habe in Ihrer Firma vorbeigeschaut, Jay & Joiner. Nette Leute.«

»Wenn Sie das sagen.«

»Wir versuchen herauszufinden, wann genau Sie verschwunden sind.«

»Ja?«

»Ja.« Er schniefte ein wenig und blickte sich dabei um, als müsste er nach einem Fluchtweg Ausschau halten.

»Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?«

»Wie gesagt, ich plane, morgen das Krankenhaus zu verlassen.«

»Und Ihre beruflichen Pläne?«

»Ich werde mich mit der Firma in Verbindung setzen.

Bis jetzt habe ich mich noch nicht fit genug gefühlt, aber ich schätze, ich werde in der nächsten oder übernächsten Woche an meinen Schreibtisch zurückkehren.«

»Sie wollen wieder dort arbeiten?« Er klang erstaunt.

»Was sonst? Ich muss schließlich von irgendetwas leben. Aber es ist nicht nur das. Ich muss wieder in mein normales Leben zurückkehren, solange ich dazu noch in der Lage bin.«

»Ja, da haben Sie Recht«, meinte Lavis.

»Sie müssen entschuldigen. Ich weiß, dass ich Sie nicht mit meinen persönlichen Problemen behelligen sollte.«

»Das ist schon in Ordnung.«

»Sie haben mit den Ermittlungen bestimmt alle Hände voll zu tun.«

»Durchaus, ja.«

»Ich weiß, dass ich Ihnen dabei keine große Hilfe war.«

»Wir tun, was in unserer Macht steht.«

»Es tut mir wirklich Leid, dass ich nicht in der Lage war, den Ort zu finden, wo ich festgehalten wurde. Ich bin nicht gerade eine erstklassige Zeugin. Aber ich habe das Gefühl, völlig im Dunkeln zu tappen. Gibt es schon neue Entwicklungen? Ich nehme an, Sie haben inzwischen die Namen überprüft, die ich Cross genannt habe. Die Namen der anderen Opfer. Ich hatte gehofft, sie wären vielleicht ein Anhaltspunkt. Hat sich da etwas ergeben? Offenbar nicht, denn sonst hätte man mich bestimmt informiert.

Obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass mir niemand etwas sagt. Das ist auch ein Problem, mit dem man konfrontiert wird, wenn man in diesem Raum in diesem Bett liegt. Jedenfalls habe ich dadurch einen Eindruck gewonnen, wie man sich als alter oder kranker Mensch fühlt. Die Leute behandeln einen, als hätte man einen kleinen Sprung in der Schüssel. Wissen Sie, was ich meine? Alle, die hier herkommen, reden ein bisschen langsamer als sonst und stellen mir extrem einfache Fragen, als wäre ich des Denkens nicht mehr ganz mächtig. Und sie halten es nicht für nötig, mir irgendetwas mitzuteilen. Allen Ernstes, ich glaube, wenn ich nicht ab und zu einen Anfall bekäme, würden sie mich völlig vergessen.«

Dass ich so vor mich hinplapperte lag vor allem daran, dass Lavis den Mund nicht aufbekam, sondern verlegen auf seinem Stuhl hin und her rutschte und dabei einen recht gehetzten Eindruck machte; und je länger ich plapperte, desto gehetzter wirkte er. Ich kam mir schon wie eine dieser armen Kreaturen vor, die auf der Straße ständig vor sich hinmurmelten und jedem, den sie zum Anhalten bewegen konnten, wortreich vorjammerten, wie schlecht es ihnen gehe und dass es alle auf sie abgesehen hätten.

»Ich habe Ihnen wohl nicht sehr viel sagen können«, wandte ich mich erneut an Lavis. »Ich meine, ich habe gerade ziemlich viel geredet, ohne dass es Ihnen weiterhilft.«

»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Lavis und stand auf. Er war im Begriff, das Weite zu suchen. »Ich wollte nur einige Dinge mit Ihnen abklären. Wie ich anfangs bereits sagte.«

»Es tut mir Leid, wenn ich Sie aufgehalten habe«, sagte ich.

»Ich bin im Moment wirklich ein bisschen durcheinander.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Lavis erneut, während er langsam auf die offene Tür zusteuerte. Doch er widersprach mir nicht.

St. Anthony Hospital

Datum: 28. Januar 2002

Fallbesprechung – Abigail Elizabeth Devereaux.

Zimmer 4E, Barrington-Flügel. Einweis.Nr. 923903 Cc.

Detective Chief Superintendent Gordon Lovell, Laurraine Falkner (Verwaltungsdirektorin), Professor Ian Burke (Medizinischer Leiter)

Protokollführerin: Susan Barton (Medizinische Verwaltungsangestellte)

NB: NICHT ZUR ALLGEMEINEN EINSICHTNAHME

Anwesend: Detective Chief Superintendent Lovell, Detective Inspector Cross, Dr. Burns, Dr. Beddoes, Prof.

Mulligan

Zu Beginn der Besprechung lieferte Detective Inspector Cross einen Bericht über den Fall und den aktuellen Stand der damit verbundenen Ermittlungen. Am zweiundzwanzigsten Januar wurde Ms. Devereaux per Ambulanz in der Ferdinand Road abgeholt und eingeliefert. Am nächsten Tag befragt, gab sie an, entführt worden zu sein. Ihr Entführer habe gedroht, sie zu töten.

Laut DI Cross werden die Ermittlungen mangels objektiven Beweismaterials erschwert. Ms. Devereaux ist nicht in der Lage, sich an ihre Entführung zu erinnern.

Während ihrer Gefangenschaft war sie gefesselt und trug stets eine Kapuze über dem Kopf. Das einzig Relevante, woran sie sich erinnern kann, ist eine Liste weiblicher Vornamen, von denen ihr Entführer behauptete, sie seien die Namen früherer Opfer.

Ms. Devereaux konnte aus dieser Gefangenschaft entkommen, war aber, als sie unter Polizeischutz in die betreffende Gegend zurückkehrte, bedauerlicherweise nicht in der Lage, den Ort zu lokalisieren, von dem sie entkommen war.

Dr.

Beddoes erkundigte sich, ob erfolgreiche Fluchtversuche dieser Art von Entführungsopfern häufig oder selten vorkämen. DI Cross antwortete, er habe mit solchen Fällen nur sehr begrenzte Erfahrung. Dr. Beddoes fragte, ob in diesem Fall bereits Fortschritte zu verzeichnen seien. DI Cross antwortete, die Ermittlungen befänden sich noch in einem sehr vorläufigen Stadium.

Dr.

Burns beschrieb die bei Ms. Devereaux festgestellten, hauptsächlich oberflächlichen Verletzungen. Er berichtete, dass ihr dehydrierter, unterernährter Zustand zwar nicht lebensbedrohlich gewesen sei, aber durchaus auf eine Form von körperlichen Strapazen hingedeutet habe.

Dr.

Beddoes fragte, ob der Körper der Patientin irgendwelche Spuren von Gewaltanwendung oder Folter aufgewiesen habe. Dr. Burns antwortete, Blutergüsse an Hals und Handgelenken hätten auf eine Fesselung hingedeutet.

Dr. Burns stellte fest, die Computertomographie habe keinen Befund ergeben, offensichtlich lägen keine Gehirnverletzungen vor, Professor Mulligan berichtete über seine Beurteilung der Patientin. Er sei zu dem Schluss gekommen, dass Ms. Devereaux’ Aussagen über ihre posttraumatische Amnesie mit dem Ergebnis seiner Untersuchung in Einklang stünden.

Dr.

Beddoes fragte ihn, ob er konkrete körperliche Beweise für eine derartige Amnesie in Folge einer Kopfverletzung gefunden habe. Professor Mulligan antwortete, derartige »Beweise« seien nicht relevant. Es folgte eine heftige Diskussion zwischen Dr. Beddoes und Professor Mulligan, die hier nicht im Detail wiedergegeben werden kann.

Dr. Beddoes sprach über ihre Beurteilung der Patientin.

Ihrer Meinung nach handle es sich bei Ms. Devereaux um eine wortgewandte, intelligente, attraktive junge Frau. Ihr Bericht über ihr Martyrium sei spannend und überzeugend gewesen. Eine eingehendere Untersuchung habe allerdings ergeben, dass Ms. Devereaux in den Monaten vor diesem angeblichen Martyrium beträchtlichem Stress ausgesetzt gewesen sei. Beruflich habe sie derart unter Druck gestanden, dass sie schließlich gezwungen gewesen sei, aus stressbedingten Gründen unbezahlten Urlaub zu nehmen. Aus Ms. Devereaux’ Aussagen lasse sich ableiten, dass dieser unbezahlte Urlaub kurz vor ihrer angeblichen Gefangenschaft begonnen habe. Auch die Beziehung zu ihrem Freund sei eine Quelle beträchtlichen Drucks gewesen, bedingt durch seinen exzessiven Alkoholkonsum und sein damit verbundenes gewalttätiges Verhalten.

Dr.

Beddoes berichtete, im Verlauf ihrer Untersuchungen seien weitere relevante Faktoren zu Tage getreten. Entgegen ihren eigenen Aussagen habe es in Ms.

Devereaux’ Leben bereits früher Anzeichen für mentale Labilität gegeben. Sie sei deswegen sogar in ärztlicher Behandlung gewesen, was sie anfangs jedoch nicht erwähnt habe. Hinzu komme, dass die Patientin nicht zum ersten Mal behaupte, Opfer von Gewalttätigkeiten geworden zu sein. Polizeiliche Aufzeichnungen würden belegen, dass sie bereits mehrmals wegen häuslicher Streitigkeiten bei der Polizei angerufen habe, bei denen es sich um Probleme mit ihrem Freund handelte.

Auch in diesen Fällen hatte die Patientin erkennbare Schwierigkeiten, sich an die Ereignisse zu erinnern, offenbar vergleichbar mit der Amnesie, unter der sie derzeit angeblich litt. Dr. Beddoes berichtete, sie habe sich, nachdem sich bei ihr erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Patientin geregt hätten, ausgiebig mit anderen über den Fall beraten und versucht, objektive Beweise für Ms. Devereaux’ Geschichte zu finden. Leider vergeblich. Dr. Beddoes sagte, sie sei zu dem Schluss gekommen, dass Mr.

Devereaux’ Probleme

psychologischer Natur seien und sich am besten mit einer Gesprächstherapie behandeln ließen.

Professor Mulligan fragte, wie dann Ms. Devereaux’

Blutergüsse und die Tatsache zu erklären seien, dass man sie stark abgemagert in einem Teil von London gefunden habe, der weit von ihrer Wohnung und ihrem Arbeitsplatz entfernt lag. Dr. Beddoes antwortete, Professor Mulligan sei in erster Linie wegen seines Fachwissens in gewissen, sehr speziellen neurologischen Bereichen hinzugezogen worden.

Detective Chief Inspector Lovell fragte Dr. Beddoes, ob sie darauf hinaus wolle, dass gar kein Verbrechen geschehen sei. Dr. Beddoes erklärte, sie könne zwar nicht mit Sicherheit sagen, was zwischen Ms. Devereaux und ihrem Freund vorgefallen sei, sie sei aber ganz sicher, dass es sich bei der Entführung um ein Produkt von Ms.

Devereaux’ Phantasie handle. Sie persönlich sehe darin allerdings keine böswillige Lügengeschichte. Eher einen Hilfeschrei.

DCI Lovell verkündete, dass in diesem Fall als Erstes zu klären sei, ob Ms. Devereaux nicht angezeigt werden sollte, weil sie die kostbare Zeit der Polizei verschwendet habe.

Es folgte eine laute Diskussion. DI Cross bemerkte, er sei durchaus noch nicht davon überzeugt, dass die Aussagen von Ms. Devereaux nicht der Wahrheit entsprächen. Professor Mulligan fragte, ob Dr. Beddoes eigentlich bewusst sei, welche Folgen es haben könnte, wenn ihre Diagnose sich als falsch erwiese. Ohne Polizeischutz befände sich Ms. Devereaux in Lebensgefahr. Es folgte erneut eine heftige Diskussion, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann.

Professor Mulligan ließ ins Protokoll aufnehmen, dass er mit der Meinung, die bei dieser Besprechung vorherrsche, nicht einverstanden sei. Er erklärte, dass alle Anwesenden eine Mitschuld tragen würden, falls Ms. Devereaux etwas zustoßen sollte. (Susan Barton ausgenommen; diese Anmerkung wurde auf Wunsch von Professor Mulligan ins Protokoll eingefügt.) Professor Mulligan verließ daraufhin die Versammlung.

Nun folgte eine Diskussion über die weitere Vorgehensweise. DCI Lovell gab DI Cross den Befehl, die Ermittlungen einzustellen. Dr.

Beddoes kündigte an,

umgehend Ms. Devereaux aufzusuchen, um eine geeignete Therapie mit ihr zu besprechen.

Dr. Beddoes dankte den anderen Anwesenden für ihre Kooperation. Sie sprach von einem Paradebeispiel dafür, wie medizinische und gesetzliche Institutionen zusammenarbeiten sollten. Dr. Burns fragte, ab wann Ms.

Devereaux’ Bett wieder zur Verfügung stehe.

DRITTER TEIL

1

Geh. Geh, Abbie. Setz einen Fuß vor den anderen. Halt nicht an, bleib nicht stehen, sieh dich nicht um. Kopf hoch und den Blick nach vorn. Lass die Gesichter um dich herum verschwimmen. Tu, als wüsstest du, wohin du gehst. Du hörst deinen Namen, doch es ist nur ein Echo eines Echos, das von den weißen Wänden abprallt. Sie rufen eine Fremde, nicht dich. Hör nicht zu. Das ist nun vorbei, all das Zuhören und Reden und Tun, was dir gesagt wird. Es stets allen Recht machen. Geh weiter.

Nein, du sollst nicht laufen, du sollst gehen. Durch diese Doppeltür, die leise aufgleitet, wenn du näher kommst.

Nur keine Tränen. Nicht weinen. Du bist nicht verrückt, Abbie. Du bist nicht verrückt. Vorbei an den Ambulanzen, den Wagen, den Sanitätern mit den Rollbetten. Bleib jetzt nicht stehen. Tritt in die weite Welt hinaus. Das ist die Freiheit, auch wenn du nicht frei bist. Nicht frei und nicht sicher. Aber auch nicht verrückt. Du bist nicht verrückt.

Und du bist noch am Leben. Atme tief durch und geh weiter.

Der Himmel war erstaunlich blau, der Boden gefroren. Die ganze Welt glitzerte vor Frost. Meine Wangen und Augen brannten, meine Finger waren von der Kälte schon ganz steif. Unter meinen Füßen, die in albernen, ausgelatschten Schuhen steckten, knirschte der Kies. Mit einer Plastiktüte in der Hand stand ich vor dem hohen viktorianischen Gebäude, in dessen oberstem Stockwerk unsere Wohnung lag – nun, eigentlich war es Terrys Wohnung, aber ich lebte seit fast zwei Jahren dort. Ich war diejenige, die unser Schlafzimmer gestrichen und den Kamin zum Brennen gebracht hatte. Ich hatte Secondhand-Möbel und große Spiegel gekauft, Bilder, Teppiche und Vasen, den ganzen Krimskrams, der aus einer Wohnung erst ein Zuhause machte.

Vorsichtig legte ich den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die Fassade des Hauses schweifen. Die Bewegung schien den Schmerz in meinem Kopf zum Explodieren zu bringen. Gegenwärtig machte die Wohnung nicht gerade einen einladenden Eindruck. Sie wirkte kalt und leer. Das Badfenster hatte immer noch einen Sprung, und es brannte kein Licht. Die Vorhänge in unserem Schlafzimmer waren zugezogen, was entweder bedeutete, dass Terry noch verkatert, bleichgesichtig und übellaunig im Bett lag, oder dass er sich in der Eile nicht die Zeit genommen hatte, sie aufzuziehen, als er am Morgen viel zu spät aus dem Bett gestolpert war. Ich hoffte, dass Letzteres der Fall war.

Trotzdem drückte ich zuerst auf den Klingelknopf.

Wenn ich das Ohr an die Tür legte, konnte ich es weit über mir läuten hören – ein stotterndes Läuten, weil die Batterie langsam den Geist aufgab. Sie schien eigentlich schon seit Monaten den Geist aufzugeben. Nachdem ich einen Moment gewartet hatte, klingelte ich noch einmal. Ich schob die metallene Briefklappe auf und spähte durch den Schlitz, ob jemand die Treppe herunterkam, sah aber nur einen Streifen des kastanienbraunen Teppichs.

Ich holte den Ersatzschlüssel aus unserem hohlen Stein.

Zweimal entglitt er meiner Hand, ehe es mir gelang, ihn mit meinen klammen Fingern ins Schloss zu stecken.

Sogar noch in der Diele bildete mein Atem weiße Wolken.

Ich hoffte, dass Terry die Heizung angelassen hatte oder wenigstens das Wasser noch heiß genug war für ein Bad.

Ich fühlte mich schmuddelig, verfroren und seltsam flau, als würden meine Eingeweide durchgeschüttelt. Es war eine traurige Heimkehr. Trauriger ging es gar nicht.

Mühsam schleppte ich mich die Treppe hoch, vorbei an der Wohnung im ersten Stock, in der ich einen Fernseher laufen hörte. Meine Beine fühlten sich an wie Blei, und als ich schließlich ein Stockwerk höher vor unserer Tür ankam, keuchte ich vor Anstrengung. Sobald ich den Schlüssel im Schloss umgedreht hatte, rief ich nach Terry.

»Hallo? Hallo, ich bin’s! Ich bin wieder da!« Nichts.

»Terry? Hallo?«

Stille, abgesehen von einem Tröpfeln aus dem Bad.

Plötzlich, ohne Vorwarnung, durchflutete mich eine Welle der Angst, und ich musste stehen bleiben und mich an der Tür festhalten, weil ich auf einmal ganz weiche Knie hatte. Ich atmete tief durch, ein und aus, bis die Angst verebbt war, dann betrat ich die Wohnung und zog die Tür hinter mir zu.

Ich weiß nicht, was mir als Erstes auffiel. Vermutlich das allgemeine Chaos: die lehmigen Schuhe auf dem Wohnzimmerboden, der dreckige Geschirrberg, der sich im Spülbecken türmte, die verwelkten Tulpen auf dem Küchentisch, die in unmittelbarer Nachbarschaft mehrerer leerer Flaschen und eines überquellenden Aschenbechers die Köpfe hängen ließen. Überall staubige Flächen, abgestandene Luft. Erst jetzt registrierte ich, dass hier und dort seltsame Lücken klafften, wo eigentlich Dinge stehen sollten. Mein CD-Player zum Beispiel, der immer auf einem niedrigen Tischchen im Wohnzimmer neben dem kleinen Fernseher gestanden hatte. Doch inzwischen war dort kein kleiner Fernseher mehr, sondern ein neuer, großer. Automatisch wanderte mein Blick weiter zu dem kleinen Schreibtisch in der Ecke, auf dem normalerweise mein Laptop stand, aber der war ebenfalls weg. Es handelte sich um ein ganz altes Ding, gemessen an den Maßstäben der Computertechnik ein Dinosaurier, aber der Gedanke an all die Daten, die ich darin gespeichert hatte, ließ mich genervt aufstöhnen – allein schon die vielen E-Mail-Adressen, die ich mir nirgends sonst notiert hatte.

Ich ließ mich auf das Sofa fallen, neben einen Stapel alter Zeitungen und Terrys Mantel. Waren wir ausgeraubt worden? Von den Büchern schienen auch einige zu fehlen

– in den Regalfächern klafften mehrere Lücken. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was dort gestanden hatte: im unteren Fach eine riesige Enzyklopädie, im Fach darüber mehrere Romane, eine Gedichtanthologie, unser Pub-Führer … und definitiv ein paar Kochbücher.

Ich ging ins Schlafzimmer hinüber. Das Bett war nicht gemacht. Die aufgebauschte Bettdecke hatte noch die Form von Terrys Körper. Auf dem Boden türmte sich ein Berg schmutziger Wäsche, daneben lagen zwei leere Weinflaschen. Ich zog die Vorhänge auf, um das blendende Sonnenlicht hereinzulassen, öffnete das Fenster, um für einen Moment die eisige, saubere Luft auf meinem Gesicht zu spüren. Erst dann blickte ich mich um.

Es ist immer schwierig zu sehen, was nicht mehr da ist.

Oft fällt gar nicht auf, dass etwas fehlt. Der Wecker an meiner Seite des Bettes. Meine hölzerne Schmuckschatulle, die immer auf der Kommode gestanden hatte. Sie enthielt nichts Wertvolles – ein paar Ohrringe, Armreifen, zwei Ketten, lauter Dinge, dich ich im Laufe der Jahre geschenkt bekommen hatte – aber es handelte sich um Erinnerungsstücke und Geschenke, die sich nicht ersetzen ließen.

Ich zog die Schubladen auf. Von meiner gesamten Unterwäsche war nur noch ein alter schwarzer Slip übrig, lieblos in den hintersten Winkel gestopft. Mehrere meiner T-Shirts fehlten, außerdem ein paar Jeans und bessere Hosen sowie mindestens drei von meinen Pullis, darunter auch der sündhaft teure, dem ich im Winterschlussverkauf erlegen war. Ich zog die Schranktüren auf. Soweit ich sehen konnte, waren alle Sachen von Terry noch da, einige Kleiderbügel auf meiner Seite jedoch leer. Es fehlten mehrere Kleider, mein schwarzer Mantel, meine Lederjacke. Ebenso die meisten von meinen Schuhen –

nur noch zwei Paar Sandalen und ein Paar abgewetzte Turnschuhe standen auf dem Schrankboden. Der Großteil meiner Bürogarderobe schien allerdings noch da zu sein.

Verwirrt sah ich mich um. Mein Blick blieb an einem Müllsack hängen, der am Fußende unseres Bettes lehnte, zum Platzen vollgestopft mit einem Teil meiner fehlenden Sachen.

»Terry«, sagte ich laut. »Du Mistkerl!«

Ich ging ins Bad. Die Klobrille war hochgeklappt. Mit einem lauten Knall ließ ich sie nach unten sausen. Keine Tampons, kein Make-up, keine Feuchtigkeitscreme, kein Parfüm, kein Deo. Ich war einfach weggeräumt worden.

Sogar meine Zahnbürste war verschwunden. Ich öffnete den Spiegelschrank. Die Hausapotheke war noch da. Ich schraubte die Flasche mit den Kopfschmerztabletten auf und schüttete zwei auf meine Handfläche. Ich schluckte sie ohne Wasser. Mein Kopf dröhnte.

Das war nur ein Traum, dachte ich. Ein Alptraum, in dem ich aus meinem eigenen Leben ausradiert wurde.

Bestimmt würde ich bald aufwachen. Doch genau hier lag das Problem – wo hatte der Alptraum begonnen, und an welcher Stelle würde ich erwachen? In meinem alten Leben? War möglicherweise gar nichts passiert und alles nur eine Fieberphantasie von mir gewesen? Oder würde ich mich erneut auf dem Mauervorsprung wiederfinden und mit einem Knebel im Mund auf meinen Tod warten, während sich mein Geist langsam verdunkelte? Oder aber im Krankenhaus, immer noch der Überzeugung, dass mich die Ärzte heilen und die Polizisten vor Schaden bewahren würden?

Ich kehrte in die Küche zurück und setzte den Kessel auf. Während ich wartete, bis das Wasser kochte, stöberte ich im Kühlschank, denn mir war plötzlich schwindelig vor Hunger. Er war fast leer, abgesehen von mehreren Flaschen Bier und drei oder vier übereinander gestapelten Fertigmahlzeiten. Ich machte mir ein Sandwich aus Weißbrot, das genauso plastikartig aussah wie das im Krankenhaus. Dick mit Marmite bestrichen, ein Salatblatt dazwischen, fertig. Dann hängte ich einen Teebeutel in eine Tasse und goss das inzwischen kochende Wasser darüber.

Beim ersten Bissen – ich stand noch immer neben dem Kühlschrank, ein Streifen Salat klebte an meiner Unterlippe – kam mir plötzlich ein Gedanke. Wo war meine Tasche mit meiner Börse, meinem Geld, meinen Kreditkarten und meinen Schlüsseln? Ich hob sämtliche Kissen hoch, schaute unter die Mäntel an der Garderobe, zog alle Schubladen heraus. Ich suchte an den unwahrscheinlichsten Orten und dann noch einmal überall dort, wo ich bereits nachgesehen hatte.

Offenbar hatte ich die Tasche bei mir, als ich entführt worden war. Das bedeutete, dass er meine Adresse kannte und meine Schlüssel hatte, während ich gar nichts mehr besaß. Nichts. Ich hatte keinen einzigen Penny. Ich war so wütend und beschämt gewesen, als Dr.

Beddoes

gekommen war, um mit mir über die »Therapie« zu sprechen, mit der sie mir helfen wollte, mein Leben

»wieder in den Griff zu bekommen«, dass ich unverständliche Laute gebrüllt und dann verkündet hatte, falls sie wolle, dass ich mir ein weiteres Wort von ihr oder sonst jemandem aus dem Krankenhaus anhörte, müsse sie mich vorher festbinden und mit Beruhigungsmitteln vollpumpen. Dann war ich in die Sachen geschlüpft, in denen man mich gefunden hatte, und aus dem Krankenhaus marschiert, krampfhaft bemüht, nicht die Kontrolle über meine wackeligen Knie zu verlieren oder in Tränen auszubrechen. Ich hatte alles ausgeschlagen, was mir angeboten worden war – ein Taxi, Geld, genauere Erklärungen, ein Gespräch mit einem Psychiater, sonstige Hilfe. Ich brauchte keine Hilfe. Ich wollte nur, dass sie ihn endlich schnappten und mir mein Gefühl von Sicherheit zurückgaben. Und ich wollte Dr.

Beddoes in ihr

selbstgefälliges Gesicht schlagen. Das sagte ich ihr allerdings nicht. Es wäre sinnlos gewesen. So viele meiner Worte hatten sich in hinterhältige, zuschnappende Fallen verwandelt. Alles, was ich zur Polizei, zu den Ärzten und zu dieser gottverdammten Irene Beddoes gesagt hatte, war gegen mich verwendet worden. Das Geld hätte ich jedoch annehmen sollen.

Plötzlich hatte ich keinen Appetit mehr auf mein Sandwich. Ich warf es in den Mülleimer, der aussah, als wäre er nicht mehr geleert worden, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, und nahm einen Schluck von meinem langsam abkühlenden Tee. Dann ging ich zum Fenster hinüber und blickte hinaus, presste meine Stirn gegen die eisige Scheibe. Ich rechnete fast damit, ihn unten auf dem Gehsteig stehen zu sehen, lachend zu mir heraufblickend.

Ich würde ihn überhaupt nicht erkennen. Er konnte jeder sein. Der alte Mann, der einen störrischen Dackel mit steifen Beinen hinter sich herzog, der junge Typ mit dem Pferdeschwanz oder der sympathisch aussehende Vater mit Bommelmütze, der ein rotwangiges Kind an der Hand führte. Auf den Bäumen und den Dächern der Häuser und Autos lag eine dünne Schicht Schnee, und die Leute, die vorbeigingen, waren in dicke Mäntel und Schals gehüllt und eilten mit gesenktem Kopf durch die Kälte.

Niemand sah zu mir herauf. Ich war völlig durcheinander, wusste nicht einmal mehr, worüber ich gerade nachgedacht hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun oder wen ich um Hilfe bitten sollte. Ich wusste nicht einmal, um welche Art von Hilfe ich bitten sollte: Sagt mir, was passiert ist, was ich tun soll, wer ich bin, sagt mir, in welche Richtung ich von hier aus gehen soll, sagt mir einfach irgendetwas …

Ich schloss die Augen und versuchte zum x-ten Mal, mich an etwas zu erinnern. Ein kleiner schmaler Lichtstreif in der Dunkelheit hätte schon genügt. Doch es gab kein Licht, und als ich die Augen wieder aufschlug, starrte ich erneut auf die Straße hinunter, die mir in ihrem winterlichen Kleid ganz fremd erschien.

Ich ging zum Telefon und wählte Terrys Büronummer.

Es läutete und läutete. Ich versuchte es unter seiner Handynummer, bekam aber nur die Mailbox.

»Terry«, sagte ich. »Terry, ich bin’s, Abbie. Ich muss dich ganz dringend sprechen.«

Als Nächstes wählte ich Sadies Nummer, doch es sprang nur der Anrufbeantworter an, und ich wollte keine Nachricht hinterlassen. Ich spielte mit dem Gedanken, bei Sheila und Guy anzurufen, aber dann würde ich ihnen alles erklären müssen, und das wollte ich nicht. Noch nicht.

Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es sein würde, nach Hause zu kommen und meine Geschichte zu erzählen. In meiner Phantasie wäre ich dabei von Freunden umringt gewesen, die mir mit weit aufgerissenen Augen zuhörten.

Ich hätte ihnen eine Schauergeschichte mit einem Happyend erzählt, eine Geschichte der Verzweiflung, dann der Hoffnung, am Ende des Triumphes. Ich wäre eine Art Heldin gewesen, weil ich überlebt hatte und ihnen diese Geschichte erzählen konnte. Die Grausamkeit des ganzen Geschehens wäre durch das Ende wieder wettgemacht worden. Was aber konnte ich ihnen jetzt erzählen? Die Polizei glaubt, dass ich lüge. Sie glaubt, dass ich alles bloß erfunden habe. Ich weiß, was es mit dem Misstrauen auf sich hat: Es breitet sich aus. Wie ein hässlicher Fleck.

Was tut man, wenn man sich verloren, wütend, deprimiert, ängstlich, ein wenig krank und vollkommen verfroren fühlt? Ich ließ mir ein Bad einlaufen, ein sehr heißes Vollbad. Nachdem ich mich ausgezogen hatte, betrachtete ich mich im Spiegel. Nicht nur meine Wangen wirkten eingefallen, auch meine Pobacken. Meine Hüftknochen und Rippen standen scharf hervor. Die Frau im Spiegel war mir fremd. Ich stellte mich auf die Waage unter dem Waschbecken: Ich hatte über zehn Kilo abgenommen.

Vorsichtig ließ ich mich in das heiße Wasser sinken, hielt mir mit Zeigefinger und Daumen die Nase zu, holte tief Luft und verschwand komplett unter der Wasseroberfläche. Als ich schließlich prustend wieder auftauchte, hörte ich jemanden schreien. Jemand schrie mich an. Ich blinzelte. Ein wütendes Gesicht nahm langsam Konturen an.

»Terry!« sagte ich.

»Was zum Teufel machst du da? Bist du total verrückt geworden?«

Er trug noch seine dicke Jacke, und sein Gesicht war von der Kälte rot gefleckt. Ich hielt mir erneut die Nase zu und sank zurück unter Wasser, wo ich ihn nicht mehr sehen und seine Stimme nicht hören musste. Die Stimme, die mich verrückt nannte.

2

Unter Terrys wütendem Blick kletterte ich aus der Badewanne, wickelte mich in ein Handtuch und ging ins Schlafzimmer, wo ich mir die erstbesten Klamotten schnappte, die ich finden konnte – eine alte Jeans aus dem Müllsack, einen kratzigen dunkelblauen Pulli aus der Schublade, die abgewetzten Turnschuhe, den alten, zerknautschten Slip. Wenigstens waren die Sachen sauber.

Auf der Ablage über der Badewanne fand ich ein Haarband. Mit zitternden Händen band ich mein feuchtes Haar zusammen.

Terry hatte sich in dem Korbsessel in der Wohnzimmerecke niedergelassen – dem Korbsessel, den ich an einem verregneten Sonntagvormittag in einem Secondhand-Laden gekauft hatte. Ich hatte ihn sogar eigenhändig hergeschleppt, indem ich ihn mir wie einen Schirm über den Kopf hielt. Terry beugte sich vor und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus – dem Aschenbecher, den ich mir als Souvenir aus einem Café mitgenommen hatte, in dem ich als Kellnerin gejobbt hatte. Er nahm eine neue Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch und zündete sie sich an. Mit seinem kupferfarbenen Haar und seiner bleichen Haut sah er sehr schön aus, genau wie damals, als ich ihn kennen gelernt hatte. Die Probleme begannen erst, wenn er den Mund aufmachte.

»Gedenkst du mich denn gar nicht zu fragen, wie es mir geht?«, fragte ich. Natürlich war es dafür jetzt zu spät.

Wenn ich ihn erst dazu auffordern musste, war die Frage als Ausdruck seiner Besorgtheit nicht mehr akzeptabel.

Genauso sinnlos ist es, wenn man einen Mann erst fragen muss, ob er einen liebt – wenn man ihn erst fragen muss, dann liebt er einen nicht. Jedenfalls nicht genug. Nicht so, wie man es sich wünscht.

»Was?« Seine Stimme klang genervt.

»Was ist los?«

»Das würde ich gern von dir wissen. Du siehst schrecklich aus. Dein Gesicht, dieser Schnitt … Was ist mit dir passiert?«

»Du weißt, dass ich im Krankenhaus war?«

Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette, blies den Rauch langsam und genüsslich wieder aus, als wäre das viel interessanter als meine Person. Es gab zwei schlechtgelaunte Terrys. Der eine wurde zornig und laut.

Den hatte ich im Bad für einen Moment zu Gesicht bekommen. Der andere war ruhig, wortkarg und sarkastisch, und genau dieser Terry saß mir nun im Korbstuhl gegenüber und rauchte eine Zigarette.

»Ja, das habe ich mitbekommen«, antwortete er. »Wenn auch erst ziemlich spät. Ich habe es von der Polizei erfahren. Sie war hier.«

»Ich habe versucht, dich anzurufen«, erklärte ich. »Du warst nicht da. Aber das weißt du ja selbst am besten.«

»Ich war unterwegs.«

»Terry«, sagte ich. »Ich habe wirklich – na ja, ich habe eine unsagbar schreckliche Zeit hinter mir. Ich möchte …«

Ich hielt inne, weil ich gar nicht genau wusste, was ich wollte oder sagen sollte. Auf keinen Fall wollte ich mit einem zornigen Mann in einem eiskalten Raum sitzen.

Eine Umarmung, dachte ich. Eine Umarmung, eine Tasse heiße Schokolade und liebe Menschen, die mir sagten, wie sehr sie sich über meine Heimkehr freuten und wie sehr sie mich vermisst hatten. Liebe Menschen, die mir ein Gefühl von Sicherheit gaben. Das brauchte ich jetzt. »Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte ich schließlich. »Ich tappe völlig im Dunkeln und brauche deine Hilfe, um die vergangenen Tage rekapitulieren zu können.« Keine Reaktion. »Wenn ich nicht so viel Glück gehabt hätte, wäre ich jetzt tot.«

Wieder einer dieser langsamen Züge an seiner Zigarette.

Manche behaupten, es spüren zu können, wenn sich ein Unwetter zusammenbraut. Ihre alten Kriegsverletzungen fangen wieder zu schmerzen an oder ähnliche Dinge. Ich habe das nie gekonnt. Meine Kriegsverletzungen schmerzen ununterbrochen. Doch wenn mir ein Streit mit Terry bevorsteht, dann spüre ich das. Ich spüre es auf meiner Haut und an meinen Nackenhaaren und in meinem Magen. Diesmal aber regte sich auch in mir so etwas wie Wut.

»Terry! Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Habe ich was verpasst?«

»Was?«

»Soll das ein Versuch sein, zu mir zurückzukommen?«

»Ich bin aus dem Krankenhaus entlassen worden, das ist alles. Was hat man dir gesagt? Hast du denn gar nichts von der ganzen Sache mitbekommen? Ich habe dir so viel zu erzählen. O Gott, das glaubst du mir nie!« Ich musste schlucken, als ich mich das sagen hörte, und korrigierte mich rasch. »Nur dass es natürlich wahr ist.«

»Ist es dafür nicht ein bisschen spät?«

»Wie bitte? Anscheinend hast du mir auch einiges zu erzählen. Wo bist du gewesen?«

Terry stieß ein bellendes Lachen aus und blickte sich um, als müsste er sich vergewissern, ob wir auch wirklich allein waren. Ich schloss einen Moment lang die Augen.

Vielleicht war alles doch nur ein Traum? Als ich sie wieder öffnete, saß er noch immer rauchend im Korbsessel, und ich stand ihm noch immer gegenüber.

»Bist du betrunken?«, fragte ich.

»Was ziehst du hier eigentlich für eine Show ab?«

»Wie meinst du das?«

»Ist das deine Art, dich an mir zu rächen?«

Ich schüttelte meinen schmerzenden Kopf, als könnte ich dann klarer denken. Mir war, als würde ich alles durch einen grauen Nebel wahrnehmen.

»Nun hör mir mal zu, Terry. Ich bin von einem Irren entführt worden. Er hat mir eins über den Schädel gezogen, und ich hatte einen Blackout. Ich weiß nicht, was passiert ist. Oder nur zum Teil. Aber ich hätte dabei sterben können. Wäre wirklich fast gestorben.

Anschließend war ich im Krankenhaus. Du warst nicht da.

Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du hast nie abgenommen. Wahrscheinlich warst du auf Sauftour.

Habe ich Recht? Doch jetzt bin ich wieder da.«

Terrys Gesichtsausdruck veränderte sich. Er wirkte verwirrt, vollkommen aus dem Konzept gebracht. Seine Zigarette, die zwischen seinen Fingern glomm, schien er völlig vergessen zu haben.

»Abbie … das muss ich erst mal verdauen.«

Ich setzte mich aufs Sofa. Das Sofa gehörte Terry. Wenn ich mich recht entsann, hatte es ihm seine Mutter vor Jahren vererbt. Ich rieb mir die Augen.

»Ich weiß, dass die Polizei mit dir gesprochen hat«, sagte ich vorsichtig. Ich wollte Terry so wenig wie möglich verraten. Das war vermutlich ein Teil unseres Problems. »Was haben sie dir erzählt?«

Nun war es an Terry, eine vorsichtige Miene aufzusetzen.

»Sie wollten wissen, wann ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

»Und was hast du ihnen gesagt?«

Er nahm einen weiteren langsamen Zug aus seiner Zigarette.

»Ich habe nur ihre Fragen beantwortet. Wie gesagt, sie wollten wissen, wann ich dich das letzte Mal gesehen habe, solche Sachen.«

»Und waren Sie mit deinen Antworten zufrieden?«

»Ich habe ihnen gesagt, wo ich war. Ich glaube, sie haben ein, zwei Anrufe getätigt, um meine Angaben zu überprüfen. Das schien ihnen zu reichen.«

»Was haben sie dir über mich erzählt?«

»Sie haben gesagt, du seist verletzt.«

»›Verletzt‹«, wiederholte ich. »Haben Sie wirklich diesen Ausdruck gebraucht?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Etwas in der Art.«

»Ich bin überfallen worden«, erklärte ich.

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sein Gesicht nie zu sehen bekommen.«

»Wie bitte?« Er starrte mich mit offenem Mund an.

»Was genau ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern.

Ich hab einen Schlag auf den Kopf bekommen. Einen festen Schlag. Mir fehlt die Erinnerung an mehrere Tage.«

Nun hatte ich seine Aufmerksamkeit. Ihm war anzusehen, dass er vor lauter Fragen kaum wusste, welche er zuerst stellen sollte.

»Wenn du dich nicht erinnern kannst, woher weißt du dann, dass du nicht einfach hingefallen bist und dir den Kopf irgendwo angeschlagen hast?«

»Ich war seine Gefangene, Terry. Er wollte mich töten.

Ich bin ihm entkommen.«

An diesem Punkt hätte ich eigentlich erwartet –

naiverweise, nehme ich an –, jeder halbwegs mitfühlende Mensch würde zu mir herüberkommen, mich in den Arm nehmen und sagen:

»Wie schrecklich!«, aber Terry setzte seine Befragung einfach fort, als hätte er gar nicht richtig verstanden, was ich da gerade gesagt hatte.

»Ich dachte, du hättest ihn nicht zu Gesicht bekommen.«

»Ich trug eine Kapuze über dem Kopf. Um mich herum war es dunkel.«

»Oh«, sagte er. Dann folgte eine lange Pause. »Mein Gott!«

»Ja.«

»Tut mir Leid, Abbie«, meinte er verlegen. Das war viel zu wenig und kam viel zu spät, als dass es aufrichtig gemeint sein konnte. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er sich dessen durchaus bewusst war. Dann fragte er:

»Was unternimmt die Polizei?«

Vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet. Deswegen hatte ich eine detaillierte Diskussion vermeiden wollen.

Obwohl ich wusste, dass ich im Recht war, schämte ich mich sogar vor Terry und war gerade deswegen furchtbar wütend auf mich selbst.

»Sie glauben mir nicht«, antwortete ich. »Sie glauben, das Ganze ist gar nicht wirklich passiert.«

»Und deine Verletzungen? Diese Blutergüsse?«

Ich schnitt eine Grimasse. Am liebsten hätte ich losgeheult, war aber fest entschlossen, vor diesem Idioten Terry nicht zu weinen. Was ein anderer Teil unseres Problems war.

»So wie ich das sehe, glauben die Leute, die zu mir halten, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Diejenigen, die nicht auf meiner Seite stehen, glauben, dass ich alles erfunden habe. Sie glauben, dass sie mir einen großen Gefallen tun, indem sie mich nicht anzeigen, weil ich die kostbare Zeit der Polizei verschwendet habe. Sie haben mich einfach gehen lassen, ohne Polizeischutz. Ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller.« Ich rechnete damit, dass er jetzt zu mir herüberkommen würde, aber er rührte sich nicht von der Stelle, starrte mich bloß mit ratloser Miene an. Ich holte tief Luft. »Also, was ist mit meinen Sachen passiert? Wer hat sie mitgenommen?«

»Du.«

»Was? Ich?«

»Vor zwei Wochen.«

»Ich hab sie mitgenommen?«

»Ja.« Terry setzte sich anders hin. Er musterte mich eindringlich. »Ist das wahr? Du kannst dich an nichts erinnern?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist alles vollkommen verschwommen. Als hätte sich eine dicke schwarze Wolke über die letzten Wochen gesenkt. Ich kann mich vage erinnern, im Büro gewesen zu sein und hier. Danach versinkt alles im Dunkeln. Aber wovon sprichst du eigentlich? Was meinst du damit, ich habe sie mitgenommen?«

Nun war es an Terry, verlegen zu wirken. Seine Augen flackerten, als würde er krampfhaft überlegen, was er jetzt sagen sollte. Dann wurde sein Blick wieder ruhig. »Du bist gegangen«, sagte er.

»Wie meinst du das?«

»Du hattest es mindestens tausendmal angekündigt.

Deswegen brauchst du mich jetzt auch nicht so strafend anzuschauen, als wäre das meine Schuld!«

»Ich schaue dich überhaupt nicht strafend an.«

Er kniff die Augen zusammen. »Du kannst dich wirklich nicht erinnern?«

»Nein, beim besten Willen nicht.«

Er zündete sich eine weitere Zigarette an. »Wir haben uns gestritten.«

»Weswegen?«

»Keine Ahnung. Weswegen streitet man sich? Wegen einer blöden Kleinigkeit. Wahrscheinlich war es der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«

»Bitte nicht dieses Klischee!«

»Na bitte, da haben wir es ja wieder. Vielleicht habe ich ein Klischee benutzt, das dich gestört hat, oder den falschen Löffel in die Hand genommen. Jedenfalls haben wir uns gestritten.

Irgendwann hast du gesagt, nun sei endgültig Schluss.

Ich dachte, du würdest nur Spaß machen und bin gegangen. Als ich zurückkam, warst du damit beschäftigt, deine Sachen zusammenzupacken. Das heißt, einen Teil davon. Du hast alles mitgenommen, was in deine große Tasche passte, und bist abgedüst.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Sieh dich um, Abbie. Wer außer dir würde deinen CD-Player wollen?«

»Demnach hatten wir also eine von unseren üblichen Auseinandersetzungen.«

»Eine von unseren schlimmeren Auseinandersetzungen.«

Mir war plötzlich kalt, und ich fühlte mich niedergeschlagen. Ich sah keinen Grund, noch mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten.

»Ich habe vieles vergessen«, sagte ich. »Aber ich bin mir durchaus noch bewusst, dass unsere schlimmeren Auseinandersetzungen in der Regel damit endeten, dass du auf mich losgegangen bist.«

»Das ist nicht wahr.«

»Hast du mich geschlagen?«

»Nein«, antwortete Terry, aber sein halb abwehrender, halb beschämter Gesichtsausdruck sagte mir etwas anderes.

»Weißt du, das war einer der Gründe, warum die Polizei mir nicht geglaubt hat. Ich bin ein notorisches Opfer. Ich habe in dieser Hinsicht eine Geschichte. Ich bin eine Frau, die schon öfter geschlagen worden ist. Einmal habe ich deswegen die Polizei gerufen. Erinnerst du dich an den Abend? Wahrscheinlich nicht. Du hattest getrunken, und wir sind in Streit geraten. Den konkreten Anlass weiß ich in dem Fall auch nicht mehr. War es vielleicht der Abend, an dem du ein Hemd anziehen wolltest, das noch nass war, weil ich es gerade erst gewaschen hatte? Und ich dich daraufhin gefragt habe, warum du dein Zeug nicht selbst wäschst, wenn dir das nicht passt?

War das der Grund für unseren Streit? Oder war es einer der Abende, an denen du mir vorgehalten hast, dass ich dein Leben ruiniere, indem ich dauernd auf dir herumhacke? Solche Abende gab es viele. Es ist schwer, sie auseinanderzuhalten. Auf jeden Fall endete es damit, dass du nach dem Küchenmesser gegriffen hast und ich die Polizei anrief.«

»Nein, daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte Terry.

»Du übertreibst.«

»Nein, ich übertreibe nicht, und ich sauge mir das auch nicht aus den Fingern. Ich schildere lediglich, was passiert, wenn du betrunken bist. Erst bist du ganz fidel, dann kippt deine gute Laune ein bisschen ins Aggressive, dann wirst du eine Weile sentimental und bemitleidest dich selbst, aber spätestens nach dem vierten Drink wirst du so richtig wütend. Wenn ich zufällig gerade da bin, wirst du wütend auf mich. Ich habe nicht vor, wie eine rachsüchtige Xanthippe aufzulisten, was du in betrunkenem Zustand alles geliefert hast. Fest steht, dass dich der Alkohol irgendwie ausrasten lässt. Warum, ist mir schleierhaft. Und aus irgendeinem Grund, der mir genauso schleierhaft ist, glaube ich dir jedes Mal von neuem, wenn du mir weinend versprichst, dass es nie, nie wieder vorkommen wird.«

Terry drückte seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. War es die vierte oder schon die fünfte?

»Abbie, was wir hier gerade veranstalten, ist eine recht gute Imitation unseres letzten Streits.«

»Dann wünschte ich, ich könnte mich daran erinnern, weil mir die Frau, die sich endlich ein Herz gefasst und Schluss gemacht hat, ziemlich imponiert.«

»Ja.« Terry klang plötzlich fast so müde wie ich. »Mir hat sie auch ziemlich imponiert. Hör zu, es tut mir Leid, dass ich dich im Krankenhaus nicht besucht habe. Als ich davon hörte, wollte ich gleich zu dir kommen, aber dann ist mir etwas dazwischengekommen, und plötzlich warst du hier bei mir im Bad.«

»Schon gut«, sagte ich. »Also, wo sind meine Sachen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Du hast mich verlassen, hast du das schon wieder vergessen?«

»Wann habe ich dich verlassen?«

»Wann?«

»An welchem Tag?«

»Oh. Am Samstag.«

»Welchem Samstag?«

Er warf mir einen misstrauischen Blick zu, als hätte er noch immer den Verdacht, dass ich mich nur verstellte.

»Am Samstag, den zwölften Januar. Gegen Mittag«, fügte er hinzu.

»Das war vor sechzehn Tagen! Und ich kann mich nicht erinnern!« Wieder war ich den Tränen nahe. »Habe ich dir denn keine Adresse hinterlassen?«

»Du wolltest zunächst bei Sadie bleiben. Aber nur für eine Nacht, glaube ich.«

»Und danach?«

»Keine Ahnung.«

»O mein Gott!« Entnervt ließ ich den Kopf in die Hände sinken. »Wo soll ich denn jetzt hin?«

»Du könntest eine Weile hier bleiben, wenn du willst.

Das ginge schon in Ordnung. Allerdings nur, bis du alles geklärt hast. Wir könnten noch einmal über alles reden …

Du weißt schon.«

Nachdenklich betrachtete ich Terry, der mir in einer Wolke aus Zigarettenrauch gegenübersaß. Ich musste an die Frau denken, die Frau, an die ich mich nicht erinnern konnte – mich selbst vor sechzehn Tagen, als ich die Entscheidung getroffen hatte, ihn zu verlassen.

»Nein«, antwortete ich. »Nein. Ich muss mich dringend um ein paar Dinge kümmern. Alle möglichen Dinge.«

Ich blickte mich um. Hatte ein kluger Mensch nicht einmal gesagt, dass man, wenn man an einem Ort etwas zurückließ, indirekt zum Ausdruck brachte, dass man zurückkommen wollte? Aus unerfindlichen Gründen hatte ich das Gefühl, etwas mitnehmen zu müssen. Irgendetwas.

Auf dem Kaminsims stand ein kleiner Globus. Terry hatte ihn mir zum Geburtstag geschenkt, meinem einzigen Geburtstag, den wir gemeinsam verbracht hatten. Ich griff danach. Terry sah mich fragend an.

»Er gehört mir«, erklärte ich. »Du hast ihn mir geschenkt. Zum Geburtstag.«

Ich steuerte bereits auf die Tür zu, als mir noch etwas einfiel.

»Ach ja, Terry«, sagte ich. »Meine Geldbörse ist noch nicht wieder aufgetaucht. Ich habe keinen Penny Bargeld.

Könntest du mir was leihen? Zehn Pfund. Oder zwanzig.

Was du entbehren kannst.«

Mit einem lauten Seufzer stand Terry auf und ging zu seiner Jacke, die über der Sofalehne hing. Er kramte in seiner Brieftasche.

»Ich kann dir fünfzehn geben«, meinte er. »Mehr leider nicht. Den Rest brauche ich heute Abend selbst.«

»Das genügt schon.«

Dann zählte er das Geld ab, als würde er die Zeitungsrechnung bezahlen. Einen Zehn-Pfund-Schein, drei Ein-Pfund-Münzen, eine Menge Silber und Kupfer.

Ich nahm alles.

3

Ich gab zwei Pfund achtzig für die U-Bahn aus und legte eine Zwanzig-Pence-Münze in den aufgeklappten Geigenkasten eines Straßenmusikanten, der am Fuß der Rolltreppe gerade »Yesterday« spielte und dabei versuchte, die Blicke der Leute auf sich zu ziehen, die auf ihrem Heimweg nach der Arbeit an ihm vorbeiströmten.

Als ich in Kennington ankam, gab ich einen weiteren Fünfer für eine Flasche Rotwein aus. Nun hatte ich noch sieben Pfund. Immer wieder fasste ich in die hintere Tasche meiner Hose, um sicherzustellen, dass das Geld noch da war, ein gefalteter Schein und fünf Münzen.

Davon abgesehen besaß ich im Moment nur die Plastiktasche mit den fremden Kleidern, in denen man mich vor sechs Tagen gefunden hatte. Sechs Tage waren seither erst vergangen. Ach ja, und einen Globus.

Während ich mit eingezogenem Kopf und roter Nase gegen den Wind ankämpfte, fühlte ich mich seltsam schwerelos, als wäre ich ohne die Dinge aus meinem früheren Leben plötzlich ohne Gewicht und Daseinsberechtigung, als könnte mich der Wind jeden Moment wie eine Feder davonwehen.

Davon hatte ich geträumt: mit einer Weinflasche bewaffnet die winterliche Straße entlangzugehen, um eine liebe Freundin zu besuchen. Jetzt wandte ich immer wieder den Kopf, um festzustellen, wer neben oder hinter mir ging. Warum war mir früher nie aufgefallen, wie seltsam die meisten Leute aussahen, wenn sie bis unter die Nasenspitze in dicke Wintersachen gehüllt waren? Mit meinen alten Schuhen rutschte ich auf dem eisigen Boden immer wieder aus. Einmal hielt mir ein Mann, neben dem ich gerade die Straße überquerte, hilfsbereit die Hand hin, um mich zu stützen. Als ich vor Schreck den Arm zurückriss, starrte er mich erstaunt an.

»Sei da, sei da, sei da«, murmelte ich vor mich hin, während ich vor Sadies Souterrain-Wohnung wartete, ob sie auf mein Klingeln reagieren würde. Ich hätte vorher anrufen sollen. Wenn sie ausgegangen oder weggefahren war, was dann? Normalerweise war sie um diese Tageszeit immer zu Hause. Pippa war erst sechs oder sieben Wochen alt, und Sadie noch ganz euphorisch vor Mutterglück. Sie nahm gerne in Kauf, dass die Kleine ihren Tagesablauf bestimmte. Ich drückte noch einmal auf den Klingelknopf.

»Bin schon unterwegs!«, rief eine Stimme. Durch das geriffelte Glas sah ich sie näher kommen. »Wer ist da?«

»Ich. Abbie.«

»Abbie! Ich dachte, du wärst noch im Krankenhaus.

Moment!«

Ich hörte sie fluchend mit dem Vorhängeschloss hantieren, dann sprang die Tür auf, und sie stand mit Pippa auf dem Arm vor mir. Die Kleine war in dicke Handtücher gewickelt, so dass nur ein Teil ihres rosigen, immer noch leicht runzeligen Gesichts hervorlugte.

»Ich habe sie gerade gebadet und …«, begann sie, brach dann aber mitten im Satz ab. »Lieber Himmel, wie siehst du denn aus!«

»Ich hätte vorher anrufen sollen. Ich hatte bloß … du musst entschuldigen, aber ich hatte einfach das dringende Bedürfnis, dich zu sehen.«

»Lieber Himmel!« sagte sie noch einmal, während sie zur Seite trat, um mich eintreten zu lassen.

Ein süßsaurer Geruch schlug mir entgegen – nach Senf, Babypuder, Milch, Erbrochenem und Seife. Ich schloss die Augen und atmete tief ein.

»Wie wundervoll«, sagte ich und wandte mich Pippa zu.

»Hallo, Süße, erinnerst du dich an mich?«

Pippa öffnete den Mund so weit, dass ich durch ihren rosigen Schlund bis zu ihren Mandeln hinuntersehen konnte. Dann stieß sie einen kurzen, hellen Schrei aus.

»Nein?«, fragte ich. »Tja, das überrascht mich eigentlich nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich selbst an mich erinnere.«

»Was um alles in der Welt ist mit dir passiert?« wollte Sadie wissen. Sie zog Pippa noch fester an sich und wiegte sie sanft hin und her, wie es anscheinend alle Mütter instinktiv taten.

»Du siehst …«

»Ich weiß. Ich sehe fürchterlich aus.« Ich stellte den Globus auf dem Küchentisch ab. »Der ist für Pippa.«

»Was darf ich dir anbieten? Hier, setz dich. Schieb die Babysachen einfach zur Seite.«

»Kann ich einen Keks oder ein Stück Brot haben? Ich fühle mich ein bisschen wackelig auf den Beinen.«

»Natürlich. Mein Gott, was haben sie mit dir angestellt?«

Pippa begann zu quengeln, und Sadie hievte sie ein Stück höher, bis sich der Kopf der Kleinen unter ihr Kinn schmiegte.

»Schsch, ist ja gut«, flüsterte sie mit ihrer neuen Singsangstimme, die niemand von uns je zu hören bekommen hatte, bevor Pippa zur Welt kam. »Schon gut, mein kleines Schätzchen!«

»Du musst dich um sie kümmern. Ich bin zu einem ungünstigen Zeitpunkt hereingeplatzt.«

»Sie hat Hunger.«

»Lass dich nicht stören. Ich kann warten.«

»Bist du sicher? Du weißt ja, wo alles ist. Magst du uns Tee machen? Kekse sind auch noch ein paar da, glaube ich. Schau einfach, was du findest.«

»Ich habe eine Flasche Wein mitgebracht.«

»Ich stille noch, da sollte ich eigentlich nichts trinken.«

»Ein Gläschen geht schon, den Rest vernichte ich.«

»Ich ziehe sie schnell an, stillen kann ich sie dann hier.

Ich möchte alles ganz genau wissen. Mein Gott, bist du dünn! Wie viel hast du denn abgenommen?«

»Sadie?«

»Ja?« Sie wandte sich im Türrahmen um.

»Kann ich bleiben?«

»Bleiben?«

»Nicht lange.«

»Natürlich. Es wundert mich bloß, dass du das willst. Du weißt ja, ich habe nur das alte Sofa, bei dem die Federung längst hinüber ist, und Pippa wacht nachts ständig auf.«

»Das macht nichts.«

»Das hast du letztes Mal auch gesagt, bis es dann so weit war.«

»Letztes Mal?«

»Ja.« Sie musterte mich mit einem seltsamen Blick.

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Was?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern«, wiederholte ich.

Ich hatte plötzlich das Gefühl, vor Müdigkeit vornüber zu kippen.

»Hör zu, mach es dir gemütlich«, sagte Sadie. »Ich bin gleich wieder da. Fünf Minuten, Maximum.«

Ich entkorkte den Wein und schenkte zwei Gläser voll.

Nachdem ich einen Schluck genommen hatte, wurde mir sofort schummrig. Ich brauchte unbedingt etwas zu essen.

Ich stöberte in Sadies Schränken und stieß auf eine Tüte Chips, von denen ich mir einen Teil im Stehen in den Mund stopfte, nahm einen weiteren vorsichtigen Schluck von dem Wein und ließ mich wieder auf dem Sofa nieder.

In meinem Kopf pochte es, meine Augen brannten vor Müdigkeit, und der Schnitt an meiner Seite kribbelte.

Dabei war es hier im Souterrain so wundervoll warm und gemütlich. Über den Heizkörpern hingen Babysachen, und auf dem Tisch stand eine große Vase mit dunkelorangeroten Chrysanthemen, die wie Flammen aussahen.

»Alles in Ordnung?« Sadie war wieder da. Sie nahm neben mir auf dem Sofa Platz und knöpfte ihre Bluse auf.

Nachdem sie Pippa an ihre Brust gelegt hatte, lehnte sie sich mit einem Seufzer zurück. »Jetzt schieß los. Es war dieser verdammte Terry, nicht wahr? Dein armes Gesicht, es ist immer noch ganz blau. Du hättest nicht zu ihm zurückgehen sollen. Ich dachte, du wärst in Urlaub gefahren.«

»Urlaub?«, wiederholte ich.

»Du hast gesagt, du wolltest eine Reise buchen.«

»Ich war nicht im Urlaub.«

»Was hat er denn diesmal gemacht?«

»Wer?«

»Terry.« Sie sah mich fragend an. »Geht es dir nicht gut?«

»Wieso glaubst du, dass es Terry war?«

»Das liegt doch auf der Hand. Nach allem, was beim letzten Mal passiert ist. Oh, Abbie!«

»Wie meinst du das, beim letzten Mal?«

»Als er dich geschlagen hat.«

»Dann hat er mich also doch geschlagen.«

»Ja, und zwar ziemlich heftig. Abbie? Du musst dich doch daran erinnern.«

»Erzähl es mir trotzdem.«

Sie starrte mich verwirrt an, als würde sie sich fragen, ob ich sie irgendwie veräppelte.

»Du bist heute aber seltsam. Jedenfalls habt ihr euch gestritten. Er hat dich geschlagen, du hast mit ihm Schluss gemacht und bist hergekommen. Du hast sehr entschlossen gewirkt. Fast ein bisschen euphorisch. Offenbar bist du aber trotzdem zu ihm zurück.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.

Er war es nicht.«

»Ich verstehe nicht recht.« Einen Moment starrte sie mich stirnrunzelnd an, dann wandte sie sich wieder Pippa zu.

»Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen«, erklärte ich. »Deswegen kann ich mich an einige Dinge nicht mehr erinnern. Ich kann mich weder daran erinnern, dass ich Terry verlassen habe, noch, dass ich hierhergekommen bin.«

Sadie stieß einen Pfiff aus. Ich konnte nicht beurteilen, ob aus Schock oder Ungläubigkeit. »Du meinst, du hattest eine Gehirnerschütterung?«

»Etwas in der Art.«

»Dann kannst du dich wirklich nicht erinnern?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Du weißt nicht mehr, dass du Terry verlassen hast?«

»Nein.«

»Auch nicht, dass du zu mir gekommen bist?«

»Nein.«

»Und dass du hier nicht lang geblieben bist?«

»Ich bin nicht geblieben? Tja, sieht ganz danach aus –

sonst wären ein paar meiner Sachen hier, nicht wahr? Wo wollte ich denn hin?«

»Du kannst dich wirklich nicht erinnern?«

»Nein.« Allmählich verlor ich die Geduld.

»Du bist zu Sheila und Guy.«

»Das war dann wohl am Sonntag?«

»Wahrscheinlich. Ja, ich glaube, du hast Recht. Für mich ist zur Zeit jeder Tag wie der andere.«

»Du hast mich seitdem nicht mehr gesehen? Bis jetzt, meine ich.«

»Nein. Ich dachte, du wärst weggefahren.«

»Verstehe.«

»Erzähl mir, was passiert ist, Abbie. Die ganze Geschichte.«

Die ganze Geschichte. Ich nahm einen Schluck Wein und betrachtete Sadie, die ihrem Baby gerade Koseworte ins Ohr flüsterte. Ich musste mir dringend Luft machen, endlich jemandem von alledem erzählen, dem Entsetzen in der Dunkelheit, der Scham, der schrecklichen, endgültigen Einsamkeit, dem Gefühl, tot zu sein. Ich musste mit jemandem über die Reaktion der Polizei sprechen, die Art, wie all diese Emotionen gegen mich verwendet wurden –

und dieser Jemand musste felsenfest an mich glauben.

Wenn dem nicht so war, dann … ich leerte mein Glas und schenkte nach. Wenn nicht Sadie, wer dann? Sie war meine beste, meine älteste Freundin. Ich war diejenige gewesen, an die sie sich gewandt hatte, nachdem Bob sie im achten Monat hatte sitzen lassen. Wenn Sadie mir nicht glaubte, wer dann? Ich holte tief Luft.

Und erzählte ihr alles. Von dem Mauervorsprung, der Kapuze, dem Kübel, dem pfeifenden Lachen in der Dunkelheit. Meiner Gewissheit, sterben zu müssen. Sie hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, wenngleich sie hin und wieder kleine Laute des Erstaunens ausstieß. Ich erzählte ihr alles, ohne zu weinen. Ich hatte angenommen, irgendwann in Tränen auszubrechen, woraufhin sie mich dann in den Arm nehmen und mir übers Haar streichen würde, wie sie es bei Pippa getan hatte. Aber meine Augen blieben trocken, und ich erzählte meine Geschichte ruhig und leidenschaftslos.

»Ich bin doch nicht verrückt, oder?«, endete ich.

»Sie haben dir nicht geglaubt?! Weshalb denn nicht?

Diese Stümper!«

»Sie waren der Meinung, ich hätte mich in einem sehr angeschlagenen Zustand befunden und nur phantasiert.«

»Wer könnte so etwas erfinden? Warum um Himmels willen solltest du?«

»Ich weiß es nicht. Um meiner Situation zu entfliehen.

Um Aufmerksamkeit zu bekommen. Keine Ahnung.«

»Aber warum? Warum haben sie dir nicht geglaubt?«, hakte sie nach.

»Weil es keine Beweise gibt«, antwortete ich trocken.

»Gar keine?«

»Nein. Keine Spur.«

»Oh.« Ein paar Sekunden schwiegen wir beide. »Was um alles in der Welt wirst du jetzt tun?«

»Das weiß ich auch nicht. Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll, Sadie. Ich weiß nicht, wohin ich gehen oder an wen ich mich wenden soll. Ich weiß nicht einmal, wer ich eigentlich sein soll, wenn ich morgen früh aufstehe. Es ist, als müsste ich wieder bei Null anfangen.

Aus dem Nichts. Ich kann dir gar nicht sagen, was das für ein seltsames Gefühl ist. Unbeschreiblich. Als würde jemand ein Experiment mit mir durchführen, mit dem Ziel, mich in den Wahnsinn zu treiben.«

»Du musst wirklich wütend auf die Polizei sein.«

»Ja, allerdings.«

»Und bestimmt hast du auch Angst.«

»Stimmt.« Obwohl es im Raum warm war, fröstelte ich plötzlich.

»Denn«, fuhr Sadie fort, »denn wenn das, was du sagst, wirklich stimmt, dann ist er noch irgendwo da draußen.

Vielleicht ist er immer noch hinter dir her.«

»Ja,« sagte ich. »Genau.« Doch wir hatten beide gehört, wie sie es gesagt hatte. Wenn. Wenn das, was ich gesagt hatte, wahr war. Wenn ich die ganze Sache nicht erfunden hatte. Als ich sie ansah, senkte sie den Blick und begann wieder mit ihrer Babystimme auf Pippa einzureden, obwohl die Kleine inzwischen eingeschlafen war. Ihr Kopf war wie bei einem Betrunkenen nach hinten gesunken, ihr kleiner Mund stand halb offen, und an der Oberlippe hatte sie noch eine Milchblase.

»Was möchtest du zum Abendessen?«, fragte Sadie. »Du musst ja am Verhungern sein.«

Ich hatte nicht vor, das Thema einfach so fallen zu lassen.

»Du weißt nicht, ob du mir glauben sollst, stimmt’s?«

»Nun sei nicht albern, Abbie. Natürlich glaube ich dir.

Natürlich. Hundertprozentig.«

»Danke.« Aber ich wusste – und sie wusste, dass ich es wusste –, dass sie keineswegs hundertprozentig sicher war. Der Zweifel war gesät, würde wachsen und gedeihen.

Wer konnte ihr das verdenken? Meine hysterische Schauergeschichte gegen die maßvolle, gesunde Normalität der anderen. An ihrer Stelle hätte ich ebenfalls meine Zweifel gehabt.

Während Sadie Pippa ins Bett brachte, machte ich uns etwas zu essen. Speck-Sandwiches, mit dicken Weißbrotscheiben, die ich kurz in die fettige Pfanne drückte, ehe ich sie mit Speck belegte. Es schmeckte deftig und salzig, und dazu gab es für jede von uns eine große Tasse Tee. Dass ich jetzt hier bei Sadie war, hätte mir eigentlich das Gefühl geben müssen, allem, was passiert war und womöglich wieder passieren konnte, für eine Weile entflohen zu sein. Aber ich schlief in dieser Nacht auf ihrem Sofa sehr unruhig, schreckte immer wieder schweißgebadet und mit wild pochendem Herzen aus Träumen hoch, in denen ich ununterbrochen rannte, stolperte, fiel. Pippa wachte ebenfalls oft auf, was sie mit zornigem Geschrei kundtat. Die Wände der Wohnung waren so dünn, dass es mir vorkam, als lägen wir im selben Zimmer. Am Morgen würde ich die beiden wieder verlassen. Ich konnte unmöglich eine weitere Nacht hier verbringen.

»Das hast du letztes Mal auch gesagt«, bemerkte Sadie lachend, als ich sie um sechs Uhr morgens über meinen Entschluss informierte. Sie machte einen erstaunlich frischen Eindruck. Unter ihrer Mähne aus weichem braunen Haar wirkte ihr Gesicht geradezu rosig.

»Ich weiß nicht, wie du das schaffst. Ich brauche mindestens acht Stunden Schlaf, noch besser zehn, am Sonntag zwölf. Ich gehe zu Sheila und Guy, die beiden haben genug Platz. Nur bis ich mir darüber im Klaren bin, wie es weitergehen soll.«

»Das hast du letztes Mal auch gesagt.«

»Dann muss es eine gute Idee sein.«

Es war noch nicht richtig hell, als ich mich auf den Weg zu Sheila und Guy machte. Über Nacht hatte es geschneit, und in dem weichen Morgenlicht sah alles gespenstisch schön aus, sogar die Mülltonnen. Ich ging zu Fuß, machte aber bei einem Bäcker Halt und kaufte als Bestechung drei Croissants, so dass mir noch genau fünf Pfund zwanzig blieben. Heute würde ich bei meiner Bank anrufen. Wie lautete gleich noch meine Kontonummer? In einem Anfall von Panik befürchtete ich, dass sie mir nicht mehr einfallen würde und viele Mosaiksteinchen meines Lebens gerade im Verschwinden begriffen waren, als wäre in meinem Gehirn ein Cursor am Werk, der willkürlich Informationen löschte.

Es war knapp sieben Uhr, als ich an ihre Tür klopfte. Die Vorhänge im ersten Stock waren zugezogen. Ich wartete, wie es der Anstand gebot, und klopfte erneut, länger und lauter. Dann trat ich einen Schritt zurück und blickte nach oben. Ein Vorhang bewegte sich. Ein Gesicht und nackte Schultern tauchten am Fenster auf.

Sheila, Sadie und ich kennen uns schon länger als unser halbes Leben. In der Schule waren wir ein streitlustiges Trio, das sich ständig trennte und wieder vereinte, doch unsere Teenagerjahre haben wir gemeinsam durchgestanden: Prüfungen, die erste Menstruation, die erste Liebe. Nun hatte Sadie ein Baby, Sheila einen Mann und ich … nun ja, ich schien im Moment nicht viel zu haben, außer einer Geschichte. Ich winkte zum Fenster hinauf. Bei meinem Anblick wich Sheilas eben noch missmutige, mürrische Miene einem Ausdruck der Verblüffung und Besorgnis. Sie verschwand und tauchte wenige Augenblicke später unten an der Haustür wieder auf, in einen flauschigen weißen Bademantel gehüllt, das verschlafene Gesicht von wirren dunklen Haarsträhnen umrahmt. Ich drückte ihr die Tüte mit den Croissants in die Hand.

»Entschuldige«, sagte ich. »Aber es war noch zu früh, um vorher anzurufen. Darf ich reinkommen?«

»Du siehst wie ein Gespenst aus!«, rief sie. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«

Diesmal erzählte ich eine Kurzversion meiner Geschichte, nur das Wichtigste. In Bezug auf die Polizei, blieb ich vage. Sheila und Guy waren sichtlich verwirrt, aber dennoch sehr hilfsbereit. Sie machten mir sofort einen Kaffee und boten mir überschwänglich an, über alles zu verfügen: ihr Bad, ihr Geld, ihren Kleiderschrank, ihr Telefon, ihr Auto und ihr Gästezimmer, und das, so lange ich wollte.

»Wir werden natürlich die meiste Zeit im Büro sein«, fügte Sheila hinzu. »Fühl dich einfach wie zu Hause.«

»Habe ich meine Sachen bei euch gelassen?«

»Hier? Nein. Es sei denn, die eine oder andere Kleinigkeit schwirrt noch irgendwo herum.«

»Wie lange bin ich überhaupt geblieben? Nur eine Nacht?«

»Nein. Oder doch, eigentlich schon.«

»Was meinst du mit eigentlich?«

»Du hast am Sonntag hier geschlafen, bist aber am Montag nicht wiedergekommen. Du hast angerufen, dass du anderswo übernachten würdest. Am Dienstag hast du deine Sachen abgeholt. Du hast uns einen Zettel mit einer Nachricht hinterlassen und zwei sehr teure Flaschen Wein.«

»Wohin wollte ich denn?«

Sie antworteten, das wüssten sie nicht. Ich sei ziemlich aufgedreht gewesen und hätte sie am Sonntag bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten. Ich hätte ziemlich viel geredet und getrunken und Pläne für den Rest meines Lebens geschmiedet. Am nächsten Tag hätte ich sie dann wieder verlassen. Während sie mir das erzählten, warfen sie sich vielsagende Blicke zu, so dass ich mich zu fragen begann, was sie mir wohl verschwiegen. Hatte ich mich daneben benommen? Mich übergeben müssen? Kurz bevor sie aufbrachen, ertappte ich sie dabei, wie sie in der Küche die Köpfe zusammensteckten und aufgeregt miteinander tuschelten. Als sie mich in der Tür stehen sahen, brachen sie abrupt ab, lächelten mich an und taten so, als hätten sie nur Pläne für den Abend gemacht.

Die beiden also auch, dachte ich, und wandte den Blick ab, als hätte ich nichts bemerkt. Das würde noch öfter vorkommen, vor allem, wenn Sheila und Guy erst einmal mit Sadie gesprochen hatten, und anschließend mit Robin, Carla, Joey und Sam. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie sich gegenseitig anrufen würden. Hast du schon gehört? Ist das nicht schrecklich? Wie denkst du darüber, ich meine, wirklich, ganz unter uns?

Freundschaften haben viel mit Takt zu tun. Oft will man gar nicht wissen, was Freunde gegenüber anderen Freunden oder ihrem Partner ausplaudern. Man will gar nicht wissen, was sie wirklich denken oder wie weit ihre Loyalität geht. Man sollte sehr vorsichtig damit umgehen.

Vermutlich erfährt man dann nämlich Dinge, die einem gar nicht gefallen.

4

Mir war nichts mehr peinlich. Ich besaß noch rund fünf Pfund, so dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als Sheila und Guy um Geld anzupumpen. Sie waren sehr entgegenkommend. Natürlich war ihr »Entgegenkommen«

mit Schnauben und Keuchen und Zähneknirschen verbunden. Beide wühlten in ihren Taschen und Börsen und erklärten, dass sie später zur Bank gehen könnten. Am liebsten hätte ich gesagt, es sei nicht so wichtig, und ich käme auch ohne Geld klar, aber es war nun einmal wichtig, und ich war auf ihre Hilfe angewiesen. Deshalb landeten zweiundfünfzig Pfund in diversen Scheinen und Münzen in meinen aufgehaltenen Händen. Dann lieh ich mir von Sheila einen Slip und ein T-Shirt aus und warf meine getragenen Sachen in ihren Wäschekorb. Sie fragte mich, ob sie mir sonst irgendwie helfen könne, woraufhin ich sie fragte, ob sie einen alten Pulli besitze, den ich für ein, zwei Tage haben könnte. Sie antwortete, natürlich, und kam mit einem recht hübschen wieder, der überhaupt nicht alt aussah. Sheilas Kleidung war mir einige Nummern zu groß, doch nachdem ich die Ärmel hochgeschoben hatte, sah ich nicht mehr ganz so lächerlich aus. Dennoch hatte sie ihre Gesichtszüge nicht völlig unter Kontrolle.

»Entschuldige«, sagte sie. »Du siehst großartig aus, aber

…«

»Als würde ich neuerdings unter der Brücke leben?«, fiel ich ihr ins Wort.

»Nein, nein«, widersprach sie vehement. »Ich bin es nur gewohnt, dass du, ich weiß auch nicht, erwachsener aussiehst.«

Als sie aufbrachen, kam es mir fast so vor, als hätten sie bei der Vorstellung, mich allein in ihrem Haus zurückzulassen, ein leicht mulmiges Gefühl. Ich weiß nicht, ob sie befürchteten, ich würde ihre Hausbar oder den Kühlschrank plündern oder von ihrem Telefon aus lange Auslandsgespräche führen. Ich erleichterte lediglich das Arzneischränkchen um ein paar Kopfschmerztabletten und tätigte vier Anrufe, alles Ortsgespräche. Als Erstes bestellte ich mir ein Taxi, weil ich auf keinen Fall allein durch die Straßen laufen wollte. Dann rief ich Robin im Büro an. Sie sagte, sie könne sich mittags leider nicht mit mir treffen. Als ich ihr zur Antwort gab, sie müsse, erklärte sie mir, dass sie bereits mit jemand anderem zum Essen verabredet sei. Ich entgegnete, das tue mir Leid, aber sie müsse ihre Verabredung absagen. Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie seufzend zu.

Ich forderte alle Gefallen ein, die ich meinen Freunden im Laufe meines Lebens getan hatte. Ich rief Carla an und nötigte sie, sich nachmittags auf einen Kaffee mit mir zu treffen. Anschließend rief ich Sam an und verabredete mich mit ihm ebenfalls für einen Kaffee, fünfundvierzig Minuten nach meinem Termin mit Robin. Er fragte nicht nach dem Grund, ebensowenig wie Carla. Das beunruhigte mich ein wenig. Bestimmt wussten sie schon etwas. Was hatte Sadie erzählt? Ich kannte das Gefühl. Auch ich war schon wegen irgendeiner unglaublich heißen Tratschgeschichte in einen Fieberzustand verfallen, der sich wie ein Typhusvirus verbreitet hatte. Ich konnte es mir lebhaft vorstellen. Hey, alle mal herhören, habt ihr schon gehört, was Abbie passiert ist? Oder war es noch einfacher? Hey, alle mal herhören, Abbie ist verrückt geworden! Ach, und übrigens, sie wird bald bei euch hereinschneien, um euer gesamtes Kleingeld einzusammeln.

Ich spähte aus dem Fenster, bis ich das Taxi kommen sah, und griff nach meiner Tasche. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass ich gar keine Tasche hatte. Alles, was ich besaß, hatte ich in meine Hosentaschen gestopft – eine kleine Geldsumme von Sadie und eine größere von Sheila und Guy. Ich bat den Taxifahrer, mich zur U-Bahn-Station Kennington zu fahren, was ihn nicht gerade in einen Freudentaumel versetzte. Verwirrt starrte er mich an. Es war wahrscheinlich das erste Mal in seiner Laufbahn, dass er einen Fahrgast zu einer U-Bahn-Station bringen musste, die nur wenige Straßen entfernt lag. Das Unterfangen kostete mich drei Pfund fünfzig. Ich nahm den Zug nach Euston, wechselte dort die Bahnsteigseite und stieg in die Victoria Line um. Am Oxford Circus stieg ich aus und begab mich zum Bahnsteig der Bakerloo Line. Über die Gleise hinweg studierte ich die Streckenkarte. Ja, dieser Zug führte an Ziele, die ausreichend weit von allen mir bekannten Orten entfernt lagen. Ein Zug kam im Bahnhof an, und ich stieg ein. Als sich die Türen zu schließen begannen, sprang ich flink wieder heraus. Der Zug setzte sich in Bewegung, und ich war für ein, zwei Sekunden allein, bis die nächsten Pendler auf dem Bahnsteig eintrafen. Jeder, der mir zugeschaut hätte, hätte mich bestimmt für eine Verrückte gehalten. Dabei hätte ich eigentlich wissen müssen, dass mir niemand folgte. Es konnte mir niemand folgen. Doch nun war ich mir sicher und fühlte mich besser. Etwas besser zumindest. Ich schlenderte zur Central Line hinüber und entschied mich für den Zug nach Tottenham Court Road.

Dort suchte ich eine Zweigstelle meiner Bank auf. Ich empfand eine große Müdigkeit, als ich mich durch die Tür schob. Die einfachen Dinge des Lebens waren so schwierig geworden. Kleidung. Geld. Ich kam mir vor wie Robinson Crusoe. Am unangenehmsten war es, dass ich fast jedem Menschen, auf den ich traf, eine Version meiner Geschichte erzählen musste. Der Frau am Schalter schilderte ich eine sehr knappe Version, woraufhin sie mich an eine »persönliche Finanzberaterin« verwies, eine korpulente Frau in einem türkisfarbenen Blazer mit Messingknöpfen, die in einer Ecke des Raums an ihrem Schreibtisch saß. Ich musste warten, bis sie für einen Mann, der offenbar kein Englisch sprach, ein Konto eröffnet hatte. Als er gegangen war, wandte sie sich mit einem Ausdruck der Erleichterung an mich. Sie wusste nicht, was ihr bevorstand. Ich erklärte ihr, dass ich Geld von meinem Konto abheben wolle, aber Opfer eines Verbrechens geworden sei und daher weder im Besitz meines Scheckbuchs noch meiner Kreditkarten sei. Kein Problem, meinte sie. Jede Form von Ausweis mit Foto sei absolut ausreichend.

Ich holte tief Luft, bevor ich ihr eröffnete, dass ich gegenwärtig über keinerlei Art von Ausweis verfügte, ihr überhaupt nichts vorlegen könne. Sie starrte mich verwirrt an. Fast schien es, als hätte sie ein wenig Angst vor mir.

»Dann tut es mir Leid …«, begann sie.

»Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, an mein Geld heranzukommen«, unterbrach ich sie. »Außerdem muss ich meine alten Karten sperren lassen und neue beantragen. Ich unterschreibe alles, was Sie wollen, gebe Ihnen jede Information, die Sie brauchen.«

Sie starrte mich noch immer skeptisch an. Mehr als das, beinahe wie hypnotisiert. Plötzlich fiel mir Cross ein. Von allen Menschen, die mich zurück in die Welt entlassen hatten, schien mir Cross derjenige zu sein, der darüber am wenigsten glücklich gewesen war. Er hatte irgendetwas davon gemurmelt, dass er tun werde, was in seiner Macht stehe, falls ich Hilfe brauchte.

»Es gibt da einen Polizeibeamten«, erklärte ich. »Er war mit dem Fall betraut. Sie können ihn anrufen und meine Angaben überprüfen.«

Ich schrieb ihr die Nummer auf, hatte aber sofort Bedenken. Wenn Cross sich zu kooperativ zeigte, stand ich möglicherweise noch schlimmer da als vorher.

Stirnrunzelnd betrachtete sie die Zahl und verkündete, sie müsse vorher mit dem stellvertretenden Filialleiter sprechen. Er entpuppte sich als ein schon leicht kahlköpfiger Mann, der einen ausgesprochen gediegenen Anzug trug und ebenfalls eine sorgenvolle Miene aufsetzte. Ich glaube, sie wären erleichtert gewesen, wenn ich mich aufgeregt hätte und wütend aus der Bank gestürmt wäre, aber ich ließ nicht locker. Sie mussten mich wieder in mein altes Leben zurücklassen.

Die Zeit verging. Zunächst tätigten sie ein paar Anrufe, dann stellten sie mir unzählige Fragen über mein Leben, mein Konto, Rechnungen, die ich in der letzten Zeit bezahlt hatte. Sie fragten mich sogar nach dem Mädchennamen meiner Mutter. Ich unterschrieb zahllose Formulare, und die Bankangestellte tippte permanent verschiedene Angaben in den Computer auf ihrem Schreibtisch. Am Ende händigten sie mir mit sichtlichem Widerwillen zweihundert Pfund aus und stellten mir in Aussicht, dass sie mir innerhalb von zwei Werktagen neue Kreditkarten und ein Scheckbuch zuschicken würden –

wenn ich Glück hätte eventuell bereits am folgenden Werktag. Plötzlich wurde mir bewusst, dass auf diese Weise alles bei Terry landen würde. Ich stand schon im Begriff, sie zu bitten, die Dokumente an eine andere Adresse zu schicken, besann mich dann aber eines Besseren. Wenn ich jetzt auch noch meine Adresse änderte, würden sie mich wahrscheinlich auf der Stelle hinauswerfen. Also stopfte ich das Geldbündel in meine beiden Hosentaschen und ging. Ich hatte das Gefühl, als käme ich aus einem Wettbüro.

Sobald Robin mich sah, nahm sie mich fest in den Arm, aber ich spürte, dass sie nicht nur besorgt, sondern auch misstrauisch war. Ich verstand durchaus weshalb. Wir sahen aus, als gehörten wir unterschiedlichen Spezies an.

Sie ist eine dunkelhäutige Schönheit, immer makellos gekleidet und sehr gepflegt. Ich dagegen sah aus wie das, was ich momentan tatsächlich war: eine Obdachlose, die es nicht eilig hatte, an ein bestimmtes Ziel zu kommen.

Wir trafen uns vor dem Reisebüro, in dem sie arbeitete.

Sie hatte nirgends für uns reserviert. Ich sagte ihr, dass mir das nichts ausmache. Es machte mir tatsächlich nichts aus.

Wir gingen in eine italienische Sandwichbar, wo wir uns an der Theke niederließen. Ich bestellte mir einen großen Kaffee und ein Sandwich, das aussah wie ein ganzer Delikatessenladen zwischen zwei Scheiben Brot. Ich hatte einen Bärenhunger. Sie trank nur einen Kaffee. Als sie sich anschickte, für mich mitzubezahlen, ließ ich sie gewähren. Ich musste mit meinem Geld momentan sparsam umgehen, weil ich noch nicht wusste, welche Kosten bei dem Zigeunerleben, das ich nun führte, auf mich zukommen würden.

»Sadie hat mich angerufen«, bemerkte sie.

»Gut«, murmelte ich, den Mund voller Sandwich.

»Ich kann es einfach nicht glauben! Wir sind so entsetzt über das, was dir passiert ist. Wenn ich irgendetwas tun kann, egal, was …«

»Was hat Sadie dir erzählt?«

»Nur die groben Fakten.«

Robin präsentierte mir eine Version meiner Geschichte.

Es war richtig wohltuend, einmal zuzuhören, statt selbst erzählen zu müssen.

»Hast du jemanden?« fragte sie, als sie fertig war.

»Du meinst, einen Mann?«

»Ich dachte eher an einen Arzt.«

»Ich war im Krankenhaus.«

»Aber Sadie hat gesagt, du hättest eine Kopfverletzung.«

Ich hatte gerade ein großes Stück von meinem Sandwich abgebissen, woraufhin eine Pause entstand, während ich kaute und schluckte.

»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen, Robin.

Unter anderem. Wie du bereits von Sadie weißt, hatte ich eine Art Gehirnerschütterung. Daraus resultierten meine Probleme mit den Ärzten und der Polizei. Deshalb möchte ich unter anderem versuchen zu rekonstruieren, was in der Zeit meiner Gedächtnislücke passiert ist. Es ist mir etwas unangenehm, dir davon zu erzählen, aber mir war beispielsweise nicht mehr klar, dass ich Terry verlassen hatte. Endlich ringe ich mich zu einer der besten Entscheidungen meines Lebens durch, und dann vergesse ich sie wieder. Einmal angenommen, ich wäre ein Fahnder auf der Suche nach einer Vermissten und würde dich fragen, wann du Abbie Devereaux das letzte Mal gesehen hast, was würdest du antworten?«

»Wie bitte?«

»Wann hast du mich zum letzten Mal gesehen, Robin?

Das ist doch wirklich keine schwierige Frage!«

»Nein, da hast du Recht.« Sie überlegte einen Augenblick.

»Ich wusste, dass du Terry verlassen hattest. Wir haben uns am folgenden Tag getroffen, am Sonntag. Am späten Vormittag.«

»Warte mal. Am Sonntag, dem dreizehnten Januar?«

»Ja. Wir waren in der Kensington High Street beim Shoppen. Daran musst du dich doch erinnern.«

»Nein, beim besten Willen nicht. Was habe ich gekauft?«

Sie starrte mich entgeistert an.

»Du kannst dich wirklich nicht erinnern? Nun ja, ich habe mir phantastische Schuhe gekauft. Sie waren auf fünfunddreißig Pfund heruntergesetzt, von absurden hundertsechzig.«

»Und ich?«

Robin lächelte.

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Wir hatten am Vorabend telefoniert. Da hast du dich ein bisschen überdreht angehört, aber an dem Vormittag ging es dir gut.

Wirklich gut. So gut gelaunt hatte ich dich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Du hast gesagt, du hättest jetzt ein positives Gefühl und wolltest dich für dein neues Leben ausstatten. Du hast dir ein wunderschönes braunes Minikleid gekauft. Aus Knittersamt. Dazu passende Schuhe, Strümpfe und ein paar Slips. Und einen spektakulären Mantel. Lang, marineblau. Du hast ein Vermögen dafür ausgeben. Aber der Mantel war wirklich toll. Du musstest ziemlich viel kichern, weil du so viel ausgegeben hast, nachdem du gerade deinen Job gekündigt hattest.«

»O nein! Erzähl mir bitte nicht, dass ich nicht nur mit Terry, sondern auch mit meinem Job Schluss gemacht habe!«

»Doch. Wusstest du das nicht? Es schien dir allerdings nichts auszumachen.«

»Dann habe ich also keinen Job mehr?«

Der Boden unter meinen Füßen schien nachzugeben. Die Welt erschien mir plötzlich grauer und kälter.

»Abbie?«

Robin sah mich besorgt an. Ich überlegte krampfhaft, was ich sie noch fragen sollte.

»Und das war wirklich das letzte Mal, dass du mich gesehen hast?«

»Wir aßen zusammen zu Mittag und vereinbarten, uns ein paar Tage später auf einen Drink zu treffen. Am Donnerstagabend, glaube ich. Aber du hast einen Tag vorher angerufen und abgesagt.«

»Warum?«

»Du hast gesagt, dir sei etwas dazwischengekommen.

Du hast dich tausendmal entschuldigt.«

»War das, was mir dazwischengekommen war, etwas Gutes? Habe ich aufgeregt geklungen?«

»Hm … vielleicht ein bisschen überdreht. Wir haben nur ganz kurz miteinander gesprochen.«

»Das war alles?«

»Ja.« Während ich den Rest meines Sandwiches verspeiste, musterte Robin mich eindringlich. »Könnte es sich bei der ganzen Sache nicht um ein Missverständnis handeln?«

»Du meinst, dass ich entführt und von jemandem gefangen gehalten worden bin, der zu mir gesagt hat, er wolle mich umbringen und habe bereits mehrere andere Frauen umgebracht? Du meinst diesen Teil?«

»Ich weiß nicht.«

»Robin«, sagte ich langsam. »Du bist eine von meinen ältesten Freundinnen. Ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist. Glaubst du mir?«

Robin nahm meinen Kopf zwischen ihre schlanken Finger und küsste mich auf beide Wangen. Dann schob sie mich zurück und sah mich an.

»Die Sache ist die«, sagte sie. »Wenn es wahr ist – und ich bin sicher, dass dem so ist –, dann kann ich die Vorstellung einfach nicht ertragen.«

»Mir geht es nicht anders!«

Mein Treffen mit Carla bestand aus unzähligen Umarmungen, Tränen und Freundschaftsbeteuerungen, lief jedoch auf die Tatsache hinaus, dass sie in der betreffenden Zeit nicht da gewesen war und lediglich sagen konnte, dass ich auf ihrem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen und um Rückruf gebeten hätte.

Nach ihrer Rückkehr habe sie ihrerseits eine Nachricht auf Terrys Band hinterlassen, aber nichts mehr von mir gehört.

Sam ist einer meiner ältesten Freunde. Oft kann ich nicht glauben, dass der Junge, den ich auf zahlreichen Partys in Süd-London mit einem Joint in der Hand habe herumlaufen sehen, nun Anwalt ist, Anzug und Krawatte trägt und an Werktagen von neun bis fünf einen Erwachsenen mimen muss. Trotzdem kann ich mir inzwischen vorstellen, wie dieser attraktive, hippe Sechsundzwanzigjährige aussehen wird, wenn er vierzig ist.

»Ja, wir haben uns getroffen«, sagte er. »Am Sonntagabend, auf einen Drink.« Er lächelte. »Ich bin ein bisschen beleidigt, dass du dich nicht daran erinnern kannst. An dem Abend hast du bei Sheila und Guy übernachtet. Du hast kurz über Terry gesprochen, aber nicht viel. Ich dachte eigentlich, dass du dich mit mir treffen wolltest, um über diesen undankbaren Mistkerl zu schimpfen. Undankbar dafür, dass er mit dir leben durfte, meine ich. Aber du hast auf mich nicht besonders angeschlagen gewirkt, eher aufgeregt.«

O ja. Ich wusste Bescheid. Obwohl ich mich an unser Treffen nicht erinnern konnte, wusste ich in etwa, was passiert war. Sam und ich waren immer nur Freunde gewesen, nie ein Paar. Manchmal fragte ich mich, ob er das bedauerte. Vielleicht hatte er meinen Bruch mit Terry als Chance gesehen. Mir selbst war dieser Gedanken ebenfalls durch den Kopf gegangen, doch die Abbie, die mit ihm einen Drink genommen hatte, hatte sich offensichtlich dagegen entschieden. Es war besser, ihn als Freund zu behalten.

Ich nippte an meinem vierten Kaffee dieses Nachmittags. Mein ganzer Körper prickelte vor Koffein, und mich beschlich ein seltsames Gefühl. Im Grunde hatte ich bisher nicht viel herausgefunden, aber vielleicht lag gerade darin das Interessante. Immerhin wusste ich jetzt, dass ich es vorgezogen hatte, die letzten Tage vor meiner Entführung nicht mit meinen engsten Freunden zu verbringen. Doch mit wem hatte ich sie verbracht? Was hatte ich gemacht? Wer war ich gewesen?

»Was wirst du jetzt tun?« Wie so oft klang er dabei wie ein Gerichtsmediziner.

»Wie meinst du das?«

»Wenn das, was du sagst … ich meine, nach allem, was du sagst, muss er noch irgendwo da draußen sein, und er weiß, dass du wieder da draußen bist. Was also wirst du unternehmen?«

Ich trank einen weiteren Schluck Kaffee. Das war die Frage, die sich mir unerbittlich aufdrängte und die ich bisher zu ignorieren versucht hatte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Mich verstecken.

Was kann ich sonst tun?«

5

Ich hatte keinen Termin, und es hieß, ich müsste mindestens fünfzig Minuten warten, bis ich an der Reihe war, aber das machte mir nichts aus. Ich hatte nichts vor, und hier war es warm. Und sicher. Ich ließ mich auf einem Sessel in der Nähe der Tür nieder und blätterte durch die letztjährigen Hochglanzmagazine. Penny, die mir die Haare schneiden würde, forderte mich auf, mir Frisuren auszusuchen, die mir gefielen. Ich studierte also Filmstars, Musikerinnen und andere Berühmtheiten und versuchte, mir mein Gesicht unter ihrem Haar vorzustellen. Dennoch würde ich immer noch so aussehen wie ich. Draußen begann es zu dämmern. Auf dem Gehsteig hasteten Passanten vorbei, in Mäntel und Schals gehüllt. Autos und Lastwagen donnerten die Straße entlang und ließen zu beiden Seiten schmutzigen Schneematsch hochspritzen.

Drinnen war es hell und ruhig, man hörte nur das Schnippen der Scheren, das Geräusch des Besens, der abgeschnittene Haarsträhnen und Locken zu weichen Häufchen zusammenfegte, hin und wieder gedämpftes Stimmengemurmel. Sechs Kunden wurden die Haare geschnitten, allesamt Frauen. In schwarze Umhänge gehüllt, saßen sie in gerader Haltung auf ihren Stühlen oder mit zurückgelegtem Kopf vor den Waschbecken, wo Shampoo und Spülungen in ihre Kopfhaut massiert wurden. Es roch nach Kokosnuss, Apfel, Kamille. Ich schloss die Augen. Ich hätte den ganzen Tag hier sitzen können.

»Haben Sie sich schon entschieden?«

»Kurz«, antwortete ich und riss die Augen auf. Sie führte mich vor einen großen Spiegel und stellte sich hinter mich.

Den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt, fuhr sie mit den Händen durch mein Haar.

»Und Sie sind sicher, dass Sie es kurz wollen?«

»Ja. Richtig kurz. Keinen Bob oder so. Sie wissen schon, einen richtigen Kurzhaarschnitt. Allerdings nicht zu maskulin.«

»Leicht durchgestuft vielleicht. Damit Sie es auch wild stylen können. Aber mit weichen Konturen?«

»Ja, das klingt gut. Und eine neue Farbe möchte ich auch.«

»Dafür brauchen wir dann aber eine gute Stunde länger.«

»Das macht nichts. Zu welcher Farbe würden Sie mir denn raten?«

»Ihr Haar ist sehr schön, so wie es ist.«

»Ich möchte trotzdem eine Veränderung. Ich habe an Rot gedacht. Einen leuchtenden Rotton.«

»Rot?« Sie nahm eine Strähne meines langen hellen Haars und ließ sie durch ihre Finger gleiten. »Glauben Sie, dass Rot zu Ihrer Gesichtsfarbe passt? Wie wäre es mit einem weicheren Ton – einem dunklen Karamellton vielleicht, mit interessanten Glanzlichtern?«

»Würde mich das sehr verändern?«

»O ja, definitiv.«

Ich hatte nie wirklich kurzes Haar gehabt. Als Mädchen weigerte ich mich meist, es mir überhaupt schneiden zu lassen. Ich wollte so wie meine Freundin Chen sein, die auf ihrem blauschwarzen Haar sitzen konnte. Sie trug immer einen Zopf, der mit einer Samtschleife zusammengehalten wurde. Er schlängelte sich an ihrem Rücken hinunter, dick und glänzend, als würde er leben.

Ich hob eine Hand und strich über meinen Scheitel, warf einen letzten Blick auf mein langes Haar.

»Also dann«, sagte ich. »lassen Sie uns anfangen, ehe ich es mir anders überlege.«

»Sobald die Farbe eingezogen ist, bin ich wieder bei Ihnen.«

Eine andere Friseuse färbte mir das Haar. Zunächst bestrich sie es mit einer dicken bräunlichen Paste, die unangenehm und chemisch roch. Ich musste mich unter eine warme Lampe setzen. Anschließend gab sie ein paar hellere Kleckse auf einzelne Haarsträhnen und umwickelte sie mit Alufolie. Ich sah wie ein dressiertes Huhn aus, bereit, in den Ofen geschoben zu werden. Ich schloss erneut die Augen. Ich wollte es nicht sehen.

Finger fuhren durch mein Haar, warmes Wasser lief über meine Kopfhaut. Ich roch nach Früchten und tropischen Wäldern. Ein Handtuch wurde mir wie ein Turban um den Kopf geschlungen. Jemand stellte eine Tasse Kaffee vor mich hin. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen.

Als Penny anfing zu schneiden, schloss ich wieder die Augen.

Ich hörte die Schere schnippen und spürte, wie eine Haarsträhne an meiner Wange hinunterglitt. Bald fühlten sich mein Nacken und meine Ohrläppchen seltsam entblößt an. Penny befeuchtete mein Haar mit Wasser aus einer Sprühflasche. Sie schnitt ruhig vor sich hin und sprach mich nur an, wenn ich mich anders hinsetzen sollte.

Gelegentlich beugte sie sich vor und blies ein paar Härchen weg. Als ich dabei einmal die Augen aufschlug, sah ich ein kleines, bleiches, nacktes Gesicht vor mir.

Meine Nase und mein Mund wirkten zu groß, mein Hals zu dünn. Schnell machte ich die Augen wieder zu und versuchte an andere Dinge zu denken. An Essen beispielsweise. Wenn ich hier fertig war, würde ich mir in dem Feinkostladen, den ich ein Stück straßabwärts entdeckt hatte, ein leckeres Gebäckstück kaufen, etwas Süßes, Würziges. Mit Birne und Zimt vielleicht. Oder ein Stück Möhrenkuchen. Vielleicht auch einen Apfel, einen großen, grünen, sauren Apfel.

»Was halten Sie davon?«

Ich zwang mich, in den Spiegel zu sehen. Ich hatte dunkle Augenringe, und meine Lippen wirkten bleich und ausgetrocknet. Vorsichtig berührte ich die weichen Stacheln auf meinem Kopf. »Schön«, sagte ich.

»Großartig.«

Penny stellte sich mit einem zweiten Spiegel hinter mich. Von hinten sah ich aus wie ein sechzehnjähriger Junge.

»Wie finden Sie den Schnitt?«, fragte ich.

Sie betrachtete mich abschätzend. »Sehr androgyn«, antwortete sie.

»Genau das, was ich wollte.«

Eine Bürste sauste über meinen Hals und mein Gesicht, dann wurde mir der Spiegel so hingehalten, dass ich mein neues Profil aus jedem Blickwinkel betrachten konnte.

Anschließend bekam ich meine Jacke in die Hand gedrückt und wurde wieder in die Welt hinausgeschickt, wo kleine Schneeflocken durch die hereinbrechende Dunkelheit wirbelten. Mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Jedesmal, wenn mir aus einem Schaufenster mein neues Spiegelbild entgegenblickte, erschrak ich ein wenig.

Ich kaufte mir einen riesigen Schokoladenkeks und verspeiste ihn auf dem Weg zu den Modegeschäften.

Während der letzten drei Jahre habe ich mich immer relativ gediegen gekleidet. Das gehörte zu meinem Job, und ich habe mich wahrscheinlich einfach daran gewöhnt.

Kostüme, Röcke und Feinstrumpfhosen, von denen ich immer eine auf Reserve in der Tasche hatte, falls ich eine Laufmasche bekam. Lauter klassische, auf Figur geschnittene Kleidungsstücke. Deswegen kaufte ich mir jetzt von dem Rest des Geldes, das Sheila mir geliehen hatte, eine weite schwarze Hose, ein paar T-Shirts, Bikerstiefel, ein Fleece-Shirt mit Kapuze, einen langen gestreiften Schal, eine schwarze Wollmütze und warme Handschuhe. Fast hätte ich auch noch einen langen Ledermantel erstanden, hatte aber zum Glück nicht mehr genug Geld. Es reichte jedoch noch für sechs Slips, zwei BH, mehrere Paar dicke Socken, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Lippenstift, Wimperntusche, Deo und Shampoo.

Ich stellte mich vor den hohen Ladenspiegel, drehte mich langsam um und betrachtete mich über die Schulter.

Ich reckte mein Kinn in die Luft. Das war nicht mehr Abbie, die Geschäftsfrau mit dem ordentlichen Haarknoten und den flachen Pumps. Ich wirkte dünn und verwildert. Meine Schlüsselbeine standen scharf hervor, und die schwarzen Sachen ließen mich noch bleicher aussehen als sonst. Der Bluterguss an meiner Wange war inzwischen zu einem gelblichen Fleck verblasst. Mein stacheliges Haar hatte die Farbe von Birkenholz. Ich fand, dass ich eine leichte Ähnlichkeit mit einer Eule hatte und wie ein Schulmädchen aussah. Ich lächelte mir zu, der neuen Abbie, die ich dort im Spiegel sah, und nickte.

»Gut«, sagte ich laut. »Perfekt.«

6

»Lieber Himmel!«, rief Sheila aus, als sie mir die Tür öffnete.

»Wie findest du mich?«

»Das nenne ich einen Imagewandel. Ich habe dich fast nicht erkannt.«

»So war es gedacht. Darf ich reinkommen? Hier draußen ist es schrecklich kalt.« Eisige Flocken landeten auf meinen Wangen und meiner Nase. Mein neuer Haarschnitt war flach und feucht.

Sie trat zurück, um mich in die Wärme hineinzulassen.

»Natürlich. Mein Gott, du siehst …«

»Wie sehe ich aus?«

»Ich weiß nicht. Jünger.«

»Ist das positiv?«

»Ja«, antwortete sie zögernd. »Du wirkst auch ein wenig kleiner und noch dünner. Möchtest du eine Tasse Tee?

Oder lieber einen Drink?«

»Einen Drink. Ich habe Bier für uns gekauft.«

»Danke, aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«

»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Es war euer Geld.

Allerdings kann ich es euch zurückzahlen, sobald meine neue Kreditkarte bei Terry eingetroffen ist, was in den nächsten Tagen der Fall sein müsste.«

»Wann auch immer, egal. Dabei fällt mir ein, dass Terry angerufen hat.«

»Hier?«

»Nein, bei Sadie. Er dachte, du wärst bei ihr. Sadie hat daraufhin bei mir angerufen. Terry lässt dir ausrichten, dass du eine Tasche bei ihm abholen sollst. Er hat gestern vergessen, sie dir zu geben. Eine große Tasche voller Post und allerlei anderem Zeug. Und dem Rest deiner Klamotten.«

»Gut. Das mache ich gleich morgen.«

»Oder er schmeißt die Sachen weg.«

»Sehr charmant. Ich hole sie jetzt gleich.«

»Jetzt? Möchtest du denn nichts essen? Wir haben Freunde zu Gast. Ein Pärchen, sehr nett, ein Kollege von Guy. Seine Freundin arbeitet mit Tapeten, glaube ich.

Nichts Aufregendes, bloß wir vier. Beziehungsweise wir fünf, wenn du Zeit hast«, fügte sie tapfer hinzu.

»Lass gut sein, Sheila. Vier ist eine bessere Zahl.

Vielleicht bin ich ja wieder da, wenn ihr beim Käse angelangt seid.«

»Kein Käse. Als Nachspeise gibt es Zitronenkuchen.«

»Du hast Zitronenkuchen gemacht?«

»Ja.« Sie wirkte verlegen, aber auch ein bisschen stolz.

»Lasst mir ein Stück übrig. Darf ich euer Telefon benutzen, um mir ein Taxi zu rufen?«

»Natürlich. Da brauchst du doch nicht zu fragen.«

Ich küsste sie auf beide Wangen. »Du bist sehr lieb zu mir. Ich verspreche dir, dass ich nicht lange bleiben werde.«

Es ist sehr teuer, mit dem Taxi durch ganz London zu gondeln, es warten zu lassen und dann die ganze Strecke zurückzufahren. Nervös registrierte ich, wie der Zähler auf eine zweistellige Zahl sprang. Heute Morgen hatte ich

£257 besessen, von Sheila und Guy und von der Bank, aber nach meinem Haarschnitt, meiner Shoppingtour und diversen Kaffees und Taxifahrten hatte sich meine Barschaft auf £79 reduziert. Am Ende dieses Tages würde ich wieder bei etwa £60 angelangt sein.

In unserer Wohnung brannte Licht. Terrys Wohnung. Ich klingelte und wartete. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören, dann ging in der Diele das Licht an.

»Ja?«

»Hallo, Terry.«

»Abbie?« Er starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Wie siehst du denn aus? Bist du unter den Rasenmäher geraten? Dein Haar ist …«

»Weg, ich weiß. Kann ich reinkommen und meine Sachen holen? Ich bin ein bisschen in Eile. Mein Taxi wartet.«

»Ich laufe schnell nach oben und hol dir die Sachen. Ich habe alles in Tüten verstaut. Warte hier.« Er drehte sich um und spurtete die Treppe hinauf. Da ich keine Lust hatte, in dieser Eiseskälte zu warten, folgte ich ihm. Aus der Wohnung roch es wundervoll nach Knoblauch und Gewürzen. Ich blieb im Türrahmen stehen und spähte hinein. Auf dem Tisch entdeckte ich eine halb geleerte Flasche Wein, zwei Gläser, zwei Gedecke mit Hühnchenfleisch, garniert mit Rosmarinzweigen und ganzen Knoblauchzehen. Das war mein Rezept, mein Standardgericht für besondere Gelegenheiten. Die Kerzen kamen mir auch bekannt vor – ich hatte sie gekauft. Am Tisch saß eine Frau und drehte ihr Glas zwischen zwei Fingern hin und her. Sie hatte langes, weich fallendes blondes Haar, das in dem sanften Kerzenlicht golden schimmerte. Sie trug ein anthrazitfarbenes Kostüm und als Schmuck winzige goldene Ohrstecker. Ich stand mit meiner weiten Hose und meinem stachligen Haar in der Tür und starrte sie an.

»Ich hol deine Sachen«, sagte Terry.

»Willst du uns nicht vorstellen?«

Er murmelte etwas und verschwand.

»Ich bin Abbie«, wandte ich mich betont munter an die Frau.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, antwortete sie leise.

»Sally.«

»Hier.« Terry zerrte zwei Müllsäcke mit meinen restlichen Klamotten in den Raum und drückte mir außerdem eine prall gefüllte Plastiktüte mit Post in die Hände. Sein Gesicht war rot angelaufen.

»Ich muss wieder los«, sagte ich zu Terry. Dann wandte ich mich an die Frau. »Wissen Sie, was wirklich seltsam ist? Sie sehen mir ziemlich ähnlich.«

Sie lächelte mich an, höflich, aber ungläubig. »Das finde ich eigentlich nicht.«

Sie waren noch beim Fisch, als ich den Kopf in die Küche streckte.

»Abbie, schon zurück! Das sind Paul und Izzie. Magst du mit uns essen?«

»Hallo.« Nach der Art zu urteilen, wie Paul und Izzie mich ansahen, hatten sie bereits die ganze Geschichte gehört.

»Macht euch meinetwegen keine Umstände, ich bin eigentlich gar nicht hungrig. Ich werde lieber gleich meine Post durchsehen.« Ich hob die prall gefüllte Plastiktüte hoch. »Wer weiß, vielleicht finde ich ja einen Hinweis?«

Alle vier lachten verlegen und wechselten dabei nervöse Blicke. Sheila wurde rot und beugte sich vor, um nachzuschenken.

»Aber ein Glas Wein wäre schön.«

Der größte Teil meiner Post bestand aus Werbung, Prospekten mit Winterschlussverkaufsangeboten und Ähnlichem. Außerdem hatte ich zwei Postkarten bekommen, eine von Mary, die den ganzen Monat in Australien war, die andere von Alex, aus Spanien. Er musste inzwischen zurückgekehrt sein. Ich fragte mich, ob er schon davon gehört hatte. Die Tüte enthielt auch zwei Einladungen zu Partys, von denen eine bereits vorbei war, die andere aber dieses Wochenende steigen sollte.

Vielleicht würde ich hingehen, tanzen und flirten, dachte ich, aber mein nächster Gedanke war: Was soll ich anziehen? Und was soll ich sagen? Und wer um alles in der Welt sollte mit einem Wesen flirten, das wie ein obdachloses Schulmädchen aussieht? Vermutlich würde ich doch nicht hingehen.

Laurence Joiner von Jay & Joiner hatte mir einen ungewöhnlich formellen Brief geschrieben, in dem er mir bestätigte, dass ich unbezahlten Urlaub hätte, meine Renten- und Krankenversicherung aber weiter bezahlt werde. Stirnrunzelnd legte ich ihn zur Seite. Ich musste auf jeden Fall im Büro vorbeischauen. Vielleicht gleich morgen.

Der nächste Umschlag enthielt einen Kontoauszug. Zu Beginn des Monats war ich glorreiche und für mich völlig untypische £1810.49 im Plus gewesen, aber inzwischen waren nur noch £597.00 übrig. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf die Zahlenreihe. Wofür um alles in der Welt hatte ich am 13. Januar £890 ausgegeben? Das musste die Kleidung sein, von denen Robin mir erzählt hatte. Welcher Teufel hatte mich da bloß geritten? War ich an dem Tag betrunken gewesen oder weggetreten? Nun wusste ich nicht einmal, wo sich die Sachen befanden.

Drei Tage später hatte ich am Automaten weitere £500

abgehoben, was mich irritierte. Normalerweise hebe ich immer nur £50 ab.

Ich trank von meinem Wein und öffnete ein offiziell aussehendes Schreiben, das mich darüber informierte, dass meine Kraftfahrzeugsteuer demnächst fällig sei. Was mich nicht allzu sehr tangierte, weil ich ohnehin keine Ahnung hatte, wo mein Auto stand. Allerdings änderte sich das ziemlich schnell, denn aus dem nächsten Brief erfuhr ich, dass es in Bow auf einem Abstellplatz für amtlich abgeschleppte Fahrzeuge gelandet war.

»Bingo!« sagte ich laut. »Endlich!«

Ich nahm den Brief genauer in Augenschein. Offenbar war es abgeschleppt worden, nachdem ich es in der Tilbury Road, E1 widerrechtlich geparkt hatte – wo auch immer die Tilbury Road sein mochte. Oder das blöde E1.

In dem Schreiben hieß es, ich könne das Fahrzeug zwischen neun und fünf Uhr abholen. Das würde ich morgen als Erstes machen.

Ich raste in die Küche. »Ich habe mein Auto gefunden!«, rief ich.

»Gut«, meinte Guy, den ich wohl leicht erschreckt hatte.

»Großartig. Wo ist es?«

»Allem Anschein nach in Bow, von der Polizei abgeschleppt. Ich hole es gleich morgen früh. Dann brauche ich nicht mehr ständig ein Taxi.« Ich griff nach der Weinflasche und schenkte mir ein weiteres großes Glas ein.

»Wie?«, fragte Guy.

»Was meinst du damit?«

»Wie willst du es abholen? Du hast doch keinen Schlüssel.«

»Oh.« Vor Enttäuschung blieb mir fast die Luft weg.

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Was mache ich denn da?«

»Sie könnten einen Schlüsseldienst kommen lassen«, schlug Izzie in freundlichem Ton vor.

»Nein, mir fällt etwas ein. Bei Terry muss ein Ersatzschlüssel liegen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wo. An einem sicheren Ort, den ich vergessen habe. Das heißt, ich muss noch einmal zu ihm. Herrje. Ich dachte, heute Abend wäre es das letzte Mal gewesen.«

»Wenigstens hast du dann dein Auto wieder. Das ist doch immerhin etwas.«

»Es ist zumindest ein Anfang.«

Ich fiel, fiel aus großer Höhe. Nichts konnte mich aufhalten. Um mich herum war stille schwarze Luft, und ich fiel durch diese Dunkelheit. Ich hörte mich einen Schrei ausstoßen, einen wilden Schrei in der Nacht und vernahm seinen Widerhall.

Dann wachte ich mit einem Ruck auf. Das Kissen, auf dem ich lag, war völlig verschwitzt. Über meine Wangen und meinen Hals rannen Schweißtropfen, die sich anfühlten wie Tränen. Ich schlug die Augen auf, es war noch immer dunkel. Ziemlich dunkel. Auf meinem Herzen lastete eine Schwere, als hätte jemand ein großes Gewicht auf mich fallen lassen. Ich war in der Dunkelheit gefangen, hörte mich selbst atmen, doch das Geräusch klang heiser, fast wie ein Röcheln. Irgendetwas stimmte nicht. Ich bekam nicht genügend Luft. Sie steckte in meiner Brust fest, mein Hals krampfte sich immer wieder zusammen und ließ sie einfach nicht durch. Ich musste mir erst ins Gedächtnis rufen, wie es ging. Wie man atmete.

Ich musste zählen, ja, genau, das war es. Einatmen und wieder aus. Ganz langsam. Eins-zwei, eins-zwei. Ich musste Luft in meine Lungen pumpen, sie dort einen Augenblick festhalten und wieder hinauslassen.

Wer war da? Da war jemand. Eine Bodendiele knarrte.

Ich wollte mich aufsetzen, doch mein Körper bewegte sich nicht, ich wollte schreien, doch meine Stimme war tief in mir eingefroren. Wieder knarrte eine Diele. Ich hörte jemanden atmen, ganz in der Nähe, gleich draußen vor der Tür. Den Kopf fest in mein Kissen gepresst lag ich da und spürte, wie sich mein Mund zu einem Schrei verzog, aber noch immer kam kein Laut, und erneut hörte ich dieses Atmen, dann Schritte, ein leises, unterdrücktes Husten.

»Nein«, sagte ich endlich. »Nein.« Diesmal lauter.

»Nein, nein, nein, nein.« Die Worte füllten meinen Kopf.

Sie hallten durch den Raum, krachten gegen meinen Schädel, zerrten an meinem Hals. »Nein, nein, nein, nein!«

Die Tür ging auf, und in dem grellen Licht sah ich eine schwarze Gestalt.

»Nein!«, schrie ich wieder, noch lauter als vorher. Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, Finger auf meinem Haar. Ich warf mich im Bett herum.

»Abbie! Abbie, wach auf! Es ist alles in Ordnung. Du hast geträumt. Es war nur ein Traum.«

»Hilfe, Hilfe!«, wimmerte ich.

»Du hattest einen Alptraum.«

Ich nahm Sheilas Hand und presste sie an meine Stirn.

»Du bist ja vollkommen nassgeschwitzt! Deine Stirn fühlt sich an, als hättest du Fieber!«

»Sheila. O Sheila! Ich dachte …«

»Du hattest einen Alptraum.«

Ich setzte mich auf. »Es war schrecklich«, sagte ich.

»Du Arme. Warte, ich bringe dir ein Handtuch, das du über dein Kissen legen kannst. Gleich geht es dir wieder besser.«

»Ja. Entschuldige. Ich habe dich aufgeweckt.«

»Nein, hast du nicht. Ich war sowieso gerade auf dem Weg zum Klo. Warte einen Moment.«

Sie verließ den Raum und kam ein paar Augenblicke später mit einem großen Handtuch zurück.

»Na, geht’s wieder?«, fragte sie.

»Ja.«

»Ruf mich, wenn du mich brauchst.«

»Danke. Ach, und Sheila – lass die Tür offen, ja? Und das Licht im Gang an?«

»Es ist sehr grell.«

»Das macht nichts.«

»Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Sie ging, und ich ließ mich wieder auf mein Kissen sinken. Mein Herz schlug noch immer wie eine Pauke.

Mein Hals schmerzte vom Schreien, und mich fröstelte.

Außerdem war mir übel, ich fühlte mich schwach und zittrig. Durch die Tür flutete das Licht herein. Ich starrte in die Helligkeit und wartete darauf, dass es Morgen werden würde.

»Wo könnte ich ihn versteckt haben?«

»Keine Ahnung«, sagte Terry. Er war noch im Bademantel – seinem letzten Geburtstagsgeschenk von mir –, trank starken schwarzen Kaffee und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Im gesamten Raum hing ein bläulicher Mief, der nach kalter Asche und dem Knoblauch vom Abend zuvor roch. Von der Frau war jedoch nichts zu sehen.

»In der Kommode ist er nicht. Auch nicht in der Schüssel, in der sonst der ganze Kleinkram landet. Und im Bad kann ich ihn auch nicht finden.«

»Warum sollte er im Bad sein?«

»Ist er ja nicht. Habe ich doch gerade gesagt.«

»Oh.« Er zündete sich die nächste Zigarette an.

»Jedenfalls muss ich mich jetzt anziehen und aufbrechen.

Ich bin sowieso schon spät dran. Brauchst du noch lange?«

»So lange, bis ich den Schlüssel habe. Mach dir deswegen keine Gedanken, ich finde allein nach draußen.«

»Das ist mir eigentlich nicht so recht.«

»Bitte?«

»Du wohnst nicht mehr hier, Abbie. Du hast mich verlassen, hast du das vergessen? Du kannst nicht mehr einfach so kommen und gehen.«

Ich hielt im Suchen inne und starrte ihn an.

»Ist das dein Ernst?«

»Während du weitersuchst, werde ich mich anziehen«, antwortete er. »Und ja, das ist mein Ernst.«

Ich zog sämtliche Schubladen in der Küche und im Wohnzimmer heraus und knallte sie wieder zu, öffnete und schloss Schranktüren, Letzteres ebenfalls ziemlich lautstark, aber der Schlüssel blieb unauffindbar. Er lag weder beim Besteck noch bei den Rechnungen, weder bei den Konservendosen noch bei den Tüten mit Mehl und Reis, den Packungen mit Frühstücksmüsli, Kaffee und Tee, den Flaschen mit Öl, Essig und Sojasauce. Er hing auch nicht an einem der Haken für die großen Teetassen.

Ebensowenig lag er auf dem Sturz der Verbindungstür zwischen den beiden Räumen. Er war nicht auf einem der Bücherregale, nicht beim Briefpapier, nicht in der Glasschale, in die ich immer – bisher immer – meinen ganzen Kleinkram legte.

Terry kam zurück ins Zimmer. Er schob die Hände in seine Jackentaschen und klimperte ungeduldig mit ein paar Münzen.

»Hör zu«, sagte ich. »Du willst nicht, dass ich hier bin, ich bin genau so wenig begeistert darüber, hier zu sein.

Geh doch einfach zur Arbeit, und wenn du wiederkommst, bin ich weg. Ich werde nichts stehlen. Ich werde auch nicht die Sachen mitnehmen, die mir gehören. Du kannst sie behalten, wahrscheinlich ist es sowieso besser, wenn ich bei Null anfange, ohne Altlasten. Ich werde mit meinem Lippenstift auch keine Obszönitäten auf deinen Badezimmerspiegel schmieren. Ich werde den Schlüssel finden und gehen. In Ordnung?«

Er klimperte noch immer mit seinem Kleingeld. »Sollen wir es wirklich auf diese Weise enden lassen?«, fragte er schließlich, was mich sehr überraschte.

»Die Frau, die gestern Abend hier war, macht einen netten Eindruck«, entgegnete ich. »Wie war noch mal ihr Name? Sarah?«

»Sally«, antwortete er resigniert. »Also gut, ich lasse dich jetzt allein.«

»Danke. Mach’s gut.«

»Du auch, Abbie.« An der Tür blieb er noch einen Moment lang stehen, dann ging er.

Ich machte mir einen letzten Kaffee. Mit der Tasse in der Hand spazierte ich durch die Wohnung. Ein Teil von mir überlegte, ob der Schlüssel vielleicht in diesem Krug stecken könnte oder in jenem Regalfach. Ein anderer Teil von mir sah sich einfach um, hing Erinnerungen nach. Ich fand den Schlüssel unter dem Basilikumtöpfchen. Das Basilikum war völlig ausgetrocknet, die Blätter welk. Ich goss es sorgsam. Dann spülte ich meine Tasse aus, stellte sie in den Schrank zurück und ging.

Bis nach Bow war es weit. Als ich ankam, besaß ich noch achtundvierzig Pfund und ein paar Pennies. Ich ließ mir in einer Postfiliale den Weg zum Parkplatz für abgeschleppte Fahrzeuge erklären. Wie sich herausstellte, war er mehr als einen Kilometer von der nächstgelegenen U-Bahn-Station entfernt. Eigentlich hätte man doch annehmen können, dass das Auto irgendwo abgestellt wurde, wo man es mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen konnte, wenn sie es unbedingt abschleppen mussten. Ich hätte mir ein Taxi genommen, wenn ich eines gesehen hätte, doch ich konnte keines entdecken. Es gab nichts außer Autos und Lastwagen, die von den großen Pfützen auf der Straße Wasser hochspritzen ließen.

Ich ging also zu Fuß, vorbei an den BMW-Händlern, den Fabriken, die Lampen, Gaststättenbedarf und Teppiche herstellten, den Baustellen, wo Kräne mit Schneehauben reglos in den Winterhimmel ragten. Als ich den Hügel hinter mir gelassen hatte, konnte ich den Parkplatz bereits sehen: endlose Reihen von Wagen, von einem hohen Zaun mit doppelt gesicherten Toren umgeben. Die meisten Autos waren alt und verbeult. Vielleicht hatten ihre Besitzer sie einfach irgendwo stehen lassen. Meinen Wagen, der ebenfalls alt und verbeult war, konnte ich nirgends entdecken.

Ich betrat das Büro an der Ecke und überreichte einem Mann meinen Brief, der daraufhin in einem Aktenschrank herumstöberte, ein Formular herausholte, sich am Kopf kratzte und laut seufzte.

»Dann kann ich jetzt zu meinem Wagen?«, fragte ich.

»Moment, nicht so schnell, vorher müssen Sie noch bezahlen.«

»O ja, natürlich, entschuldigen Sie. Wie viel?« Nervös tastete ich in meiner Tasche nach dem immer dünner werdenden Bündel Geldscheine.

»Ich bin gerade dabei, alles zusammenzurechnen. Da wäre erst einmal das Bußgeld für widerrechtliches Parken, außerdem die Abschleppkosten und dann die Gebühr für die Zeit, die der Wagen hier stand.«

»Oh. Das klingt nach einer beachtlichen Summe.«

»Ja, allerdings, hundertdreißig Pfund.«

»Wie bitte?«

»Hundertdreißig Pfund«, wiederholte er.

»So viel Geld habe ich nicht bei mir.«

»Wir nehmen auch Schecks.«

»Ich habe kein Scheckbuch.«

»Kreditkarten.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Oje, oje!«, sagte er, klang dabei aber nicht besonders betroffen.

»Was soll ich jetzt tun?«

»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

»Kann ich mit dem Wagen zu einer Freundin fahren, dort das Geld holen und wieder zurückkommen?«

»Nein.«

Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder zu gehen. Ich schleppte mich zurück nach Bow, wo ich mich in ein kleines Kaffee setzte und eine weitere Tasse bitteren, lauwarmen Kaffee trank. Dann suchte ich nach einer Telefonzelle, rief Sam an und bat ihn, flehte ihn regelrecht an, mir per Kurier sechzig – nein, besser gleich achtzig oder sogar neunzig Pfund – zu dem Parkplatz zu schicken.

Ich würde dort warten, bis das Geld eintraf. »Bitte, bitte, bitte«, sagte ich. »Es tut mir wirklich Leid, aber dies ist ein Notfall.« Ich wusste von dem Kurierdienst, weil Sam einmal, nachdem wir in einem Nachtklub gewesen waren und er dort seine Jacke vergessen hatte, einen Kurier geschickt hatte, weil es für ihn ein unzumutbarer Zeitaufwand gewesen wäre, die Jacke persönlich abzuholen. »Das geht auf Geschäftskosten«, hatte er gemeint.

Endlich bekam ich meinen Wagen zurück. Kurz nach halb eins überreichte ich dem Mann das gewünschte Geld und erhielt im Gegenzug einen Ausdruck, auf dem stand, von wo der Wagen abgeschleppt worden war und wie sich die Kosten zusammensetzten. Dann zeigte er mir, wo mein Wagen stand und öffnete das Doppeltor für mich. Nun besaß ich noch neunzehn Pfund. Ich stieg ein. Der Wagen sprang sofort an. Ich drehte die Heizung auf, rieb meine Hände, die vor Kälte schon ganz steif waren, und sah mich im Wagen um. Neben mir auf dem Beifahrersitz lag ein Erste-Hilfe-Kasten. Aus dem Kassettenrekorder ragte eine Kassette. Ich schob sie hinein, aber die Musik, die einsetzte, kam mir nicht bekannt vor. Es war etwas Jazziges, Unbeschwertes. Ich drehte sie lauter und fuhr durch das Tor. Draußen hielt ich sofort wieder an, um mir die offizielle Quittung, die ich bekommen hatte, etwas genauer anzusehen. Der Wagen war am 28. Januar aus der Tilbury Road 103, E1, abgeschleppt worden. Am achtundzwanzigsten Januar – meinem letzten Tag im Krankenhaus. Das lag bestimmt hier in der Nähe.

Im Handschuhfach befand sich eine Straßenkarte. Die Tilbury Road lag in einem Teil von London, der mir fremd war, und entpuppte sich als lange, triste Straße mit verlassenen Häusern, schwach beleuchteten Zeitungsläden und kleinen, rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelgeschäften, die Grapefruits, Okra und verbeulte Dosen mit Tomaten verkauften. Ich parkte vor Nummer 103 und blieb dort ein paar Minuten stehen, ohne auszusteigen. Den Kopf aufs Lenkrad gelegt, versuchte ich mich zu erinnern. Nichts geschah, kein noch so kleines Licht begann in der Dunkelheit zu glimmen. Als ich die Straßenkarte ins Handschuhfach zurückschob, hörte ich Papier rascheln. Wie sich herausstellte, hatte ich drei Rechnungen hineingeschoben, eine Benzinrechnung über sechsundzwanzig Pfund, datiert vom Montag, dem vierzehnten Januar, eine Devisenrechnung für italienische Lire im Wert von hundertfünfzig Pfund, ausgestellt am Dienstag, dem fünfzehnten Januar, und schließlich ein Kassenbon eines indischen Restaurants mit dem Datum desselben Tages: sechzehn Pfund und achtzig Cent für zwei Portionen Pilau-Reis, einmal Gemüse-Biryani, einmal Riesengarnelen-Tikka, einmal Spinat, einmal Aubergine, eine Portion Knoblauch-Naan. Zu liefern in die Maynard Street 11, London NW1. Den Straßennamen hatte ich noch nie gehört und ebenso wenig fiel mir ein, wann ich das letzte Mal in dieser Ecke von Nord-London gewesen war.

Als ich die Rechnungen wieder ins Handschuhfach stopfte, fiel etwas zu Boden. Ich beugte mich hinab, fand eine Sonnenbrille und ein kurzes, zusammengebundenes Stück Schnur mit einem Schlüssel daran. Mein Schlüssel war es nicht. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Inzwischen zeigte die Uhr kurz vor vier. Ich ließ den Wagen wieder an und fuhr durch die langgezogenen Außenbezirke Londons Richtung Zentrum zurück. Es begann bereits zu dämmern. In dem düsteren Licht wirkte alles viel beängstigender. Ich fühlte mich schrecklich müde, hatte vor meiner Rückkehr zu Sheila und Guy aber noch einiges zu erledigen.

7

»Du weißt, was du brauchst, oder?«

»Nein, Laurence, was brauche ich denn?«

»Eine Ruhepause.«

Laurence wusste nicht, was ich brauchte. Ich war gerade bei Jay & Joiner und starrte auf die Stelle, wo sonst immer mein Schreibtisch gestanden hatte. Das Seltsame an der Sache war, dass das Büro genau so aussah wie immer. Es ist kein besonders aufwändiges Büro, was eigentlich grotesk ist für eine Firma, die Büroeinrichtungen entwirft.

Das einzig wirklich Gute ist die Lage – in einer Seitenstraße mitten in Soho, nur wenige Minuten Fußmarsch von den Feinkostgeschäften und dem Markt entfernt. Wenn ich sage, dass das Büro so aussah wie immer, dann meine ich damit, dass sich nichts verändert hatte, abgesehen von der Tatsache, dass sämtliche Spuren von mir verschwunden waren. Ich hätte es ja noch verstanden, wenn einfach jemand anderer an meinem Schreibtisch gesessen hätte, aber dem war nicht so.

Vielmehr schien der Rest des Büros auf sehr subtile Weise verrutscht worden zu sein, so dass der Platz, den ich eingenommen hatte, einfach nicht mehr da war.

Carol begleitete mich. Es war eine seltsame Erfahrung, durch mein eigenes Büro geführt zu werden. Von den anderen wurde ich nicht wie sonst mit einem Nicken oder einer netten Bemerkung begrüßt. Stattdessen erntete ich überraschte Blicke, einige mussten zweimal hinsehen, ehe sie mich erkannten, und eine neue Mitarbeiterin starrte mich neugierig an, bis Andy sich zu ihr hinüberbeugte und ihr etwas zuflüsterte, woraufhin sie mich noch neugieriger anstarrte. Carol entschuldigte sich atemlos wegen meiner nicht mehr vorhandenen Sachen. Sie erklärte mir, es sei ständig jemand darüber gefallen, so dass man schließlich alles in Schachteln verpackt und ins Lager geräumt habe, wo auch immer das sein mochte. Meine Post werde geöffnet und entweder bürointern an die zuständigen Personen weitergeleitet oder an Terrys Adresse geschickt.

Das hätte ich ja alles selbst so geregelt, nicht wahr? Vor meinem Weggang. Ich nickte vage.

»Geht es dir gut?«, fragte sie.

Das war eine große Frage. Ich wusste nicht, ob sie sich nur auf mein Aussehen bezog. Carol war sichtlich zusammengezuckt, als ich das Büro betreten hatte, sozusagen in Zivil. Sehr zivil. Ganz zu schweigen von meinem Haar. Außerdem hatte ich über zehn Kilo abgenommen, seit sie mich zuletzt gesehen hatte, und mein Gesicht war von den Blutergüssen immer noch leicht gelb.

»Ich habe eine ziemlich schwere Zeit hinter mir«, antwortete ich.

»Ja«, sagte Carol, wich meinem Blick jedoch aus.

»War die Polizei hier? Haben sie sich nach mir erkundigt?«

»Ja.« Nun riskierte sie doch einen vorsichtigen Blick.

»Wir haben uns deinetwegen Sorgen gemacht.«

»Was wollten sie wissen?«

»Was du hier bei uns im Einzelnen gemacht hast. Und warum du aufgehört hast.«

»Was habt ihr gesagt?«

»Mich haben sie nicht gefragt. Sie haben mit Laurence gesprochen.«

»Und wie lautet deine Meinung?«

»Wie meinst du das?«

»Was meine Auszeit betrifft.«

Ich sagte ihr nicht, dass ich selbst keine Ahnung hatte, warum ich mich dazu entschlossen hatte, mich nicht einmal an die Tatsache erinnern konnte, dass ich mich dazu entschlossen hatte. Hoffentlich würde es mir wenigstens dieses eine Mal erspart bleiben, meine ganze Geschichte zu erzählen. Ich hatte das Gefühl, es nicht ertragen zu können, auch in Carols Gesicht wieder diese Anzeichen wachsenden Zweifels zu entdecken. Sollte sie Mitleid mit mir haben? Sollte sie mir glauben? Sie sah mich nachdenklich an.

»Ich nehme an, du hattest Recht«, meinte sie schließlich.

»Du konntest nicht ewig so weitermachen. Du hast dich komplett verausgabt.«

»Dann bist du also der Meinung, ich habe das Richtige getan?«

»Ich beneide dich um deine sechs Monate unbezahlten Urlaub. Ich finde das sehr mutig.«

Ein weiterer Schock. Sechs Monate! Außerdem war mir nicht entgangen, wie sie das Wort »mutig« gebraucht hatte: als beschönigenden Ausdruck für »dumm«.

»Aber ihr freut euch alle schon auf meine Rückkehr?«

Diese Bemerkung war eigentlich scherzhaft gemeint.

Carol starrte mich erschrocken an. Allmählich begann ich mir wirklich Sorgen zu machen. Was zum Teufel hatte ich angestellt?

»Am Ende sind wohl alle ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen«, sagte sie. »Und es sind Dinge gesagt worden, die besser ungesagt geblieben wären.«

»Ich hatte immer schon eine große Klappe«, meinte ich, obwohl ich viel lieber gefragt hätte: »Wovon redest du überhaupt?«

»Meiner Meinung nach warst du im Großen und Ganzen im Recht«, fuhr Carol fort. »Trotzdem ist es immer auch eine Frage des Tons, nicht wahr? Und eine Frage des Zeitpunkts. Ich finde es gut, dass du gekommen bist, um noch einmal über alles zu reden.« Wir standen inzwischen vor Laurences Bürotür. »Ach, und übrigens«, fügte sie eine Spur zu beiläufig hinzu, »das mit der Polizei. Worum ging’s dabei überhaupt?«

»Das ist ziemlich kompliziert«, antwortete ich. »Falscher Ort zur falschen Zeit.«

»Bist du …, du weißt schon …?«

Also darauf wollte sie hinaus? Offenbar machte das Gerücht die Runde, ich sei vergewaltigt worden.

»Nein, bin ich nicht.«

Nun musste ich mir von Laurence Joiner sagen lassen, was ich brauchte. Es war alles sehr peinlich. Ich beschloss spontan, mich nicht auf einen detaillierten Bericht über meine jüngste medizinische und psychiatrische Geschichte einzulassen. Offensichtlich waren meine letzten Tage bei Jay & Joiner nicht gerade glorreich verlaufen, und solange auch nur die kleinste Aussicht darauf bestand, in die Firma zurückkehren zu können, sollte ich wohl versuchen, die Sache nicht noch schlimmer zu machen.

»Gute Idee«, antwortete ich. »Ich versuche mir in der Tat so viel Ruhe zu gönnen wie nur irgend möglich.«

»Ich brauche dir ja wohl nicht zu sagen, wie wichtig du für uns bist, Abbie.«

»Doch, ich bitte darum«, gab ich zurück. »Es tut immer gut, das zu hören.«

Laurence Joiner besaß zweiundvierzig Anzüge. Einmal hatte er in seinem Haus eine Party gegeben, und eine von den Assistentinnen war in sein Schlafzimmer marschiert und hatte sie gezählt, drei Schränke voll. Das lag ein Jahr zurück, so dass mittlerweile vermutlich weitere hinzugekommen waren. Schöne Anzüge. Gerade strich er über die Kniepartie des edlen dunkelgrünen, den er heute trug, als handle es sich um ein Schoßhündchen.

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte er.

»Ich habe mir auch ein bisschen Sorgen um mich gemacht.«

»Zuerst dachten wir … , na ja, ich brauche ja nicht noch einmal alles durchzukauen.«

O doch, bitte, flehte ich ihn im Geiste an. Wenn der Apfel nicht von selbst fallen wollte, musste ich den Baum eben ein wenig schütteln.

»Ich würde wirklich gerne sicherstellen«, erklärte ich krampfhaft, »dass aus deiner Sicht noch alles in Ordnung ist.«

»Wir sind alle auf derselben Seite«, antwortete Laurence.

Beide Seiten waren so überaus höflich.

»Ja, aber ich würde gern explizit hören, wie du das Ganze siehst. Ich meine, die Tatsache, dass ich unbezahlten Urlaub genommen habe. Ich möchte deine Meinung dazu hören.«

Laurence runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob es gut ist, alles wieder breitzutreten. Ich bin nicht mehr böse auf dich, das kannst du mir glauben. Mir ist inzwischen klar geworden, dass du schon eine ganze Weile völlig überarbeitet warst. Meine Schuld. Du warst so produktiv, so effektiv. Da habe ich dir einfach zu viel aufgebürdet.

Ich glaube, wenn wir uns nicht wegen des Avalanche-Projekts in die Haare geraten wären, dann wäre es wegen etwas anderem passiert.«

»Ist das alles?«

»Wenn du damit meinst, ob ich dir auch verziehen habe, dass du, nachdem du bereits unbezahlten Urlaub genommen hattest, den Ruf der Firma geschädigt hast, indem du in der ganzen Stadt herumgefahren bist und unsere Kunden aufgefordert hast, sich zu beschweren, dann lautet die Antwort, ja. So einigermaßen zumindest.

Hör zu, Abbie, ich hoffe, ich höre mich jetzt nicht wie einer der Typen aus Der Pate an, aber ich finde es wirklich nicht richtig, wenn du dich mit Kunden gegen die Firma verbündest. Wenn du tatsächlich der Meinung bist, sie seien schlecht beraten oder übervorteilt worden, dann wende dich doch in Zukunft bitte an mich, statt die Leute hinter meinem Rücken und nach eigenem Gutdünken zu informieren. Aber ich glaube, darüber sind wir uns inzwischen alle einig.«

»Wann, ähm – bloß zu meiner eigenen Information – ich meine, ähm, wann genau habe ich denn die Kunden zu diesen Beschwerden veranlasst?« Ich brauchte ihn nicht zu fragen, um welche Art von Beschwerden es sich gehandelt hatte: an das Avalanche-Projekt selbst konnte ich mich noch gut genug erinnern, um zu wissen, worum es dabei gegangen war.

»Du hast aber nicht vor, von neuem auf dieser ganzen Sache herumzureiten, oder? Jetzt, wo wir gerade die schlimmsten Wogen geglättet haben?«

»Nein, nein. Ich bin bloß mit meiner Chronologie ein bisschen durcheinandergeraten, das ist alles. Mein Terminkalender ist noch hier bei euch, und …« Ich hielt inne, weil ich nicht wusste, wie ich den Satz zu Ende führen sollte.

»Sollen wir diese ganze traurige Angelegenheit nicht einfach vergessen?«, meinte Laurence.

»Ich habe die Firma am Freitag verlassen, nicht wahr?

Am Freitag, den elften.«

»Stimmt.«

»Und zu den Kunden bin ich am, ähm …« Ich wartete darauf, dass er die Leerstelle füllen würde.

»Nach dem Wochenende. Die genauen Daten kenne ich selbst nicht. Ich habe erst nach und nach davon erfahren, in zwei Fällen durch Schreiben von Anwälten. Du kannst dir sicher vorstellen, wie verraten ich mich gefühlt habe.«

»So ungefähr«, antwortete ich. »Könnte ich trotzdem noch einmal einen Blick in die Avalanche-Akte werfen?«

»Wozu denn das, um Himmels willen? Das liegt zum Glück alles hinter uns. Schlafende Hunde soll man nicht wecken.«

»Laurence, ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dir keine Schwierigkeiten mehr bereiten werde. Ich möchte lediglich mit ein paar Leuten sprechen, die in die Sache verwickelt waren.«

»Du musst ihre Nummern doch selbst haben.«

»Bei mir herrscht zur Zeit etwas Unordnung, fürchte ich.

Ich bin umgezogen.«

»Soll das heißen, du bist aus eurer Wohnung ausgezogen?«

»Ja.«

»Es tut mir Leid, das zu hören. Du kannst dir alle Informationen, die du brauchst, bei Carol holen.« Nun wirkte seine Miene noch besorgter. »Ich will mich wirklich nicht in dein Leben einmischen, aber wie ich bereits sagte – wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Ich meine, deine Probleme bei uns, deine Trennung von Terry, und dann ist auch noch die Polizei hier aufgetaucht.

Können wir irgendetwas für dich tun? Möchtest du, dass wir etwas für dich arrangieren?«

Einen Moment lang starrte ich ihn verblüfft an, dann konnte ich mir das Lachen nicht länger verkneifen. »Du glaubst, es geht um Alkohol oder Drogen?«, fragte ich.

»Ich wünschte, es wäre so einfach.« Ich beugte mich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Stirn. »Vielen Dank.

Ich muss zunächst ein, zwei Dinge klären, Laurence, dann melde ich mich wieder bei euch.«

Ich wandte mich zum Gehen.

»Hör zu«, sagte er, »wenn es etwas gibt, was wir tun können …«

Ich schüttelte den Kopf. »Als ich dich eben so reden hörte, ist mir klar geworden, wie viel ihr ohnehin schon für mich getan habt. Ich hoffe, ich habe euch nicht zu viel Kummer bereitet.« Mir kam noch ein anderer Gedanke.

»Am liebsten würde ich jetzt sagen, dass ich damals ein anderer Mensch war, aber das würde vielleicht so klingen, als wollte ich die Verantwortung für mein Handeln nicht übernehmen.«

Laurence wirkte zutiefst irritiert. Kein Wunder.

Auf dem Weg nach draußen bat ich Carol um die Avalanche-Akte.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie.

»Warum sollte es nicht mein Ernst sein?«

Sie sah mich zweifelnd an. »Ich weiß auch nicht«, sagte sie.

»Das Projekt ist abgeschlossen.«

»Ja, aber …«

»Nur für ein paar Tage«, sagte ich. »Ich werde gut darauf aufpassen.«

Nun hatte ich sie fast so weit. Vielleicht war die Vorstellung, dass ich endlich gehen würde, wenn sie mir die Akte gab, zu verlockend.

»Möchtest du die Skizzen auch haben?«

»Nur die Korrespondenz, das genügt.«

Sie holte eine dicke Akte heraus und reichte mir für den Transport eine Plastiktüte von Marks and Spencer.

»Eins noch«, sagte ich. »Hat in den letzten Tagen jemand für mich angerufen?«

Carol suchte auf ihrem Schreibtisch und reichte mir anschließend zwei Blätter, die mit Namen und Nummern vollgeschrieben waren.

»Fünfzig oder sechzig Leute. Hauptsächlich die üblichen Verdächtigen. Möchtest du mir eine Nummer hinterlassen, die ich ihnen geben kann?«

»Nein. Das ist jetzt sehr wichtig, Carol. Gib niemandem meine Nummer. Niemandem.«

»In Ordnung.« Ihr war anzusehen, dass sie über meinen eindringlichen Ton erschrocken war.

»Ich glaube, ich nehme diese Nummern einfach mit. Du brauchst sie ja nicht, oder?« Ich faltete die Seiten zusammen und schob sie in meine Hosentasche. »Ich werde mich hin und wieder telefonisch melden. Ach ja, eines wollte ich dich noch fragen.«

»Was?«

»Wie findest du meine neue Frisur?«

»Unglaublich«, antwortete sie. »Ein bisschen extrem vielleicht, aber ganz unglaublich.«

»Sehe ich sehr verändert damit aus?«

»Ich habe dich zunächst gar nicht erkannt. Na ja, jedenfalls nicht auf den ersten Blick.«

»Großartig«, sagte ich.

Nun wirkte sie wieder sehr beunruhigt.

Ich saß im Wagen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Avalanche. Ich hatte das Gefühl, auf einem neuen Planeten abgeworfen worden zu sein. Einem nebligen Planeten. Was wusste ich eigentlich? Ich hatte nach einem Streit meinen Job hingeschmissen, zumindest vorübergehend. Die Leute bei Jay & Joiner hielten mich für eine traumatisierte Irre. Und ich hatte meinen Freund verlassen. In den darauf folgenden Tagen war ich durch die Stadt gefahren und hatte Leute besucht, die mit dem Projekt zu tun gehabt hatten, sie allem Anschein nach ermutigt, sich wegen der Art zu beschweren, in der unsere Firma mit ihnen umgegangen war. Und ich hatte einen wahnsinnigen und mörderischen Mann kennen gelernt.

Oder war es denkbar, dass ich ihn schon gekannt hatte?

Das konnte nicht sein, oder doch?

Ich kam mir plötzlich vor wie ein Tier, das ohne Deckung über eine freie Fläche läuft. Ich hätte mich so gerne in Sicherheit gebracht, wusste aber nicht, in welche Richtung ich laufen sollte. Es gab Leute, die nicht wussten, was mir passiert war, und es gab andere, die es mir nicht glaubten. Einen Menschen aber gab es, der genau wusste, dass ich die Wahrheit sagte. Wo war er?

Schaudernd blickte ich mich um. Vielleicht konnte ich an einen ganz weit entfernten Ort flüchten und nie wieder zurückkehren. Nach Australien. Was sollte ich tun, mit langwierigen Auswanderungsvorbereitungen beginnen?

Welche Voraussetzungen musste man dafür erfüllen? Oder sollte ich einfach nach Australien in Urlaub fahren und mich weigern, das Land wieder zu verlassen? Das erschien mir auch nicht sehr erfolgversprechend.

Ich nahm die Rechnung des indischen Restaurants aus dem Handschuhfach. Maynard Street l1b, NW1. Die Adresse sagte mir nichts. Vielleicht hatte sie jemand anderer in meinem Auto zurückgelassen, und sie hatte gar nichts mit mir zu tun. Das war das eine Ende auf der Skala der Möglichkeiten. Das andere Extrem war, dass es sich dabei um die Adresse meines Entführers handelte.

Nachdem mir dieser Gedanke gekommen war, wusste ich, dass ich dort hinfahren musste. Es war, als würde ich auf einem sehr hohen Sprungturm stehen, wissend, dass es im Nachhinein unaufhörlich an mir nagen würde, wenn ich nicht sprang, sondern feige die Treppe wieder hinunterstieg.

Der Tag entpuppte sich allmählich als der längste meines Lebens. Ich warf einen Blick ins Straßenverzeichnis. Es war gar nicht so weit. Außerdem sah ich inzwischen völlig anders aus. Ich konnte so tun, als hätte ich mich in der Wohnung geirrt. Wahrscheinlich würde sowieso nichts dabei herauskommen.

Die Wohnung lag im ersten Stock eines stuckverzierten Hauses in einer Seitenstraße der Camden High Street. Ich fand eine freie Parkuhr und stopfte Kleingeld für sechsunddreißig Minuten hinein. Dann holte ich tief Luft und steuerte auf das Haus zu. Die Wohnung hatte einen eigenen Eingang, der an der Seite des Gebäudes lag.

Bevor ich klingelte, ging ich zum Auto zurück und holte meine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. An diesem kalten Winterabend war es inzwischen stockdunkel, aber die Brille würde meine Verkleidung perfekt machen. Falls mir eine Frau die Tür aufmachte, würde ich ein Gespräch mit ihr beginnen. Wenn ein Mann öffnete, würde ich auf Nummer Sicher gehen. Ich würde lediglich sagen »Tut mir Leid, ich habe mich wohl in der Hausnummer geirrt«, und zielstrebig weitergehen. Auf der Straße waren noch genügend Leute unterwegs, so dass ich kein Risiko einging.

Aber es machte niemand auf. Ich drückte noch einmal auf die Klingel. Und noch einmal. Drinnen hörte ich es läuten. Irgendwie spürt man, wenn eine Klingel in einer leeren Wohnung läutet. Ich zog den Autoschlüssel aus meiner Tasche und spielte unentschlossen damit herum.

Ich konnte es bei einer der anderen Wohnungen im Haus versuchen, doch was sollte ich fragen? Ich kehrte zum Wagen zurück. Ein Blick auf die Parkuhr sagte mir, dass mir noch einunddreißig Minuten blieben. Pure Verschwendung. Ich öffnete das Handschuhfach, um die Restaurant-Rechnung wieder hineinzuschieben. Zwischen allerlei anderem – dem Fahrtenbuch, einer Broschüre, meiner Automobilklub-Mitgliedskarte – lag dieser ominöse Schlüssel, der nicht der Schlüssel zu meiner alten Wohnung war.

Obwohl ich mir dabei lächerlich vorkam, griff ich nach ihm und ging erneut zur Wohnungstür. Mit einem Gefühl völliger Irrealität schob ich den Schlüssel so sanft wie möglich ins Schloss. Die Tür ließ sich tatsächlich öffnen.

Es hätte sich kaum seltsamer anfühlen können, wenn ich durch die Wand gegangen wäre. Vorsichtig spähte ich hinein. Ich sah unlackiertes Kiefernholz und einige Fotos, die an die Dielenwand gepinnt waren, Fotos, die mir nicht bekannt vorkamen. Satte Farben. Als ich die Tür weiter aufschob, bemerkte ich, dass ein Stapel Post dagegen drückte. Ich trat in die Diele und hob einen Brief auf.

Josephine Hooper. Nie gehört. Sie war offenbar nicht da.

Ich zog die Tür hinter mir zu. Ja, so muffig roch es nur in einer Wohnung, in der sich schon länger niemand mehr aufgehalten hatte. Irgendwo war etwas sauer geworden.

Ich konnte mich weder an das Haus noch an die Straße erinnern, kannte auch die Gegend so gut wie gar nicht.

Trotzdem hatte der Wohnungsschlüssel in meinem Auto gelegen, so dass ich eigentlich nicht hätte überrascht sein dürfen, als ich ins Wohnzimmer trat, das Licht anschaltete und neben Josephine Hoopers Bildern, ihrem Tisch, Teppich und Sofa meine Stereoanlage, meinen Fernseher sowie meine CDs entdeckte. Ich hatte das Gefühl, in Ohnmacht zu fallen. Mit wackeligen Knien ließ ich mich in einen Sessel sinken. Meinen Sessel.

8

Ich wanderte im Wohnzimmer umher, fand überall Spuren von mir selbst. Zunächst sah ich sie mir lediglich an, berührte sie höchstens mit einem Finger, als könnten sie sich auflösen und wieder verschwinden. Mein kleiner Fernsehapparat auf dem Boden. Meine Stereoanlage und meine CDs. Mein Laptop auf dem Couchtisch. Ich klappte den Deckel auf und schaltete ihn an, woraufhin er mit einem lauten Piepen zum Leben erwachte. Meine grüne Glasvase auf dem Tisch, mit drei vertrockneten gelben Rosen, deren dürre Blütenblätter um den Fuß der Vase verstreut lagen. Meine Lederjacke auf dem Sofa, als wäre ich nur gerade losgelaufen, um Milch zu holen. Und im Rahmen des Spiegels über dem Kamin ein Foto von mir.

Zwei, um genau zu sein: Passfotos, auf denen ich ein Lächeln zu unterdrücken versuchte. Ich sah darauf sehr glücklich aus. Trotzdem war dies die Wohnung eines anderen Menschen, voll fremder Möbel – von meinem Sessel mal abgesehen – und Bücher, die ich nie gelesen hatte, ja nicht einmal vom Titel kannte, mit Ausnahme des Kochbuchs, das neben dem Kochfeld auf der Arbeitsfläche lag. Der ganze fremde Krimskrams in dieser Wohnung gehörte einem anderen Menschen. In einem der Regalfächer entdeckte ich ein gerahmtes Foto. Ich griff danach und betrachtete es: eine junge Frau mit lockigen, vom Winde verwehten Haaren, die Hände tief in die Taschen ihrer Steppjacke vergraben, ein breites Lachen im Gesicht. Hinter ihr erstreckte sich ein Hügelpanorama. Es war ein hübsches, fröhliches Foto, aber das Gesicht hatte ich noch nie zuvor gesehen. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich sammelte die Post auf, die auf dem Boden lag, und sah sie durch. Alle Briefe waren an Jo Hooper oder Josephine Hooper oder Ms. J. Hooper adressiert. Ich stapelte sie auf den Esstisch. Sie konnte sie später selbst aufmachen. Allerdings fragte ich mich angesichts der vertrockneten Blumen auf dem Tisch und der Postmenge, die sich auf dem Boden angesammelt hatte, wann sie wohl das letzte Mal hier gewesen war.

Ich setzte mich an meinen Laptop, öffnete die E-Mail-Datei, klickte auf »Eingänge« und wartete, während auf dem Bildschirm eine kleine Uhr aufleuchtete. Dann ertönte ein melodischer Klang, und mir wurde mitgeteilt, dass ich zweiunddreißig neue Nachrichten bekommen hatte. Rasch ging ich sie durch. Lauter Nachrichten von mir unbekannten Organisationen, die mich auf Dinge aufmerksam machten, von denen ich nichts wissen wollte.

Unentschlossen blickte ich mich in dem stillen Raum um. Ich zögerte noch einen Moment, dann steuerte ich durch die Diele auf die erste von drei Türen zu. Ich schob sie auf und betrat ein Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zurückgeschoben, die Heizung in Betrieb. Ich schaltete das Licht an. Das Doppelbett war gemacht. Am Fußende lagen drei Samtkissen, auf dem Kopfkissen ein rot karierter Schlafanzug. An einem Haken an der Tür hing ein lavendelfarbener Bademantel, und auf dem Boden stand ein Paar mokassinartige Hausschuhe. Auf der Kommode saß ein alter, fast kahler Teddy neben einer Flasche Parfüm, einem kleinen Töpfchen Lippenbalsam, einem silbernen Medaillon samt einem weiteren Foto –

einer Nahaufnahme eines stoppelbärtigen Männergesichts.

Der Mann hatte dunkles Haar, unglaublich lange Wimpern und sah italienisch aus. Er lächelte, und rund um seine Augen waren feine Lachfältchen zu sehen. Ich trat an den Kleiderschrank, öffnete ihn, berührte aufs Geratewohl einige Kleidungsstücke – ein schwarzes Kleid, ein weiches Wollhemd, eine dünne graue Strickjacke. Es waren die Kleider einer anderen Frau. Ich hob den Deckel des Wäschekorbs und spähte hinein. Er war leer, abgesehen von einem weißen Slip und ein paar Socken.

Die nächste Tür führte ins Bad. Es war sauber, warm und weiß gefliest. Meine blau-weiße Zahnbürste stand in einem Glasbecher, gleich neben ihrer schwarzen. Meine Zahnpastatube lag geöffnet neben der ihren, deren Deckel ordentlich zugeschraubt war. Mein Deo, meine Feuchtigkeitscreme und mein Schminkköfferchen waren ebenfalls da. Mein grünes Handtuch hing neben ihrem bunten über der Heizung. Ich wusch mir die Hände, trocknete sie an meinem eigenen Handtuch ab, starrte auf mein ungewohntes Gesicht im Spiegel. Ich rechnete fast damit, sie hinter mir stehen zu sehen, dieses breite Lächeln im Gesicht. Josephine Hooper. Jo.

Als ich den dritten Raum betrat, wusste ich gleich, dass es sich um mein Zimmer handelte – nicht weil ich auf Anhieb einzelne Gegenstände erkannte, die mir gehörten, sondern weil ich auf eine seltsame, sehr intensive Weise das Gefühl hatte, nach Hause zu kommen. Vielleicht hatte es mit dem Geruch zu tun oder der leichten Unordnung im Raum. Schuhe auf dem Boden. Mein offener Koffer unter dem Fenster, mit Shirts, Pullis und Unterwäsche gefüllt.

Ein dicker, pinkfarbener Pulli auf dem Stuhl. Ein kleiner Berg Schmutzwäsche in der Ecke. Ein paar ineinander verschlungene Ketten und Ohrringe auf dem Nachttisch.

Das lange Rugby-Shirt, das ich meistens als Nachthemd trage, über dem Kopfteil des Betts. Ich zog die Schranktür auf. Da hingen meine beiden klassischen Kostüme, meine Winterkleider und -röcke. Und der blaue Mantel, von dem Robin mir erzählt hatte, sowie das braune Kleid aus Knittersamt. Ich beugte mich vor, roch an seinem weichen Stoff und fragte mich, ob ich überhaupt noch dazu gekommen war, es zu tragen.

Ich ließ mich auf das Bett fallen. Ein paar Augenblicke saß ich einfach nur da und schaute mich um. Mir schwirrte ein wenig der Kopf. Dann streifte ich meine Schuhe ab, legte mich hin und lauschte mit geschlossenen Augen dem Brummen der Zentralheizung. Davon abgesehen war es sehr ruhig. Nur hin und wieder hörte ich in der Wohnung über mir gedämpfte Schritte oder in einer nahe gelegenen Straße ein Auto vorbeifahren. Ich legte den Kopf auf mein Rugby-Shirt. Irgendwo wurde eine Autotür zugeschlagen, und jemand lachte.

Ich musste eingenickt sein, denn als ich schließlich mit einem komischen Geschmack im Mund hochschreckte, hatte es draußen zu regnen begonnen. Die Straßenlampen tauchten alles in ein orangefarbenes Licht, auch den Baum vor meinem Fenster. Als ich leicht fröstelnd nach dem pinkfarbenen Pulli griff, entdeckte ich darunter meine Tasche, prall gefüllt und ordentlich geschlossen. Der Reißverschluss klemmte. Obenauf lag meine Geldbörse.

Ich öffnete sie. Sie enthielt vier brandneue Zwanzig-Pfund-Scheine und etwas an Kleingeld, außerdem meine Kreditkarten, meinen Führerschein, Briefmarken, einen Zettel mit meiner Krankenversicherungsnummer, mehrere Visitenkarten. Es schien überhaupt nichts zu fehlen.

Meine Tasche unter den Arm geklemmt, ging ich in die Wohnküche. Nachdem ich die Vorhänge zugezogen hatte, schaltete ich die Stehlampe und das Licht über dem Herd an. Es war nett hier, gemütlich. Allem Anschein nach war es eine gute Entscheidung gewesen, hier einzuziehen. Ich spähte in den Kühlschrank. Er war vollgestopft mit Lebensmitteln – frischer Pasta, Butter, Käse – Cheddar, Parmesan und Feta –, zahlreichen Bechern mit Joghurt, Eiern, einem halben Laib Vollkornbrot, einer angebrochenen Flasche Weißwein. Fleisch oder Fisch konnte ich jedoch nicht entdecken – vielleicht war diese Jo Vegetarierin. Die meisten Waren waren abgelaufen, die Milch roch sauer, das Brot war hart, der Salat in seiner Plastikhülle schlapp und welk. Der Wein aber musste dringend getrunken werden, dachte ich.

Ohne nachzudenken trat ich an einen Schrank und nahm ein großes Weinglas heraus. Ich wollte gerade nach der Weinflasche greifen, als ich mitten in der Bewegung erstarrte: Ich hatte gewusst, wo die Gläser aufbewahrt wurden. Ein winziger, verschütteter Teil meines Gehirns hatte es gewusst. Ich blieb ganz still stehen und versuchte, diesen Fetzen einer verschütteten Erinnerung wachsen zu lassen, aber ohne Erfolg. Schließlich füllte ich das Glas großzügig mit Wein – vielleicht hatte ich ihn ja sogar selbst gekauft – und legte Musik auf. Ich rechnete damit, Jo durch die Tür kommen zu sehen, und dieser Gedanke machte mich nervös und aufgeregt zugleich. Würde sie bestürzt sein, mich zu sehen, oder froh? Würde sie mich beiläufig begrüßen oder voller Missbilligung und Erstaunen? Würde sie die Augenbrauen heben oder mich in die Arme schließen? Im Grunde aber wusste ich, dass sie nicht kommen würde. Sicher war sie weggefahren.

Hier in der Wohnung war schon seit Tagen niemand mehr gewesen.

Die kleine Lampe des Anrufbeantworters blinkte, und nach kurzem Zögern drückte ich den Wiedergabeknopf.

Die erste Nachricht stammte von einer Frau, die sagte, sie hoffe, es sei alles in Ordnung, und sie werde abends kochen, falls Jo zu Hause bleibe. Die Stimme kam mir bekannt vor, aber dennoch vergingen einige Augenblicke, bis ich realisierte, dass es meine war.

Schaudernd spulte ich zurück, lauschte ein weiteres Mal meiner Stimme, die an diesem fremden Ort seltsam unvertraut klang. Immerhin hörte ich mich recht fröhlich an. Ich trank einen Schluck von dem leicht essigsauren Wein. Die nächste Anruferin sprach lang und in herrischem Ton über das Abgabedatum einer Arbeit und dass der Termin vorverlegt werde. Dann sagte eine Männerstimme kurz und bündig: »Hallo, Jo, ich bin’s, wollen wir uns mal treffen? Ruf mich an.« Eine weitere Frau erklärte, sie sei morgen in der Stadt, vielleicht habe Jo ja Lust auf einen Drink. Die nächste Stimme, wieder eine Frau, sagte bloß: »Hallo? Hallo?«, bis die Verbindung unterbrochen wurde. Ich beschloss, die Nachrichten vorerst nicht zu löschen, und nahm einen weiteren Schluck von dem sauren, gelblichen Wein.

War ich an diesem Ort ein Eindringling, oder wohnte ich jetzt hier? Ich wollte bleiben, ein heißes Bad nehmen, in mein Rugby-Shirt schlüpfen, Pasta essen und mich vom Fernseher – meinem Fernseher – berieseln lassen, gemütlich in meinen Sessel gekuschelt, die Füße auf ihrem Teppich. Ich wollte nicht bei Freunden bleiben, die zwar sehr nett und höflich waren, mich aber für verrückt hielten. Ich wollte hier bleiben, Jo kennen lernen und alles über den Teil von mir herausfinden, den ich verloren hatte.

Was auch immer ich später tun würde, erst einmal musste ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Alles hübsch der Reihe nach. Ich ließ mich auf dem Sessel nieder und leerte den Inhalt meiner Tasche auf den Couchtisch. Der größte Gegenstand war ein dicker brauner A5-Umschlag, auf dem mein Name stand. Ich schüttelte den Inhalt heraus: zwei Pässe, einer alt und einer brandneu. Ich schlug den neuen auf und betrachtete mein Foto, das mit den beiden, die im Spiegelrahmen steckten, identisch war. Ein Flugticket: Vor zehn Tagen hätte ich nach Venedig fliegen sollen, zurückgekommen wäre ich vorgestern. Es war schon immer mein Wunsch, nach Venedig zu reisen.

Ein Paar ineinandergeschobene schwarze Handschuhe.

Mein Adressbuch, dessen Rücken sich bereits aufzulösen begann. Vier schwarze Stifte, von denen einer leckte.

Wimperntusche. Zwei Tampons. Eine halb volle Packung Pfefferminzbonbons – ich steckte mir eins in den Mund, was zumindest den Geschmack des Weins überdeckte.

Papiertaschentücher. Ein einzelnes Bonbon. Ein Armband aus Glasperlen. Drei schmale Haarbänder, die ich nicht mehr brauchte. Ein Kamm und ein winziger Spiegel. Und ein Stück Alufolie, das zu Boden gefallen war. Ich hob es auf. Wie sich herausstellte, war es ein steifer silberfarbener Blister-Streifen mit zwei Tabletten darin –

nein, mit einer Tablette, denn die zweite war bereits herausgedrückt worden. Ich hielt den Streifen unter das Licht, um den Aufdruck auf seiner Rückseite lesen zu können: Levonelle, 750-Mikrogramm-Tabletten, Levonorgestrel. Ich verspürte den absurden Drang, die noch vorhandene runde weiße Tablette einfach in den Mund zu schieben, nur um zu sehen, was passieren würde.

Natürlich tat ich es nicht. Stattdessen machte ich mir eine Tasse Kaffee und rief dann bei Sheila und Guy an, die jedoch nicht zu Hause waren. Ich sprach ihnen aufs Band, dass ich an diesem Abend nicht kommen würde, ihnen aber für alles sehr dankbar sei und mich bald bei ihnen melden würde. Ich schlüpfte in meine Lederjacke, steckte den Schlüssel und die Tablette ein und verließ die Wohnung. Mein Wagen war noch da, doch inzwischen klemmte unter seinen vereisten Scheibenwischern ein in Plastik gehüllter Strafzettel.

Darum würde ich mich später kümmern. Ich joggte durch die Dunkelheit in die Camden High Street und lief sie entlang, bis ich zu einer Apotheke kam, gerade noch rechtzeitig vor Ladenschluss. Ich trat an die Theke, wo mich ein junger Asiate fragte, ob er mir helfen könne.

»Ich hoffe. Können Sie mir vielleicht sagen, was das hier ist?« Ich zog den silbernen Streifen heraus und reichte ihn ihm.

Er warf einen kurzen Blick darauf und sah mich stirnrunzelnd an. »Gehört das Ihnen?«

»Ja«, sagte ich. »Das heißt, nein. Dann würde ich ja wissen, worum es sich handelt. Ich habe die Tablette gefunden. Im Zimmer meiner kleinen Schwester, und ich wollte nur sicherstellen, dass es nichts Gefährliches ist. Sie sehen ja, dass eine der Tabletten fehlt.«

»Wie alt ist Ihre Schwester?«

»Neun«, sagte ich aufs Geratewohl.

»Verstehe.« Er legte den Streifen auf die Theke und nahm seine Brille ab. »Es handelt sich um ein Verhütungsmittel für Notfälle.«

»Wie bitte?«

»Die Pille danach.«

»Oh.«

»Und Sie sagen, Ihre Schwester ist erst neun?«

»Oje!«

»Sie sollte einen Arzt aufsuchen.«

»Also, ehrlich gesagt …«, stammelte ich nervös. Eine andere Kundin war hinter uns getreten, verfolgte neugierig unser Gespräch.

»Wann, glauben Sie, hat sie die Tablette eingenommen?«

»Schon vor längerer Zeit. Sicher vor zehn Tagen schon.

Hören Sie …«

Er sah mich äußerst missbilligend an, danach machte sich auf seinem Gesicht ein ironischer Ausdruck breit. Ich glaube, er wusste Bescheid.

»Normalerweise«, sagte er, »sollte man zwei von diesen Pillen nehmen. Die erste spätestens zweiundsiebzig Stunden, nachdem der Verkehr stattgefunden hat, vorzugsweise früher, die zweite weitere zwölf Stunden später. Ihre Schwester könnte also schwanger sein.«

Ich griff nach dem Streifen und fuchtelte damit in der Luft herum. »Ich werde mich darum kümmern, das versichere ich Ihnen. Vielen Dank. Ich werde dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Nochmals vielen Dank.« Mit diesen Worten floh ich auf die Straße hinaus. Es war herrlich, den kalten Regen auf meinen brennenden Wangen zu spüren.

9

Ich wusste, was passiert war. Ich wusste es genau. Ich hatte eine Lächerlichkeit begangen, von der ich aus Erzählungen wusste, dass andere Leute sie auch schon begangen hatten. Sogar Freunde von mir. Wie erbärmlich.

Sobald ich wieder in der Wohnung war, rief ich Terry an.

Er klang, als hätte er geschlafen. Ich fragte ihn, ob an diesem Morgen Post für mich gekommen sei. Er murmelte, es seien zwei Briefe für mich dabei gewesen.

»Vielleicht haben sie mir meine Kreditkarte geschickt.

Sie haben gesagt, sie würden es versuchen.«

»Wenn du möchtest, kann ich sie an dich weiterschicken.«

»Ich brauche die Karte wirklich dringend, und ich bin gerade in der Gegend. Ist es dir Recht, wenn ich kurz vorbeischaue?«

»Na ja, meinetwegen, aber …«

»Ich bin in einer halben Stunde bei dir.«

»Ich dachte, du wärst in der Gegend?«

Vergeblich zermarterte ich mir das Gehirn nach einer klugen Erklärung.

»Hör zu, je länger wir reden, desto länger brauche ich.«

Als ich eintraf, hatte er bereits eine Flasche Wein geöffnet.

Er bot mir ein Glas an, und ich nickte. Ich musste in dieser Sache mit Fingerspitzengefühl vorgehen, mich langsam an das Thema herantasten. Er betrachtete mich mit dem abschätzenden Blick, den ich so gut kannte, als wäre ich eine schwer einzuordnende Antiquität, deren Wert es festzustellen galt.

»Du hast deine Kleider gefunden«, stellte er fest.

»Ja.«

»Wo waren sie?«

Ich hatte keine Lust, ihm das zu verraten. Das war nicht nur Sturheit von mir. Ich hielt es für ratsam, die größtmögliche Verwirrung zu stiften, was meinen Aufenthaltsort während der nächsten paar Tage betraf.

Wenn die Leute, die wussten, wer ich war, nicht wussten, wo ich war, und die Leute, die wussten, wo ich war, nicht wussten, wer ich war, dann erhöhte das vielleicht für eine Weile meine Sicherheit. Auf jeden Fall gab ich dann keine ganz so leichte Beute ab.

»Ich hatte sie bei einer Freundin gelassen«, antwortete ich.

»Bei wem?«

»Du kennst sie nicht. Hast du meine Post?«

»Sie liegt auf dem Tisch.«

Ich ging hinüber und inspizierte die beiden Umschläge.

Der eine enthielt einen Fragebogen über Einkaufsgewohnheiten und landete sofort im Papierkorb, auf dem anderen stand »Gesonderte Zustellung«. Er fühlte sich vielversprechend fest an. Ich riss ihn auf. Eine brandneue, glänzende Kreditkarte. A.E. Devereaux. Ich hatte einen Ort zum Schlafen, meine Kleidung, ein paar CDs und jetzt auch noch eine neue Kreditkarte. Ich war wirklich dabei, ins Leben zurückzukehren. Ich blickte mich um.

»Natürlich sind noch einige meiner Sachen hier. Möbel und Ähnliches«, stellte ich fest.

Ich nippte an meinem Wein, Terry nahm einen großen Schluck von seinem. Fast hätte ich eine Bemerkung über seinen Alkoholkonsum gemacht, aber dann fiel mir voller Erleichterung ein, dass ich dafür nicht mehr zuständig war.

Das war jetzt Sallys Job. Aber vielleicht trank er bei ihr nicht.

»Du kannst deine Sachen jederzeit abholen«, sagte er.

»Ich weiß nicht recht, wohin damit«, antwortete ich.

»Hat es große Eile? Zieht Sally bei dir ein?«

»Ich kenne sie doch erst seit zwei Wochen. Sie ist bloß

…«

»Weißt du, Terry, wenn ich auf eins definitiv verzichten kann, dann auf eine Diskussion darüber, wie wenig sie dir bedeutet.«

»Das habe ich nicht gemeint. Ich habe über dich gesprochen. Ich wollte dir bloß sagen, dass ich nicht glücklich über all das war, was passiert ist, bevor du gegangen bist.« Er nippte an seinem leeren Glas, den Blick auf den Boden gerichtet. Dann sah er mich an. »Es tut mir Leid, Abbie. Es tut mir Leid, dass ich dich geschlagen habe. Wirklich. Es gibt dafür keinerlei Entschuldigung. Es war ganz allein meine Schuld, und ich hasse mich dafür.«

Ich kannte diesen Terry gut. Das war der Terry, dem alles Leid tat. Der alles zugab und versprach, es nie wieder zu tun, und von nun an alles anders machen würde. Ich hatte diesem Terry zu oft geglaubt, was vielleicht daran lag, dass er es auch sich selbst immer wieder glaubte.

»Schon gut«, sagte ich schließlich. »Du brauchst dich deswegen nicht selbst zu hassen.«

»Es war bestimmt schrecklich für dich, mit mir zusammen zu leben.«

»Na ja, wahrscheinlich war ich auf meine eigene Weise auch ziemlich schwierig.«

Er schüttelte reuevoll den Kopf. »Das ist es ja gerade, du warst überhaupt nicht schwierig. Du warst fröhlich, großzügig und witzig. Okay, abgesehen von den ersten paar Minuten, nachdem morgens dein Wecker losgegangen war. Meine Freunde haben mich für den glücklichsten Mann auf der ganzen Welt gehalten. Und du hast mir immer wieder eine Chance gegeben.«

»Na ja …«, meinte ich verlegen.

»Aber diesmal nicht, stimmt’s? Jetzt kriege ich keine Chance mehr.«

»Es ist vorbei, Terry.«

»Abbie …«

»Nicht«, sagte ich. »Bitte. Hör zu, Terry, ich möchte dich was fragen.«

»Du kannst mich alles fragen.« Er war inzwischen bei seinem zweiten Glas Wein angelangt.

»Aus einem bestimmten Grund, hauptsächlich meiner eigenen geistigen Gesundheit zuliebe, versuche ich, die Zeitspanne zu rekonstruieren, an die ich mich nicht erinnern kann. Ich recherchiere über mich selbst, als wäre ich eine andere Person. Also, wenn ich das richtig verstanden habe, dann hatten wir an jenem Samstag einen massiven Streit, und daraufhin habe ich dich verlassen.«

»Wie ich schon gesagt habe, es war kein richtiger Streit.

Es war alles meine Schuld. Ich weiß auch nicht, was da über mich gekommen ist.«

»Terry, darum geht es mir überhaupt nicht. Ich will nur wissen, wo ich war. Unter anderem. Ich bin also gegangen, und wollte bei Sadie bleiben. Doch wenn ich wutentbrannt hinausgestürmt bin, hatte ich wohl kaum meinen Fernseher unter dem Arm.«

»Nein«, antwortete er. »Du hast nur deine große Tasche mitgenommen. Ich war der Meinung, du würdest im Laufe des Abends zurückkommen. Am folgenden Tag hast du mich angerufen, und ich habe versucht, dich umzustimmen, was mir aber nicht gelang. Du wolltest mir nicht einmal sagen, wo du warst. Ein paar Tage später hast du erneut angerufen. Du hast gesagt, du würdest vorbeikommen und ein paar Sachen holen. Du bist am Mittwoch gekommen und hast mehrere Dinge mitgenommen.«

Nun kam der schwierige Teil. »War da noch etwas?«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, als wir diskutiert haben … als wir diesen Streit hatten, haben wir da auch, ähm …?«

»Wir haben nicht diskutiert, jedenfalls nicht richtig. Wir haben uns heftig gestritten. Daraufhin bist du gegangen.

Ich habe dich gefragt, ob du zurückkommen willst. Du hast nein gesagt. Du wollest mir nicht sagen, wo du warst.

Ich habe versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber ohne Erfolg.«

»Was war, als ich vorbeigekommen bin, um meine Sachen zu holen? Was war da?«

»Da haben wir uns gar nicht gesehen. Du bist gekommen, als ich nicht da war.«

Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog.

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich weiß, dass ich zur Zeit ein bisschen schwer von Begriff bin. Du sagst also, wir hatten keinen Kontakt mehr, nachdem ich dich verlassen hatte?«.

»Wir haben telefoniert.«

»Das meine ich nicht. Wir haben uns wirklich nicht mehr gesehen?«

»Nein. Du wolltest nicht.«

»Wer zum Teufel …«

Ich hatte einen Satz begonnen, den ich unmöglich zu Ende führen konnte.

»Hör zu, Abbie, ich möchte wirklich …«

In dem Moment klingelte es an der Haustür, und ich erfuhr nie, was Terry wirklich wollte, auch wenn ich es mir in etwa vorstellen konnte. Ich sah, wie Terry die Zähne zusammenbiss. Ihm war anzusehen, dass er wusste, wer vor der Tür stand, und deswegen wusste ich es auch.

»Das ist jetzt aber ein bisschen unangenehm«, sagte er, während er auf die Tür zusteuerte.

Ich war nicht in der Verfassung, mich mit weiteren Problemen herumzuschlagen und musste tief Luft holen, bevor ich ihm antworten konnte.

»Das ist überhaupt nicht unangenehm. Geh und lass sie rein. Ich komme mit dir runter. Ich wollte sowieso gehen.«

Hintereinander trotteten wir die Treppe hinunter. »Ich bin gerade am Gehen«, sagte ich an der Tür zu Sally. »Ich habe bloß meine Post abgeholt.« Ich schwenkte meinen Briefumschlag.

»Schon gut«, antwortete sie.

»Keine Angst, ich werde das nicht zur Gewohnheit werden lassen.«

»Ich habe damit überhaupt kein Problem.«

»Das ist ja phantastisch«, meinte ich im Vorbeigehen.

»Ich bin wirklich und wahrhaftig der Meinung, dass Sie und Terry weitaus besser zusammenpassen, als Terry und ich es je getan haben.«

Ihre Miene gefror.

»Wovon sprechen Sie überhaupt? Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Nein«, pflichtete ich ihr bei. »Aber ich kenne mich.«

Auf dem Heimweg machte ich an einem der Minisupermärkte Halt, die auf dem Gehsteig runzeliges Obst und Gemüse anbieten, was sie damit kompensieren, dass sie rund um die Uhr geöffnet haben. Ich kaufte eine Flasche Weißwein und die Zutaten für einen einfachen Salat. Zurück in Jos Wohnung, sicherte ich die Tür mit dem Vorhängeschloss und bereitete rasch den Salat zu. Ich war sogar zum Schlafengehen schon zu müde. Meine Augen brannten, mein Kopf dröhnte, mein Körper schmerzte. Ich schluckte zwei Tabletten, spülte sie mit einem Schluck kaltem Weißwein hinunter und aß allein und in völliger Stille meinen Salat. Während ich vor mich hinkaute, versuchte ich, Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bringen. Mein Blick fiel auf die kleine Pyramide aus Jos Post. Das musste nicht unbedingt etwas Schlimmes bedeuten. Vielleicht hatte sie mich gebeten, für sie auf die Wohnung aufzupassen, während sie Urlaub machte oder im Ausland arbeitete. Ich blätterte durch ihre Briefe. Einer sah ganz nach einer Mahnung aus. Ich wusste nicht, ob das etwas zu bedeuten hatte. Vielleicht war Jo der Typ Mensch, der seine Rechnungen immer erst auf den letzten Drücker bezahlte. Oder sie hatte einfach eine übersehen. Genausogut konnte sie jeden Augenblick aus ihrem Urlaub zurückkehren. Ich beschloss, noch ein paar Tage zu warten, bis ich ihretwegen Nachforschungen anstellte. Erst einmal musste ich Nachforschungen in eigener Sache anstellen.

Ich ließ mich im Schneidersitz auf Jos Kiefernboden nieder und drapierte alle Objekte um mich herum: die Avalanche-Akte, die Post aus der Plastiktüte, die ich bei Terry abgeholt hatte, die Blätter von Carol, auf denen sie die Anrufe für mich notiert hatte, die Quittungen, die ich im Handschuhfach meines Wagens gefunden hatte.

Anschließend trat ich an den Schreibtisch in der Ecke und öffnete ihn. Aus einer großen Teetasse, auf welche der Plan der Londoner U-Bahn aufgedruckt war, nahm ich einen Stift und aus einer Schublade ein paar weiße DIN-A4-Blätter.

Was wusste ich über die Tage, an die ich mich nicht erinnern konnte? Auf eines der weißen Blätter schrieb ich oben in die Mitte: »Verlorene Tage.« In die rechte untere Ecke notierte ich »Donnerstag, 22. Januar«. Am Ende dieses Tages, kurz vor Mitternacht, war ich auf Tony Russells Türschwelle zusammengebrochen. Wie viele Tage war ich gefangen gehalten worden? Drei? Nein, es mussten mehr gewesen sein. Vier, fünf sechs, vielleicht noch mehr. Das Letzte, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich am Dienstag, dem fünfzehnten Januar, abends in einem indischen Restaurant etwas zu essen bestellt und in diese Wohnung hatte liefern lassen. Die dazwischenliegenden Tage musste ich noch auffüllen.

Was hatte ich in dieser Zeit getan? Immerhin wusste ich, dass ich sie nicht mit meinen Freunden verbracht hatte.

Mir kam ein Gedanke. Ich ging in die Küche. Ich musste ein paar Schranktüren öffnen, ehe ich den Mülleimer fand.

Ein fürchterlicher, faulig-süßlicher Geruch schlug mir entgegen, als ich mich darüber beugte. Trotzdem zwang ich mich, hineinzusehen. Der Eimer enthielt schreckliche Dinge, schimmelige, ranzige, schleimige Reste, aber keine Alubehälter eines Takeaway-Restaurants. Was bedeutete, dass der Eimer seitdem mindestens einmal geleert worden war und jemand neuen Müll hineingeworfen hatte. Was bedeutete, dass Jo oder ich oder Jo und ich oder ein Dritter nach besagtem Dienstag noch eine Weile hier gewesen war. Es sei denn, die Behälter des indischen Restaurants waren nicht in den Mülleimer, sondern gleich draußen in eine Tonne geworfen worden. Wie wahrscheinlich war das?

Mein Kopf schmerzte. Hatte Robin nicht erwähnt, ich hätte sie angerufen, um unseren abendlichen Drink abzusagen? Ich schrieb »Mittwoch« an den Rand der Seite und malte ein Fragezeichen daneben.

Ich begann Carols Liste mit Anrufen durchzugehen.

Mehr als alles andere führten mich diese schnell hingeworfenen Notizen, diese dringenden Mitteilungen und knappen Antworten, zurück in mein altes Leben. Jene, die mir etwas sagten, strich ich nacheinander aus. Am Ende blieben drei übrig, mit denen ich nichts anfangen konnte. Neben der einen stand kein Name, sondern lediglich eine Telefonnummer. Eine andere lautete:

»Pat hat angerufen«. Pat? Ich kannte ungefähr zwölf Leute namens Pat, männlich wie weiblich. Ich musste an eine Pat denken, die mit mir im Kindergarten gewesen war. Ich hatte nie wieder jemanden kennen gelernt, der so laut schreien konnte wie sie. Die dritte Nachricht beschränkte sich auf: »Ein Typ hat angerufen.« Danke, Carol.

Ich setzte mich wieder und griff nach einem weiteren leeren Blatt Papier. Oben in die Mitte schrieb ich: »Zu erledigen.«

Mein allgemeines Lebensmotto lautete, wenn du im Zweifel bist, schreib eine Liste. Zuerst schrieb ich:

»Telefonnummern anrufen«, darunter: »Avalanche«.

Laurence hatte gesagt, nachdem ich bei Jay & Joiner hinausgestürmt sei, hätte ich meine Freizeit darauf verwendet, mit Leuten zu sprechen, die an dem Projekt beteiligt gewesen seien, und sie dazu ermutigt, sich zu beschweren. Das war einer der wenigen richtigen Hinweise auf das, was ich während meiner verlorenen Tage getan hatte.

Ich schlug die Avalanche-Akte auf und nahm die Kontaktadressenliste heraus, die obenauf lag. Sie bestand aus lauter vertrauten Namen, lauter Leute, mit denen ich in jenen hektischen Tagen Anfang Januar zu tun gehabt hatte. Ich blätterte die Akte durch, notierte mir weitere Namen, klammerte manche davon ein und unterstrich andere. Allein schon der Gedanke an die Arbeit, die ich in dieser Zeit geleistet hatte, machte mich müde.

Schließlich gelangte ich zu den Abrechnungen am Ende der Akte. Ich starrte auf die Zahlen, bis sie mir vor den Augen tanzten. Als würden sich einzelne Gestalten aus einem dichten Nebel lösen, fielen mir einige der Auseinandersetzungen wieder ein, die ich mit Laurence geführt hatte. Oder mir fiel der Grund wieder ein, weshalb ich sie geführt hatte: das schäbige Verhalten unserer Firma ihren Subunternehmern gegenüber, die phantasievolle Buchhaltung, die vor meiner Nase praktiziert worden war.

Und mir fiel Todd wieder ein.

Im Grunde war Todd ein Teil meines Lebens, den ich nie vergessen, sondern lediglich verdrängt hatte. Hinterher habe ich mich gefragt, ob ich die Zeichen nicht schon eher hätte erkennen müssen. Todd hatte das Avalanche-Projekt geleitet. Es hatte sich dabei um eine höchst komplizierte Aufgabe gehandelt, die eine Mischung aus Fingerspitzengefühl und hartem Durchgreifen erforderte.

Ich hatte sehr schnell gelernt, dass bei einem solchen Projekt jeder einen Groll gegen jemand anderen hegt und jeder eine Entschuldigung für seine eigenen Unzulänglichkeiten parat hat. Wenn man einen Schritt zu viel in die eine Richtung tut, provoziert man einen Aufstand. Einen Schritt zu weit in die andere Richtung, und es geht absolut nichts voran. Da Todd und ich zum Teil mit denselben Leuten arbeiteten, kam mir zu Ohren, dass die Arbeit nur langsam voranging. Die Arbeit geht immer langsam voran, aber wenn Handwerker sagen, es gehe langsam, dann heißt das, es geht rückwärts. Ich sprach Todd ein paarmal darauf an, aber er antwortete mir jedes Mal, alles laufe sehr gut. Ich hegte allmählich den Verdacht, dass irgendetwas ernsthaft schief lief, und erzählte Laurence davon.

Daraufhin hörte ich, dass man Todd gefeuert habe und ich nun für das Avalanche-Projekt verantwortlich sei.

Laurence eröffnete mir, Todd habe offenbar einen Nervenzusammenbruch erlitten, ohne jemandem davon zu erzählen, was unter anderem heiße, dass Todd bei dem Auftrag keinen Finger gerührt habe und Jay & Joiner nun der Bankrott drohe. Entsetzt erklärte ich, dass es nicht meine Absicht gewesen sei, Todd zu verraten. Laurence gab mir zur Antwort, Todd sei psychisch krank und brauche medizinische Hilfe, doch unser unmittelbares Problem sei nun, die Firma zu retten. Also marschierte ich in Todds Büro und arbeitete vierzig Stunden durch.

Danach kam ich eine weitere Woche keine Nacht mehr als vier Stunden ins Bett. Wenn ich also zum Teil für das verantwortlich war, was Todd passiert war, dann war Todd auch zum Teil für das verantwortlich, was mir passierte.

Ich schrieb seinen Namen auf das Blatt, überlegte kurz und fügte dann ein Fragezeichen hinzu. Nachdenklich zeichnete ich ein Quadrat um das Fragezeichen, fügte weitere Linien hinzu, bis es aussah, als befände sich das Fragezeichen in einem Würfel. Ich schraffierte die Seiten des Würfels. Schließlich zeichnete ich strahlenartige Linien rund um den Würfel, so dass es aussah, als würde er leuchten oder explodieren.

Ein weiterer Gedanke schoss mir durch den Kopf. O

verdammt. Unter »Todd« schrieb ich das Wort

»Schwangerschaftstest« und unterstrich es. Ich hatte Sex mit jemandem gehabt und offensichtlich keine Vorsichtsmaßnamen ergriffen. Doch mit wem? Ich überlegte, ob ich eine weitere Liste mit Namen potenzieller Kandidaten anlegen sollte, hatte aber niemanden, den ich auf diese Liste hätte setzen können.

Mit welchen Männern war ich während meiner verlorenen Woche zusammengekommen? Guy. Sehr

unwahrscheinlich. Das indische Essen war mit ziemlicher Sicherheit von einem Mann ausgeliefert worden. Und dann war da natürlich noch er.

Ich machte Anstalten, das Wort »Was« zu schreiben, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Gerade hatte ich gedacht: Was machst du da eigentlich? Prompt hatte ich begonnen, diesen Satz niederzuschreiben. Aber die Frage war berechtigt, was tat ich da eigentlich? Der Gedanke an diese dunklen, vergessenen Tage war unerträglich, er quälte mich unaufhörlich, Tag und Nacht. Manchmal stellte ich mir vor, dies sei die Ursache für den Schmerz in meinem Kopf. Wenn es mir gelänge, die Leerstellen zu füllen, alles zu rekonstruieren, dann würde der Schmerz verschwinden. Aber lohnte es sich, dass ich mich dafür in Gefahr brachte? Befand ich mich überhaupt in Gefahr?

War er irgendwo dort draußen in London unterwegs, auf der Suche nach mir? Vielleicht hatte er mich bereits gefunden. Womöglich stand er schon draußen vor Jos Tür und wartete darauf, dass ich herauskam. Oder ich lag in dieser Hinsicht völlig falsch. Vielleicht war der Mann auch untergetaucht. Er wusste, dass ich mich an unsere erste Begegnung nicht erinnern konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie er aussah. Wenn er sich ruhig verhielt, konnte ihn niemand behelligen. Er konnte seelenruhig sein Unwesen treiben, andere Frauen umbringen und mich einfach vergessen. Doch konnte er sich wirklich sicher fühlen?

Ich zeichnete ein großes Fragezeichen um das Wort

»Was«. Ich machte ein dreidimensionales Fragezeichen daraus, das ich anschließend schraffierte. Wenn ich nur beweisen könnte, dass ich tatsächlich gekidnapped worden war. Das war das Beste, worauf ich hoffen konnte. Wenn es mir gelänge, einen konkreten Beweis zu finden, dann würde die Polizei mir endlich glauben und mich beschützen. Sie würden eine Großfahndung einleiten, den Mann finden, und ich könnte wieder ein normales Leben führen.

Doch wie sollte dieser Beweis aussehen? Wo sollte ich mit der Suche beginnen? Ich verzierte mein Riesenfragezeichen mit einer Schar filigraner Fragezeichen, die sich an seinem Rücken aneinanderreihten, sich um sein Ende wanden und anschließend an seinem Bauch emporkletterten, bis es ganz von einer Wolke flatternder Verwirrtheit umgeben war.

10

Mit einem Ruck wachte ich auf und wusste zunächst nicht, wo ich war. Der Raum war dunkel und völlig still, es war kein Geräusch zu hören. Ich lag im Bett und wartete darauf, dass mein Gedächtnis zurückkehren würde. Ich wartete darauf, etwas zu hören, ein Geräusch in der Schwärze. Mein Herz hämmerte wie wild, mein Mund fühlte sich trocken an. Dann hörte ich ein leises Schlurfen draußen vor meinem Fenster. Vielleicht hatte mich das aufgeweckt. Aber wer war dort? Ich wandte den Kopf und warf einen Blick auf meinen Radiowecker, der neben mir auf dem Nachttisch stand. Es war zehn vor fünf und sehr kalt.

Wieder hörte ich dieses schlurfende, kratzende Geräusch. Ich konnte mich nicht bewegen, drückte den Kopf fest gegen das Kissen. Es bereitete mir Schwierigkeiten, richtig zu atmen, und in meinem Kopf pochte es erbarmungslos. Ich musste an die Kapuze und den Knebel denken, schob den Gedanken jedoch gleich wieder weg. Ich zwang mich aufzustehen und zum Fenster hinüberzugehen. Ich öffnete die Vorhänge einen Spalt und spähte zwischen den Eisblumen, die sich auf dem Glas gebildet hatten, nach draußen. Der frisch gefallene Schnee machte alles ein wenig heller, und im Licht der Straßenlaterne konnte ich unter mir etwas Dunkles erkennen. Eine fette getigerte Katze strich um den Strauch neben der Haustür, ließ ihren dicken Schwanz über die toten Blätter gleiten. Fast hätte ich erleichtert aufgelacht, doch in dem Moment hob das Tier den Kopf und schien mich mit seinen stechenden gelben Augen zu fixieren. Ein Gefühl der Angst ergriff von mir Besitz. Ich ließ den Blick die Straße hinunterschweifen, die zwischen Pfützen orangefarbenen Lichts immer wieder in Dunkelheit getaucht war. Ich konnte niemanden entdecken, doch plötzlich wurde ein paar Meter von mir entfernt ein Auto gestartet, seine Scheinwerfer erhellten die Straße, und ich erkannte in der Ferne eine Gestalt. Durch den Neuschnee verlief eine Fußspur.

Ich zog die Vorhänge wieder zu und wandte mich ab. Ich benahm mich vollkommen lächerlich, rief ich mich selbst resolut zur Vernunft. Paranoid. In London ist immer jemand wach. Es sind immer Autos, Katzen und Gestalten auf der Straße unterwegs. Egal, wann ich in der Nacht aufwachte, ich konnte jederzeit mein Gesicht gegen das Fenster pressen und jemanden draußen stehen sehen.

Ich ging wieder ins Bett und rollte mich zusammen, schlang die Arme um meinen Körper. Meine Füße waren eiskalt, deswegen versuchte ich, sie unter mein Rugby-Shirt zu ziehen, um sie zu wärmen, was mir aber nicht gelang. So stand ich erneut auf und ging ins Bad. Ich hatte eine Wärmflasche an der Tür hängen sehen. Ich setzte den Wasserkessel auf, füllte die Wärmflasche, nahm noch einmal zwei Tabletten gegen meine Kopfschmerzen und kehrte dann ins Bett zurück. Die Wärmflasche an mich gedrückt, versuchte ich, wieder einzuschlafen. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf wie ein wilder Schneesturm, und die Dinge, die ich erledigen musste, türmten sich wie hohe Schneeverwehungen vor meinem geistigen Auge auf: die Anrufe, die ich zu tätigen hatte, die Namen der Leute aus der Avalanche-Akte, die ich aufsuchen wollte, außerdem musste ich herausfinden, wo Jo abgeblieben war, oder mehr über sie in Erfahrung bringen, und dann war da noch diese mysteriöse Pille danach. Es musste jemanden geben, der wusste, was um alles in der Welt ich im Schilde geführt hatte, aber die Frage war, ob ich nach zwei Männern oder nur nach einem suchen sollte, ob ich womöglich schwanger war? Ich dachte an mein altes Leben, das inzwischen sehr weit zurückzuliegen schien, wie ein Bild hinter Glas, während dieses düstere, bedrohliche neue Leben sich jedes Mal zu verschieben und zu verändern schien, sobald ich einen Blick darauf zu werfen versuchte.

Der Heizkörper knackte und summte, und nach wenigen Minuten war es schon nicht mehr ganz so kalt im Zimmer.

Trotz des zugezogenen Vorhangs konnte ich sehen, wie es draußen allmählich hell wurde. Es hatte keinen Sinn, ich konnte nicht mehr schlafen. Solange ich hier im Bett lag, hockte die Angst wie eine große fette Kröte auf meiner Brust.

Um sie zu vertreiben, musste ich endlich anfangen, den Dingen Herr zu werden. Einen anderen Weg gab es nicht.

Ich nahm ein Bad, dessen Temperatur hart an der Grenze des Erträglichen lag, so dass ich, als ich herausstieg, krebsrote Haut und runzelige Finger hatte. Ich schlüpfte in meine weite Hose, den schwarzen Kapuzen-Fleece sowie zwei Paar Socken. Danach brühte ich mir eine Tasse Kaffee, machte die Milch dafür warm. Ich kochte ein Ei, toastete eine Scheibe von dem alten Brot und bestrich sie großzügig mit Butter. Von nun an wollte ich es mir so richtig gut gehen lassen. Ich zwang mich, mein Frühstück nicht wie sonst im Stehen, sondern in Ruhe am Tisch einzunehmen, tunkte den Toast ins Eigelb und kaute ihn langsam, nahm dazwischen immer wieder einen Schluck von meinem Milchkaffee. Anschließend ging ich ins Bad und stellte mich vor den Spiegel. Der Anblick meines nackten weißen Gesichts versetzte mir immer noch einen leichten Schreck. Ich machte mein Haar nass und kämmte es, damit es nicht mehr ganz so stark abstand, und putzte mir gründlich die Zähne, den Blick auf den Spiegel gerichtet. Kein Make-up, kein Schmuck. So, nun konnte es losgehen.

Es war erst kurz nach sieben, die meisten Leute lagen vermutlich noch im Bett. Auf jeden Fall war es zu früh, um einen Schwangerschaftstest zu besorgen. Das würde ich später erledigen. Ich ließ mich mit meinen Blättern auf der Couch nieder, ging die Listen durch, die ich die Nacht zuvor zusammengestellt hatte, und machte mir weitere Notizen. Ich durchstöberte Jos Schubladen, suchte nach etwas, womit ich meine Zettel vorübergehend an der Wand befestigen konnte. Zuerst fand ich nichts Geeignetes, doch dann entdeckte ich in einer Schublade voller Schraubenzieher, Schnüre, Sicherungen und Batterien eine Rolle Klebeband. Damit pappte ich sämtliche Blätter und Zettel an die Wand, wobei ich dazwischen Lücken ließ, die ich später zu füllen hoffte.

Das gesamte Unterfangen hatte etwas seltsam Befriedigendes, als hätte ich gerade meinen Schreibtisch aufgeräumt und meine Stifte gespitzt, bevor ich mit der eigentlichen Arbeit begann.

Ich notierte die Namen und Adressen der Männer, die ich heute besuchen wollte. Es waren Namen, die ich gut kannte. Ich ging davon aus, dass es sich dabei um die Männer handelte, die ich bereits aufgesucht hatte, nachdem ich Jay & Joiner verlassen hatte. Während meiner letzten Wochen in der Firma hatte ich täglich mit ihnen oder ihren Angestellten telefoniert. Ich wusste, dass wir ihnen übel mitgespielt hatten. Einige hatte ich auch persönlich kennen gelernt, doch diese hektische Phase war in meiner Erinnerung verblasst, als wäre ich damals zu schnell unterwegs gewesen, um richtig hinzusehen, oder als hätte sich meine Amnesie rückwärtig ausgeweitet.

Vielleicht, dachte ich, verhält es sich mit meinem Gedächtnisverlust wie mit einem Tintenfleck auf Löschpapier. In der Mitte ist der Fleck dunkel und nach außen wird er immer heller, bis schließlich überhaupt nichts mehr von der Tinte zu sehen ist.

Nachdem ich sämtliche Adressen auf der Straßenkarte ausfindig gemacht hatte, plante ich meine Route und legte fest, wen ich zuerst aufsuchen wollte. Dann griff ich nach dem Telefonhörer und begann die erste Nummer zu wählen – legte jedoch sofort wieder auf. Es war besser, wenn ich unangemeldet kam. Mein einziger Vorteil bestand darin, unberechenbar zu bleiben. Ich setzte meine Wollmütze auf und zog sie mir bis über die Augenbrauen.

Den unteren Teil meines Gesichts umwickelte ich mit meinem gestreiften Schal. Dann schaltete ich alle Lichter aus und sorgte dafür, dass die Vorhänge in meinem Schlafzimmer wieder genau so drapiert waren wie vor meinem Eintreffen.

Nach dem langen gestrigen Tag und der unbefriedigend kurzen Nacht fühlte ich mich an diesem Morgen nervös und ängstlich. Es gab keinen Hinterausgang, ich musste zwangsläufig die Haustür benutzen. Bevor ich auf die Straße trat, setzte ich meine dunkle Brille auf. Nun war von meinem Gesicht so gut wie nichts mehr zu sehen. Ich holte tief Luft und marschierte in den böigen Wind hinaus.

Unter den vereisten Scheibenwischern meines Wagens klemmte noch immer der Strafzettel, doch das war mir gleichgültig. Heute würde ich öffentliche Verkehrsmittel benutzen.

Ken Loftings Laden war noch nicht offen, doch als ich mein Gesicht an die Glastür drückte, konnte ich sehen, dass im hinteren Teil bereits Licht brannte. Eine Klingel schien es nicht zu geben, deswegen hämmerte ich mit der Faust gegen die Tür und wartete. Schließlich sah ich Kens massige Gestalt auftauchen. Die Lichter im Geschäft gingen an – und wenn ich sage, sie gingen an, dann meine ich damit, dass ein blendendes Lichtermeer erstrahlte, als wäre wieder Weihnachten –, und Ken kam schwerfällig auf mich zu. Seine Stirn lag in Falten, vermutlich aus Ärger über meine Ungeduld. Er machte nicht sofort auf, sondern musterte mich zunächst durch die Glasscheibe.

Dann breitete sich auf seinem vollen, roten Gesicht langsam der Ausdruck des Wiedererkennens aus. Er entriegelte die Tür. Obwohl mein Mund vor Angst ganz ausgetrocknet war, lächelte ich ihn an.

»Abbie?«

»Ich hab mir die Haare schneiden lassen, das ist alles.

Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Er trat einen Schritt zurück und starrte mich an, bis ich verlegen wurde.

»Ich habe gehofft, dass wir uns treffen würden«, sagte er. Ich ließ seine Worte in mir nachklingen. War das die Stimme? »Ich habe oft an Sie gedacht.«

»Ich dachte, Sie hätten um diese Zeit schon geöffnet«, erklärte ich und blickte mich nervös um. Alle Lampen, Lüster und Scheinwerfer brannten, doch außer uns schien niemand hier zu sein.

»Ich mache erst in fünf bis zehn Minuten auf.«

»Haben Sie kurz Zeit für mich?«

Er ließ mich eintreten und sperrte die Tür wieder zu. Das Geräusch jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Dagegen war ich machtlos.

Ken ist nicht nur ein gewöhnlicher alter Elektriker, der Drähte hinter Fußleisten versteckt: er ist ein Maestro.

Natürlich kennt er sich auch mit Drähten aus, doch seine wahre Leidenschaft ist das Licht – die Art, wie es fällt, seine Reichweite, der Kontrast zwischen Hell und Dunkel.

In seinem Geschäft in Stockwell kann man die seltsamsten Glühbirnen kaufen, und er bringt es fertig, stundenlang über verschiedene Beleuchtungsarten zu sprechen, direkte oder indirekte Beleuchtung, Deckenlampen, aggressive Strahler oder weiches, diffuses Licht. Bei der Ausstattung der Avalanche-Büros hatte er wahre Lichtkunstwerke geschaffen. Jeder Schreibtisch und jedes einzelne Büro waren mit hellen Lampen ausgestattet, aber dazwischen lagen zahlreiche schwächer beleuchtete Bereiche.

»Kontrast«, hatte er immer wieder gesagt. »Man braucht den Kontrast, das gibt einem Raum Gestalt und Tiefe, erweckt ihn erst richtig zum Leben. Die goldene Regel lautet, dass man das Licht niemals flach und grell gestalten darf. Wer könnte damit leben?« Die Avalanche-Direktoren waren begeistert gewesen.

»Warum wollten Sie mich sehen, Ken?«

»Eins nach dem anderen. Tee?«

»Das wäre wunderbar.«

Er kochte den Tee in seinem Büro, das im hinteren Teil des Geschäfts lag und mit Pappkartons vollgestopft war.

Ich saß auf dem Stuhl, er auf einem Karton. Es war sehr kalt in dem Raum, so dass ich meinen Mantel anbehielt, obwohl er selbst in Hemdsärmeln herumlief.

»Warum wollten Sie mich sehen?«

»Einen Keks? Ingwerplätzchen?«

»Nein, danke, für mich nichts.«

»Um Ihnen zu danken.«

»Wofür?«

»Dafür, dass Sie mich davor bewahrt haben, drei Riesen in den Wind zu schießen.«

»Habe ich das getan?«

»Allerdings.«

»Wie?«

»Was?«

»Tut mir Leid, Ken. Sie müssen ein bisschen Nachsicht mit mir haben. Bei uns in der Firma sind noch ein paar Fragen offen, die der Klärung bedürfen.«

Damit schien er sich zufrieden zu geben. »Sie haben mich darauf hingewiesen, dass ich zu schlecht bezahlt würde und dagegen protestieren sollte.«

»Und das haben Sie getan?«

»O ja.«

»Wann habe ich Sie darauf hingewiesen, Ken?«

»Das muss gleich am Montagmorgen gewesen sein. So früh wie heute.«

»An welchem Montag?«

»Na ja, vor drei Wochen ungefähr.«

»Am Montag, dem vierzehnten?«

Nachdem er einen Moment überlegt hatte, nickte er.

»Der muss es gewesen sein.«

»Und wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen?«

»Uns gesehen? Nein. Hätten wir uns sehen sollen?« Er schaute mich an, als würde ihm etwas dämmern. »Soll ich Ihrer Firma gegenüber behaupten, wir hätten uns gesehen?

Damit Sie auf mehr Arbeitsstunden kommen, geht es Ihnen darum? Ich stehe in Ihrer Schuld, Sie brauchen mir also nur zu sagen, wann wir offiziell miteinander gearbeitet haben und wie lange.«

»Nein, darum geht es mir nicht. Es gibt noch ein paar Ungereimtheiten, die ich klären möchte. Haben wir uns seitdem wirklich nicht mehr gesehen?«

Er wirkte enttäuscht. »Nein. Obwohl ich auf eine Gelegenheit gewartet habe, mich bei Ihnen zu bedanken.«

Er beugte sich vor und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Sie haben für mich den Kopf hingehalten, nicht wahr?«

Seine Worte ließen mich schaudern. Ich musste mich erst sammeln, bevor ich weitersprechen konnte. »Dann sind Sie also sicher. Montag, der vierzehnte? Sie erinnern sich an den Tag?«

»Ich weiß noch genau, dass Sie vor lauter Wut keine Sekunde still sitzen konnten.« Er lachte ein wenig schnarrend.

»Sie müssen gleich aufsperren«, sagte ich. »Es wird Zeit, dass ich gehe. Sie haben mir sehr geholfen, Ken.«

»Das freut mich.« Er rührte sich nicht von der Stelle, doch vielleicht lag das bloß daran, dass er ein großer, langsamer Mann war. Der Blick, mit dem er mich musterte, war sicher freundlich, aber ich war mir nicht sicher. Mich beschlich ein leiser Zweifel.

»Wären Sie so nett, die Tür für mich aufzuschließen?«

Er erhob sich von seiner Kiste, und wir gingen langsam durch den hell erleuchteten Laden. Auf meiner Stirn standen Schweißperlen, meine Hände zitterten.

»O nein! Was ist denn jetzt schon wieder? Ist etwas kaputt? Etwas zusammengebrochen? Schon wieder ein Idiot, der mit dem System nicht umgehen kann? Ich sage Ihnen jetzt mal was!« Er rammte mir seinen Zeigefinger in die Brust. »Ich werde nie wieder für Ihre Firma arbeiten!

Das habe ich Ihren Leuten auch schon gesagt. Nie wieder.

Selbst dann nicht, wenn Sie vor mir auf die Knie gehen.

Das lohnt sich nicht. Erst dieser Mann, der jedes Mal den Eindruck machte, als würde er gleich zu weinen anfangen, wenn er mich sah, und dann die blonde Frau mit der Rakete im Hintern. Sie müssen meine Ausdrucksweise entschuldigen. Am Ende stellte sich jedoch heraus, dass sie ganz akzeptabel war. Ich nehme an, Sie haben sie rausgeschmissen, nur weil sie einen Sinn für Gerechtigkeit besaß, nicht wahr?«

»Das war ich, Mr. Khan«, unterbrach ich ihn. »Ich habe Sie darauf hingewiesen, dass Sie unterbezahlt waren.«