»Nein, nein, nein, das lasse ich mir nicht einreden. Das war die andere, die mit den langen blonden Haaren. Abbie noch was, so hieß sie. Aber Sie habe ich noch nie gesehen.«

Erkannte er mich wirklich nicht? Ich nahm meine schwarze Wollmütze ab. Er verzog keine Miene. Da gab ich es auf und behauptete, jemand anders zu sein. Abbies Freundin.

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Ich bemühte mich um einen geschäftsmäßigen Ton.

»Am Freitag, dem elften Januar«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

»Nein, ich meine, wann tatsächlich?«

»Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.«

»Die Schwierigkeiten, in denen sie steckt, können nicht mehr schlimmer werden, egal, was Sie sagen, Mr. Khan.«

»Dann steckt sie also in Schwierigkeiten? Das hab ich gewusst. Ich hab’s ihr gesagt. Es schien sie überhaupt nicht zu kümmern.«

»Haben Sie sie danach noch einmal gesehen?«

Er zuckte die Achseln und warf mir einen zornigen Blick zu. Ich hätte ihn am liebsten umarmt.

»Ich bin Abbies Freundin«, erklärte ich noch einmal.

Bestimmt würde er mich jeden Moment erkennen. Dann würde er mich für eine Betrügerin halten oder für ein bösartiges Biest – oder einfach für eine Irre. »Ich bin auf ihrer Seite.«

»Das behaupten andere auch«, erwiderte er.

Was meinte er damit? Bestürzt starrte ich ihn an, während er fortfuhr: »Also gut. Ich habe sie am Montag darauf noch einmal gesehen. Anschließend bin ich schnurstracks zu meinen Anwälten gegangen. Sie hat mir einen großen Gefallen getan.«

»Am Montag, dem vierzehnten.«

»Ja. Wenn Sie sie sehen, richten Sie ihr meinen Dank aus.«

»Das werde ich tun. Und Mr. Khan …«

»Was?«

»Danke.« Einen kurzen Moment lang veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er begann mich genauer zu mustern, aber ich wandte mich ab, setzte meine dunkle Brille auf und stülpte mir die Mütze wieder über den Kopf. »Auf Wiedersehen.«

In einem warmen, schwach beleuchteten italienischen Café in Soho aß ich zu Mittag. Ich wurde an einen Tisch ganz hinten in der Ecke gelotst. Ich konnte jeden sehen, der hereinkam, fühlte mich selbst aber unsichtbar. In dem Café drängten sich die Touristen. Von meinem Platz aus konnte ich die Leute Spanisch, Französisch und Deutsch sprechen hören. Ein Schauder des Glücks durchlief meinen Körper. Ich zog meinen Mantel aus, nahm Mütze, Schal und Brille ab und bestellte Spaghetti mit Venusmuscheln und ein Glas Rotwein. Ich verbrachte fast eine Stunde dort. Während ich langsam meine Pasta aß, lauschte ich Bruchstücken von Gesprächen und atmete den Geruch von Zigaretten, Kaffee, Tomatensauce und Kräutern ein. Anschließend bestellte ich mir einen Cappuccino und ein Stück Zitronenkuchen. Meine Zehen tauten langsam auf, und meine Kopfschmerzen ließen nach. Ich kann es schaffen, dachte ich. Wenn es mir gelingt herauszufinden, was mit mir passiert ist, und wenn ich die Leute dazu bringen kann, mir zu glauben, dann werde ich mich wieder sicher fühlen können und ohne Angst Orte wie diesen hier aufsuchen, zwischen anderen Menschen sitzen und glücklich sein. Einfach eine Tasse Kaffee trinken, ein Stück Kuchen essen und sich sicher fühlen – das ist Glück. Ich hatte diese kleinen Freuden des Lebens schon ganz vergessen.

Ich verließ das Café, um mir einen Schwangerschaftstest zu besorgen.

Ich konnte mich nicht erinnern, Ben Brody je getroffen zu haben, obwohl ich einmal in seiner Werkstatt in Highbury gewesen war. Bei leichtem Schneefall machte ich mich auf den Weg. Ich spürte, wie meine Nase – der einzige Teil von mir, der der Kälte schutzlos ausgesetzt war –

wieder rot wurde. Um zu der Werkstatt zu gelangen, musste man von der Hauptstraße abbiegen und ein Stück weit eine kleine Seitenstraße hinaufgehen. Sein Name stand an der Tür: »Ben Brody, Produktdesigner«. Ich fragte mich, wie jemand Produktdesigner werden konnte.

Dann kam ich mir plötzlich sehr dumm vor. Wie um Himmels willen konnte jemand Büroausstatterin werden?

In dem Moment wurde mir klar, was für einen lächerlichen Job ich im Grunde gemacht hatte. Falls diese Sache je ein gutes Ende finden würde, könnte ich Gärtnerin, Bäckerin oder Schreinerin werden. Ich könnte etwas herstellen. Das heißt, wenn ich nicht zwei linke Hände hätte.

Ben Brody stellte tatsächlich etwas her. Zumindest baute er die Prototypen. Er hatte die Schreibtische und Stühle für Avalanche entworfen, ebenso die Raumteiler, die die riesige Bodenfläche des Büros weniger beängstigend wirken ließen. Wir hatten ihm zu wenig bezahlt und unseren Kunden zu viel berechnet.

Ich klopfte nicht an, sondern schob einfach die Tür auf und trat ein. In dem großen Raum standen Werkbänke verteilt. Zwei Männer standen neben einem Fahrradgestell.

Hinten in der Ecke war jemand mit einem Bohrer am Werk. Es roch nach Sägemehl. So ähnlich roch Pippa, wenn sie aufwachte und ihr runzeliges Gesicht zu einem Gähnen verzog. Süß und holzig.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Mr. Brody?«

»Nein, Ben ist hinten.« Er deutete mit dem Daumen auf eine Tür. »Im Büro. Soll ich ihn holen?«

»Nein, nicht nötig, ich finde den Weg.«

Als ich die Tür öffnete, blickte der Mann von seinem Schreibtisch auf. Ich ließ meine Wollmütze auf, setzte nur die dunkle Brille ab. In dem dunklen kleinen Raum konnte ich damit kaum etwas sehen.

»Ja?« Er starrte mich an. Einen Moment lang sah er aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er nahm ebenfalls seine Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. Er hatte ein schmales Gesicht, seine Hände waren groß und kräftig.

»Ja?«, fragte er erneut.

»Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Mein Name ist Abbie Devereaux, ich bin von Jay & Joiner.«

Er starrte mich verständnislos an.

»Ich habe Sie nicht ganz vergessen«, meinte er schließlich.

»Was wollen Sie hier?« Sein Ton klang fast schon unhöflich. Ich zog einen Stuhl zu mir heran und nahm ihm gegenüber Platz.

»Ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen.

Ich versuche nur ein paar Punkte zu klären, die bei uns in der Firma noch unklar sind.«

»Ich verstehe nicht recht.« Er machte in der Tat einen höchst verblüfften Eindruck. »Warum sind Sie hier?«

»Wie gesagt, ich möchte lediglich ein paar Dinge klären.« Er sah mich bloß an. Ich versuchte es noch einmal. »Es gibt da ein paar Daten, aus denen ich nicht ganz schlau werde, es ist zu kompliziert, um im Einzelnen auf die Gründe einzugehen.«

»Zu kompliziert.«

»Fragen Sie mich lieber nicht. Sie wollen es nicht wissen, das dürfen Sie mir glauben. Ich wollte Sie lediglich fragen, wann wir uns gesehen haben. Wann wir uns das letzte Mal gesehen haben, meine ich.«

Hinter ihm klingelte das Telefon, und er schwang auf seinem Stuhl herum, um das Gespräch anzunehmen.

»Absolut nicht«, erklärte er in entschiedenem Ton.

»Gummi. Nein. Nein. Ja, das stimmt.« Er legte auf, drehte sich jedoch nicht wieder zu mir um. »Sie haben mich am Montag aufgesucht, am Montag vor drei Wochen, um mich über die Bedenken zu informieren, die Sie wegen des Avalanche-Vertrags hatten.«

»Danke«, sagte ich. Mein Nacken begann zu kribbeln, denn ich hatte plötzlich das Gefühl, seine Stimme zu kennen. Nicht so sehr den Klang, eher die Intonation.

Meine Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen.

»Sind sie sicher, dass es der Montag war?«

»Es ist zu kompliziert, um im Einzelnen auf die Gründe einzugehen, aber ich bin ziemlich sicher«, antwortete er in Anlehnung an meine Ausdrucksweise.

Ich spürte, wie ich rot wurde. Als ich aufstand, erhob er sich ebenfalls.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich sehr formell.

»Kein Problem«, antwortete er. »Auf Wiedersehen. Und weiterhin gute Besserung.«

»Gute Besserung?«

»Ja. Sie sind krank gewesen, nicht wahr?«

»Es geht mir wieder gut«, antwortete ich rasch und ging.

Den Installateur Molte Schmidt hatte ich am vierzehnten nicht aufgesucht, aber ich hatte ihn angerufen. Damit hätte ich ihm sehr geholfen, sagte er. Ich muss an dem Montag einen ziemlich stressigen Terminplan gehabt haben, dachte ich – erst dann fiel mir auf, dass der heutige Tag im Grunde eine Neuauflage des betreffenden Tages war und ich sozusagen auf meinen eigenen Spuren wandelte.

Ich genoss meine zwanzig Minuten mit Molte, weil er jung und freundlich war und mit seinem Pferdeschwanz und seinen erstaunlich blauen Augen zudem sehr gut aussah. Und weil er – wie er mir erklärte, halb finnischer und halb deutscher Abstammung war und einen extrem starken Akzent hatte.

Hier, in der hereinbrechenden Dämmerung, war ich an meiner letzten Station des Tages angelangt. Der leichte Schneefall hatte sich mittlerweile in dichtes Schneetreiben verwandelt. In den Gewächshäusern brannte überall Licht.

Als ich eintrat, schlug mir ein harziger Geruch entgegen, und ich hörte Wasser laufen. Hin und wieder brachte ein Luftzug ein entferntes Windspiel zum Klingen.

Es war, als wäre ich aus meiner Welt in eine andere Dimension eingetreten. Obwohl das Gewächshaus nicht groß war, bot sich mir ein Panoramablick, als könnte ich kilometerweit sehen. Überall standen Bäume, alte und schöne Bäume mit knorrigen Stämmen und ausladenden Ästen. Ich beugte mich zu einem von ihnen hinunter und berührte ihn vorsichtig.

»Eine chinesische Ulme«, sagte eine Stimme hinter mir.

»Über hundert Jahre alt.«

Ich richtete mich auf. Gordon Lockhart war ein stämmiger Mann mit Glatzenansatz. Über einem dicken blauen Pullover trug er leuchtend rote Hosenträger.

»Eine Zimmerpflanze«, fuhr er fort. »Das hier« – er deutete auf einen kleinen Baum mit flammenfarbenen Blättern – »ist ein japanischer Ahorn. Für draußen. Wir haben ihn nur zum Überwintern hier hereingestellt.«

»Er ist wunderschön«, sagte ich. »Was hier für eine seltsame, wundervolle Atmosphäre herrscht. So friedlich.«

»Da haben Sie Recht«, pflichtete er mir bei. »Sowie ich die schmutzige, laute Straße hinter mir lasse und hier hereinkomme, bin ich in einer anderen Welt. Ein alter Wald mitten in London. Dies ist eine bengalische Feige, auch Banyan genannt. Sehen Sie sich diese Luftwurzeln an.«

»Wunderschön«, sagte ich noch einmal. »Wie aus einem Traum.«

»Lassen Sie sich Zeit. Es ist nicht leicht, den richtigen Baum für sich auszusuchen. Oder ist es ein Geschenk? Als Geschenk sind sie sehr beliebt, vor allem für Hochzeiten und Jahrestage.«

»Eigentlich bin ich gekommen, um Sie etwas zu fragen«, sagte ich. »Ich glaube, wir haben schon einmal miteinander gesprochen.«

»Ich spreche mit vielen Leuten.«

»Ich bin von Jay & Joiner. Sie haben für die Avalanche-Büros am Canary Wharf zwanzig Bonsais geliefert. Ich nehme an, ich war hier, um Ihnen zu sagen, dass Sie für Ihre Arbeit mehr berechnen sollten.«

»Abbie? Abbie Devereaux? Sie haben sich Ihr schönes Haar abschneiden lassen!«

»Ja.«

»Ich habe von Ihrer Firma tatsächlich mehr Geld bekommen. Und bei Ihnen habe ich mich mit einem Geschenk bedankt, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Ja«, antwortete ich, weil ich ihn nicht verletzen wollte.

In Wirklichkeit konnte ich mich an nichts erinnern. Mir schwirrte schon wieder der Kopf. Hinter mir gurgelte Wasser. Es klang wie ein Lachen. »Sie haben mir eine chinesische Ulme geschenkt, nicht wahr?«

»Ja, eine Ulme, weil Sie gesagt haben, Sie wollten einen Baum für drinnen. Zehn Jahre alt, wenn ich mich nicht täusche. Er hatte schon einen schönen dicken Stamm. Sie haben gesagt, Sie brauchten ihn als Geschenk.«

»Als Geschenk«, wiederholte ich. »Ja. Er war ein perfektes Geschenk. Aber heute wollte ich Sie lediglich fragen, ob Sie sich noch erinnern können, wann wir uns gesehen haben. An das genaue Datum, meine ich.«

Wie sich herausstellte, hatten wir uns zweimal gesehen, am Montag und ein zweites Mal am Mittwoch, dem sechzehnten. Ich war vor Aufregung ganz außer Atem und euphorisch zugleich. Immerhin hatte ich in meinem Zeitplan zwei Tage aufgeholt. Ich bedankte mich bei ihm und beschloss spontan, den Banyan-Baum zu kaufen. Ich konnte ihn Jo schenken, wenn ich sie endlich kennen lernte.

11

Als ich mich mit meinem Baum Jos Wohnung näherte, sah ich, dass mein Wagen inzwischen mit einer Parkkralle versehen worden war. Abgesehen von dem ursprünglichen Strafzettel, prangte auf der Windschutzscheibe jetzt ein großer Aufkleber, der mich aufforderte, nicht zu versuchen, das Fahrzeug zu bewegen. Außerdem war eine Telefonnummer angegeben, die ich wählen musste, um das Auto – nach Zahlung einer hohen Geldsumme –

wieder befreien zu lassen. Ich griff in meine Taschen, fand aber keinen Stift. So, wie der Wagen aussah, war er die Auslösesumme wahrscheinlich gar nicht mehr wert. Ich würde mich zu einem späteren Zeitpunkt darum kümmern.

Zumindest wusste ich im Moment, wo er war.

Ich hatte wirklich Wichtigeres zu tun. Der Schwangerschaftstest, den ich gekauft hatte, war ein Sonderangebot gewesen, fünfzehn Prozent Preisnachlass.

Es dauerte eine Weile, bis es meinen kalten, zitternden Fingern gelang, die Schachtel aus ihrer Plastikumhüllung zu befreien. Ich warf einen Blick auf das Verfallsdatum.

20.04.01. Daher also der Preisnachlass. Neun Monate über dem Verfallsdatum. War das relevant? Ergab ein solcher Test womöglich ein falsches Ergebnis?

Ich ging in Jos Bad, riss die innere Plastikverpackung auf und zog das Ding, das wie ein Füller mit einer riesigen Filzspitze aussah, aus seiner Hülse. Ich studierte die Gebrauchsanleitung auf der Schachtel. »Halten Sie den rosafarbenen Urinabsorbierer mindestens eine Sekunde in Ihren Urinstrahl.« Ich tat, wie mir geheißen. Anschließend schob ich den Stift zurück in die Hülse und warf einen weiteren Blick auf die Anleitung. »Nun warten Sie vier Minuten, ehe Sie das Ergebnis ablesen.« Vier Minuten.

Eine irritierend lange Zeit. Nachdem ich Slip und Hose wieder hochgezogen hatte, lohnte es sich nicht mehr, in der Zwischenzeit etwas anderes zu tun.

Nervös starrte ich auf die drei runden Sichtfenster. Sie verfärbten sich rosa, genau, wie es von ihnen erwartet wurde. Nun musste ich noch warten, bis das Rosa im mittleren Fenster wieder verschwand. Wer entwarf so etwas? Vermutlich ein Mann. Jemand wie dieser Ben aus der Designfirma. Was für eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich konnte mir aus eigener Erfahrung genau vorstellen, wie viele Besprechungen abgehalten worden waren, um über die optimale Form dieses Gegenstands zu entscheiden. Ich drehte den Stift so, dass ich das Fenster nicht sehen konnte. Es war definitiv eine wissenschaftliche Tatsache, dass der rosa Fleck im mittleren Fenster unter meinem nervösen Blick nicht in der Lage sein würde zu verblassen und ich, falls ich noch länger darauf starrte, zwangsläufig schwanger wäre.

Möglich war es. Ich hatte in meinem Kalender nachgesehen und festgestellt, dass meine Menstruation um den vierundzwanzigsten Januar herum fällig gewesen wäre. Heute war Freitag, der erste Februar. Natürlich konnte das daran liegen, dass ich mehrere Tage lang so gut wie gar nichts gegessen hatte und dabei vor Angst fast wahnsinnig geworden wäre. Der menschliche Körper reagiert in solchen Situationen sehr klug. Aber wenn ich tatsächlich schwanger war? Ich verwandte meine ganze Willenskraft darauf, mir auch nicht im Entferntesten vorzustellen, wie das wäre. Sich darauf zu konzentrieren, nicht an etwas zu denken, ist ungefähr so, als hätte man ein Nilpferd im Wohnzimmer stehen und würde krampfhaft versuchen, es nicht anzusehen. Doch ich musste ja nur zwei Minuten durchhalten oder sogar nur eine. Wahrscheinlich brauchte man gar nicht vier Minuten lang zu warten, deswegen drehte ich die Hülse wieder um und stellte fest, dass ich nicht schwanger war.

Vorsichtshalber las ich noch einmal auf der Verpackung nach, um ganz sicher zu gehen, dass ich mich nicht irrte.

Ich irrte mich nicht.

Ich öffnete eine Flasche von Jos Wein, um diese freudige Nachricht zu feiern. Beim ersten Schluck schoss mir durch den Kopf, dass das vielleicht nicht richtig von mir war. Gleich am nächsten Tag würde ich eine Flasche kaufen, um die getrunkene zu ersetzen. Noch immer plagte mich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich hier wie zu Hause benahm, und ich musste an Jos Post denken, die bestimmt ein paar Rechnungen enthielt. Bald würden Männer vorbeikommen und das Gas, den Strom und das Telefon kappen. Ich wohnte im Moment hier. Ich musste auch Verantwortung übernehmen. Möglicherweise hatte ich mit Jo vereinbart, dass ich mich während ihrer Abwesenheit um alles kümmern würde. Ich stellte mir vor, wie sie zur Tür hereinkommen und einen Haufen unbezahlter Rechnungen vorfinden würde, während ich in der Küche saß und ihren Wein vernichtete. Ich schenkte mein Glas erneut voll – fast bis zum Rand – und begann, die Verantwortung für Jos Post zu übernehmen.

Wie sich herausstellte, enthielt sie nicht viel, worum ich mich kümmern musste. Nachdem ich die Umschläge weggeworfen und dann sämtliche Zeitschriften, Kataloge, Angebote von Versicherungen und Einladungen zu diversen Veranstaltungen aussortiert hatte, blieb noch eine Handvoll Briefe übrig. Zum Teil handelte es sich tatsächlich um Rechnungen: Telefon, Gas, Strom, Kreditkarte. Rasch blätterte ich sie durch. Nur niedrige Beträge. Kein Grund zur Beunruhigung. Ich rechnete sie im Kopf grob zusammen und kam zu dem Ergebnis, dass keine hundert Pfund nötig sein würden, um sie alle zu bezahlen. Ich konnte sogar ihre Kreditkartenrechnung begleichen, denn sie belief sich lediglich auf magere einundzwanzig Pfund. Zu Jos Talenten zählte offenbar eine zen-buddhistische Kontrolle über ihre Finanzen. Der Rest ihrer Post bestand aus drei Briefen mit handgeschriebener Adresse und zwei Postkarten, auf die ich nur einen flüchtigen Blick warf und sie gut sichtbar auf dem Kaminsims deponierte.

Das Telefon klingelte. Ich nahm nicht ab. Diesbezüglich hatte ich beschlossen, Jo noch zwei Tage zu geben. Wenn sie bis dahin nicht zurück war, würde ich anfangen, ihre Anrufe entgegenzunehmen. Bis dahin ließ ich das Band laufen und hörte zu, wenn ein Freund oder eine Freundin eine Nachricht hinterließ. Hallo, hier ist Jeff oder Paul oder Wendy, ruf mich bitte zurück.

Vor dem Einschlafen dachte ich darüber nach, wen ich als Nächstes besuchen musste. Er war der letzte Mensch, den ich jetzt sehen wollte. Fast.

Todd Benson war sichtlich überrascht, mich vor seiner Tür stehen zu sehen. Ich hatte vorher nicht angerufen, war aber davon ausgegangen, ihn zu Hause anzutreffen.

»Abbie«, sagte er, als musste er sich erst versichern, dass ich es wirklich war, oder als würde er hoffen, dass ich es nicht war.

»Carol hat mir deine Adresse gegeben«, schwindelte ich.

»Ich habe sie angerufen und ihr gesagt, dass ich dich gern besuchen würde. Um mich zu erkundigen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Da ich gerade in der Gegend war, dachte ich mir, ich schaue kurz vorbei.«

Letzteres entsprach ebenfalls nicht der Wahrheit. Todd wohnte in einer Souterrain-Wohnung an einem schicken Platz am südlichen Flussufer. Ein Stück konnte man mit der U-Bahn fahren, der restliche Weg bestand aus einem strammen Fußmarsch. Die Adresse stammte aus der Akte, und Carol hatte ich gar nichts erzählt. Ich hatte das nur behauptet, um mich ein bisschen sicherer zu fühlen.

Todd bat mich achselzuckend herein. Ich hatte damit gerechnet, dass er entweder sehr unfreundlich oder sehr deprimiert sein würde, doch er war einfach höflich und bot mir sogar einen Kaffee an. Während er ihn zubereitete, betrachtete ich ihn.

Er trug ein graues T-Shirt, eine violette Jogginghose und Mokassins, also nicht gerade ein schickes Büro-Outfit.

Den letzten Überrest von Jay & Joiner verkörperte seine Designerbrille, die einen derart dicken Rahmen hatte, dass sie wie eine Schweißerbrille aussah. Nachdem er mir meine Tasse Kaffee gereicht hatte, standen wir uns in seiner Küche verlegen gegenüber. Ich legte beide Hände um die Tasse, weil meine Finger von dem eisigen Nordwind, der draußen wehte, noch immer klamm waren.

»Du siehst noch schlimmer aus als ich«, stellte er fest.

»Ich habe auch eine schwere Zeit hinter mir«, erklärte ich.

»Ich habe unbezahlten Urlaub genommen.«

»Genau wie ich.«

Ich war nicht sicher, inwieweit das von ihm scherzhaft gemeint war.

»Sozusagen«, antwortete ich vorsichtig. »Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich bin von jemandem niedergeschlagen worden.«

»Von wem?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben noch niemanden gefasst.

Ich war ernsthaft verletzt und eine Folge davon ist, dass ich mich an die letzten Wochen nur sehr vage erinnern kann.«

Er nippte an seinem Kaffee.

»Es freut mich nicht, das zu hören«, sagte er.

»Das habe ich auch nicht angenommen«, antwortete ich, eher irritiert als beruhigt.

»Ich bin nicht wütend auf dich.«

»Was passiert ist, tut mir Leid.«

»Nein«, unterbrach er mich. »Du hast mir einen Gefallen getan. Ich glaube, ich bin durchgedreht.«

»Ich bin nicht sicher …«

»In den vergangenen Wochen stand ich die meiste Zeit völlig neben mir und sah mir selbst dabei zu, wie ich mein Leben ruinierte. Weißt du, ich wollte immer erfolgreich sein, und bis zu einem gewissen Grad hat sich der Erfolg auch eingestellt. Während der letzten zwei Wochen habe ich viel über dieses Thema nachgedacht und bin auch zu einem Ergebnis gekommen. Ich hatte vermutlich immer das Gefühl, dass mich die Leute nur dann lieben würden, wenn ich Erfolg hatte. Liebe war in meinen Augen eine Belohnung für Leistung. Ich glaube, ich musste erst alles komplett vermasseln, um endlich eine klare Trennlinie zwischen meinem Arbeits- und meinem Gefühlsleben ziehen zu können. Eigentlich sollte ich mich bei dir entschuldigen. Aufgrund meines Verhaltens warst du plötzlich gezwungen, die Dreckarbeit für mich zu erledigen. Das tut mir Leid, Abbie, es tut mir so Leid!«

Auf einmal fing Todd mitten in seiner Küche zu weinen an, bis sein Gesicht vor lauter Tränen ganz nass war. Ich stellte meine Kaffeetasse auf seinem Küchentisch ab. Ich hatte nicht vor, Todd zu umarmen, ganz bestimmt nicht.

Das wäre heuchlerisch gewesen. Andererseits konnte ich auch nicht nur einfach so dastehen. Also trat ich zwei Schritte vor und legte meine Hand auf seine Schulter. Das Problem war schnell gelöst, weil Todd einfach die Arme um mich schlang und mich schluchzend an sich drückte.

Eine Seite meines Halses wurde nass von seinen Tränen.

Es war mir unmöglich, seine Umarmung nicht auf irgendeine Weise zu erwidern. Doch ich umarmte ihn nicht richtig fest, sondern legte locker die Arme um ihn und tätschelte leicht seine Schulterblätter.

»Todd«, sagte ich schwach. »Es tut mir Leid.«

»Nein, nein, Abbie«, schluchzte er. »Du bist wirklich ein guter Mensch.«

Für einen Moment drückte ich ihn ein wenig fester an mich, dann löste ich mich von ihm. Ich ging zum Spülbecken, riss ein Stück von seiner Küchenrolle ab und reichte es ihm, woraufhin er sich die Nase putzte und das Gesicht abtupfte.

»Ich habe viel nachgedacht«, sagte er. »Es war alles in allem wirklich eine positive Zeit für mich.«

»Das ist gut«, antwortete ich. »Das freut mich zu hören.

Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mit dir gern über das sprechen, was ich bereits erwähnt habe: meine sehr vagen Erinnerungen an die vergangenen Wochen. Zum Beispiel weiß ich beim besten Willen nicht mehr, dass ich bei Jay & Joiner unbezahlten Urlaub genommen habe.

Deswegen treffe ich mich im Moment mit allen Personen, von denen ich annehme, dass sie mir etwas über diese Zeit erzählen können. Dinge, die ich vergessen habe.« Ich sah Todd in die Augen. »Manche mögen behaupten, wir hätten uns im Streit getrennt. Ich habe mich gefragt, ob wir noch Kontakt hatten, nachdem du … na ja, gegangen bist.«

Todd rieb sich die Augen. Sein Gesicht war rot und ein wenig aufgequollen.

»Ein paar Tage ist es mir ziemlich schlecht gegangen«, sagte er. »Ich war voll Bitterkeit, fühlte mich von allen verraten, doch je länger ich darüber nachdachte, desto besser wurde es. Als du dich gemeldet hast, ging es mir schon wieder richtig gut.«

»Als ich mich gemeldet habe? Wie meinst du das?«

»Du hast mich angerufen.«

»Wann war das?«

»Vor zwei, drei Wochen.«

»Ich meine, genau.«

Todd überlegte einen Moment. Nachdenklich fuhr er mit der Hand über sein stoppeliges Haar.

»Es war einer von den Tagen, an welchen ich ins Fitness-Studio gehe. Sie haben mir die Mitgliedschaft nicht gekündigt, musst du wissen. Gott sei Dank.

Demnach muss es an einem Mittwoch gewesen sein.

Nachmittag.«

»Am Mittwochnachmittag. Gut. Und was habe ich gesagt?«

»Nicht viel. Du warst sehr nett. Du wolltest nur wissen, ob bei mir alles in Ordnung sei.«

»Warum?«

»Aus Nettigkeit. Du hast gesagt, da wären ein paar Dinge, die dein Gewissen belasteten und die du aus der Welt schaffen wolltest. Ich gehörte auch dazu.«

»Habe ich sonst noch was gesagt?«

»Du hast mir von deinem unbezahlten Urlaub erzählt.

Und von der Avalanche-Geschichte. Du warst wundervoll.

Du hast dich glücklich angehört. Auf eine ehrliche Art, meine ich.«

Ich überlegte einen Moment, rekapitulierte die verlorenen Tage ein weiteres Mal. Dann blickte ich auf.

»Du glaubst also, man kann auch auf eine unehrliche Art glücklich sein?«

Ich schrieb eine Neufassung meiner »Verlorenen Tage«

und unterstrich die Daten ordentlich. Das Ergebnis sah ungefähr so aus:

Freitag, 11. Januar: Showdown bei Jay & Joiner.

Wütender Abgang.

Samstag, 12. Januar: Streit mit Terry. Wütender Abgang. Übernachtung bei Sadie.

Sonntag, 13. Januar: Vormittags Wechsel von Sadie zu Sheila und Guy. Shoppingorgie mit Robin, viel zu viel Geld ausgegeben. Gegen Abend Drink mit Sam. Rückkehr zu Sheila und Guy.

Montag, 14. Januar. Treffen mit Ken Lofting, Mr. Khan, Ben Brody und Gordon Lockhart. Telefongespräch mit Molte Schmidt. Wagen vollgetankt. Anruf bei Sheila und Guy, dass ich nicht bei ihnen übernachte.

Dienstag, 15. Januar: Rückkehr zu Sheila und Guy, wo ich Nachricht hinterlasse, dass ich anderswo untergekommen bin. Mitnahme meiner Sachen. Anruf bei Terry wegen Abholung meiner Sachen am folgenden Tag.

Buchung eines Venedig-Urlaubs. Essenbestellung beim Inder.

Mittwoch, 16. Januar: Kauf eines Bonsai. Telefonat mit Robin. Abholung meiner Sachen bei Terry. Telefonat mit Todd.

Donnerstag, 17. Januar:

Der Donnerstag war noch eine Leerstelle. In Großbuchstaben schrieb ich: »PILLE DANACH« und

»JO«. Dann machte ich mir einen Kaffee, starrte aber so lange auf mein Blatt Papier, dass er kalt wurde.

12

Solange ich etwas zu tun hatte, ging es mir gut. Ich musste lediglich dafür sorgen, dass ich immer beschäftigt war, nicht zum Nachdenken kam, denn sonst schlugen die Erinnerungen wie eisige Wassermassen über mir zusammen, und ich fand mich wieder in der Dunkelheit, wo Augen mich anstarrten und Finger mich berührten.

Nein, an diesen Ort durfte ich nicht mehr denken.

Zunächst kümmerte ich mich um den Kühlschrank, entsorgte die alten Lebensmittel und säuberte die Fächer.

Anschließend musste ich natürlich zum Einkaufen und die Vorräte wieder auffüllen. Ich ging in die Camden High Street, wo ich die Bank aufsuchte und zweihundertfünfzig Pfund von meinem Konto abhob. Mein noch vorhandenes Guthaben schrumpfte rasch, und es bestand keine unmittelbare Aussicht auf Nachschub. Ich kaufte Satsumas, Äpfel, Salat, Käse, Kaffee und Tee, Brot, Butter, Eier, Joghurt, Honig, zwei Flaschen Wein, eine rot, eine weiß, sechs Flaschen Weizenbier, außerdem Chips und Oliven. Anschließend besorgte ich Waschpulver und Toilettenpapier. Obwohl ich mich in Jos Wohnung immer noch ein wenig fremd und seltsam fühlte, machte ich es mir zunehmend gemütlich: Ich nahm lange Bäder, wusch meine Wäsche, stellte die Zentralheizung so ein, wie es mir angenehm war, kochte mir köstliche Mahlzeiten und zündete Kerzen an, wenn die Nacht hereinbrach. Trotzdem wartete ich stets darauf, dass sich ein Schlüssel im Schloss drehen und Jo zur Tür hereinspazieren würde, und hatte gleichzeitig Angst, dass sie niemals kommen würde. Für mich war sie in ihrer eigenen Wohnung wie ein Geist präsent, und auf unerklärliche Weise verfolgte sie mich.

Beladen mit Plastiktüten, die in meine handschuhlosen Finger einschnitten, schleppte ich mich zur Wohnung zurück. Ich musste immer wieder stehen bleiben, um mich auszuruhen und die mir langsam entgleitenden Tüten fest in die Hand zu nehmen. Ein Mann bot mir seine Hilfe an, als ich mich gerade nach Luft ringend über meine Einkäufe beugte.

»Ich komme allein zurecht«, fauchte ich ihn an. Der freundliche Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht.

In der Wohnung nahm ich drei Umschläge aus Jos Schreibtisch und steckte in einen fünfzehn Pfund, für Terry. In dem Umschlag für Sheila und Guy landeten fünfundfünfzig, in dem dritten für Sam neunzig Pfund. Ich nahm mir fest vor, später eine Pilgerreise zu unternehmen, meine Schulden zu bezahlen und mich bei allen zu bedanken.

Plötzlich fiel mir ein, dass ich mein Handy noch nicht als vermisst gemeldet hatte. Das hätte ich längst tun sollen.

Ich wählte bereits die entsprechende Nummer, als mir ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss. Vor Schreck zogen sich meine Eingeweide zusammen, und ich legte rasch den Hörer wieder auf, als könnte er mich beißen.

Erneut verließ ich die Wohnung und ging die Maynard Street entlang, danach eine andere Straße, bis ich an eine funktionierende Telefonzelle gelangte. Drinnen roch es nach Urin, und die gesamte Zelle war mit Karten vollgeklebt, auf welchen Massagen und Französischstunden angeboten wurden. Ich warf zwanzig Pence ein und wählte. Es läutete dreimal, dann nahm jemand ab.

»Hallo?«, sagte ich.

Ich bekam keine Antwort, hörte am anderen Ende aber jemanden atmen.

»Hallo, wer ist bitte dran? Hallo? Hallo?«

Die Atemgeräusche waren immer noch zu hören. Ich musste an pfeifendes Lachen in der Dunkelheit denken, eine Kapuze, Hände, die mich von einem Mauervorsprung hoben, auf einen Kübel setzten. Erst jetzt wurde mir vollends klar, was ich da eigentlich tat, und diese Erkenntnis ließ mich nach Luft ringen. Dennoch gelang es mir, ein paar Worte zu stammeln: »Kann ich bitte mit Abbie sprechen?«

Eine Stimme, von der ich nicht genau wusste, ob sie mir vertraut vorkam oder nicht, antwortete: »Sie ist im Moment nicht da.« Inzwischen tropfte mir der Schweiß von der Stirn, und der Telefonhörer fühlte sich in meiner Hand ganz glitschig an. Die Stimme fuhr fort: »Ich kann ihr aber ausrichten, dass Sie angerufen haben. Mit wem spreche ich?«

»Jo«, hörte ich mich sagen. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. In meinem Hals stieg Galle hoch.

Die Verbindung wurde unterbrochen. Einige Sekunden lang war ich wie gelähmt und behielt den Hörer in der Hand. Ein gehbehinderter Mann blieb vor der Telefonzelle stehen und klopfte mit einer seiner Krücken gegen das Glas. Ich legte den Hörer auf, stürmte aus der Zelle und rannte zur Wohnung zurück, als würde ich verfolgt werden.

Ich hatte die Tüte mit den Dingen, die ich mitgenommen hatte, als ich das Krankenhaus verließ – die Kleider, die ich getragen hatte, als ich gefunden worden war, und die Kleinigkeiten, die im Krankenhaus hinzugekommen waren

–, in den Kleiderschrank gestellt. Jetzt durchwühlte ich sie hektisch und fand zu meiner großen Erleichterung die Karte, die Inspector Cross mir gegeben hatte. Ich wählte seine Nummer, er hob sofort ab.

Es war kein besonders großes Vergnügen, wieder mit Cross zu sprechen. Bei unserem letzten Treffen im Krankenhaus war er eher verlegen, aber auch recht mitfühlend gewesen. Vielleicht war auch mitleidig das treffendere Wort – doch es war ein Mitleid gewesen, das mich zu dem Zeitpunkt mit Wut, Scham und Entsetzen erfüllt hatte und mir auch jetzt noch ein mulmiges Gefühl verursachte. Ich sagte, ich hätte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen, würde aber unter keinen Umständen einen Fuß ins Polizeipräsidium setzen, und ob er eventuell zu mir kommen könne. Er antwortete, es sei vermutlich ohnehin besser, wenn er außerhalb seiner Dienstzeit mit mir sprechen würde. Ich kam mir vor, als hätte ich ihn um etwas Illegales gebeten. Wir vereinbarten, dass er kurz nach fünf Uhr zu mir in die Wohnung kommen würde.

Unser Gespräch dauerte knapp eine Minute. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, war mir so unwohl, dass ich zwei Tabletten nehmen musste, ein Glas Wasser hinterherkippte und mich dann eine Weile auf mein Bett legte, mit dem Gesicht nach unten, die Augen geschlossen.

Hatte ich tatsächlich mit ihm gesprochen? Ich wusste es nicht, aber das Gefühl, das ich in der Telefonzelle gehabt hatte – ein Gefühl, das man sonst nur in einem Alptraum hat, kurz bevor man aus dem Schlaf hochschreckt, ein Gefühl des Fallens, als würde man in einen dunklen Abgrund stürzen –, war so stark gewesen, dass ich mich noch immer schwindlig und zittrig fühlte.

Bis zu Cross’ Eintreffen blieben mir zwei Stunden.

Wenn man es vor Angst und Einsamkeit kaum aushält, ist das eine lange Zeit. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein, schüttete ihn dann aber in den Ausguss, statt ihn zu trinken. Ich bestrich eine Scheibe Toast mit Marmite.

Nachdem ich sie gegessen hatte, löffelte ich ein wenig Joghurt in eine Schüssel und rührte Honig darunter. Eine wohltuende Mischung. Hinterher trank ich eine große Tasse Tee. Dann beschloss ich, mich umzuziehen. Es war wohl das Beste, wenn ich etwas Schlichtes, Respektables trüge – etwas, in dem ich wie ein rational denkendes Wesen mit gesundem Menschenverstand aussah und nicht wie eine Irre, die Geschichten über Entführungen und Mörder erfand. Ich entschied mich für eine beigefarbene Hose und einen Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt – das Outfit, das ich immer getragen hatte, wenn ich zu einer Besprechung mit der Finanzabteilung unserer Firma musste. Das Problem bestand jedoch darin, dass ich nicht mehr dieselbe war. Meine alten Sachen schlackerten immer noch um meinen Körper, so dass ich ein bisschen aussah wie ein Kind, das sich mit Erwachsenenmode kostümierte. Meine Haare waren erbärmlich kurz und stachlig, und weder Farbe noch Schnitt passten zu Kaschmir und edlem Beige mit Bügelfalten. Resigniert betrachtete ich mein Spiegelbild. Schließlich schlüpfte ich in eine alte Jeans, die ich mit einem Gürtel zusammenzog, und in ein rotes Flanell-T-Shirt, das ich in meinem Schrank fand, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, es gekauft zu haben.

Ich musste wieder an mein Handy denken. Sollte ich es nun, da ich davon ausgehen musste, dass es sich in seinem Besitz befand, sperren lassen oder nicht? Ich konnte mich nicht entscheiden. Für mich war dieses Telefon eine Art unsichtbarer Faden, der sich zwischen uns spannte. Ich konnte ihn durchschneiden oder versuchen, ihm zu folgen

– aber würde ich ihm aus dem Labyrinth hinaus folgen oder wieder hinein?

Ich warf einen Blick auf die Blätter mit den Notizen, die ich an die Wand geklebt hatte. Offensichtlich war ich frühestens am Mittwoch entführt worden, am Spätnachmittag oder Abend. Half mir das weiter? Nein.

Ich rief Sadie an, nur um Hallo zu sagen, doch sie war nicht zu Hause, und ich hinterließ keine Nachricht. Ich überlegte kurz, ob ich Sheila und Guy anrufen sollte, entschied mich aber dagegen. Morgen. Das würde ich morgen tun. Ich trat ans Fenster und beobachtete die vorübereilenden Menschen. Vielleicht wusste er, wo ich war. Vielleicht war dies genau der Ort, an dem ich mich vor meiner Entführung aufgehalten hatte. Versteckte ich mich womöglich an dem einzigen Ort, von dem er sicher sein konnte, dass er mich dort finden würde?

Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte, bis Cross kam. Ich hatte das starke Bedürfnis, mich zu beschäftigen und in Bewegung zu bleiben, mir selbst dringende Aufgaben und unverschiebbare Ultimaten zu stellen, weil ich mir auf diese Weise einreden konnte, ihm immer einen Schritt voraus zu sein. Rastlos spazierte ich in Jos ordentliches Zimmer hinüber und inspizierte die Schubladen ihrer Kommode. Alles lag in Reih und Glied, fein säuberlich zusammengelegt, sogar ihre Slips. Ich öffnete die rechteckige Lederschatulle, die oben auf der Kommode stand und betrachtete die wenigen Paar Ohrringe, die feine goldene Halskette, die fischförmige Brosche. Zwischen dem Schmuck lag ein kleines Stück weiße Pappe. Als ich es umdrehte, stellte ich fest, dass es mit einem vierblättrigen Kleeblatt beklebt war.

Anschließend inspizierte ich die Bücher auf ihrem Nachttisch. Es handelte sich um ein thailändisches Kochbuch, einen Roman eines Autors, dessen Namen ich noch nie gehört hatte, und eine Anthologie »101 fröhliche Gedichte«.

Außerdem lag eine unbeschriftete Videokassette auf dem Nachttisch. Ich kehrte damit ins Wohnzimmer zurück und schob sie in den Videorekorder. Nichts. Anscheinend war die Kassette leer. Ich spulte vor. Plötzlich tauchte eine verschwommene Schulter auf, dann schwenkte die Kamera ruckartig auf ein Bein. Dieses Video war offensichtlich von einem Anfänger aufgenommen worden.

Ich beugte mich vor und wartete.

Jos lächelndes Gesicht tauchte auf. Bei ihrem Anblick wurde mir mulmig. Dann wich die Kamera zurück, man sah Jo in der Küche am Herd stehen und etwas umrühren.

Sie wandte den Kopf und schnitt eine Grimasse, die offenbar der Person hinter der Kamera galt. Sie trug den Morgenmantel, der jetzt an ihrer Schlafzimmertür hing, und ihre mokassinähnlichen Hausschuhe. Ob das Video am Morgen oder am Abend aufgenommen war, ließ sich schwer sagen. Der Film brach ab, Linien zuckten über den flimmernden Bildschirm, dann sah ich plötzlich mich selbst. Bevor es passiert war. Ich trug eine Jogginghose und saß ungeschminkt im Schneidersitz auf meinem Sessel, ein Glas Wein in der Hand. Mein Haar – mein altes, langes Haar – war zu einer wilden Hochsteckfrisur aufgetürmt.

Lächelnd hob ich mein Glas zu einem Toast und warf eine Kusshand in Richtung Kamera, die sich auf mich zubewegte, bis mein Gesicht verschwamm.

Nach dem Flimmern setzte plötzlich ein Schwarzweißfilm ein, in dem eine Reiterin mit einem federverzierten Hut im Damensitz dahingaloppierte. Ich spulte weiter, doch nach dem Film, der bis zum Abspann aufgenommen war, kam nichts mehr. Ich spulte zurück und starrte ein weiteres Mal auf Jos lächelndes Gesicht.

Dann auf mein eigenes. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so glücklich ausgesehen hatte. Das musste schon lange her sein. Als ich mit den Fingern über meine Wangen strich, stellte ich fest, dass ich weinte.

Ich schaltete den Fernseher aus und legte die Videokassette in Jos Zimmer zurück, auf das Buch mit den fröhlichen Gedichten. Erst jetzt entdeckte ich auf ihrem Schrank neben einem Fernglas und einem Kassettenrekorder die Videokamera. Im Wohnzimmer läutete zweimal das Telefon, ehe sich der Anrufbeantworter einschaltete. Nach einer Pause sagte eine Stimme: »Hallo, Jo, ich bin’s. Wollte mich nur wegen heute Abend noch mal melden. Wenn ich nichts von dir höre, gehe ich davon aus, dass du Zeit hast.« Er hinterließ keinen Namen. Irgendwo würde abends jemand auf Jo warten, ein Freund oder ein Geliebter. Aus einem spontanen Impuls heraus wählte ich die 1471, konnte die Nummer des Anrufers aber nicht in Erfahrung bringen.

Wahrscheinlich hatte er von einem Büro aus angerufen.

Ein paar Minuten später klingelte das Telefon erneut. Ich nahm sofort ab.

»Hallo?«, meldete ich mich.

»Jo?«, fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende.

Bevor ich antworten konnte, legte die Anruferin ziemlich laut und zornig los: »Jo, hier spricht Claire Benedict. Wie Sie wahrscheinlich wissen, habe ich schon Dutzende von Nachrichten auf Ihrem Band hinterlassen, auf die Sie nie reagiert haben, aber …«

»Nein, hier ist …«

»Ihnen ist sicher klar, dass Ihre Arbeit mittlerweile in der Druckerei sein sollte.«

»Hören Sie, hier ist nicht Jo, sondern eine Freundin von ihr. Abbie. Tut mir Leid.«

»Oh! Können Sie mir vielleicht sagen, wo Jo ist? Wie Sie wahrscheinlich mitbekommen haben, muss ich sie dringend sprechen.«

»Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Oh. Wenn Sie sie sehen, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich angerufen habe. Claire Benedict von ISP. Sie weiß dann schon, worum es geht.«

»Ja, aber das ist ja gerade das Problem. Sie scheint verschwunden zu sein. Wann hätte sie ihre Arbeit denn abgeben müssen?«

»Verschwunden?«

»Nun ja, ich bin mir nicht sicher.«

»Sie hätte ihren formatierten Text spätestens am Montag, dem einundzwanzigsten Januar bei uns einreichen sollen. Sie hat nie etwas von Terminschwierigkeiten gesagt. Sie hat sich einfach nicht mehr bei uns gemeldet.«

»Wissen Sie, ob sie sonst zuverlässig ist?«

»Ja. Sehr sogar. Hören Sie, war das vorhin ihr Ernst?

Dass sie verschwunden ist?«

»Ich werde Sie anrufen, sobald ich Genaueres weiß, in Ordnung? Moment, ich notiere mir Ihre Nummer.«

Nachdem ich sie auf die Rückseite von einem der noch ungeöffneten Briefumschläge gekritzelt hatte, legte ich auf.

In dem Augenblick klingelte es an der Tür.

Eine Schrecksekunde lang glaubte ich, aus Cross wäre ein anderer Mensch geworden. Ich hatte ihn immer nur im Anzug gesehen, mit ordentlich zurückgekämmtem Haar und undurchdringlicher Miene. Jetzt trug er eine alte braune Kordhose, einen dicken Pulli und eine blaue Steppjacke, deren Kapuze er sich über den Kopf gezogen hatte. Er sah aus, als würde er draußen im Garten stehen und in einem Lagerfeuer herumstochern. Oder mit seinen Kindern spielen. Hatte er überhaupt Kinder? Nur seine stirnrunzelnde Miene war noch dieselbe.

»Hallo«, sagte ich und trat zurück, um ihn eintreten zu lassen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr Kommen.«

»Abbie?«

»Mein neuer Look. Gefalle ich Ihnen?«

»Ganz schön kühn.«

»Das ist meine Tarnung.«

»Verstehe.« Er schien sich ziemlich unbehaglich zu fühlen.

»Auf jeden Fall sehen Sie viel besser aus. Gesünder.«

»Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Gern.« Er blickte sich um. »Sie haben eine nette Wohnung gefunden.«

»Ich weiß selbst nicht so recht, wie ich sie gefunden habe.«

Cross sah mich fragend an, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Statt dessen fragte er: »Wie geht es Ihnen?«

»Ich werde vor Angst fast wahnsinnig.« Ich war gerade dabei, das kochende Wasser über die Teebeutel zu gießen, und stand mit dem Rücken zu ihm. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich Sie sehen wollte. Ich habe neue Informationen. Nehmen Sie Zucker?«

»Einen Löffel, bitte.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht einmal einen Keks anbieten. Aber ich könnte Ihnen einen Toast machen.«

»Ich habe keinen Hunger, danke. Ist Ihnen etwas eingefallen?«

»Nein, leider nicht.« Ich reichte ihm den Tee und nahm ihm gegenüber auf meinem Sessel Platz. »Trotzdem würde ich gern über zwei Dinge mit Ihnen sprechen. Zum einen glaube ich, dass ich gerade mit ihm gesprochen habe.«

Er verzog keine Miene. »Mit ihm?« Sein Ton klang höflich.

»Mit dem Mann, der mich entführt hat. Mit ihm

»Sie sagen, Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Am Telefon.«

»Er hat Sie angerufen?«

»Nein, ich habe ihn angerufen – ich meine, ich habe mein Handy angerufen, weil es verschwunden ist, und er hat den Anruf angenommen. Ich wusste es sofort. Und er wusste, dass ich es wusste.«

»Langsam. Sie haben die Nummer Ihres verloren gegangenen Mobiltelefons gewählt, es ist jemand drangegangen, und nun glauben Sie, dass es der Mann war, von dem Sie behaupten, er habe Sie entführt.«

»Ich behaupte gar nichts«, entgegnete ich.

Cross trank einen Schluck Tee. Er wirkte ziemlich müde.

»Wie hieß der Mann, der ans Telefon gegangen ist?«

»Das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht nach seinem Namen gefragt – er hätte ihn mir ohnehin nicht genannt.

Außerdem hatte ich plötzlich schreckliche Angst und das Gefühl, gleich umzukippen. Ich habe nur gesagt, dass ich gern mit Abbie sprechen würde.«

Er rieb sich die Augen. »Oh.« Das war alles, was ihm dazu einfiel.

»Ich wollte nicht, dass er mich erkennt, aber ich glaube, er hat trotzdem gemerkt, dass ich es war.«

»Abbie, in London wird jede Sekunde irgendwo ein Handy gestohlen. Das gleicht einer Epidemie.«

»Dann hat er mich nach meinem Namen gefragt, und ich habe mich als Jo ausgegeben.«

»Jo«, wiederholte er.

»Ja. Diese Wohnung gehört einer Frau namens Jo.

Josephine Hooper. Ich muss sie irgendwie kennen gelernt haben, kann mich aber nicht daran erinnern. Ich weiß lediglich, dass ich hier eingezogen bin, als sie noch da war. In der Woche vor meiner Entführung.« Letzteres sagte ich in sehr entschiedenem Ton. Er nickte und starrte dabei in seine Teetasse. »Das ist der zweite Punkt, über den ich mit Ihnen sprechen wollte: Sie ist verschwunden.«

»Verschwunden.«

»Ja. Sie ist verschwunden, und ich bin der Meinung, die Polizei sollte das ernst nehmen. Es könnte etwas mit dem zu tun haben, was mir passiert ist.«

Cross stellte seine Teetasse zwischen uns auf den Tisch.

Er griff in seine Hosentasche und zog ein großes weißes Taschentuch heraus. Nachdem er sich lautstark die Nase geputzt hatte, faltete er das Taschentuch umständlich wieder zusammen und stopfte es in seine Tasche zurück.

»Sie möchten sie als vermisst melden?«

»Jedenfalls ist sie nicht hier, oder?«

»Sie sagen, Sie können sich nicht daran erinnern, wie Sie sie kennen gelernt haben?«

»Nein.«

»Obwohl Sie in ihrer Wohnung wohnen.«

»Das ist richtig.«

»Bestimmt hat diese Frau eine Familie, Freunde, Arbeitskollegen.«

»Ständig rufen Leute an. Gerade habe ich mit einer Frau gesprochen, für die sie arbeitet. Einer Art Lektorin, glaube ich.«

»Abbie, Abbie.« Sein beruhigender Tonfall machte mich wütend. »Inwiefern sind Sie der Meinung, dass diese Frau verschwunden ist?«

»Insofern, als sie nicht hier ist, aber eigentlich hier sein sollte.«

»Warum?«

»Sie hat zum Beispiel ihre Rechnungen nicht bezahlt.«

»Wenn Sie diese Jo gar nicht kennen, wie zum Teufel sind Sie dann eigentlich in diese Wohnung gekommen?«

Ich erzählte es ihm. Ich erzählte ihm von Terry, meinem abgeschleppten Auto, der Restaurantrechnung und dem Schlüssel. Von dem verrottenden Müll, den vertrockneten Blumen, der wütenden Lektorin, die mich am Telefon angeschrien hatte. Meine Geschichte klang nicht ganz so überzeugend, wie ich gehofft hatte, aber ich ließ mich nicht aus dem Konzept bringen. Schließlich zeigte ich ihm noch das Beweisvideo von Jo und mir.

»Vielleicht ist diese Frau, an die Sie sich nicht erinnern können, einfach nur in Urlaub, und Sie sollen auf die Wohnung aufpassen«, meinte er.

»Vielleicht.«

»Vielleicht hat sie Sie gebeten, sich um den Müll und die Rechnungen zu kümmern.«

»Ich habe mich darum gekümmert.«

»Na bitte.«

»Sie glauben mir nicht.«

»Was gibt es da zu glauben?«

»Sie ist verschwunden.«

»Niemand hat sie als vermisst gemeldet.«

»Hiermit melde ich sie als vermisst.«

»Aber … aber …« Er schien vor Verblüffung nicht die richtigen Worte zu finden. »Abbie, Sie können nicht einfach einen Menschen vermisst melden, von dem Sie so gut wie gar nichts wissen. Sie kennen diese Frau doch gar nicht. Woher wollen Sie wissen, wo sie zur Zeit sein oder nicht sein sollte?«

»Ich bin mir ganz sicher«, gab ich hartnäckig zurück.

»Ich bin mir sicher, dass hier irgendetwas nicht stimmt.«

»Abbie«, sagte er in sanftem Ton. Resigniert zwang ich mich, ihm in die Augen zu sehen. Er wirkte weder gereizt noch wütend, nur sehr ernst. »Erst melden Sie sich selbst als vermisst, ohne Beweise liefern zu können. Jetzt melden Sie Josephine Hooper als vermisst«. Er legte eine Pause ein. »Wieder ohne Beweise. Sie tun sich damit keinen Gefallen, Abbie.«

»Und damit ist die Sache für Sie erledigt? Und wenn ich Recht habe und sie in Gefahr ist oder noch schlimmer?«

»Wissen Sie was?«, antwortete er freundlich. »Ich rufe jetzt bei meinen Kollegen an und versuche herauszufinden, ob sich sonst noch jemand wegen ihres Verschwindens Sorgen gemacht hat. Einverstanden?«

»In Ordnung.«

»Darf ich Ihr Telefon benutzen?«

»Jos Telefon. Natürlich.«

Während er seine Anrufe tätigte, ging ich in Jos Schlafzimmer und setzte mich auf ihr Bett. Ich brauchte dringend einen Verbündeten, jemanden, der an mich glaubte. Ich hatte Cross angerufen, weil ich der Meinung gewesen war, er könnte trotz allem, was passiert war, auf meiner Seite stehen. Ich schaffte das nicht allein.

Ich hörte ihn sein Gespräch beenden und ging wieder zu ihm hinüber.

»Und?«

»Josephine Hooper ist bereits von jemandem als vermisst gemeldet worden«, erklärte er.

»Sehen Sie!« sagte ich. »Von einer Freundin?«

»Von Ihnen.«

»Wie bitte?«

»Sie haben sie als vermisst gemeldet. Am Donnerstag, den siebzehnten Januar haben sie vormittags um halb zwölf im Revier von Milton Green angerufen.«

»Na bitte!«, sagte ich trotzig.

»Offenbar war sie da nicht einmal einen ganzen Tag verschwunden.«

»Verstehe.«

Ich verstand tatsächlich, und zwar mehrere Dinge gleichzeitig: dass Cross nicht mein Verbündeter sein würde, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, nett zu mir zu sein. Dass ich in seinen Augen, und vielleicht auch in den Augen der anderen, hysterisch und von einer fixen Idee besessen war. Und dass ich mich am Donnerstag, dem siebzehnten Januar, noch in Freiheit befunden hatte.

Jack Cross kaute auf seiner Unterlippe. Er machte einen besorgten Eindruck, aber seine Sorge galt wohl in erster Linie mir.

»Ich würde Ihnen gerne helfen«, sagte er. »Aber …

vermutlich ist sie auf Ibiza.«

»Ja«, antwortete ich in bitterem Ton. »Danke.«

»Gehen Sie schon wieder zur Arbeit?«

»Nein«, erwiderte ich. »Das gestaltet sich komplizierter, als ich dachte.«

»Das täte Ihnen aber gut«, meinte er. »Sie brauchen wieder ein Ziel im Leben.«

»Mein Ziel ist, am Leben zu bleiben.«

Er seufzte.

»Ja. Wenn Sie auf irgendetwas stoßen, womit ich was anfangen kann, rufen Sie mich an.«

»Ich bin nicht verrückt«, erklärte ich. »Ich mag Ihnen vielleicht verrückt vorkommen, aber ich bin es nicht.«

»Ich bin nicht verrückt«, sagte ich noch einmal zu mir selbst, als ich mit einem Waschlappen über dem Gesicht in der Badewanne lag. »Ich bin nicht verrückt.«

Anschließend schlüpfte ich wieder in meine weite Jeans und mein rotes T-Shirt, wickelte ein Handtuch um mein Haar, schaltete den Fernseher ein und ließ mich im Schneidersitz auf dem Sofa nieder. Nervös zappte ich durch die Kanäle. An diesem Abend wollte ich keine Stille. Ich wollte andere Gesichter und andere Stimmen bei mir im Raum haben – freundliche Gesichter und Stimmen, die mir das Gefühl gaben, nicht mehr allein zu sein.

Wieder klingelte es an der Haustür.

13

Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Niemand außer Cross wusste, dass ich hier war. Ich öffnete die Tür.

Mir war sofort klar, dass ich ihn kannte, aber mir fiel nicht gleich ein, wo wir uns schon mal begegnet waren.

»Hallo«, sagte er. »Ist Jo …?« In dem Moment erkannte er mich ebenfalls und sah, dass ich ihn erkannt hatte. Er starrte mich vollkommen verblüfft an. »Was zum Teufel machen Sie denn hier?«

Statt einer Antwort schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu. Er unternahm einen schwachen Versuch, sich dagegen zu stemmen, doch ich war kräftiger, und die Tür klickte ins Schloss. Während ich die Kette vorlegte und mich dann keuchend an die Tür lehnte, hörte ich ihn draußen rufen. Inzwischen wusste ich wieder, woher ich ihn kannte. Es war Ben Brody, der Produktdesigner. Wie hatte er mich gefunden? In seiner Firma hatten sie doch nur meine Büro- und Handynummer. Ich hatte Carol ausdrücklich darum gebeten, niemandem meine Adresse zu geben. Außerdem kannte sie diese Adresse überhaupt nicht. Ebenso wenig wie Terry. Niemand kannte sie.

Konnte es sein, dass er mir gefolgt war? Hatte ich bei ihm etwas liegen lassen, das ihm einen Hinweis gegeben hatte?

Er klopfte an die Tür.

»Abbie«, sagte er. »Machen Sie auf.«

»Gehen Sie!«, schrie ich. »Oder ich rufe die Polizei.«

»Ich möchte mit Ihnen reden.«

Die Kette sah ziemlich stabil aus. Was konnte er mir durch einen zehn Zentimeter breiten Spalt antun?

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, aber keine Krawatte.

Darüber hatte er einen langen grauen Mantel an, der ihm bis über die Knie reichte.

»Wie haben Sie mich gefunden?«

»Was meinen Sie damit? Ich bin gekommen, um Jo zu sehen.«

»Jo?«

»Ich bin ein Freund von ihr.«

»Sie ist nicht da.«

»Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

Er wirkte immer verwirrter.

»Wohnen Sie zur Zeit bei ihr?«

»Sieht ganz so aus.«

»Weshalb können Sie mir dann nicht sagen, wo sie ist?«

Ich öffnete den Mund, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte.

»Das ist eine komplizierte Geschichte. Wahrscheinlich würden Sie es mir sowieso nicht glauben. Haben Sie eine Verabredung mit Jo?«

Er stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus und drehte gereizt den Kopf zur Seite, als könnte er nicht begreifen, dass er dieses Gespräch tatsächlich führte.

»Sind Sie ihre Empfangsdame? Ich bin versucht zu sagen, dass Sie das nichts angeht, aber …« Er holte tief Luft. »Vor ein paar Tagen wollten Jo und ich uns auf einen Drink treffen, aber sie ist nicht aufgetaucht.

Daraufhin habe ich ihr mehrere Nachrichten aufs Band gesprochen, auf die sie nicht reagiert hat.«

»Genau«, sagte ich. »Das habe ich der Polizei auch gesagt.«

»Was?«

»Ich wollte Jo als vermisst melden, aber sie haben mir nicht geglaubt.«

»Wieso denn das?«

»Vielleicht ist sie auch nur in Urlaub gefahren«, fuhr ich etwas sprunghaft fort.

»Hören Sie, Abbie, ich weiß nicht, welche Schandtaten Sie mir zutrauen, aber könnten Sie mich nicht hineinlassen?«

»Können wir uns nicht auch hier unterhalten?«

»Natürlich können wir das. Aber warum?«

»Also gut«, antwortete ich. »Ich habe allerdings nicht viel Zeit. In ein paar Minuten wird ein Detective hier sein.«

Das war ein weiterer meiner jämmerlichen Versuche, mich zu schützen.

»Weswegen?«

»Um meine Aussage aufzunehmen.«

Ich löste die Kette und ließ ihn herein. Er schien sich in Jos Wohnung erstaunlich heimisch zu fühlen. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, warf er ihn über einen Stuhl. Ich zog das Handtuch von meinem Kopf und frottierte mir das Haar.

»Sind Sie und Jo … Sie wissen schon«, sagte ich.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Sie scheinen sich hier recht heimisch zu fühlen.«

»Nicht so heimisch wie Sie.«

»Ich brauche im Moment einfach einen Platz, wo ich unterschlüpfen kann.«

Er sah mich an.

»Geht es Ihnen wieder besser?«

Innerlich stöhnte ich erschöpft auf.

»Ich weiß, dass die Allzweckantwort auf die Frage:

›Geht’s wieder besser?‹ lautet: ›Ja, geht schon wieder‹.

Aber in meinem Fall lautet die kurze Antwort: Nein, es geht mir nach wie vor nicht gut. Und die mittellange Antwort ist eine längere Geschichte, die Sie bestimmt nicht hören wollen.«

Ben ging zur Kochnische und füllte den Wasserkessel.

Dann nahm er zwei große Teetassen aus dem Schrank und stellte sie auf die Küchentheke.

»Ich glaube, ich verdiene es, die lange Version zu hören«, meinte er.

»Sie ist wirklich lang.«

»Glauben Sie, Sie haben noch genug Zeit?«

»Wie meinen Sie das?«

»Bevor Ihr Detective kommt.«

Ich murmelte etwas Unverständliches vor mich hin.

»Sind Sie krank?«, fragte er.

Damit erinnerte er mich an etwas. Ich holte ein paar Tabletten aus dem Fläschchen in meiner Tasche und spülte sie mit einem Schluck Leitungswasser hinunter.

»Ich habe immer noch diese Kopfschmerzanfälle«, erklärte ich. »Aber das ist nicht weiter beunruhigend.«

»Wo liegt dann das Problem?«

Ich ließ mich am Tisch nieder und stützte den Kopf in meine Hände. Manchmal, wenn ich die richtige Position für meinen Kopf fand, ließ das Pochen ein wenig nach. Ich hörte etwas Klappern. Ben goss den Tee auf. Er brachte die Tassen an den Tisch, jedoch ohne Platz zu nehmen, und lehnte sich gegen die Armlehne von Jos Sessel. Ich nahm einen Schluck Tee.

»Ich habe mich zu einer Version von Coleridges altem Seemann entwickelt. Ich treibe die Leute in eine Ecke und erzähle ihnen meine Geschichte. Langsam frage ich mich, ob das überhaupt einen Sinn hat. Die Polizei hat mir nicht geglaubt. Je öfter ich sie erzähle, desto weniger glaube ich sie selbst.«

Ben gab mir keine Antwort, sondern sah mich schweigend an.

»Müssen Sie denn nicht arbeiten?«, fragte ich ihn.

»Ich bin der Chef«, antwortete er. »Ich kann kommen und gehen, wann ich will.«

Also erzählte ich ihm eine stockende, bruchstückhafte Version meiner Geschichte. Ich berichtete ihm von meinen Problemen bei Jay & Joiner, von denen er zum Teil bereits wusste, weil er am Rande selbst damit zu tun gehabt hatte.

Ich erzählte ihm von meinem unbezahlten Urlaub und meinem Bruch mit Terry. Dann holte ich tief Luft und erzählte auch noch von dem Keller, in dem ich aufgewacht war, wo auch immer er sich befinden mochte, von meinen Tagen unter der Erde, von meiner Flucht und der Zeit im Krankenhaus, von den Personen, die mir nicht geglaubt und mich wieder in die Welt entlassen hatten.

»Und um Ihre erste Frage vorwegzunehmen: Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich einen Schlag auf den Schädel bekommen habe.« Vorsichtig fasste ich an die Stelle knapp über meinem Ohr. Sie war immer noch so empfindlich, dass ich jedes Mal von neuem zusammenzuckte, wenn ich sie berührte. »Wenn dieser Schlag Teile meines Lebens auslöschen konnte, vielleicht hat er dann andere hinzugefügt? Wissen Sie, dass ich diesen Gedanken noch nie laut ausgesprochen habe? Er ist mir öfter durch den Kopf gegangen, spätnachts, wenn ich aufwache und ans Sterben denke. Vielleicht ist das genau die Art Halluzination, die man hat, wenn man bei einem Unfall mit dem Kopf irgendwo gegengeschlagen ist.

Womöglich phantasiert man dann davon, unter der Erde gefangen zu sein und in der Dunkelheit eine Stimme zu hören. Halten Sie das für möglich?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Ben. Er machte einen benommenen Eindruck. »Was für ein Alptraum!«

»Vielleicht hat mich jemand überfallen und niedergeschlagen, oder ich wurde von einem Auto angefahren. Vielleicht bin ich nur ein paar Stunden irgendwo gelegen. Hatten Sie jemals solche Träume? Man scheint Jahre zu durchleben und dabei alt zu werden, aber dann wacht man auf und es ist nur eine einzige Nacht vergangen. Hatten Sie jemals einen solchen Traum?«

»Ich kann mich an meine Träume nicht erinnern.«

»Das ist wahrscheinlich ein Zeichen von psychischer Gesundheit. Ich habe solche Träume. Als ich in dem Keller war – wenn ich überhaupt dort war –, hatte ich auch Träume, an die ich mich ebenfalls erinnern kann. Ich habe von Seen geträumt, von schwerelosem Dahintreiben auf dem Wasser, von einem Schmetterling auf einem Blatt.

Beweist das etwas? Ist es möglich einzuschlafen und zu träumen und dann in diesem Traum wieder einzuschlafen und einen weiteren Traum zu haben? Ist das möglich?«

»Ich entwerfe Wasserhähne und Schreibtischutensilien.

Psychologie ist nicht gerade mein Spezialgebiet.«

»Das fällt eher in den Bereich der Neurologie. Ich kenne mich aus. Ich bin von einer Psychologin und einem Neurologen untersucht worden. Der Neurologe war der Einzige, der mir geglaubt hat. Wie auch immer, das ist meine Geschichte. Mir sind aus meinem Gehirn einige Daten abhanden gekommen, und nun klappere ich alle möglichen Leute ab, die mich wahrscheinlich für verrückt halten, und versuche die Lücken zu füllen. Gleichzeitig treffe ich alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen, um mich vor jemandem zu verstecken, der vermutlich überhaupt nicht nach mir sucht. Haben Sie das als Kind jemals gemacht? Man spielt mit einer Schar anderer Kinder Verstecken und sucht sich dabei ein äußerst schwieriges Versteck. Man bleibt eine Ewigkeit dort, anfangs mit einem Gefühl des Triumphes, dann zunehmend gelangweilt, bis einem schließlich klar wird, dass alle anderen das Spiel längst abgebrochen haben. Im Moment habe ich jedoch ein ganz anderes Gefühl: Ich plappere wie eine Wahnsinnige vor mich hin, und Sie stehen wie ein Fels in der Brandung da und kommen überhaupt nicht zu Wort. Sie wollten wissen, wo Jo ist, und Sie haben mich gefragt, was ich hier mache. Nun, ich weiß nicht, wo Jo ist, und ich weiß auch nicht, was ich hier mache. Nun haben Sie Ihre Antworten und können in Ihre Werkstatt zurückkehren.«

Ben trat an den Tisch, nahm meine Tasse und ging damit zum Spülbecken. Er spülte erst meine, dann seine eigene ab und stellte sie auf das Abtropfgitter. Anschließend blickte er sich vergeblich nach einem Geschirrtuch um, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als das Wasser von seinen Händen zu schütteln.

»Ich glaube, ich weiß, was Sie hier tun«, sagte er. »Ich weiß auch, wie Sie Jo kennen gelernt haben.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe sie Ihnen vorgestellt.«

14

Ich spürte eine Welle der Aufregung durch meinen Körper strömen, weil nun ein weiterer Teil meiner Terra incognita auf der Landkarte eingezeichnet war, doch dann wurde schnell ein schwindelerregendes Schlingern daraus.

»Wovon sprechen Sie überhaupt? Warum hätten Sie das tun sollen? Als Sie vorhin an der Tür standen, schienen Sie das noch nicht zu wissen. Sie waren genau so perplex wie ich.«

»Das stimmt«, räumte er ein. »Trotzdem muss es so gewesen sein.« Er schwieg einen Moment. »Können Sie sich allen Ernstes nicht daran erinnern, sie getroffen zu haben?«

»Ich habe mir vorhin ein Video von Jo und mir angesehen, das wir gemeinsam aufgenommen haben müssen. Da scheinen wir uns gut verstanden zu haben. Ich mache einen sehr glücklichen Eindruck. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern. Ich könnte ein paar glückliche Erinnerungen gebrauchen. Aber nein, es tut mir Leid, da ist überhaupt nichts. Wie ist es dazu gekommen, dass Sie uns einander vorgestellt haben? Aus welchem Grund?«

Ben setzte zu einer Antwort an, zögerte dann aber. »Sie wissen nicht, ob Sie mir glauben sollen, stimmt’s?«, fuhr ich fort. »Na großartig! Die Polizei und die Ärzte glauben mir nicht, dass ich entführt worden bin, und nun glauben Sie mir nicht, dass ich das Gedächtnis verloren habe.

Vermutlich werde ich bald Menschen kennen lernen, die nicht einmal glauben, dass ich Abbie Devereaux bin.

Vielleicht bin ich es ja tatsächlich nicht. Vielleicht tue ich nur so. Womöglich handelt es sich dabei auch um eine Wahnvorstellung von mir. Möglicherweise bin ich in Wirklichkeit Jo und habe Halluzinationen von dieser Person namens Abbie.«

Ben versuchte zu lächeln, wandte dann aber den Kopf ab, als wäre ihm das Ganze ziemlich peinlich.

»Dann habe ich sie also am Montag kennen gelernt?«, fragte ich.

»Am Dienstag«, antwortete er. »Dienstagvormittag.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie gesagt, wir hätten uns am Montag getroffen. Ja, ich bin mir sicher, dass Sie Montag gesagt haben.«

»Sie sind am Dienstag noch einmal gekommen«, entgegnete er vage. »Mit weiteren Fragen.«

»Oh. Und da war Jo bei Ihnen in der Werkstatt?«

»Wir sind einen Kaffee trinken gegangen, in einem Café nicht weit von hier, das Jo regelmäßig aufsucht. Sie war unterwegs zu einem Termin, glaube ich. Ich hab Sie mit ihr bekannt gemacht. Wir haben uns eine Zeit lang unterhalten, dann musste ich aufbrechen. Wenn Sie wollen, dass ich Ihr Gespräch mit Jo rekonstruiere, würde ich sagen, Sie haben ihr erzählt, dass Sie eine Bleibe brauchten. Bestimmt hat sie Ihnen daraufhin angeboten, hier bei ihr zu wohnen. Damit wäre eines der Rätsel gelöst. Da ist nichts Geheimnisvolles dran.«

»Verstehe.«

»Und jetzt glauben Sie, sie ist verschwunden.«

»Ich habe es diesem Detective gesagt, den ich … den ich recht gut kenne. Er hält mich für verrückt. Natürlich glaubt er nicht wirklich, dass ich verrückt bin, sondern nur, dass ich mich irre. Ich hoffe, ich irre mich tatsächlich.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Aus einem unerfindlichen Grund fühle ich mich für sie verantwortlich. Jedes Mal, wenn ich aufblicke und ihr Foto sehe, fühle ich mich schlecht, weil ich nicht mehr unternehme. Als ich in diesem Keller gefangen war, dachte ich die ganze Zeit daran, dass diejenigen, die ich kenne, meine Freunde, nach mir suchen würden, dass sie sich meinetwegen große Sorgen machen und alle Hebel in Bewegung setzen würden, und das half mir durchzuhalten. Wenn ich nicht ganz fest daran geglaubt, nicht das Gefühl gehabt hätte, in den Köpfen meiner Freunde präsent zu sein, dann hätte ich es bestimmt nicht geschafft. Und mit das Schlimmste an meiner Rückkehr war die Erkenntnis, dass kein Mensch mich auch nur für eine Sekunde vermisst hatte.«

»Ich glaube …«, versuchte er mich zu unterbrechen.

»Niemandem war aufgefallen, dass ich nicht mehr da war, und wenn es doch jemandem aufgefallen war, dann dachte sich der oder die Betreffende nicht viel dabei. Es war, als wäre ich unsichtbar geworden. Oder gestorben.

Man kann ihnen das in keinster Weise zum Vorwurf machen, das ist mir völlig klar – sie sind gute Freunde, und ich glaube, sie mögen mich wirklich, und wahrscheinlich hätte ich mich an ihrer Stelle genauso verhalten. Ich würde es genauso wenig merken, wenn mal jemand ein paar Tage nicht da wäre – wie sollte ich auch?

Wir führen alle unser eigenes Leben, sehen uns in unregelmäßigen Abständen. Aber ich darf bei Jo nicht denselben Fehler machen. Weil ich jetzt nämlich weiß, wie das ist. Doch ich weiß nicht, was ich tun soll, um diesen Fehler nicht zu wiederholen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Auf jeden Fall rede ich wieder zu viel und habe außerdem dieses unangenehme Gefühl, dass ich in Tränen ausbrechen werde, sobald ich zu reden aufhöre.«

Ich hielt inne, Ben beugte sich vor und legte eine Hand auf meinen Arm. Instinktiv riss ich den Arm zurück.

»Tut mir Leid«, sagte er und schien es tatsächlich so zu meinen. »Bestimmt macht es Sie nervös, einen fremden Mann hier in Ihrer Wohnung zu haben. Ich hätte daran denken müssen.«

»Ehrlich gesagt schon, ich meine, ich bin sicher, dass …

Hören Sie, ich komme mir vor, als würde ich durch völlige Dunkelheit stolpern, wenn Sie verstehen, was ich meine –

mit ausgestreckten Händen, verzweifelt bemüht, nicht in den Abgrund zu stürzen. Falls es überhaupt einen Abgrund gibt, den man hinunterstürzen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, am Rand meines Gesichtsfeldes einen Schimmer wahrzunehmen, doch sobald ich mich in die Richtung drehe, verschwindet er. Ich hoffe bloß, irgendwann wieder Licht zu sehen, aber bisher sieht es nicht danach aus. Ohne mein Gedächtnis fühle ich mich vollkommen orientierungslos, ich stolpere blind durch die Gegend und ecke ständig irgendwo an, und die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, dass ich nicht weiß, wo ich mich befinde – im Grunde weiß ich nicht einmal mehr, wer ich bin. Was ist von mir noch übrig? Vor allem, wenn die anderen nicht wissen, ob sie mir …« Ich brach abrupt ab. »Ich plappere schon wieder vor mich hin, nicht wahr?« Er gab mir keine Antwort und starrte mich auf eine Art an, die mich nervös machte. »Wie war ich davor?«

»Wie Sie waren?« Er schien die Frage nicht zu verstehen.

»Ja.«

»Ihr Haar war länger.«

»Das weiß ich, schließlich war ich diejenige, die zum Friseur gegangen ist und es sich hat abschneiden lassen.

Aber was hatten Sie sonst für einen Eindruck von mir? In welchem Zustand befand ich mich?«

»Ähm.« Einen Moment lang wirkte er unsicher und verlegen. »Auf mich haben Sie einen recht lebhaften Eindruck gemacht.«

»Worüber haben wir gesprochen? Habe ich Ihnen etwas erzählt?«

»Über die Arbeit«, antwortete er. »Berufliche Probleme.«

»Sonst nichts?«

»Sie haben gesagt, Sie hätten gerade ihren Freund verlassen.«

»Das habe ich Ihnen erzählt?«

»Sie haben mir erklärt, dass Sie vorübergehend keinen festen Wohnsitz hätten und nur über Ihr Handy zu erreichen seien, falls ich Sie geschäftlich brauchte.«

»Habe ich sonst noch was erzählt? Vielleicht von neuen Bekanntschaften? Gab es möglicherweise einen neuen Mann in meinem Leben? Habe ich darüber etwas gesagt?«

»Nicht direkt«, antwortete er. »Aber ich war schon der Meinung. Jedenfalls hatte ich den Eindruck.«

»Unter Umständen war der Mann, den ich kennen gelernt hatte, nun ja, Sie wissen schon, er.«

»Er?«

»Der Mann, der mich entführt hat.«

»Verstehe.« Er stand auf. »Was halten Sie davon, wenn wir jetzt auf einen Drink irgendwohin gehen – in einer Menschenmenge fühlen Sie sich bestimmt sicherer als allein mit mir.«

»Eine gute Idee«, antwortete ich.

»Dann lassen Sie uns gehen.« Er griff nach seinem Mantel.

»Ein schöner Mantel.«

Der Blick, mit dem er das Kleidungsstück betrachtete, wirkte fast ein wenig überrascht, als würde es sich um einen fremden Mantel handeln, der ihm ohne sein Wissen untergejubelt worden war.

»Er ist neu.«

»Ich mag diese langen weiten Mäntel.«

»Ja, sie wirken fast wie lange Umhänge«, antwortete Ben.

»Wie sie vor zweihundert Jahren getragen wurden.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum wird mir so komisch zu Mute, wenn ich Sie das sagen höre?«

»Vielleicht, weil Sie derselben Meinung sind.«

Der Pub war beruhigend voll und verraucht.

»Ich lade Sie ein«, verkündete ich und kämpfte mich bis zur Bar durch.

Kurze Zeit später saßen wir bereits mit unseren Biergläsern und einer Tüte Chips zwischen uns an einem Tisch.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Sie sind also ein Freund von Jo, richtig?«

»Richtig.«

»Fährt sie oft weg?«

»Das kommt ganz darauf an. Sie arbeitet meist parallel an mehreren Projekten für verschiedene Verlage –

hauptsächlich Zeitschriftenverlage –, und manche erfordern Recherchen. Ich weiß noch, als sie an einer Kinderenzyklopädie mitgearbeitet hat und kurze Kapitel über englische Bäume schreiben musste. Da ist sie herumgefahren und hat dreihundertjährige Eiben besichtigt, zum Beispiel.«

»Und ist sie zuverlässig?«

»Normalerweise sehr. Gezwungenermaßen, denn sie muss von ihrer Arbeit leben.«

»Versetzt sie Sie oft?«

Er sah mich nachdenklich an.

»Wie ich schon gesagt habe: Sie ist eigentlich sehr zuverlässig.«

»Folglich sollte sie eigentlich hier sein, ist es aber nicht.

Sie ist auch nicht in Urlaub gefahren. Etwas stimmt da nicht.«

»Möglicherweise haben Sie Recht«, antwortete Ben leise, den Blick auf sein Bierglas gerichtet. »Es könnte auch sein, dass sie weggefahren ist, um ihre Arbeit zu Ende zu bringen. Das hat sie schon öfter getan. Ihre Eltern haben ein Cottage in Dorset, das sie ihr stets gern zur Verfügung stellen. Sie kann dort in aller Ruhe arbeiten, ohne gestört zu werden …«

»Können Sie sie dort anrufen? Haben Sie ein Handy dabei?«

»In aller Ruhe, weil es dort nicht einmal ein Telefon gibt.«

»Was ist mit ihrem Handy?«

»Sie ist nicht erreichbar, ich habe es bereits ein paarmal probiert.«

»Oh.«

»Sie könnte allerdings auch bei ihren Eltern sein. Ihr Vater ist krank. Krebs. Vielleicht geht es ihm schlechter.

Haben Sie es dort schon versucht?«

»Ich wusste nichts von ihren Eltern.«

»Dann wäre da noch der Freund, den sie phasenweise hat, Carlo. Der letzte Stand der Dinge war, dass sie sich erneut getrennt hatten, doch möglicherweise sind sie inzwischen wieder zusammen, und sie ist bei ihm. Haben Sie ihn schon angerufen?«

Ich holte tief Luft. Weshalb war mir so seltsam zumute?

»Nein«, antwortete ich. »Ich wusste nichts von einem Freund. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber Ihnen hätte sie das doch sicher erzählt, Sie waren schließlich mit ihr verabredet.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Ich bin nur ihr Freund. Einen Freund kann man auch mal versetzen.«

»Manchmal.«

»Jo leidet unter Depressionen«, sagte er langsam und mit gerunzelter Stirn. »Ich meine, sie ist oft richtig depressiv, nicht nur schlecht gelaunt. Obwohl ich in letzter Zeit das Gefühl hatte, dass es ihr wieder besser ging.« Er leerte sein Bierglas und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich begleite Sie jetzt zurück in die Wohnung, und dann rufen wir alle Personen an, die ihr nahe stehen –

Carlo, ihre Eltern –, und fragen, ob sie etwas von ihr gehört haben.«

Er fischte ein Handy aus seiner Manteltasche und hielt es mir unter die Nase.

»Hier, bitte. Geben Sie jemandem Bescheid, einer Freundin, einer Kollegin, der Polizei, wem Sie wollen.

Sagen Sie, dass Sie mit mir unterwegs sind. Dann können wir aufbrechen und diese Telefonate erledigen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, fing ich an.

»Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Jo ist meine Freundin.«

»Ich brauche niemanden anzurufen«, erklärte ich, während eine innere Stimme mich beschwor: »O doch, du dummes, dummes Weibsstück!«

»Wie Sie meinen.«

Auf dem Rückweg erzählte ich ihm, dass ich Jos Wohnung im Grunde nur durch die Restaurantrechnung und den Schlüssel im Handschuhfach meines Wagens gefunden hatte.

»Er war abgeschleppt worden«, fügte ich hinzu. »Ich musste über hundert Pfund bezahlen, und jetzt hat er eine Parkkralle am Reifen. Sehen Sie!« Ich deutete auf die Stelle und sperrte überrascht den Mund auf. Der Wagen war nicht mehr da. Wo er gestanden hatte, war jetzt ein freier Parkplatz. »Er ist weg! Verdammt noch mal, er ist schon wieder weg! Wie ist das möglich? Ich dachte, der Sinn einer Parkkralle ist, dass man das Fahrzeug nicht bewegen kann!«

»Wahrscheinlich ist er wieder abgeschleppt worden.« Es kostete ihn sichtlich Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen.

»Mist!«

Ich machte eine Flasche Wein auf. Meine Hände hatten wieder zu zittern begonnen, und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich den Korken entfernt hatte. Ben wählte eine Nummer, lauschte einen Moment, begann dann zu sprechen. Mir war klar, dass er nicht mit Jos Mutter sprach. Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich zu mir um.

»Das war die Frau, die auf ihren Hund aufpasst. Jos Eltern sind in Urlaub und kommen erst übermorgen wieder zurück.«

Ich schenkte ihm ein Glas Wein ein, das er jedoch nicht anrührte. Statt dessen setzte er seine Brille auf und begann im Telefonbuch zu blättern.

»Carlo? Hallo, Carlo, hier ist Ben, Ben Brody … Ja, der Freund von Jo … Was? Nein, ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen. Dasselbe wollte ich eigentlich …

Nein. Nein, das richte ich ihr sicherlich nicht aus. Nein.«

Er legte auf und drehte sich zu mir um. »Anscheinend ist mit Carlo tatsächlich Schluss. Er war nicht sehr gut auf sie zu sprechen.«

»Was machen wir jetzt?« Als mir auffiel, dass ich »wir«

gesagt hatte, trank ich schnell einen großen Schluck Wein.

»Haben Sie etwas zu essen da? Ich bin am Verhungern.

Jo und ich wollten eigentlich essen gehen.«

Ich zog die Kühlschranktür auf. »Eier, Brot, Käse. Salat.

Bestimmt sind auch Nudeln da.«

»Soll ich uns Rühreier machen?«

»Eine sehr gute Idee.«

Er zog Mantel und Jacke aus, holte eine Pfanne aus dem großen Schrank und nahm aus der obersten Schublade einen hölzernen Löffel. Er wusste, wo alles untergebracht war. Ich lehnte mich zurück und beobachtete ihn. Er ließ sich Zeit und ging sehr methodisch vor. Ich trank ein weiteres Glas Wein. Ich fühlte mich erschöpft, fast etwas zittrig und auch ein bisschen beschwipst. Außerdem war ich es leid, ständig Angst haben zu müssen und auf der Hut zu sein. Ich schaffte das einfach nicht mehr.

»Erzählen Sie mir von Jo«, bat ich.

»Gleich. Eine Scheibe Toast oder zwei?«

»Eine. Mit viel Butter.«

»Wird gemacht!«

Wir nahmen am Küchentisch Platz und aßen schweigend unser Rührei. Ich trank noch mehr Wein.

»Sie ist anfangs ziemlich schüchtern, taut erst auf, wenn man sie etwas besser kennt«, begann er, nachdem er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Sehr selbstständig. Sparsam. Sie kauft nur das, was sie wirklich braucht. Gehen Sie nie mit ihr shoppen. Sie braucht eine Ewigkeit, bis sie sich für die kleinste Sache entscheidet, und muss zunächst in mehreren Läden die Preise vergleichen. Sie hasst jede Art von Unordnung. Redet nicht viel, hört lieber zu. Was noch? Sie ist auf dem Land aufgewachsen, hat einen jüngeren Bruder, der als Toningenieur in Amerika arbeitet, und steht ihren Eltern sehr nah. Sie hat viele Freunde, mit denen sie sich in der Regel unter vier Augen trifft. Große Gruppen mag sie nicht besonders.«

»Was ist mit ihrer Beziehung zu diesem Carlo?«

»Ein hoffnungsloser Fall, wenn Sie mich fragen. Er ist zu jung für sie und stellt sich ziemlich idiotisch an.« Er sagte das sehr abfällig. Anscheinend hatte er meinen überraschten Blick bemerkt, denn er fügte hinzu: »Sie hätte etwas Besseres verdient. Sie sollte jemanden kennen lernen, der sie vergöttert.«

»Tja, das sollten wir wohl alle«, antwortete ich leichthin.

»Und sie leidet unter schweren Depressionen, würde ich sagen. Sie hat ganz schreckliche Phasen, in denen sie kaum aus dem Bett kommt. Ein weiterer Grund, weshalb ich mir ihretwegen Sorgen mache.«

Es war schon spät. Ich fühlte mich, als hätte ich an diesem Tag eine lange, anstrengende Reise hinter mich gebracht –

Todd, das unheimliche Telefonat, Inspector Cross, jetzt das Gespräch mit Ben. Als er mich gähnen sah, erhob er sich und nahm seinen Mantel von der Armlehne des Sofas.

»Zeit zu gehen«, sagte er. »Ich melde mich wieder.«

»Ist das alles?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, sie ist immer noch verschwunden, oder etwa nicht? Wir haben nach wie vor keinen blassen Schimmer, wo sie sein könnte. Wie soll es jetzt weitergehen? Sie können es doch nicht einfach dabei bewenden lassen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich glaube, ich sollte nach Dorset fahren, zu dem Cottage. Ich war schon einmal dort und hoffe, dass ich wieder hinfinde. Falls sie da nicht ist, werde ich ihre Freunde anrufen. Wenn dabei immer noch nichts herauskommt, fahre ich zu ihren Eltern. Und danach

– na ja, ich schätze, dann gehe ich zur Polizei.«

»Ich würde Sie gern begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.« Das hatte ich eigentlich gar nicht sagen wollen.

Die Worte waren einfach aus mir herausgesprudelt. Er sah mich überrascht an. »Wann wollen Sie denn starten?«, fragte ich.

»Na, jetzt.«

»Sie meinen, jetzt gleich? Mitten in der Nacht?«

»Ja, warum nicht? Ich bin noch nicht müde, und ich habe kaum etwas getrunken. Außerdem habe ich morgen Nachmittag eine wichtige Besprechung, kann morgen also nicht weg. Und mittlerweile haben Sie mich mit Ihren Bedenken angesteckt.«

»Sie machen gern Nägel mit Köpfen, was?«

»Das haben Sie eben nicht ernst gemeint, dass Sie mitkommen wollen, oder?«

Schaudernd warf ich einen Blick durchs Fenster, in die kalte Dunkelheit hinaus. Ich wollte nicht nach draußen, aber ich wollte auch nicht hierbleiben, wo ich nur schweißgebadet in meinem Bett liegen und mit wild klopfendem Herzen und trockenem Mund darauf warten würde, dass es endlich zu dämmern begann und die unerträgliche Angst wieder erträglich wurde. Wenn ich hier blieb, würde ich ständig auf die Uhr blicken.

Irgendwann würde ich einschlafen, aber schon nach wenigen Minuten mit einem Ruck wieder hochschrecken.

Ich würde ängstlich jedem Geräusch lauschen und mich sogar vom Wind erschrecken lassen. Und ich würde an Jo denken. An sie und an mich. An ihn, wie er mich dort in der Dunkelheit beobachtete.

»Ich komme mit«, sagte ich. »Wo steht Ihr Wagen?«

»Vor meinem Haus.«

»Und wo ist Ihr Haus?«

»Belsize Park. Ein paar Stationen mit der U-Bahn.«

»Nehmen wir lieber ein Taxi.« Der Gedanke, mich in dieser Nacht noch unter die Erdoberfläche zu begeben, war furchtbar.

»Einverstanden.«

»Ich ziehe mir bloß schnell etwas Wärmeres an. Diesmal werde ich tatsächlich jemanden anrufen und sagen, mit wem ich unterwegs bin. Sorry. Ich hoffe, Sie sind mir deswegen nicht böse.«

15

Soweit ich das in der Dunkelheit beurteilen konnte, wohnte Ben Brody in einem schönen Haus, ganz in der Nähe eines Parks. Die Straße war breit und von hohen Bäumen gesäumt, die ihre kahlen Äste im Licht der Straßenlaternen wiegten.

»Warum warten Sie nicht einfach im Wagen, während ich rasch ein paar Sachen hole? Sie sehen völlig erledigt aus.«

Nachdem er mir aufgeschlossen hatte, stieg ich auf der Beifahrerseite ein. Es war eiskalt, und alle Fenster waren vereist. In Bens Auto herrschte Ordnung, bis auf eine Schachtel Kleenex und einen Straßenatlas. Ich wickelte mich noch fester in meine dicke Jacke und blies Dampfwolken in die eisige Luft, während ich wartete. Im ersten Stock von Bens Haus ging Licht an. Ein paar Minuten später erlosch es wieder. Ich warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett: schon fast zwei. Ich fragte mich, was ich hier eigentlich tat, mitten in der Nacht, in einem Teil von London, in den ich noch nie zuvor einen Fuß gesetzt hatte, im Wagen eines Mannes, den ich nicht kannte. Mir fiel keine Antwort ein, die Sinn ergab, außer dass ich kurz vor dem totalen Zusammenbruch stand.

»Wir können starten.«

Ben hatte die Fahrertür geöffnet. Er trug Jeans, einen dicken Pulli und eine alte Lederjacke.

»Was haben Sie denn da alles dabei?«

»Eine Taschenlampe, eine Decke, ein paar Orangen und Schokolade für die Reise. Die Decke ist für Sie. Legen Sie sich auf den Rücksitz, dann decke ich Sie zu.«

Ich erhob keine Einwände, sondern kletterte nach hinten und legte mich hin. Er breitete eine dicke Decke über mich aus, stieg ebenfalls ein, ließ den Motor an und drehte die Heizung auf. Eine Weile lag ich mit offenen Augen da. Ich sah Straßenlaternen und hohe Gebäude vorbeifliegen, dann Sterne, Bäume, ein weit entferntes Flugzeug am Himmel. Ich schloss die Augen.

Ich verschlief einen großen Teil der langen Fahrt, wachte aber öfter auf. Einmal hörte ich Ben einen Song vor sich hinbrummen, den ich nicht kannte. Ein anderes Mal kämpfte ich mich in eine sitzende Position und blickte aus dem Fenster. Es war noch immer dunkel, und ich konnte keine Lichter entdecken, wohin ich auch blickte. Wir waren das einzige Auto weit und breit. Ben reichte mir wortlos ein paar Rippen Schokolade. Ich aß sie langsam und legte mich wieder hin. Ich wollte nicht reden. Um halb sechs hielten wir an, um zu tanken. Es war immer noch dunkel, doch am Horizont ließ sich bereits eine Spur von verschwommenem Grau erahnen. Es kam mir noch kälter vor als bisher, und auf den Hügelkuppen konnte ich Schnee erkennen. Ben kam mit zwei Styroporbechern Kaffee zurück. Nachdem ich samt meiner Decke nach vorn auf den Beifahrersitz geklettert war, reichte er mir meinen Kaffee, und ich wärmte mir die Hände an dem Becher.

»Mit Milch, aber ohne Zucker«, sagte er.

»Wie haben Sie das erraten?«

»Wir haben schon mal miteinander Kaffee getrunken.«

»Oh. Wie weit ist es noch?«

»Nicht mehr weit. Das Cottage liegt eineinhalb Kilometer von einem Dorf namens Castleton entfernt, an der Küste. Sie können einen Blick auf die Karte werfen, wenn Sie möchten – sie liegt neben Ihren Füßen auf dem Boden. Sie müssen mich wahrscheinlich ohnehin ein bisschen lotsen.«

»Glauben Sie, dass sie dort ist?«

Er zuckte mit den Achseln. »In den frühen Morgenstunden hat man oft düstere Gedanken.«

»Es wird allmählich hell. Sie sind bestimmt schon schrecklich müde.«

»Ist nicht so schlimm. Das kommt erst später, schätze ich.«

»Mitten in Ihrer Besprechung.«

»Wahrscheinlich.«

»Wenn Sie wollen, kann ich fahren.«

»Es geht schon noch. Sie müssen mich etwas unterhalten, dann bleibe ich wach.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Als wir an Stonehenge vorübergefahren sind, hätte ich sie beinahe aufgeweckt. Aber wir kommen ja auf dem Rückweg noch mal vorbei.«

»Ich war noch nie dort.«

»Noch nie?«

»Es ist erstaunlich, was ich alles noch nicht gesehen habe. Ich kenne weder Stonehenge noch Stratford noch Hampton Court. Weder Buckingham Palace noch Brighton Pier. Ich war nie in Schottland. Nicht einmal im Lake District. Ich hatte eine Venedig-Reise geplant und schon die Tickets besorgt. Während ich geknebelt in einem Keller lag, hätte ich eigentlich nach Venedig aufbrechen sollen.«

»Eines Tages werden Sie hinfahren.«

»Ja, vermutlich.«

»Was war das Schlimmste?«, fragte er nach einer Pause.

Ich sah zu ihm hinüber. Sein Blick war nach vorn gerichtet, auf die Straße und die sanft geschwungenen Hügel. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Fast hätte ich ihm geantwortet, dass ich nicht darüber sprechen könne, doch dann schoss mir durch den Kopf, dass Ben der erste Mensch war, der mich nicht mit einem Ausdruck von Misstrauen oder Bestürzung ansah. Er behandelte mich nicht, als sei ich bemitleidenswert oder geistesgestört. Deswegen versuchte ich, ihm auf seine Frage eine Antwort zu geben. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Sein pfeifendes Lachen zu hören und zu wissen, dass er ganz in meiner Nähe war. Der Gedanke, dass ich nicht genug Luft bekam und ersticken, in mir selbst ertrinken würde. Es war –« Ich versuchte, den richtigen Ausdruck zu finden, »– irgendwie obszön.

Vielleicht war es auch nur das Warten in der Dunkelheit und das Wissen, dass ich sterben würde. Ich versuchte, mich an bestimmte Dinge zu klammern, um nicht wahnsinnig zu werden – nicht an Dinge aus meinem eigenen Leben, denn ich war der Meinung, mich auf diese Weise bloß noch mehr zu quälen und erst recht vor Einsamkeit und Entsetzen wahnsinnig zu werden –, nein, eigentlich dachte ich nur an bestimmte Bilder. Ich habe Ihnen schon davon erzählt. Schöne Bilder aus der Welt da draußen. Manchmal, wenn ich nachts aufwache, denke ich immer noch an diese Bilder. Trotzdem wusste ich, dass ich Schritt für Schritt meiner Persönlichkeit beraubt wurde.

Dass ich dabei war, mich selbst zu verlieren. Darum ging es ihm – zumindest glaube ich, dass es ihm darum ging.

Ich sollte nach und nach all das abstreifen, was mich zu dem Menschen machte, der ich war, bis am Ende nur diese grauenerregende Kreatur übrig blieb, die auf einem Mauervorsprung vor sich hin lallte, halb nackt, schmutzig und gedemütigt.«

Ich brach abrupt ab.

»Wie wär’s, wenn Sie uns eine Orange schälen?«, wechselte Ben das Thema. »Sie liegen in der Tasche.«

Ich schälte zwei von den Orangen, deren Aroma rasch den ganzen Wagen erfüllte. Meine Finger wurden klebrig von ihrem Saft. Ich reichte ihm einige Spalten. »Sehen Sie«, sagte er plötzlich. »Das Meer!«

Es sah silbrig, weit und still aus. Man konnte kaum erkennen, wo das Wasser aufhörte und der Morgenhimmel begann – außer im Osten, wo die Sonne bereits ein blasses Licht spendete.

»So, nun brauche ich Sie als Lotsin«, fuhr er fort.

»Unsere Abzweigung muss gleich kommen.«

Wir bogen rechts ab, weg von der Sonne, in eine kleine Straße, die zur Küste hinunterführte, dann links, in eine noch kleinere Straße.

»Hier muss es sein«, erklärte Ben.

Wir standen vor einem geschlossenen Tor, hinter dem ein schmaler Feldweg weiterführte. Ich stieg aus, öffnete das Tor, wartete, bis Ben hindurchgefahren war, und schloss es wieder.

»Das Cottage gehört Jos Eltern?«

»Ja. Sie kommen aber nicht mehr hierher. Ihr Vater ist zu krank, und es ist nicht sehr luxuriös ausgestattet.

Deswegen sind sie immer froh, wenn jemand ein paar Tage hier verbringt. Es ist sehr einfach, ohne Zentralheizung, und mittlerweile auch schon ein wenig heruntergekommen. Aber vom Schlafzimmer aus kann man das Meer sehen. Dort vorne ist es.«

Das Cottage war klein und aus grauem Stein. Es hatte dicke Mauern mit winzigen Fenstern. Ein Sturm hatte ein paar Dachziegel heruntergeweht, die nun in Scherben um die Eingangstür verstreut lagen. Alles machte einen schäbigen und vernachlässigten Eindruck.

»Hier steht kein Wagen«, stellte Ben fest. »Es ist niemand da.«

»Wir sollten trotzdem nachsehen.«

»Ja, wahrscheinlich.« Er klang entmutigt, doch als ich ausstieg, folgte er mir. Das eisige Gras knirschte unter unseren Füßen. Ich trat an ein Fenster und presste mein Gesicht gegen die Scheibe, konnte jedoch kaum etwas erkennen. Ich rüttelte an der Tür, aber sie war abgeschlossen.

»Wir müssen irgendwie reinkommen.«

»Glauben Sie, dass das etwas bringt? Sie sehen doch, dass niemand hier war.«

»Sie sind gerade vier Stunden gefahren, nur um hier herzukommen. Was sollen wir tun – ein Fenster einschlagen?«

»Ich könnte versuchen, das obere Fenster zu erreichen«, meinte er skeptisch.

»Wie wollen Sie das schaffen? Außerdem scheint es ebenfalls verschlossen. Warum schlagen wir nicht einfach das Fenster ein. das ohnehin schon einen Sprung hat? Wir können es später reparieren lassen.«

Bevor er widersprechen konnte, wickelte ich meinen Schal um meine Faust, schlug damit fest gegen die gesprungene Scheibe und zog den Arm wieder zurück, um mir nicht das Handgelenk zu verletzen. Ich war ziemlich stolz auf mich – genau so machten sie es im Film auch immer. Anschließend zog ich die noch im Rahmen steckenden Glasstücke heraus und schichtete sie auf dem Boden neben dem Fenster zu einem kleinen Stapel. Dann öffnete ich das Fenster von innen.

»Wenn Sie mich auf Ihren Rücken steigen lassen, klettere ich hinein«, sagte ich zu Ben.

Stattdessen legte er die Hände um meine Taille und hob mich zum Fenster hinauf. Die Erinnerung daran, wie ich im Keller gepackt und von dem Mauervorsprung gehoben worden war, überfiel mich so plötzlich, dass ich befürchtete, hysterisch loszuschreien. Aber da stand ich schon in der Küche. Ich schaltete das Licht ein, stellte fest, dass im Kamin nasse Asche lag, und ließ Ben zur Haustür herein. Schweigend gingen wir durchs Haus. Oben gab es ein Schlafzimmer und eine Abstellkammer, unten eine Wohnküche, ein WC und eine Dusche. Das Bett war nicht bezogen, der Boiler nicht angeschaltet. Im ganzen Haus herrschte eisige Kälte. Es war definitiv nicht bewohnt.

»Wir sind umsonst hergefahren«, sagte Ben matt.

»Immerhin wissen wir jetzt, dass sie nicht hier ist.«

»Tja.« Ben stocherte mit der Spitze seines Stiefels in der nassen Asche herum. »Ich hoffe, es geht ihr gut.«

»Ich lade Sie zum Frühstück ein«, wechselte ich das Thema.

»Bestimmt finden wir irgendwo am Meer ein Café, wo wir etwas Warmes bekommen. Sie müssen sich ein bisschen ausruhen und etwas Anständiges essen, bevor Sie sich wieder ans Steuer setzen.«

Da es in Castleton nur ein Postamt und einen Pub gab, fuhren wir in den nächsten größeren Ort. Dort fanden wir ein kleines Café, das in den Sommermonaten vermutlich von Touristen überquoll, jetzt aber leer war. Immerhin hatten sie geöffnet und boten englisches Frühstück an. Ich bestellte für uns beide das »Spezial« – Würstchen, Eier, Speck, Pilze, gegrillte Tomaten und Toast – und eine große Kanne Kaffee.

Das fettige, vertraute Essen tat gut. Wir ließen es uns schweigend schmecken.

»Wenn Sie es rechtzeitig zu Ihrer Besprechung schaffen wollen, sollten wir langsam aufbrechen«, sagte ich, nachdem ich den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte.

Während der Rückfahrt sprachen wir nicht viel. Auf der Straße war jetzt mehr Verkehr, und je näher wir London kamen, desto dichter drängten sich die Autos, bis es schließlich nur noch stockend voranging. Ben blickte immer wieder besorgt auf die Uhr.

»Sie können mich an einer U-Bahn-Station rauslassen«, sagte ich, aber er bestand darauf, mich bis zur Wohnung zu chauffieren, und stieg sogar noch aus, um mich zur Tür zu begleiten.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich verlegen. Unsere lange gemeinsame Fahrt erschien mir bereits unwirklich. »Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«

»Natürlich.« Er wirkte müde und niedergeschlagen. »Ich werde mit Jos Eltern reden, sobald sie aus dem Urlaub zurück sind. Recht viel mehr kann ich bis dahin nicht tun, oder? Vielleicht ist sie ja bei ihnen.«

»Ich hoffe, Ihre Besprechung läuft gut.«

Er blickte an sich hinunter und versuchte zu lächeln.

»Ich sehe heute nicht gerade wie ein Geschäftsmann aus, hm? Na ja, was soll’s!« Er zögerte einen Moment, als wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders, drehte sich um und kehrte zu seinem Wagen zurück.

16

Den Rest des Tages wusste ich nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. All meine Pläne waren im Sande verlaufen, und es schien keine weiteren Spuren zu geben, denen ich hätte folgen können. Ich nahm ein Bad, wusch mir die Haare, widmete mich meiner Wäsche. Ich hörte mir alle Nachrichten auf dem Anrufbeantworter noch einmal an. Es war nur eine einzige hinzugekommen. Dann klappte ich meinen Laptop auf und sah nach, ob ich neue E-Mails erhalten hatte. Ebenfalls nur eine. Jemand warnte mich vor einem Computervirus.

Ich wanderte im Wohnzimmer herum, sah mir ein weiteres Mal die Listen an, die ich an die Wand geheftet hatte, und versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich mit Sicherheit wusste: Ich war entweder schon am Donnerstagabend entführt worden oder aber am Freitag, Samstag oder Sonntag. Mein Mobiltelefon befand sich im Besitz eines Mannes. Ich hatte mit jemandem Sex gehabt.

Schließlich fasste ich einen Entschluss: Von nun an würde ich jedes Mal abheben, wenn Jos Telefon klingelte. Ich würde all ihre Briefe öffnen. Außerdem konnte ich versuchen, mich mit ihren Freunden in Verbindung zu setzen.

Ich begann mit der Post, holte mir die Briefe, die ich auf dem Kaminsims deponiert hatte, und schlitzte sie auf.

Freunde von Jo fragten an, ob sie Lust habe, sich mit ihnen ein Ferienhaus in Spanien zu teilen. Ein Verlag unterbreitete ihr das Angebot, bei der Überarbeitung eines Schulbuchs mitzuwirken. Der nächste Brief enthielt eine Einladung zu einem Klassentreffen. Eine Freundin, die Jo seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, wollte den Kontakt auffrischen. Eine andere Freundin schickte ihr einen Zeitungsausschnitt über die Vor- und Nachteile von Antidepressiva. Ich schrieb mir ihren Namen und ihre Telefonnummer auf, ebenso die Nummer des Mannes, der einen Kostenvoranschlag für einen neuen Boiler geschickt hatte. Dann warf ich einen Blick auf die Postkarten, doch es handelte sich bloß um rasch hingekritzelte Urlaubsgrüße oder Dankesworte für irgendwelche Gefälligkeiten.

Anschließend ging ich noch einmal sämtliche Nachrichten durch, die auf dem Anrufbeantworter gespeichert waren. Mit Jos Lektorin hatte ich bereits gesprochen. Von den übrigen Anrufern hatten nur wenige ihren Nachnamen oder ihre Nummer hinterlassen. Ich rief eine Frau namens Iris an, die sich als Jos Cousine entpuppte, und führte mit ihr ein ziemlich chaotisches Gespräch über Daten. Sie hatte Jo vor sechs Monaten das letzte Mal gesehen. Dann rief ich die Frau an, die den Ausschnitt über Antidepressiva geschickt hatte. Ihr Name war Lucy, sie kannte Jo schon seit Jahren, hatte alle ihre Höhen und Tiefen mitbekommen. Die beiden hatten sich an Silvester gesehen, und Lucy berichtete, Jo sei ihr ein wenig stiller erschienen als sonst. Zugleich aber habe sie den Eindruck gehabt, sie habe ihr Leben ein wenig besser im Griff. Nein, seitdem habe sie nichts mehr von ihr gehört, und sie könne auch nicht sagen, wie ihre weiteren Pläne ausgesehen hätten. Da Lucy allmählich besorgt klang, erklärte ich, es sei wahrscheinlich alles in Ordnung und sie solle sich keine Sorgen machen. Anschließend versuchte ich, den Klempner zu erreichen, aber er war nicht da. Ich hinterließ eine Nachricht auf seinem Band.

Danach nahm ich mir Jos Computer vor, der in einer Ecke des Raums auf ihrem Schreibtisch stand. Nachdem ich ihre Dateien durchgesehen hatte, überlegte ich, ob ich ihre Lektorin anrufen und sie darüber informieren sollte, dass das Projekt, an dem Jo gearbeitet hatte, allem Anschein nach fertig in ihrem Computer gespeichert sei.

Ich klickte ihre Mailbox an und ging die neueren E-Mails durch. Ich überlegte, ob ich mit einer Standardnachricht bei allen Leuten in ihrer Adressliste anfragen sollte, ob sie etwas von ihr gehört hätten, beschloss aber, damit noch ein, zwei Tage zu warten.

Ben hatte gesagt, Jo sei ein sehr zurückhaltender Mensch, in dessen Privatsphäre ich inzwischen jedoch ziemlich tief eingedrungen war. Ich hoffte, sie würde das verstehen. Er hatte auch gesagt, sie sei sehr ordentlich. Ich beschloss, vorsichtshalber gründlich sauber zu machen.

Ich spülte das Geschirr ab, das wir am Vorabend benutzt hatten, schrubbte die Badewanne und räumte alles auf, was herumlag. Dann suchte ich nach dem Staubsauger und entdeckte ihn in dem hohen Schrank neben dem Bad, wo ich außerdem eine Katzentoilette und mehrere Dosen Katzenfutter sowie einen schwarzen Müllsack fand, der ihre Skisachen enthielt. Nachdem ich erst mein Zimmer und dann ihres gesaugt hatte, war die Waschmaschine fertig, und ich verteilte die nassen Kleidungsstücke über sämtliche Heizkörper. Anschließend machte ich mir eine weitere Tasse Kaffee, obwohl ich von dem vielen Koffein schon leicht zappelig und in überdrehter Stimmung war.

Ich legte eine CD auf und ließ mich auf dem Sofa nieder, fühlte mich aber ruhelos. Als ich unten jemanden eine Tür schließen hörte, kam mir der Gedanke, dass ich das Naheliegendste noch nicht getan hatte: Jos Nachbarn zu fragen, wann sie sie das letzte Mal gesehen hatten.

Ich verließ die Wohnung und umrundete das Haus bis zum Eingang der Parterrewohnung. Ich klingelte. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und ein Auge spähte zu mir heraus.

»Hallo, ich bin Jos … Jos Mitbewohnerin, und ich …«

Die Tür schwang ganz auf.

»Ich weiß, wer Sie sind, meine Liebe. Jo hat uns vorgestellt, erinnern Sie sich nicht? Peter. Sie haben gesagt, Sie würden mich mal besuchen, haben es aber nie getan.«

Er war ein sehr kleiner alter Mann, viel kleiner als ich, so dass ich mich fragte, ob er mit den Jahren geschrumpft war oder immer schon die Körpergröße eines vorpubertären Schuljungen hatte. Er trug einen gelben Pulli, der sich an einem Ärmel aufzutrennen begann, einen karierten Schal und Hausschuhe. Er hatte noch einen kleinen Rest grauer Haare auf dem Kopf und ein sehr knittriges, zerfurchtes Gesicht. »Kommen Sie«, sagte er.

Ich zögerte. »Kommen Sie schon, stehen Sie nicht so ungemütlich vor der Tür. Herein mit Ihnen! Ich mache uns eine Tasse Tee. Nehmen Sie Platz, Gleich dort. Lassen Sie sich von der Katze nicht stören. Nehmen Sie Platz, und machen Sie es sich gemütlich. Bestimmt möchten Sie auch ein paar Kekse, nicht wahr? Zucker? Nehmen Sie Zucker?

Sie waren die letzten Tage ziemlich viel unterwegs, nicht wahr? Ich habe Sie kommen und gehen sehen. Ich habe so viel Zeit, dass mir solche Dinge auffallen.«

Im Raum war es extrem warm, und es herrschte eine penible Ordnung. Die Wände waren von Bücherregalen gesäumt. Er besaß die gesammelten Werke von Charles Dickens in einer sehr edel wirkenden, gebundenen Ausgabe. Ich ließ mich auf seinem weichen Ledersofa nieder und nahm den Tee entgegen, den er mir reichte. Die Katze zuckte im Schlaf zusammen. Sie sah wie der fette Tiger aus, den ich durch mein Fenster gesehen hatte.

»Danke, Peter. Wunderbar. Frischen Sie mein Gedächtnis auf – wann genau haben wir uns kennen gelernt?«

»Am Mittwoch«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. »An dem Tag, an dem Sie hier eingetroffen sind. Ich war zufällig draußen auf dem Gehsteig, ein wenig Luft schnappen, als Sie gerade Ihre Sachen reintrugen und Jo uns vorstellte. Ich habe Sie eingeladen, mich doch zu besuchen, falls Ihnen langweilig sein sollte, aber Sie sind nie gekommen. Natürlich hatten Sie dann auch keine Gelegenheit mehr dazu, weil Sie ja weggefahren sind.«

»Wann war das? Wann bin ich weggefahren?«

»Sie haben wohl Ihr Gedächtnis verloren, was?« Er lachte fröhlich. »Ich habe Sie beide schon eine Weile nicht mehr gesehen. Waren Sie zusammen im Urlaub?«

»Nicht direkt.«

»Ist Jo auch wieder da? Ein nettes Mädchen, diese Jo.

Immer hilfsbereit. Sie hat mich einmal ins Krankenhaus gefahren, nachdem ich in der Wohnung gestürzt war und mir das Bein gebrochen hatte. Sie hat mich sogar besucht.

Niemand sonst ist gekommen, aber sie hat mich besucht und mir Blumen mitgebracht.«

»Sie ist noch nicht zurück«, antwortete ich vage.

»Ich bin schon sechsundachtzig«, erklärte er. »Finden Sie, dass man mir das ansieht?«

»Nein«, log ich.

»Meine Mutter ist fünfundneunzig geworden.

Fünfundneunzig, und dann, eines Tages, peng und vorbei.

Sie fehlt mir immer noch. Ich bin ein alter Mann und denke jeden Tag an meine Mum. Ich habe noch ihre Haarbürsten, müssen Sie wissen, schöne silberne Haarbürsten mit Elfenbeinrücken und echten Pferdehaaren. Das kriegt man heute gar nicht mehr. Und ihren Serviettenring, auch aus Silber, mit ihrem Namen auf der Innenseite. Sehr hübsch.«

»Der Tee war jetzt genau das Richtige für mich. Vielen Dank.«

»Sie wollen schon gehen? Ohne Keks?«

»Ich komme bald wieder.«

»Ich bin fast immer zu Hause.«

Ich schlief sehr tief und träumte von einem Feueralarm.

Ich konnte nicht sehen, wo das Feuer ausgebrochen war, und wusste auch nicht, in welche Richtung ich fliehen sollte. Diese Unwissenheit lähmte mich. Hätte ich gewusst, wo sich der Notausgang befand, hätte ich darauf zusteuern können. Hätte ich gewusst, wo das Feuer loderte, hätte ich in die andere Richtung laufen können.

Als die Feuersirene erneut einsetzte, wachte ich auf.

Benommen realisierte ich, dass die Türklingel schellte. Ich griff nach meinem Bademantel. Meine Augen waren schwer. Die Lider fühlten sich zusammengeklebt an. Bei einem Auge zog ich sie mit den Fingern auseinander, als wollte ich eine Traube schälen, musste mir den Weg zur Tür aber trotzdem ertasten. Dennoch stellte ich sogar in diesem schlafwandlerischen Zustand noch sicher, dass die Kette vorgelegt war. Als ich die Tür einen Spalt weit öffnete, spähte das Gesicht eines jungen Polizeibeamten zu mir herein.

»Miss Devereaux?«, fragte er.

»Wie spät ist es?«

Er warf einen Blick auf seine Uhr.

»Drei Uhr fünfundvierzig«, antwortete er.

»In der Nacht?«

Er wandte sich um. Draußen war es grau und bewölkt, aber ganz offensichtlich Tag. Allmählich bekam ich wieder einen klaren Kopf.

»Es geht um den Wagen, nicht wahr?«, sagte ich. »Ich wollte ihn eigentlich längst abholen. Erst war es der Strafzettel, dann die Autokralle. Ich wollte mich schon die ganze Zeit darum kümmern, hatte aber so viel anderes zu tun. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen besser, Sie wollen sie bestimmt nicht hören.«

Er starrte mich verständnislos an.

»Ich bin nicht wegen eines Wagens hier«, erklärte er.

»Dürfen wir reinkommen?«

»Vorher würde ich gern Ihren Dienstausweis sehen.«

Seufzend reichte er mir ein dünnes Ledermäppchen. Als ob ich einen echten Dienstausweis von einem falschen unterscheiden könnte.

»Die kann man wahrscheinlich im Internet bestellen«, sagte ich.

»Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer, die Sie anrufen können, wenn Sie noch immer Bedenken haben.«

»Ja, und da nimmt dann ein Freund von Ihnen ab, der schon auf meinen Anruf wartet.«

»Hören Sie, Miss Devereaux, DI Cross schickt mich. Er möchte mit Ihnen reden. Wenn das für Sie ein Problem darstellt, würde ich Sie bitten, das mit ihm selbst zu klären.«

Ich entriegelte die Tür. Sie waren zu zweit. Umständlich reinigten sie auf der Türmatte ihre Schuhe und nahmen ihre Dienstmützen ab.

»Wenn Cross mit mir reden möchte, warum ist er dann nicht selbst gekommen?«

»Wir sollen Sie mitnehmen.«

Ich stand schon im Begriff, eine wütende Bemerkung zu machen, empfand jedoch gleichzeitig Erleichterung.

Endlich wandte sich Cross von sich aus an mich. Ich war nicht mehr diejenige, die ihm Unannehmlichkeiten bereitete. Fünf Minuten später saß ich in einem Polizeiwagen, der in Richtung Süden brauste. Als wir an einer Ampel anhalten mussten, bemerkte ich, wie ein paar Leute zu mir hereinstarrten. Ich sah ihnen an, was sie dachten: Wer war diese Frau, die dort auf dem Rücksitz saß? War sie eine Verbrecherin oder eine Polizistin? Ich versuchte, eher wie eine Polizistin auszusehen. Als wir den Fluss überquerten, warf ich einen Blick aus dem Fenster und runzelte die Stirn.

»Das ist die falsche Richtung«, sagte ich.

»DI Cross ist auf dem Revier Castle Road.«

»Warum?«

Ich bekam keine Antwort.

Castle Road war ein brandneues Polizeirevier mit viel Glas und farbigem Stahlrohr. Wir parkten an der Rückseite des Gebäudes, wo mich die beiden Beamten rasch durch eine kleine Tür und eine Treppe hinaufführten. In dem Büro, in dem Cross mich erwartete, saß noch ein zweiter Detective, ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, der mir die Hand hinstreckte und sich als Jim Burrows vorstellte.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Cross. »Wie geht es Ihnen?«

»Hat das alles mit Jo zu tun?«

»Was?«

»Ich bin ihretwegen nämlich nach Dorset gefahren. Sie war nicht in dem Cottage, in das sie sich normalerweise gern zurückzieht. Außerdem habe ich mit einem Mann gesprochen, der sie kennt und der weitere andere Bekannte von ihr angerufen hat, doch niemand weiß, wo sie ist.«

»Ach ja, richtig«, sagte Cross und warf einen leicht verlegenen Blick zu Burrows hinüber. Es war ein typischer Wissen-Sie-jetzt-was-ich-gemeint-habe-Blick.

»Aber ich wollte Sie eigentlich etwas anderes fragen«, fuhr er fort. »Bitte setzen Sie sich.« Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. »Kennen Sie eine Frau namens Sally Adamson?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Wer soll das sein?«

»Hatten Sie inzwischen Kontakt mit Terry Wilmott?«

Plötzlich lief eine Welle der Übelkeit durch meinen Körper, vom Scheitel bis hinunter zu den Zehenspitzen.

Etwas Schlimmes war passiert, »Ich war ein paarmal bei ihm, um meine Post abzuholen.«

Mir kam ein Gedanke. »Sally. Ist das nicht seine Freundin?«

»Seine Freundin?«

»Ich weiß nicht genau, wie der Stand der Dinge zwischen den beiden ist. Auf jeden Fall bin ich ihr zweimal über den Weg gelaufen. Sie kam, als ich gerade am Gehen war. Ihren Nachnamen kenne ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob sie wirklich zusammen sind, aber meiner Meinung nach gehört Terry zu der Sorte Mensch, der nicht in der Lage ist, ohne Beziehung zu leben. Ich meine, als wir beide uns kennen gelernt haben …«

Abrupt brach ich ab. »Ist etwas passiert?«

Die beiden Männer sahen sich an. Burrows stand auf und trat einen Schritt vor.

»Sie ist tot«, erklärte er. »Sally Adamson. Sie ist gestern Abend tot aufgefunden worden.«

Mein Blick wanderte von ihm zu Cross. Da mir ungefähr fünfzig Fragen auf der Zunge brannten, stellte ich die dümmste zuerst.

»Tot?«

»So ist es«, antwortete Cross. »Und jetzt kommt der interessante Teil. Ihre Leiche wurde in der Westcott Street unter einer Hecke gefunden, im Vorgarten von Haus Nummer 54. Sie ist erwürgt worden. Eine natürliche Todesursache ist auszuschließen.«

Ich schauderte. Mir wurde kalt. »Terry wohnt in Nummer 62.«

»Ja«, antwortete Cross.

»Oh«, sagte ich. »O mein Gott!«

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Cross. »Einen Kaffee?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ein Alptraum«, murmelte ich.

»Lieber Himmel! Die arme Sally! Aber weshalb brauchen Sie da mich?« Cross gab mir keine Antwort, sah mich unverwandt an. Es dauerte eine Weile, bis mein müdes Gehirn verstand.

»Nein«, sagte ich. »Nein, nein und noch mal nein! In der Gegend gibt es viel Kriminalität. Eine Frau, die nachts allein eine Wohnung verlässt. Bestimmt war es ein Raubüberfall.«

Cross ging zu einem Tisch in der Ecke. Er kehrte mit einer durchsichtigen Plastiktüte zurück.

»Sally Adamsons Geldbörse«, erklärte er. »Wir haben Sie in Miss Adamsons Umhängetasche gefunden, die neben der Leiche lag. Die Börse enthält fünfundvierzig Pfund in bar. Außerdem zwei Kreditkarten. Es ist offenbar nichts gestohlen worden.«

»Nein«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu den beiden Beamten. »Nein. Das ergibt keinen Sinn. Weiß Terry schon davon?«

»Terence Wilmott befindet sich ein Stockwerk unter uns«, informierte mich Jim Burrow. »Meine Kollegen sprechen gerade mit ihm.«

»Was sagt er?«

»Nicht viel. Er ist in Begleitung seines Anwalts.«

»Sie glauben doch nicht allen Ernstes …? Sie können doch nicht …« Ich stützte den Kopf in die Hände, schloss die Augen. Vielleicht konnte ich einfach einschlafen, und wenn ich wieder aufwachte, würde sich alles verflüchtigt haben, so wie sich ein Traum oft in undeutliche Bilder auflöst, an die man sich kaum noch erinnern kann.

Burrows räusperte sich. Er nahm ein mit Schreibmaschine beschriebenes Blatt von seinem Schreibtisch und warf einen Blick darauf.

»Sie haben im November und Dezember letzten Jahres bei mindestens drei Gelegenheiten die Polizei angerufen, weil Sie Probleme mit Ihrem Freund hatten.«

»Das ist richtig«, antwortete ich. »Und die Polizei hat nicht das Geringste unternommen. Man hat mir nicht geglaubt.«

»Was hat er getan?«

»Das ist schnell erklärt. Terry hat depressive Phasen. Er wird wütend. Er betrinkt sich. Manchmal wird er dann auch handgreiflich.«

»Er hat Sie geschlagen?«

»Hören Sie, wenn Sie auch nur eine Sekunde annehmen, Terry könnte eine Frau umbringen …«

»Miss Devereaux, über Ihre Einschätzung der Sachlage können wir später sprechen. Zuerst beantworten Sie bitte unsere Fragen.«

Ich hoffte, durch die Art, wie ich meinen Mund zuklappte, meine ganze Verachtung zum Ausdruck zu bringen. »Wie Sie meinen«, sagte ich.

»Er hat Sie geschlagen?«

»Ja, aber …«

»Mit der flachen Hand?«

»Ja.«

»Hat er sie auch mit der geschlossenen Hand geschlagen?«

»Sie meinen, mit der Faust? Ein- oder zweimal.«

»Heißt das, dass er nur ein- oder zweimal zugeschlagen hat oder dass es ein- oder zweimal vorgekommen ist, dass er mit den Fäusten auf Sie losgegangen ist?«

Ich holte tief Luft. »Letzteres. Es ist zweimal passiert.«

»Hat er jemals irgendeine Art von Waffe benutzt?«

Ich warf mit einer wilden Geste die Arme hoch. »Das ist so alles nicht richtig«, erklärte ich. »Diese Ja- und Nein-Fragen treffen es nicht. Es war viel komplizierter.«

Burrow rückte noch näher an mich heran, wiederholte seine Frage in leisem Ton: »Hat er Sie je mit einer Waffe bedroht? Beispielsweise einem Messer?«

»Ich glaube schon.«

»Sie glauben?«

»Ja. Ich meine, ja, er hat es getan.«

»Hat er jemals seine Hände oder seinen Arm um Ihren Hals gelegt?«

Meine Reaktion auf diese Frage überraschte mich selbst.

Ich begann hemmungslos zu weinen. Blind vor Tränen tastete ich nach einem Taschentuch, aber meine Hände schienen nicht richtig zu funktionieren. Dabei wusste ich nicht einmal, weshalb ich weinte. Ich wusste nicht, ob es wegen meiner gescheiterten Beziehung mit Terry war oder weil ich um mein Leben bangen musste. Und nun auch noch die Sache mit Sally. Sally, deren Nachnamen ich nicht gekannt hatte. Vergeblich versuchte ich, mir ihr Gesicht vorzustellen. Sie war eine Frau, der ich wahrscheinlich nichts Gutes gewünscht hätte, wenn ich überhaupt einen Gedanken an sie verschwendet hätte, und nun war ihr dieses Unglück zugestoßen. Machte mich das zu einem kleinen Grad mit verantwortlich?

Als ich mich von meinem Heulanfall einigermaßen erholt hatte, stellte ich fest, dass Cross mit zwei Pappbechern vor mir stand. Der erste, den er mir reichte, enthielt Wasser, das ich mit einem Zug austrank. In dem anderen Becher war heißer, starker Kaffee. Ich nahm vorsichtig einen Schluck.

»Ich möchte, dass Sie eine Aussage machen«, sagte er.

»Falls Sie sich dazu in der Lage fühlen.« Ich nickte. »Gut.

Wir holen eine Beamtin, die alles zu Protokoll nehmen wird, anschließend gehen wir das Ganze noch einmal durch.«

So kam es, dass ich die nächsten zweieinhalb Stunden einen Pappbecher Kaffee nach dem anderen trank und über all die Dinge in meiner Beziehung mit Terry sprach, die ich eigentlich hatte vergessen wollen. Es heißt ja, über schlimme Erfahrungen zu sprechen hätte eine therapeutische Wirkung. Bei mir war das Gegenteil der Fall. Obwohl es in meinem Leben ein paar Menschen gab, mit denen ich sehr gut befreundet war, hatte ich mit ihnen nie über Terry gesprochen, zumindest nicht über die ganz schlimmen Sachen. Ich hatte diese Dinge nie zur Sprache gebracht, nie beim Namen genannt. Als ich sie nun in Jim Burrows Büro laut aussprach, erwachten sie zu neuem Leben und machten mir Angst.

Viele Monate war ich einfach der Meinung gewesen, in einer etwas problematischen Beziehung zu leben, in der die Dinge bisweilen außer Kontrolle gerieten, weil wir Kommunikationsprobleme hatten. Als ich nun alles in Worte fasste, hörte sich das ganz anders an. Die Frau, die meine Aussage mitschrieb, war eine junge uniformierte Beamtin. Als ich den Abend beschrieb, an dem Terry sturzbetrunken nach einem Küchenmesser griff, damit vor mir herumfuchtelte und es mir an den Hals drückte, hörte sie zu tippen auf und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich erklärte, dass er das nicht ernst gemeint habe. Dass er mir niemals Schaden zugefügt hätte. WPC

Hawkins, Burrow und Cross sahen mich an und wechselten viel sagende Blicke. Alle drei verzichteten darauf, laut auszusprechen, was auf der Hand lag – dass er mir sehr wohl Schaden zugefügt hatte und wem ich eigentlich etwas vormachen wollte. Allmählich begann ich mich selbst zu fragen: Hatte ich ein Problem? War ich das geborene Opfer? Während ich die Geschichte erzählte, begann ich mir ernstlich Sorgen um diese Frau zu machen, die sich das so lange hatte gefallen lassen. Und ich dachte über die Frau nach, an die ich mich nicht erinnern konnte, die Frau, die gesagt hatte, nun sei das Maß endgültig voll, und zur Tür hinausmarschiert war.

Ich versuchte, mir Sally Adamson vorzustellen, die Frau, die zu mir gesagt hatte, wir seien uns überhaupt nicht ähnlich, und die man nun starr und kalt in einem winterlichen Vorgarten gefunden hatte. Plötzlich musste ich daran denken, dass sie vielleicht noch Terrys Sperma in sich getragen hatte, während sie dort tot unter der Hecke lag. Dieser Gedanke trieb mir die Schamesröte ins Gesicht, und ich befürchtete, meine glühenden Wangen könnten Cross verraten, was mir gerade Schreckliches durch den Kopf gegangen war. Schnell fragte ich, wer sie gefunden habe. Es war der Postbote gewesen. Ich stellte mir vor, wie sie von einem Fremden gefunden wurde, während die Menschen, die sie kannten und liebten, von ihrem Tod noch keine Ahnung hatten. Und ich begann mich zu fragen, ob Terry das tatsächlich getan haben konnte. Falls ja – falls er es wirklich getan hatte, was bedeutete das dann für mich und meine Geschichte?

Niemand hatte mir geglaubt, doch bis jetzt hatte ich wenigstens mir selbst geglaubt. Das war das Einzige, was mich bisher davon abgehalten hatte, wahnsinnig zu werden.

17

Nachdem ich meine Aussage beendet hatte, fühlte ich mich völlig ausgebrannt. Die Geschichte entsprach in allen Punkten der Wahrheit, aber ich hatte dennoch das unbestimmte Gefühl, dass es sich nicht um die Geschichte handelte, die ich eigentlich hatte erzählen wollen. Mir war, als müsste ich noch etwas Wichtiges hinzufügen, konnte aber vor Erschöpfung keinen klaren Gedanken mehr fassen. Cross sah das Protokoll mit kritischem Blick durch, nickte hin und wieder. Er kam mir vor wie ein Lehrer beim Korrigieren einer eher mangelhaften Hausaufgabe. Nachdem ich die Aussage dreimal unterschrieben hatte, trug WPC Hawkins den kleinen Stapel Blätter fort. Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte, als Cross mir anbot, mich nach Hause zu fahren. Ich protestierte, doch er behauptete, ohnehin in meine Richtung zu müssen. Mir fehlte die Energie für weiteren Widerspruch.

Der erste Teil der Fahrt führte uns durch stark befahrene Straßen, die mir nicht bekannt vorkamen. Ich starrte vor mich hin und versuchte, an nichts zu denken. Ein aussichtsloses Unterfangen. Natürlich begann ich, in Gedanken alles noch einmal zu rekapitulieren, und nach kurzer Zeit konnte ich die Augen nicht mehr davor verschließen.

»Anhalten«, sagte ich.

»Was ist los?«, fragte Cross.

»Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

»Um Himmels willen!« Er blickte sich verzweifelt um.

»Hier ist überall Halteverbot, aber ich finde bestimmt gleich eine Stelle, wo ich anhalten kann.«

»Sie sind doch Polizist!«

»Moment, Moment noch! Wenn es gar nicht mehr geht, dann bitte aus dem Fenster!«

Er bog von der Hauptstraße in eine Seitenstraße ein und hielt am Randstein an. Ich riss die Tür auf und rannte hinaus. Vor mir ragte eine hohe Ziegelmauer auf, wahrscheinlich die Seite einer Fabrik oder Lagerhalle. Ich legte die Hände auf die raue Oberfläche, die sich wundervoll kalt anfühlte, und lehnte den Kopf dagegen.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Rücken.

»Geht es wieder?«

Eine warme, säuerliche Flüssigkeit stieg in meinem Hals hoch, aber ich schluckte sie hinunter und holte mehrmals tief Luft.

»Sie haben einen schweren Tag hinter sich«, meinte Cross.

»Nein, nein«, widersprach ich. »Ich meine, ja, aber das ist nicht der Grund.«

»Wie meinen Sie das?«

Ich ging ein paar Schritte und versuchte mich zu wärmen, indem ich die Arme um mich schlang. Es war Abend geworden, und mein Atem bildete vor meinem Gesicht eine weiße Wolke. Wir befanden uns am Rand eines Industriegebiets. Hinter Stacheldraht ragten hohe Gebäude auf, die trotz ihrer modernen Bauweise ein wenig verrußt wirkten. Frazer Glass and Glazing Co. Leather Industries Centre. Tippin Memorial Masons.

»Sie liegen völlig falsch«, sagte ich.

»Steigen Sie wieder ein.«

»Warten Sie einen Moment«, versuchte ich ihn zurückzuhalten. »Sie wissen, dass ich im Moment keine besonders herzlichen Gefühle für Terry hege.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Er ist ein Mann mit ernsthaften Problemen, und wahrscheinlich braucht er jede Hilfe, die er bekommen kann, aber diesen Mord hat er nicht begangen.«

»Miss Devereaux, Abbie, steigen Sie wieder ein. Ich erfriere hier draußen.«

»Werden Sie mir im Auto ein paar Fragen beantworten?«

»Was Sie wollen. Hauptsache, ich muss nicht mehr in dieser Kälte herumstehen.«

Wir saßen eine Weile schweigend im Wagen.

»Halte ich Sie von etwas ab?« fragte ich.

»Nicht direkt«, antwortete er.

»Mir gehen ständig diese Fragen durch den Kopf, ich kann nichts dagegen tun. Ich weiß, dass Sie der Experte sind, aber trotzdem ergibt das Ganze für mich keinen Sinn.

Zum einen ist Terry einfach kein Mörder. Und selbst wenn er es wäre, würde er sich meiner Meinung nach keine Frau aussuchen, mit der er gerade eine Beziehung angefangen hat. Und wenn er trotz allem beschlossen hätte, sie umzubringen, dann wäre es entweder in seiner oder ihrer Wohnung passiert. In diesem Fall hätte er die Leiche bestimmt nicht drei Häuser weiter abgelegt. Da hätte er sich die Mühe, sie zu verstecken, gleich sparen können!«

Die erste Reaktion von Jack Cross, sofern man das überhaupt eine Reaktion nennen konnte, bestand darin, den Wagen zu starten und loszufahren.

»Ich glaube, ich schaffe das auch, während ich fahre«, erklärte er. »Als Erstes sollte ich vielleicht mal klarstellen, das Terence Wilmott noch nicht angeklagt worden ist, den Mord an Sally Adamson begangen zu haben. Trotzdem ist er ein naheliegender Verdächtiger, und ich fürchte, in den meisten Fällen entpuppen sich die naheliegendsten Verdächtigen tatsächlich als Täter. Ich habe Ihre Argumente zur Kenntnis genommen …«

»Was im Klartext bedeutet, dass Sie sie ignorieren werden«, unterbrach ich ihn.

»Aber Fakt ist auch, dass die meisten Mordopfer nicht von Fremden umgebracht werden, die sie in einer dunklen Seitenstraße überfallen, sondern von Menschen, die sie kennen. Frauen sind am meisten durch ihre Sexualpartner gefährdet. Die Tatsache, dass Terry gegenüber einer anderen Partnerin – nämlich Ihnen – schon mehrfach Gewalt angewendet hat, stellt weiteres Beweismaterial dar. Sehr belastendes Beweismaterial, würde ich sagen.

Was die Frage betrifft, wo er es getan hat oder warum und wo er sich der Leiche entledigt hat – falls er das getan hat

– dazu kann ich nur sagen, dass es da keine Regeln gibt.

Manche Menschen planen einen Mord langfristig, andere handeln völlig spontan. Manche Täter verzichten darauf, die Leiche zu verstecken, andere verstecken sie so gut, dass sie niemals gefunden wird, wieder andere verstecken sie mehr oder weniger schlecht. Vielleicht hat er sie umgebracht und ihre Leiche dann an der Straße abgeladen, um es so aussehen zu lassen, als wäre sie beim Verlassen der Wohnung einem Raubüberfall zum Opfer gefallen.«

»Wenn das seine Absicht war, wieso hat er dann ihre Geldbörse bei ihr gelassen? Außerdem wäre es ein viel zu großes Risiko gewesen, die Leiche die Straße entlangzuzerren.«

»Haben Sie je einen Mord begangen, Abbie?«

»Nein. Sie?«

»Nein.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Aber ich habe mit Menschen zu tun, die einen begangen haben.

Stellen Sie sich den schlimmsten Stress vor, den Sie je erlebt haben, und multiplizieren Sie ihn mit hundert. Sie können nicht mehr richtig atmen, Sie können nicht mehr richtig denken. In dieser Situation machen Menschen die seltsamsten Dinge. Sie begehen die verrücktesten Fehler.«

»Es gibt noch eine Möglichkeit.«

»Es gibt noch viele Möglichkeiten.«

»Nein. So ist es wirklich passiert.«

»Nämlich?«, fragte er in übertrieben geduldigem Ton.

Es fiel mir schwer, es laut auszusprechen. Ich musste mich dazu zwingen.

»Sie wissen, dass ich mein Aussehen stark verändert habe, seit all das passiert ist.«

»Ja, das ist mir aufgefallen.«

»Seit Sie mich einfach meinem Schicksal überlassen haben, ohne auch nur ansatzweise für meinen Schutz zu sorgen, habe ich aufwändige Vorkehrungen getroffen, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Kaum jemand weiß, wo ich mich aufhalte. Und so ziemlich das Einzige, was dieser Mann – der Mann, der mich entführt hat – von mir weiß, ist meine alte Adresse und wo ich gearbeitet habe.

Ich habe über diese Dinge mit ihm gesprochen. Daran erinnere ich mich.«

»Ja?«

»Ist Ihnen aufgefallen, dass wenn nach der Trennung eines Paars einer von beiden gleich wieder mit jemand anderem zusammenkommt, der neue Partner oft wie ein Klon des alten aussieht?«

»Nein, darauf habe ich noch nie geachtet.«

»Ist aber so. Es ist mir sofort aufgefallen, als ich Sally in die Arme gelaufen bin. Fragen Sie Terry. Bei meinem ersten Zusammentreffen mit ihr habe ich die beiden sogar darauf aufmerksam gemacht.«

»Sehr taktvoll.«

»Sie war nicht meiner Meinung. Na ja, wäre wohl auch ein bisschen viel verlangt gewesen. Außerdem hätte sie die Ähnlichkeit ohnehin nicht mehr feststellen können. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mein Äußeres so weit verändert, dass wir völlig unterschiedlich aussahen. Worauf ich hinaus will, ist, dass der Mann, der mich entführt hat, genau gewusst hat, dass ich wieder da draußen herumlaufe. Er ist zwar bis jetzt nicht verhaftet worden, doch er kann trotzdem nicht sicher sein, wie viel ich über ihn weiß. Ich stelle ein Risiko für ihn dar. Wenn er mich töten könnte, wäre er sicherer. Eine der wenigen Möglichkeiten, mich zu finden, war, sich in der Nähe von Terrys Wohnung aufzuhalten. Falls er gesehen hat, wie Sally mitten in der Nacht aus der Wohnung kam, hat er sicher geglaubt, ich sei es.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Er hat sie erwürgt, weil er sie mit mir verwechselt hat.

Er war der Meinung, dass es sich um meinen Hals handelte. Das ist die einzige Erklärung, die einen Sinn ergibt.«

Ich sah zu Cross hinüber. Er gab mir keine Antwort.

Plötzlich schien er sich ganz auf den Verkehr zu konzentrieren. Mir kam ein weiterer Gedanke.

»Er glaubt, dass er mich umgebracht hat.«

»Was?«

»Dieser Mann. Er glaubt, dass ich tot bin. Er wähnt sich in Sicherheit. Wahrscheinlich ist ihm sein Irrtum noch nicht klar geworden. Wenn Sie die Bekanntgabe des Mordes ein wenig hinauszögern oder die Identität des Opfers noch eine Weile geheim halten könnten, gäbe mir das ein paar Tage Zeit, etwas zu unternehmen.«

»Eine sehr gute Idee«, entgegnete Cross. »Ihr Plan hat nur einen Haken.«

»Und der wäre?«

»Dass wir in der Realität leben. Wir sind leider mit ein paar lästigen Vorschriften geschlagen. Wenn jemand ermordet wird, ist eigentlich nicht vorgesehen, dass wir diese Tat geheim halten. Wir müssen die Angehörigen informieren. Und es wird von uns erwartet, dass wir herausfinden, wer es war.«

Wir schwiegen beide ein paar Minuten, bis der Wagen schließlich vor Jos Wohnung hielt.

»Wissen Sie, was wirklich lustig ist?«, fragte ich.

»Nein.«

»Sie glauben mir nicht. Sie halten mich für eine Phantastin, vielleicht sogar für eine chronische Lügnerin.

Sie sind recht nett zu mir, und ich weiß, dass es Ihnen ein wenig schwerer gefallen ist als den anderen, mich einfach meinem Schicksal zu überlassen, trotzdem ist das der Stand der Dinge. Hätten Sie aber statt Sally mich in diesem Vorgarten gefunden, dann würden Sie jetzt mit Sicherheit Terry für den Täter halten, und dieser Mann wäre ungeschoren davongekommen.«

Cross beugte sich zu mir herüber und legte eine Hand auf meinen Oberarm.

»Abbie, wie ich schon gesagt habe, werden wir in Ihrem Fall unverzüglich weiterermitteln, sobald uns neues Beweismaterial vorliegt. Das versteht sich von selbst. Und wenn Ihre Freundin …«

»Jo.«

»Wenn Jo in den nächsten Tagen nicht auftaucht, sollten Sie sich auf jeden Fall wieder bei mir melden. Was Ihre Aussage betrifft, tu ich sie keineswegs als Lügengeschichte ab. Wir haben Sie auch nicht einfach Ihrem Schicksal überlassen, wie Sie es ausdrücken, wir hatten lediglich keine Beweise – außer dass Sie Ihr Freund, Terry Wilmott, in der Vergangenheit ein paarmal verprügelt hatte und es kurz vor Ihrem Gedächtnis-Verlust ein weiteres Mal getan hat. Mehr Anhaltspunkte hatten wir nicht. Wenn wir letzte Nacht Ihre Leiche gefunden hätten

– was Gott sei Dank nicht der Fall war –, dann wäre Terry vielleicht sogar der Täter gewesen. Ist Ihnen dieser Gedanke schon einmal durch den Kopf gegangen? Meiner Meinung nach können Sie froh sein, dass Sie ihn rechtzeitig losgeworden sind.«

»Aber was ist mit meinem Verschwinden? Wollen Sie das auch ihm in die Schuhe schieben? Er hat ein Alibi, oder haben Sie das vergessen?«

Cross’ Miene verhärtete sich. »Er hat nur eine Geschichte, die zu stimmen scheint, das ist alles. Dieser ganze Fall bestand bisher nur aus Geschichten, einer Menge Geschichten. Jetzt aber haben wir es mit einer Frauenleiche zu tun, sie lag nur ein paar Meter von der Haustür des Mannes entfernt, der Sie mehrfach verprügelt hat.«

Ich stieg aus, beugte mich aber noch einmal zu ihm in den Wagen. Sein Gesicht war von den Straßenlampen schwach beleuchtet. »Morgen wird Sallys Name in der Zeitung stehen. Dann wird er es wissen und wieder hinter mir her sein, aber am Ende werden Sie erkennen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Ich habe eine Möglichkeit, es Ihnen zu beweisen.«

»Und die wäre?«

»Sie werden es wissen, wenn Sie meine Leiche finden.

Ich werde erwürgt in irgendeinem Graben liegen, und Terry wird immer noch in Untersuchungshaft sitzen. Dann wird es Ihnen Leid tun.«

»Da haben Sie Recht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Es würde mir Leid tun.«

Ich knallte die Tür so heftig zu, dass der ganze Wagen bebte.

18

Ich blickte zu Jos Fenster hinauf. Es brannte kein Licht, die Wohnung wirkte dunkel und verlassen. Während ich den Schlüssel ins Schloss schob, stellte ich mir vor, wie ich die ganze Nacht dort oben sitzen würde, Sallys Leiche vor Augen, darauf wartend, dass es endlich Morgen wurde. Vielleicht sollte ich besser wieder zu Sadie gehen oder zu Sam oder Sheila. Allein der Gedanke erfüllte mich mit Verzweiflung. Ich würde ihnen alles erzählen müssen, was sich inzwischen ereignet hatte, und das war einfach zu viel. Obwohl es nur ein paar Tage zurücklag, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte, schienen uns mittlerweile Welten voneinander zu trennen. Ich war aus ihrer Welt herausgefallen und eine Fremde geworden. Wer von ihnen sollte mich jetzt noch kennen?

Ich konnte aber auch nicht hier auf der Straße stehen bleiben, wo ich die perfekte Zielscheibe abgab. Rasch drehte ich den Schlüssel im Schloss und schob die Tür auf.

Als mein Blick auf die Treppe fiel, die zu den dunklen Räumen hinaufführte, kroch eine unbestimmte Angst in mir hoch. Ich zog die Tür zu und lehnte mich einen Moment dagegen, versuchte, ruhig durchzuatmen. Ein Teil von mir wäre am liebsten an der Tür zu Boden geglitten und dort liegen geblieben wie ein verendendes Tier. Ich konnte mich zusammenrollen und die Arme um den Kopf schlingen. Dann würde jemand kommen und sich um alles kümmern. Man würde mich auf eine Trage heben und an einen warmen, sicheren Ort bringen, und ich müsste nicht mehr Tag für Tag so weitermachen.

Doch ich rollte mich nicht auf dem Boden zusammen, sondern ging auf die Hauptstraße zurück, wo ich ein Taxi herbeiwinkte und den Fahrer aufforderte, mich zum Belsize Park zu fahren. Obwohl ich die Hausnummer nicht wusste, war ich überzeugt, dass ich das Haus wiedererkennen würde, wenn ich erst einmal dort war.

Wahrscheinlich würde er gar nicht zu Hause sein, und wenn doch, würde ich nicht wissen, was ich zu ihm sagen sollte.

Ich fand das Haus ohne Probleme, weil mir der davorstehende Baum bekannt vorkam und ich mich noch an das schmiedeeiserne Tor erinnern konnte. Sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock brannte Licht. Ich reichte dem Fahrer eine Zehn-Pfund-Note und ging atemlos und mit wackeligen Beinen auf das Haus zu.

Wahrscheinlich hatte er gerade Gäste oder vergnügte sich im Bett. Ich betätigte den Türklopfer und trat einen Schritt zurück. Als ich ihn kommen hörte, entschlüpfte mir ein kleiner Seufzer.

»Abbie?«

»Haben Sie Besuch? Störe ich?«

Er schüttelte den Kopf.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle, aber ich wusste mir keinen Rat mehr.

Sie sind der einzige Mensch, der über die ganze Sache Bescheid weiß. Sie müssen entschuldigen.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe Angst.«

»Kommen Sie rein. Ihnen ist bestimmt kalt. Sie sehen richtig durchgefroren aus.« Er hielt mir die Tür auf, und ich betrat seine geräumige Diele.

»Sie müssen wirklich entschuldigen.«

»Nun hören Sie um Himmels willen auf, sich ständig zu entschuldigen. Kommen Sie in die Küche, da ist es schön warm. Moment, ich nehme Ihren Mantel.«

»Danke.«

Er führte mich in eine kleine Küche. Auf dem Fensterbrett standen Topfpflanzen, auf dem Tisch Narzissen. Es roch nach Kleber, Sägemehl und Lack.

»Hier, setzen Sie sich. Schieben Sie die Sachen einfach zur Seite. Ich mache uns etwas zu trinken. Tee? Oder lieber eine heiße Schokolade?«

»Das wäre wundervoll.«

Er goss Milch in einen Topf und stellte ihn auf den Herd.

»Haben Sie Hunger? Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«

»Heute Morgen, erinnern Sie sich?«

»War das erst heute Morgen? Mein Gott!«

»Haben Sie Ihre Besprechung gut hinter sich gebracht?«

»Zumindest habe ich sie hinter mich gebracht. Soll ich Ihnen etwas zu essen machen?«

»Nur eine heiße Schokolade. Das wäre sehr wohltuend.«

»Wohltuend«, wiederholte er mit einem Lächeln.

Er löffelte Schokogranulat in die kochende Milch und rührte um, bevor er sie in eine große grüne Tasse goss.

»So, nun trinken Sie das, Abbie, und dann erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Sally ist tot«, platzte ich heraus.

»Sally? Wer ist Sally?«

»Terrys neue Freundin.« Ich rechnete damit, dass er fragen würde, wer Terry sei, doch er nickte nur stirnrunzelnd.

»Das tut mir Leid, aber haben Sie sie auch gekannt? War sie eine Freundin von Ihnen?«

»Ich kannte sie eigentlich gar nicht. Aber sie ist ermordet worden.«

»Ermordet? Jemand hat sie ermordet?«

»Ganz in der Nähe von Terrys Wohnung. Die Polizei ist davon überzeugt, dass Terry es war.«

»Verstehe«, sagte er langsam.

»Aber er war es nicht. Ich weiß, dass er es nicht wahr.

Natürlich glaubt die Polizei wieder, dass ich in irgendeiner paranoiden Phantasiegeschichte gefangen bin. Für die ist das nur ein weiterer Beweis: Terry hat mich verprügelt, und ich habe aus einer tristen Misshandlungsgeschichte eine heroische Entführungsgeschichte gemacht. Dann führt er das Muster weiter und bringt seine nächste Freundin um.«

»Aber so war es nicht?«

»Nein. Terry könnte niemanden umbringen.«

»Viele Menschen, von denen man glaubt, sie könnten niemanden umbringen, bringen jemanden um.«

»Das sagt die Polizei auch. Aber ich kenne ihn. Hätte er sie tatsächlich umgebracht, dann wäre er hinterher vor lauter Schuldgefühlen zusammengebrochen und hätte die Polizei angerufen. Er hätte ihre Leiche ganz sicher nicht nach draußen getragen und ein paar Häuser weiter abgelegt. Selbst wenn er sie versteckt hätte, was er nicht getan hätte, weil er sie gar nicht hätte umbringen können, dann hätte er …«

»Ich bin nicht die Polizei.«

»Nein. Entschuldigen Sie. Es ist bloß … das alles. Ich muss ständig an den armen, dummen Terry denken. Und natürlich an Sally. Aber da ist noch etwas. Sally hat mir sehr ähnlich gesehen. Ich meine vorher, ehe ich mir meinen neuen Haarschnitt und all das andere zugelegt habe.« Ich sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte.

»Ich werde einfach dieses schreckliche Gefühl nicht los, dass eigentlich ich das Opfer hätte sein sollen.«

»Oh«, sagte er. »Verstehe.«

»Er ist irgendwo da draußen und sucht nach mir. Er wird mich finden. Ich weiß es.«

»Und die Polizei nimmt Sie nicht ernst?«

»Nein. Ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Ich weiß nicht, ob ich mich an ihrer Stelle nicht genauso verhalten würde. Wäre ich nicht ich, würde ich mich wahrscheinlich auch nicht ernst nehmen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen.«

»Glauben Sie mir?«

»Ja«, antwortete er.

»Ich meine, insgesamt. Die ganze Geschichte.«

»Ja.«

»Wirklich? Sagen Sie das jetzt nicht bloß so?«

»Nein, ich sage das jetzt nicht bloß so.«

Ich sah ihn an. Er verzog keine Miene, wandte den Blick nicht ab. »Danke«, sagte ich. Dann griff ich nach meiner heißen Schokolade und trank sie aus. Plötzlich fühlte ich mich viel besser. »Darf ich kurz Ihr Bad benutzen? Dann gehe ich nach Hause. Ich hätte Sie nicht so überfallen dürfen, das war dumm von mir.«

»Einfach die Treppe rauf, Sie können es nicht verfehlen.«

Mit weichen Knien stieg ich die Treppe hoch. Im Bad wusch ich mir am Waschbecken mein fleckiges Gesicht.

Ich sah wie ein ins Wasser gefallenes Schulmädchen aus.

Als ich die Treppe wieder hinunterging, blickte ich mich um. Es war ein schönes Haus. Ich fragte mich, ob hier auch eine Frau lebte. An den Wänden hingen Bilder, und überall stapelten sich Bücher. In der Ecke, wo die Treppe einen Knick machte, stand eine große Pflanze. Wie vom Donner gerührt blieb ich stehen und betrachtete ihren alten knorrigen Stamm und ihre dunkelgrünen Blätter. Ich beugte mich hinunter und drückte einen Finger in die feuchte, moosige Erde. Dann ließ ich mich neben ihr nieder und stützte das Kinn in die Hände. Ich wusste nicht, ob ich weinen, kichern oder schreien sollte. Am Ende tat ich nichts davon, sondern stand einfach auf und ging ganz langsam die restlichen Stufen hinunter. Als ich zurück in die Küche kam, saß Ben noch immer am Tisch. Er tat nichts Bestimmtes, starrte einfach nur in die Luft. Auch er wirkte müde. Müde und ein bisschen niedergeschlagen vielleicht.

Wie in einem Traum – meinem Traum, dem Traum von einem Leben, das ich einmal gelebt hatte, an das ich mich aber nicht mehr erinnern konnte – ging ich um den Tisch herum und legte eine Hand an sein Gesicht. Ich sah, wie sein Gesichtsausdruck ein wenig von seiner Härte verlor.

»War es so?«, fragte ich. Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf den Mundwinkel. Er schloss die Augen. Ich küsste seine Augenlider. Dann küsste ich ihn auf den Mund, bis er die Lippen öffnete. Er fühlte sich weich und neu an. »War es so?«

»Nein, so war es nicht.«

»Wie war es dann?«

»Du hast zu mir gesagt, du würdest dich so hässlich fühlen. Du hast über Terry gesprochen. Deswegen habe ich dich an die Hand genommen.« Er nahm meine Hand und führte mich in die Diele, wo ein großer Spiegel an der Wand hing. Er stellte mich davor, so dass ich mein Spiegelbild betrachten musste, die zerzauste, fleckige, blässliche, klapprige, ausgemergelte Abigail. Er stand hinter mir, und unsere Blicke begegneten sich im Spiegel.

»Ich habe dich hier herübergeführt und zu dir gesagt, dass du einen Blick in den Spiegel werfen sollst. Ich habe dir gesagt, wie schön du bist.«

»Ich sehe aus, als hättest du mich auf der Müllkippe aufgelesen.«

»Sei still, Abbie. Jetzt rede ich. Du warst damals schön, und du bist es immer noch. Ich habe dir gesagt, wie wundervoll ich dich finde, und plötzlich konnte ich nicht anders. Ich musste dich einfach küssen, so wie jetzt, auf deinen zarten Hals. Und du hast den Kopf geneigt, ja, genau so.«

»Und dann?«, fragte ich. Ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen.

»Ich habe dich geküsst, so, und mit den Händen über dein Gesicht und deinen Hals gestreichelt. Dann habe ich folgendermaßen weitergemacht.«

Er küsste meinen Hals, während er gleichzeitig meine Bluse aufknöpfte.

»Wirklich?«, murmelte ich, nicht gerade geistreich.

Er griff von hinten unter meine Bluse, öffnete meinen BH und zog ihn vorne hoch. Dann waren seine Hände auf meinen Brüsten. Seine weichen Lippen waren noch immer an meinem Hals, wo sie meine Haut mehr streichelten als küssten.

»So«, sagte er.

Ich wollte etwas sagen, brachte aber nichts heraus. Seine rechte Hand strich sanft über meinen Bauch, bewegte sich langsam nach unten. Geschickt öffnete er den Knopf meiner Hose und zog den Reißverschluss auf. Dann kniete er hinter mir nieder, ließ den Mund an meiner Wirbelsäule hinabgleiten. Seine Hände schoben sich unter meinen Hosenbund, und er zog die Hose samt Slip bis zu meinen Knöcheln hinunter. Er stand wieder auf, legte von hinten die Arme um mich.

»Sieh dich an«, sagte er, und ich betrachtete erst meinen Körper, dann ihn, dann wieder meinen Körper, mit seinen Augen. Und während ich so in den Spiegel sah, ging mir durch den Kopf, wie mein nackter Körper wohl beim letzten Mal ausgesehen hatte, vor … wie lange war das nun her? Zehn Tage? Als ich endlich wieder etwas herausbrachte, war meine Stimme heiser vor Erregung.

»Ich sehe völlig würdelos aus«, erklärte ich.

»Du siehst wundervoll aus.«

»Und ich kann nicht weglaufen.«

»Nein, du kannst nicht weglaufen.«

»Was habe ich als Nächstes gemacht?«

Er zeigte es mir. Ich musste auf höchst lächerliche Weise in sein Schlafzimmer hüpfen, wo ich mich aufs Bett fallen ließ, meine Schuhe in eine Ecke kickte und meine Kleider abschüttelte, die er mir im Grunde sowieso schon ausgezogen hatte. Nachdem er seinerseits langsam und bedächtig seine Sachen ausgezogen hatte, streckte er die Hand aus, holte aus einer Schublade ein Kondom heraus, riss das Päckchen mit den Zähnen auf. Ich half ihm, es überzustreifen.

»Davon weiß ich«, sagte ich. »Ich habe bei meinen Sachen die Pille danach gefunden.«

»O Gott!«, sagte er. »Das tut mir Leid. Wir hatten nicht genug Zeit.«

»Ich bin sicher, dass es auch meine Schuld war.«

»Allerdings«, antwortete er, inzwischen keuchend. »Das war es!«

Wir sahen uns an. Er streckte eine Hand aus und berührte mein Gesicht, meinen Hals, meine Brüste.

»Ich dachte, ich könnte dich nie wieder berühren«, sagte er.

»War es so?«

»Ja.«

»So?«

»Ja. Hör nicht auf.«

Wir hörten nicht auf. Wir sahen uns die ganze Zeit in die Augen, lächelten uns immer wieder an. Als er kam, schrie er auf. Ich zog ihn an mich und hielt ihn fest, küsste sein feuchtes Haar.

»Besser kann es nicht gewesen sein«, flüsterte ich.

Er drückte seine Lippen auf den Puls an meinem Hals und stöhnte etwas in meine Haut hinein.

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass nicht eine Stunde vergangen ist, in der ich dich nicht vermisst habe.«

»Vielleicht habe ich dich auch vermisst, wusste es aber nicht.«

»Was hat dich darauf gebracht?«

»Der Bonsai.« Ich löste mich von ihm und funkelte ihn an.

»Warum zum Teufel hast du mir nichts gesagt?«

»Tut mir Leid, ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Ich wollte, dass du von selbst etwas für mich empfindest, wollte dich nicht erst dazu auffordern müssen, etwas zu empfinden. Kannst du das verstehen?«

»Ich weiß nicht. Ein Teil von mir wäre jetzt gern wütend auf dich. So richtig wütend. Das ist kein Witz. Die ganze Zeit habe ich nach diesen verloren gegangenen Stückchen von mir gesucht, bin herumgestolpert wie eine verängstigte Blinde, und du hast das genau gewusst und hättest mir von Anfang an helfen können. Aber du hast es nicht getan. Du hast dich dazu entschieden, es lieber sein zu lassen. Du hast Dinge über mich gewusst, die ich selbst nicht wusste. Du weißt immer noch viel mehr über mich als ich selbst. Du kannst dich an die alte Abbie erinnern, die ich völlig vergessen habe. Du kennst dieses andere Ich, das ich verborgen halte. Du weißt, wie ich war, während ich keine Ahnung habe, wie du warst, wie wir beide waren. Was weißt du noch über mich? Woher soll ich wissen, dass du mir alles erzählt hast? Das kann ich nicht wissen. Du besitzt kleine Stücke meines Lebens. Das ist nicht richtig, oder?«

»Nein.«

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«

»Tut mir Leid. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte«, antwortete er hilflos. »Ich wollte es dir sagen, aber was genau hätte ich sagen sollen?«

»Die Wahrheit«, antwortete ich. »Das wäre zumindest ein guter Ausgangspunkt gewesen.«

»Es tut mir Leid«, sagte er noch einmal.

Sanft streichelte ich seine Brust. Bevor ich entführt und in einen Keller gesperrt worden war, war ich glücklich gewesen. Das hatten alle gesagt. Ich war glücklich gewesen, weil ich einen Mann verlassen hatte, der mich geschlagen hatte. Weil ich einen ungeliebten Job hingeworfen hatte. Und weil ich Ben begegnet war. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte mich die Vorstellung gequält, dass die Tage, die ich verloren hatte, Tage voller schöner Erinnerungen gewesen waren. Ich hatte genau die Stückchen verloren, die ich gern behalten hätte, und diejenigen behalten, auf die ich gern verzichtet hätte. Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, vielleicht waren es auch nur Bruchstücke von Gedanken. Sie hatten etwas damit zu tun, ja zum Leben zu sagen und nicht den Rest meiner Tage in Angst zu verbringen.

Später nahmen wir gemeinsam ein Bad. Dann ging Ben hinunter und machte für uns beide Sandwiches. Er brachte sie auf einem Tablett nach oben, mit einer Flasche Rotwein. Ich saß im Bett, die Kissen im Rücken.

»Ständig machst du mir etwas zu essen«, stellte ich fest.

»Wir haben schon zusammen Austern gegessen.«

»Wirklich? Ich liebe Austern.«

»Ich weiß. Deswegen haben wir sie gegessen. Wir werden wieder welche essen.«

Ich griff nach seiner Hand und küsste sie. »Demnach war es also ein Mittwochabend, richtig?«

»Montag.«

»Montag! Bist du sicher? Gleich nachdem wir uns kennen gelernt hatten?«

»Genau.«

Ich runzelte die Stirn.

»Und du hast kein Kondom benutzt?«

»Doch.«

»Das verstehe ich jetzt nicht. Du hast doch gesagt …«

»Du bist wiedergekommen.«

»Am Mittwoch?«

»Ja.«

»Das hättest du mir sagen sollen!«

»Ich weiß.«

»Aber du hast nicht …«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Du bist aus einem spontanen Impuls heraus gekommen.

Mit dem Baum. Wir hatten eigentlich vereinbart, uns erst am nächsten Abend – am Donnerstag – wiederzusehen, weil ich am Mittwoch Gäste hatte. Kunden. Sie waren schon da, als du an die Tür geklopft und mir den Baum überreicht hast. Ich habe dich geküsst.«

»Und?«

»Es wurde ein längerer Kuss daraus.«

»Erzähl weiter.«

»Du hast mein Hemd aufgeknöpft. Im Nebenraum konnten wir meine Gäste miteinander reden hören.«

»Und?«

»Wir sind ins Bad gegangen, haben die Tür zugesperrt und es miteinander getrieben.«

»Im Stehen?«

»Ja. Es hat ungefähr dreißig Sekunden gedauert.«

»Das musst du mir zeigen«, sagte ich.

Ich blieb die Nacht bei Ben. Ich schlief tief und fest, und als ich am Morgen aufwachte, duftete es nach Kaffee und Toast. Durch die Vorhänge lugte ein blauer Himmel herein. Mein plötzliches Glück machte mir fast ein bisschen Angst. Es war, als läge der Frühling schon in der Luft.

19

Wir verspeisten unseren Frühstückstoast im Bett. Obwohl Krümel auf dem Laken landeten, schien sich Ben recht behaglich zu fühlen, als er in seine Kissen zurücksank und sich die Bettdecke bis unters Kinn zog.

»Musst du denn nicht zur Arbeit?«, fragte ich ihn.

Er beugte sich über mich, um einen Blick auf seinen Wecker zu werfen. Seltsam, wie schnell man sich neben einem anderen Körper wohl fühlte.

»In achtzehn Minuten«, meinte er.

»Schaffst du das überhaupt noch?«

»Ich bin schon viel zu spät dran. Noch dazu habe ich heute einen Termin. Der Kunde ist extra aus Amsterdam angereist. Wenn ich nicht bereitstehe, wenn er kommt, bin ich nicht nur unpünktlich, sondern auch noch extrem unhöflich.«

Ich küsste ihn.

»Du musst damit aufhören«, meinte er. »Sonst kann ich mich einfach nicht losreißen.«

»Weißt du, wenn ich du wäre und du ich«, sagte ich im Flüsterton, weil sich unsere Gesichter fast berührten,

»dann würde ich dich für komplett verrückt halten. Oder mich selbst. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Jetzt hast du mich in der Tat ein bisschen verwirrt.«

»Mal angenommen, ein Mann, den ich gerade erst kennen gelernt habe, würde plötzlich verschwinden, nach zwei Wochen wieder auftauchen und behaupten, sich überhaupt nicht an mich erinnern zu können. Ich würde ihn für vollkommen verrückt halten. Oder für einen Lügner. Wie du weißt, ist die Polizei in meinem Fall zwischen diesen beiden Sichtweisen hin und her gerissen.«

»Ich dachte erst, ich wäre verrückt. Dann dachte ich, du wärst es. Irgendwann kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus.« Er streichelte mein Haar. Ich schauderte vor Behagen.

»Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, fuhr er fort. »Wie hätte ich es dir erklären sollen? Irgendwie war ich der Meinung, ich müsste dich dazu bringen, mich von neuem ins Herz zu schließen. Die Alternative wäre gewesen, zu dir zu sagen: ›Hör zu, du magst mich oder hast mich gemocht, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnern kannst.‹ Das schien mir keine besonders gute Idee zu sein.«

»Du hast keine Designerhände«, wechselte ich das Thema.

»Du meinst, weil sie rau und schwielig sind?«

»Das gefällt mir.«

Er betrachtete seine Hände. »Ich baue viele meiner Prototypen selbst. Dabei schütte ich mir oft Chemikalien über die Hände. Sie bekommen auch mal einen Kratzer oder einen Hammerschlag ab, aber das macht mir nichts aus. Ich mag es so. Mein alter Herr ist Schweißer. Er hat sich daheim eine Werkstatt eingerichtet und verbringt seine Wochenenden damit, alles Mögliche auseinanderzubauen und wieder zusammenzusetzen.

Wenn ich als Junge mit ihm kommunizieren wollte, konnte ich das nur, indem ich zu ihm in die Werkstatt ging und ihm den Schraubenschlüssel reichte oder das, was er gerade brauchte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mir die Hände schmutzig zu machen. Etwas anderes mache ich im Grunde heute auch nicht. Ich habe einen Weg gefunden, mich für das bezahlen zu lassen, was mein Dad als Hobby gemacht hat.«

»Ganz so ist es bei mir nicht«, antwortete ich. »Weder, was meinen Dad, noch, was meine Arbeit betrifft.«

»Du bist phantastisch in deinem Job. Du hast die ganze Sache wieder in Ordnung gebracht. Wir hatten alle einen Mordsrespekt vor dir.«

»Manchmal kann ich nicht glauben, was ich tue – oder getan habe. Hast du gewusst, dass man für ein Büro eine Risikobeurteilung erstellen kann? Bei einer Ölbohrinsel oder einer Polarexpedition leuchtet das ja ohne weiteres ein, aber bei einem Büro? Trotzdem wollte die Versicherung eine Risikobeurteilung, also habe ich eine erstellt. Im Moment bin ich der Welt größte Expertin für alle furchtbaren Dinge, die einem in einem Büro passieren können. Hast du gewusst, dass sich in Großbritannien letztes Jahr einundneunzig Büroangestellte mit Tipp-Ex verletzt haben? Ich meine, wie schafft man es überhaupt, sich mit Tipp-Ex zu verletzen?«

»Ich weiß genau, wie. Man benutzt es, bekommt etwas auf die Finger und reibt sich dann die Augen.«

»Siebenunddreißig Leute haben sich mit ihren Taschenrechnern Verletzungen zugezogen. Wie schafft man das? Die Dinger wiegen höchstens so viel wie ein Eierkarton. Ich könnte diesen Menschen ein, zwei interessante Sachen zum Thema Risiko erzählen.«

Plötzlich erschien mir das Ganze nicht mehr so amüsant.

Ich setzte mich auf. »Ich schätze, wir sollten beide allmählich in die Gänge kommen«, meinte ich mit einem Blick auf die Uhr.

Wir gingen zusammen unter die Dusche, bewiesen dabei aber große Disziplin, indem wir uns darauf beschränkten, einander zu waschen und hinterher abzutrocknen. Dann halfen wir uns gegenseitig beim Anziehen. Ben anzuziehen war fast so aufregend wie ihn auszuziehen. Er hatte es definitiv besser als ich, weil er in frische Sachen schlüpfen konnte. Ich trug noch die vom Vorabend. Ich musste in die Wohnung zurück, um mich umzuziehen.

Ben wuschelte mir durchs Haar und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Ein komisches Gefühl, dich in Jos Sachen zu sehen«, bemerkte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir haben wohl einen ähnlichen Geschmack«, entgegnete ich. »Das sind meine eigenen Sachen. Die Bluse habe ich getragen, als ich entführt wurde. Erst wollte ich sie in den Müll werfen – dachte mir aber, schade um das schöne Stück. Selbst wenn ich die Sachen verbrenne, werde ich deswegen nicht weniger an das Ganze denken …«

»Die Bluse hast du von Jo. Sie hat sie in Barcelona gekauft. Es sei denn, du warst auch in Barcelona beim Shoppen.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

Ich verstummte. Meine Gedanken rasten. Das war wichtig. Es hatte etwas zu bedeuten. Aber was?

Vor der Tür küssten wir uns noch einmal. Am liebsten hätte ich ihn gar nicht mehr losgelassen. Wenn ich einfach an ihm hängenblieb, würde mir niemand etwas tun können. Dann rief ich mich selbst zur Ordnung. Ich durfte mich nicht so gehen lassen.

»Ich muss in die schreckliche Welt zurück«, erklärte ich.

»Was wirst du tun?«

»Zunächst nach Hause gehen – ich meine, zu Jo – und mich umziehen. Ich kann nicht noch einen Tag in diesen Kleidern herumlaufen.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Ich bin nicht sicher. Heute oder morgen wird dieser Mann feststellen, dass er die Falsche umgebracht hat. Er wird sich wieder auf die Suche nach mir begeben.

Vielleicht kann ich herausfinden, wo Jo ist. Obwohl ich nicht weiß, ob das irgendetwas bringen wird.«

Ben spielte gedankenverloren mit seinem Autoschlüssel herum. »Ich werde heute ihre Eltern anrufen«, sagte er.

»Inzwischen müssten sie eigentlich zurück sein. Dann sehen wir weiter.«

Ich küsste ihn. Ich musste mich dazu auf die Zehenspitzen stellen. »Das heißt ›danke‹«, erklärte ich.

»Und dass du dir meinetwegen keine Umstände zu machen brauchst.«

»Jetzt hör aber auf, Abbie. Ich rufe dich später an.« Er reichte mir seine Visitenkarte, und wir müssten beide über diese formelle Geste lachen. »Du kannst mich jederzeit unter einer dieser Nummern erreichen.«

Wir küssten uns wieder. Ich spürte, wie seine Finger zu meiner Brust hinauf wanderten. Rasch legte ich meine Hand auf seine. »Ich denke gerade an diesen Mann aus Amsterdam«, sagte ich.

Ich lag in der Badewanne, einen Waschlappen auf dem Gesicht, und versuchte mir vorzustellen, was er jetzt wohl dachte. Demnächst würde er erfahren, dass ich noch am Leben war. Vielleicht wusste er es bereits. Aber es gab noch etwas. Dieser leichtsinnige Anruf auf meinem eigenen Handy. Er hatte es behalten, als eine Art Trophäe.

Und ich hatte mich als Jo ausgegeben. Ob er glaubte, dass ich ihm auf der Spur war?

Ich vergriff mich an Jos Kleiderschrank, suchte mir bewusst Kleider aus, die sich von meinem früheren Kleidungsstil vollkommen unterschieden, eine graue Kordhose und einen dicken cremefarbenen Strickpulli.

Abbie Devereaux musste weiterhin verschwunden bleiben, tot und begraben. Ich würde nur eine von den unzähligen Frauen sein, die in London herumliefen. Wie sollte er mich finden? Andererseits – wie sollte ich ihn dann finden?

Dann tat ich das, was ich schon längst hätte tun sollen.

Ich hatte die Nummer im Kopf. Terrys Vater nahm ab.

»Ja?« meldete er sich.

»Richard, hier ist Abbie.«

»Abbie.« Sein Ton war höflich, aber frostig.

»Ja, hör zu, ich weiß, wie schrecklich das alles im Moment für euch sein muss …«

»So, weißt du das?«

»Ja. Und es tut mir Leid für Terry.«

»Ein starkes Stück, dass ausgerechnet du das sagst!«

»Haben sie ihn schon auf freien Fuß gesetzt?«

»Nein, bis jetzt noch nicht.«

»Ich wollte nur sagen, dass ich weiß, dass er es nicht war, und dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um ihm zu helfen. Vielleicht könntest du das seinem Anwalt sagen.«

»Das werde ich.«

»Ich gebe dir meine Nummer. Oder nein, ich rufe dich wieder an oder Terry, wenn er zurück ist. In Ordnung?«

»Ja.«

Wir schwiegen beide einen Moment, dann verabschiedeten wir uns.

Ich stand in Jos Wohnküche und sah mich um. Wenn man krampfhaft nach etwas sucht, beginnt irgendwann diese schreckliche Phase, in der man anfängt, überall dort, wo man bereits nachgesehen hat, ein zweites Mal nachzusehen. Noch schlimmer war, dass ich gar nicht wusste, wonach ich eigentlich suchte. Ein Tagebuch wäre hilfreich gewesen. Es hätte mir Aufschluss über ihre Pläne geben können, doch ich hatte in ihrem Schreibtisch nichts gefunden. Ziellos wanderte ich im Raum herum, nahm Gegenstände aus den Regalen und stellte sie wieder zurück. In dem Fach neben dem Fenster stand eine Topfpflanze. Meine Mutter hätte sie identifizieren können, bestimmt sogar ihren lateinischen Namen gewusst, aber selbst ich konnte sehen, dass sie am Vertrocknen war. Die Erde war hart und von Rissen durchzogen. Ich holte ein Glas Wasser aus der Küche und goss vorsichtig die traurige Pflanze. Das Wasser lief in die Erdrisse hinein.

Würde eine verantwortungsvolle junge Frau wie Jo einfach in Urlaub fahren und ihre Pflanzen vertrocknen lassen? Ich goss auch den Banyanbaum.

Alles, was ich an Beweisen fand, ähnelte einer Fata Morgana. Es schimmerte in der Luft, doch sowie ich hinlief, um danach zu greifen, löste es sich in Nichts auf.

Immerhin war ich bei Jo eingezogen. Es war gut möglich, dass Jo in der Annahme in Urlaub gefahren war, dass ich auf ihre Wohnung aufpassen und ihre Pflanzen gießen würde.

Mein Blick fiel auf den Stapel Post, den ich bereits auf Hinweise untersucht hatte. Da mir nichts Besseres einfiel, blätterte ich die Briefe erneut durch. Einer von Ihnen erregte meine Aufmerksamkeit. Es handelte sich um die Gasrechnung, die ich noch nicht bezahlt hatte, weil meine Ressourcen mittlerweile erschöpft waren. Der Umschlag wies eines jener transparenten Sichtfenster auf, durch die man die Adresse lesen kann. Als ich mir den Namen genauer ansah, stieß ich einen erstaunten kleinen Schrei aus: »Miss L.J. Hooper«, stand da. Wie in Trance zog ich Bens Karte heraus und wählte seine Handynummer. Er klang beschäftigt und ein wenig zerstreut, aber als er meine Stimme hörte, wurde sein Ton weicher. Ich musste lächeln. Es war mehr als das, ein warmes Gefühl durchströmte meinen ganzen Körper. Ich kam mir wie eine verliebte Vierzehnjährige vor. Konnte man auf eine derart alberne Weise in jemanden verliebt sein, mit dem man erst eine Nacht verbracht hatte?

»Wie lautet Jos erster Vorname?«

»Was?«

»Ich weiß, es ist eine blöde Frage, aber ich habe gerade eine ihrer Rechnungen vor mir liegen, und da ist mir eine Initiale aufgefallen, ein L. vor dem J. Wofür steht es?«

Ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung leise lachen.

»Lauren«, antwortete er. »Wie Lauren Bacall. Die Leute haben sie deswegen immer aufgezogen.«

»Lauren«, wiederholte ich wie betäubt. Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen, und musste mich an die Wand lehnen, um nicht zusammenzubrechen. »Kelly, Kath, Fran, Gail, Lauren.«

»Was?«

»Dieser Mann, er hat mir die Namen der Frauen genannt, die er bereits umgebracht hatte. Einer davon war Lauren.«

»Aber …« Er schwieg eine ganze Weile. »Es könnte sich um einen Zufall handeln …«

»Lauren? Der Name ist nicht gerade in den Top Ten.«

»Ich weiß nicht. Heutzutage sind recht seltsame Namen in den Top Ten. Außerdem hat sie den Namen nicht benutzt. Sie hat ihn gehasst.«

Ich murmelte etwas vor mich hin, das mehr für mich selbst gedacht war als für Ben.

»Entschuldige«, sagte ich, als er nachfragte, »ich habe nur gemeint, dass ich weiß, wie sie sich wahrscheinlich gefühlt hat. Vielleicht hat sie ihm diesen Namen genannt, weil sie darin eine Möglichkeit sah, sich nicht von ihm fertig machen zu lassen. Es war nicht die wirkliche Jo, die er erniedrigte und ängstigte, sondern ihr anderes, offizielles Ich.«

Nachdem ich das Gespräch mit Ben beendet hatte, zwang ich mich, mir seine Worte ins Gedächtnis zu rufen.

Was hatte er über Lauren gesagt? Kelly hatte geweint.

Gail hatte gebetet. Was hatte Lauren getan? Lauren hatte sich gewehrt. Lauren hatte nicht lange gelebt.

Bei dem Gedanken wurde mir übel. Nun wusste ich, dass sie tot war.

Der Ton von Jack Cross wurde nicht weicher, als er meine Stimme hörte. Eher düsterer. Er klang genervt.

»Oh, Abbie«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«

»Sie hieß Lauren«, stieß ich hervor. Ich musste mich sehr zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Was?«

»Jo. Ihr erster Vorname war Lauren. Erinnern Sie sich denn nicht? Lauren war auf der Liste der Frauen, die er bereits umgebracht hatte.«

»Das war mir entfallen.«

»Halten Sie das nicht für wichtig?«

»Ich werde es mir notieren.«

Ich erzählte ihm auch von der Kleidung, Jos Sachen, die ich angehabt hatte. Er wirkte nach wie vor skeptisch.

»Das muss nicht notwendigerweise etwas bedeuten«, meinte er. »Wie wir inzwischen wissen, haben Sie bereits vor Ihrem Verschwinden bei Jo gewohnt. Vielleicht haben Sie sich einfach etwas von ihr ausgeliehen?«

Ich blickte an mir hinunter, betrachtete einen Moment Jos graue Kordhose, ehe ich brüllte: »Mein Gott, welche Beweise brauchen Sie denn noch?«

Ich hörte ihn seufzen. »Abbie, Sie müssen mir glauben, dass ich auf Ihrer Seite bin. Gerade eben habe ich mir Ihre Akte angesehen und beschlossen, wieder einen meiner Männer darauf anzusetzen. Wir haben Sie nicht vergessen.

Doch um auf Ihre Frage zurückzukommen – ich brauche die Sorte von Beweisen, die auch jemanden überzeugen, der Ihnen nicht ohnehin schon glaubt.«

»Und die werden Sie verdammt noch mal auch bekommen«, gab ich zurück. »Warten Sie’s ab!«

Am liebsten hätte ich den Hörer auf die Gabel geknallt, aber es handelte sich um eines jener schnurlosen Telefone, bei denen das nicht mehr möglich ist, so dass ich mich darauf beschränken musste, besonders heftig auf den Aus-Knopf zu drücken.

»O Abbie, Abbie, Abbie! Wie kann man nur so dumm sein!«, hörte ich mich selbst stöhnen. Tröstliche Worte.

20

Ich wusste, dass Jo tot war. Egal, was Cross sagte, ich wusste es einfach. Ich musste an das Geflüster in der Dunkelheit denken: »Kelly, Kath. Fran. Gail. Lauren.«

Lauren war Jo. Sie hatte ihm nie gesagt, wie sie für ihre Lieben hieß, ihm stattdessen den Namen einer Fremden genannt. Auf diese Weise hatte sie versucht, ein menschliches Wesen zu bleiben, nicht verrückt zu werden.

Jetzt konnte er seiner Litanei einen weiteren Namen hinzufügen: Sally. Obwohl Sally für ihn vielleicht nicht zählte. Er hatte sie nur aus Versehen getötet. An ihrer Stelle hätte eigentlich ich sterben sollen. Ich schauderte.

Niemand wusste, wo ich war, mit Ausnahme von Carol bei Jay & Joiner und Peter ein Stockwerk tiefer. Und Cross und natürlich Ben. Ich sagte mir, dass ich in Sicherheit war, auch wenn ich mich alles andere als sicher fühlte.

Ich zog im großen Zimmer die Vorhänge zu und hörte die neuen Nachrichten auf Jos Anrufbeantworter ab. Es waren nicht viele, ein Anruf von einer Frau, die erklärte, Jos Vorhänge seien fertig, sie könne sie abholen, und ein zweiter von einem Mann namens Alexis, der sie mit

»Hallo, Fremde, lange nicht gesehen« begrüßte und dann fortfuhr, er sei endlich wieder im Lande und vielleicht könne man sich bald mal treffen.

Ich öffnete den Brief, der an diesem Morgen für sie gekommen war – eine Aufforderung, ihr National Geographic- Abo zu verlängern. Ich erledigte das für sie.

Dann rief ich Sadie an, wobei ich von vornherein davon ausging, dass sie nicht zu Hause sein würde, und sprach ihr aufs Band, dass sie mir fehle und dass wir uns unbedingt bald sehen müssten. Während ich das sagte, wurde mir bewusst, dass es stimmte. Ich hinterließ eine ähnliche Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Sheila und Guy. Sam schickte ich eine fröhliche, wenn auch etwas vage E-Mail. Ich war noch nicht wieder in der Verfassung für ein Gespräch oder ein Treffen mit ihnen, wollte aber den Kontakt nicht abreißen lassen.

Anschließend machte ich mir ein Avocado-Schinken-Mozzarella-Sandwich. Ich hatte nicht wirklich Hunger, aber es tat mir gut, das Sandwich zuzubereiten und mich anschließend damit aufs Sofa zu setzen und das weiche Brot zu kauen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.

Mein Versuch, alle Gedanken auszublenden und einen völlig leeren Kopf zu bekommen, endete damit, dass ich wieder die Bilder sah, die ich heraufbeschworen hatte, als ich im Dunkeln gefangen gehalten wurde: den Schmetterling, den Fluss, den See, den Baum. Ich stellte sie gegen die ganze Hässlichkeit, die ganze Angst. Mit geschlossenen Augen wartete ich, bis mein Kopf mit diesen schönen Bildern der Freiheit erfüllt war. Dann hörte ich mich plötzlich laut sagen: »Aber wo ist die Katze?«

Ich wusste nicht, wo diese Frage hergekommen war, die nun wie ein großes Fragezeichen in dem stillen Raum schwebte. Ich begann zu überlegen. Jo hatte keine Katze.

Die Einzige, die ich in der Gegend gesehen hatte, war die von Peter, der Tiger mit den bernsteinfarbenen Augen, der mich nachts aufgeweckt und erschreckt hatte. Doch während ich über die Frage nachdachte, bekam ich ein ganz seltsames Gefühl, eine Art Kribbeln in meinem Gehirn, als würde eine vage Erinnerung an meinem Bewusstsein kratzen.

Warum hatte ich an eine Katze denken müssen? Weil Jo Dinge besaß, die zu einer Katze gehörten. Dinge, die ich gesehen hatte, ohne sie richtig wahrzunehmen. Wo? Ich ging in den Küchenbereich, öffnete Schränke, zog Schubladen heraus. Nichts. Dann fiel es mir wieder ein, und ich eilte zu dem großen Schrank neben dem Bad, wo ich auf den Staubsauger und Jos Skisachen gestoßen war.

Neben der Mülltüte mit Skiklamotten fand ich ein Katzenklo, das ganz neu aussah, vielleicht aber nur blitzblank geschrubbt war, und sechs kleine Dosen Katzenfutter. Ich kehrte zum Sofa zurück, wo ich nach meinem Sandwich griff, es aber gleich wieder hinlegte.

Na und? Jo hatte mal eine Katze gehabt. Vielleicht gab es die Katze immer noch, und sie hatte sich abgesetzt, weil ihr Frauchen verschwunden war und niemand mehr da war, der sie fütterte und streichelte. Oder sie ist tot, dachte ich, genau wie … Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende.