»Michael hat es mir gesagt, Rupert. Er hat auf diesem Boot versucht, mich umzubringen. So sind wir über Bord gegangen.

Er und Finn haben Finns Eltern getötet. Und er hat Mrs. Ferrer umgebracht. Und dann hat Michael Finn getötet. Und Danny.«

Baird antwortete mit einem gespielten Stutzen, und seine Augen zogen sich lächelnd zusammen.

»Sie glauben mir nicht.«

»Natürlich glaube ich Ihnen, Sam. Nun ja, ein zynischer Bulle würde vielleicht sagen, daß Sie Schreckliches durchgemacht haben. Sie hatten eine Gehirnerschütterung und einen Schock und … äh …«

»… könnte mir das alles nur einbilden?«

»Ich bin ein überaus vorsichtiger Mann, Sam. Ich muß mir vorstellen, was gewisse Leute, die großen Wert auf Beweise legen, zu mir sagen könnten, wenn sie mich wieder auf Streife schicken. Wenn Sie uns irgend etwas Konkretes anbieten können, Sam, dann werden wir es mit großem Interesse überprüfen.«

Ich hatte mich aufgesetzt, aber jetzt sank ich erschöpft auf mein Kopfkissen zurück.

»Es ist mir egal, was Sie machen, Rupert. Ich weiß es, und das reicht mir. Warum werfen Sie nicht einen Blick in Michaels Bootshaus? Ich glaube, daß er dort Dannys Leiche versteckt hielt. Dort hat er ihn diesen Selbstmordbrief schreiben lassen und dann erschossen.«

Baird schwieg lange Zeit. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen.

»Also gut«, sagte er. »Wir werden uns da umsehen. Ich denke, meine fünf Minuten sind um, und jetzt gibt es jemanden mit älteren Rechten, der Sie unbedingt sofort sehen muß.«

»Ach, um Gottes willen, wenn es Geoff Marsh oder sonst ein verdammter Manager ist, dann sagen Sie ihnen, sie sollen sich verpissen.«

Baird lächelte.

»Tut mir leid, Sam. Ich fürchte, das ist jemand mit so großen Vorrechten, daß ich ihm keine Befehle geben kann.«

»Was soll das? Besucht mich jemand von den Royals oder was?«

»Fast.« Baird ging zur Tür und sprach mit jemandem draußen, den ich nicht sehen konnte. »Sie kann jetzt hereinkommen.«

Erwartungsvoll schaute ich zur Tür, und ungefähr einen Meter tiefer, als ich gedacht hatte, erschien ein vertrautes, sommersprossiges Gesicht. Schuhe klapperten über den Boden, und Elsie sprang auf mein Bett und auf mich. Ich drückte sie so eng und fest an mich, daß ich die Wirbel in ihrem Rücken zählen konnte. Ich hatte Angst, ihr mit meiner Umarmung weh zu tun.

»Oh, Elsie, jetzt kannst du meine Krankenschwester sein.«

Sie entwand sich meinen Armen.

»Ich bin nicht deine Krankenschwester«, antwortete sie entschieden.

»Dann meine Ärztin.«

»Ich bin auch nicht deine Ärztin. Können wir rausgehen und spielen?«

»Nicht jetzt sofort, mein Herz.«

Sie sah mich argwöhnisch mit zusammengekniffenen Augen an.

»Du bist nicht krank«, verkündete sie fast herausfordernd.

»Nein, bin ich nicht. Ich bin ein bißchen müde, aber in ein paar Tagen können wir rumlaufen und spielen.«

»Ich hab ein Kamel gesehen.«

»Wo?«

»Und ein großes Kamel.«

In der Tür sah ich demonstrativ diskret meine Mutter warten.

Ich winkte sie zu mir, und wir umarmten uns, wie wir das seit Jahren nicht mehr getan hatten; und dann fing sie an, mir flüsternd etwas über Elsie zu erzählen, und tat dabei so geheimnisvoll, daß Elsie sofort anfing, Fragen danach zu stellen.

Ich fing an zu weinen und konnte es nicht verbergen. Meine Mutter führte Elsie aus dem Zimmer, und ich war wieder allein.

Plötzlich dachte ich an Danny. Nicht den Danny von früher, sondern den Danny, über den ich nie etwas wissen würde. Ich stellte mir vor, wie man ihm die Waffe an den Kopf hielt und ihn zwang, mir diesen kurzen Brief zu schreiben, und ich versuchte mir vorzustellen, wie er sich gefühlt hatte. Er mußte in dem Gedanken gestorben sein, daß er mich verraten hatte und daß ich das nie erfahren würde. Seit ich ein junges Mädchen war, wurde mir immer ganz schwindlig bei dem Gedanken an meinen Tod, daran, daß ich in Vergessenheit versinken würde.

Die Vorstellung von Dannys Tod war noch schrecklicher, und ich vollzog sie nicht nur mit dem Verstand nach, sondern spürte sie auch auf meiner Haut und hinter meinen Augen und summend in meinen Ohren. Sie machte mich kalt und unversöhnlich.

Meine Mutter war ins Haus gezogen, um sich um Elsie zu kümmern. Ihr Mitgefühl war bühnenreif.

»Ich nehme an, das Haus weckt unglückliche Erinnerungen«, sagte sie. »Kannst du es ertragen, wieder darin zu wohnen?«

Ich wollte nicht, daß sie mir sagte, was ich fühlen sollte.

»In diesem Haus lebt Elsie. Es hat keine schlechten Erinnerungen für mich.«

Schon nach wenigen Tagen fühlte ich mich stark genug, das Krankenhaus zu verlassen, und zwei Tage später war ich in der Lage, meine Mutter in Stamford in einen Zug zu setzen, um nicht länger in ihrer Schuld zu stehen. Alles lief wieder in geordneten Bahnen, nur hatte ich nichts von Baird gehört. Ich wußte, daß ich etwas verdrängte, denn mir war nicht klar, wohin es führen würde, wenn ich erst anfinge, mich damit zu beschäftigen. Eine Woche nach meinem Gespräch mit Baird rief Chris Angeloglou an und bat mich, aufs Revier zu kommen. Ich fragte nach dem Grund, und er sagte, sie brauchten eine Aussage, aber ich würde vielleicht auch etwas erfahren, was von Nutzen für mich sei. Ob ich noch am gleichen Nachmittag kommen könne.

Ich wurde mit Chris und Rupert in einen Verhörraum geführt.

Sie waren sehr nett zu mir und lächelten. Sie ließen mich Platz nehmen, brachten mir Tee und Kekse, schalteten ihr Tonbandgerät ein und fragten mich nach den Ereignissen am Tag von Michaels Tod. Mit allen ihren Fragen und meinen Antworten, Zusätzen und Einwürfen dauerte es fast anderthalb Stunden, aber gegen Ende wirkten sie recht zufrieden.

»Ausgezeichnet«, sagte Rupert und schaltete das Gerät endlich aus.

»Sie glauben mir also?«

»Natürlich tun wir das. Bleiben Sie noch einen Augenblick.

Phil Kale sollte um halb vier hier sein. Ich werde nachsehen, ob er gekommen ist.«

Rupert stand auf und verließ das Zimmer. Chris gähnte und rieb sich die Augen.

»Sie sehen so aus, wie eigentlich ich aussehen sollte«, sagte ich.

»Alles Ihre Schuld«, sagte Chris grinsend. »Wir sind seit Ihrem Tip hart am Ball geblieben. Sie werden Ihre Freude haben.«

»Gut. Ich kann ein bißchen Freude gebrauchen.«

Baird kam zurück und brachte den zerstreuten, zerzausten Mann mit, an den ich mich von dem Tag erinnerte, an dem wir Mrs. Ferrer tot aufgefunden hatten. Jetzt war der Drahtrand eines seiner Brillengläser mit Klebeband geflickt, und er trug eine Cordjacke, wie ich sie zuletzt an einigen meiner Lehrer Ende der siebziger Jahre gesehen hatte. Unter seinem Arm klemmte ein dicker Stapel Akten. Chris zog einen Stuhl heran, und der Mann setzte sich.

»Das ist Dr. Philip Kale, unser Pathologe. Phil, das ist unsere Heldin, Dr. Sam Laschen.«

Wir schüttelten uns die Hände, was dazu führte, daß zahlreiche Akten auf den Boden flatterten.

»DC Baird hat mit erzählt, daß Sie gerade eine Aussage über Dr. Daleys Geständnis gemacht haben.«

»Ja.«

»Gut. Ich kann nur eine Minute bleiben. Sie haben gerade eine Ertrunkene aus dem Kanal gefischt. Ich kann Ihnen bloß sagen, daß das, was Sie der Polizei erzählt haben, anscheinend durch alle forensischen Beweise bestätigt wird. Gott, wo soll ich anfangen?«

»Haben Sie Michaels Bootshaus überprüft?« fragte ich.

»Ja«, sagte Kale. »Im Bootshaus gab es zahlreiche Blutspuren.

Wir haben auch Fasern und Haare gefunden. Wir haben eine Reihe von serologischen Tests und eine

Neutronenaktivierungsanalyse an den Haarproben vorgenommen. Wir haben sie mit Haarproben von Mr. Rees verglichen, die Sie uns gegeben hatten, und haben einige aus dem Haus der Mackenzies. Auf die Ergebnisse der DNS-Tests warten wir noch, aber ich weiß, was sie uns sagen werden. Die Leichen von Daniel Rees und Fiona Mackenzie haben sich zu einem unbekannten Zeitpunkt für eine unbekannte Zeitdauer in Michael Daleys Bootshaus befunden. Das bestätigen meine Funde an den verbrannten Leichen. Es gab keine Hyperämie, keine positive Proteinreaktion, dafür aber eine Menge anderer Zeichen, die beweisen, daß sie schon lange tot waren, als der Wagen in Brand gesteckt wurde.«

»Also war auch Finns, ich meine Fionas Leiche in dem Bootshaus?«

»Haar- und Faserspuren von Fiona Mackenzie wurden an einem Leintuch in einer hinteren Ecke des Bootshauses gefunden. Wir nehmen an, das heißt, wir sind fast sicher, daß es benutzt wurde, um ihre Leiche einzuwickeln. Und jetzt muß ich zum Kanal.«

»Was ist mit Mrs. Ferrer?«

Kale schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, das müssen Sie falsch verstanden haben. Ich habe meinen Bericht noch einmal durchgesehen und nichts finden können.«

»Warum sollte er es getan haben?« fragte Baird.

»Ich weiß nicht«, antwortete ich wie betäubt.

Kale streckte die Hand aus.

»Gut gemacht, Dr. Laschen.«

»Gut gemacht?«

»Das ist Ihr Triumph.«

»Es ist nicht mein Triumph.«

Wir gaben uns die Hände, und Kale verließ den Raum.

Angeloglou und Baird grinsten wie Schuljungen mit einem schmutzigen Geheimnis.

»Weswegen sehen Sie denn so glücklich aus?« fragte ich.

»Morgen früh halten wir eine Pressekonferenz ab«, sagte Baird. »Wir werden unsere Erkenntnisse bekanntgeben und verkünden, daß die Mordfälle Leopold und Elizabeth Mackenzie und Fiona Mackenzie und Daniel Rees jetzt abgeschlossen sind.

Es wird keine weiteren Ermittlungen geben. Wir werden Ihnen für Ihre Mitwirkung und Ihr heldenhaftes Verhalten gegenüber Michael Daley danken. Man wird Sie möglicherweise für irgendeine zivile Auszeichnung vorschlagen. Das wird Ihre Position dem Krankenhaus gegenüber festigen. Alle werden zufrieden sein.«

»Übertreiben wir nicht.«

»Ich möchte nicht unsensibel sein, nach dem, was Sie durchgemacht haben«, sagte Rupert, »aber unter den gegebenen Umständen ist dies der bestmögliche Abschluß.«

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich muß all das überdenken.

Wissen Sie, wie die Morde an den Eltern begangen worden sind?«

»Darüber müssen Sie wirklich mit Kale sprechen. Es sieht so aus, als hätten Daley und das Mädchen die Eltern mitten in der Nacht gefesselt und umgebracht. Danach ließ Fiona sich von Daley mit Klebeband fesseln. Als die Putzfrau kam, benutzte Daley ein Skalpell und fügte ihr einen im Grunde harmlosen Schnitt in den Hals zu und floh dann über die Hintertreppe, die in den Garten führt. Wir haben immer gedacht, daß es da relativ wenig Blut gab, weil Fiona einen Schock erlitten hatte und ihr Blutdruck dadurch massiv abgefallen war. Tatsächlich lag es aber daran, daß ihr die Wunde erst ein paar Minuten vorher zugefügt wurde. Alles in Ordnung? Sie sehen nicht glücklich aus.«

»Ich gehe es im Kopf immer wieder durch und versuche, alles zu entwirren«, sagte ich. »Es war alles gespielt. Finn hat mitgeholfen, ihren eigenen Eltern die Kehle durchzuschneiden, und ließ sich dann selbst den Hals aufschlitzen. Gibt es irgend etwas in ihrer Vergangenheit, das dazu paßt?«

»Sie meinen, ob sie schon vorher jemanden getötet hatte?«

»Nein, das meine ich nicht. Gab es Anzeichen für ernsthafte Konflikte mit ihren Eltern? Oder für eine psychische Labilität?«

»Es gab achtzehn Millionen Pfund. Ich fürchte, es gibt da draußen eine Menge Leute, die ihren Eltern für sehr viel weniger den Hals aufschlitzen würden. Und wir haben uns bei seiner Bank erkundigt. Dr. Daley hat weit über seine Verhältnisse gelebt. Er hatte beträchtliche Schulden.«

»Was ist mit der Schrift an der Wand? Der Verbindung zu den Tierschutzaktivisten?«

»Davon wußte Daley, weil er an der Überwachung der Tierschutzaktivisten beteiligt war. So hatte er eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Verdacht von sich abzulenken.

Es ist alles ganz einfach.«

Ich zwang mich zu denken, wie ich früher in der Schule Kopfrechnen geübt hatte; ich zog dabei Nase und Stirn in Falten und dachte so angestrengt, daß es weh tat.

»Nein, ist es nicht«, sagte ich. »Es stimmt vielleicht, aber es ist nicht ganz einfach. Warum hat Finn ihr Testament zugunsten von Michael Daley gemacht? Das war praktisch für ihn, nicht?«

»Vielleicht wollten sie heiraten.«

»Ach, um Gottes willen, Rupert. Und da ist noch was.«

»Was denn?«

»Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Michael Daley schon früher verdächtigt und Sie mir demonstriert haben, daß er mit dem Verbrennen des Autos nichts zu tun gehabt haben könnte.

Soweit ich weiß, haben Sie keinen Beweis, daß er am Schauplatz der Morde an den Mackenzies war, und als das Auto verbrannte, war er in Belfast, das haben Sie mir selbst gesagt.«

Die beiden Männer sahen sich kleinlaut an. Oder zwinkerten sie sich zu? Rupert machte mit den Händen eine beschwichtigende Geste.

»Sam, Sam, Sie hatten recht, wir hatten unrecht. Was möchten Sie? Daß wir auf die Knie fallen? Ich gebe zu, es gibt da ein oder zwei lose Enden, und wir werden unser Bestes tun, sie zu verknüpfen, aber im wirklichen Leben sind die Dinge kaum jemals sauber und ordentlich. Wir wissen, was passiert ist, und wir wissen, wer es getan hat. Wie es passiert ist, werden wir vermutlich nie genau erfahren.«

»Hätten Sie eine Verurteilung erreicht, wenn Michael Daley überlebt hätte?«

Baird hielt scheinheilig mahnend einen Finger hoch.

»Genug, Sam. So ist es für uns alle gut. Wir haben ein Resultat. Sie werden eine berühmte Heldin wie Boadicea und …

äh … wie …« Hilflos blickte er zu Angeloglou.

»Edith Cavell«, schlug Angeloglou gutgelaunt vor.

»Die wurde hingerichtet.«

»Na, dann wie Florence Nightingale. Entscheidend ist, daß es vorbei ist und wir alle zu unserem Alltag zurückkehren können.

In ein paar Monaten treffen wir uns zu einem Drink und lachen über all das.«

»Das Georgskreuz«, sagte ich.

»Was?«

»Ich habe das Georgskreuz als Orden immer hübsch gefunden.«

»So tapfer waren Sie nun auch wieder nicht. Wenn Sie ertrunken wären, hätten Sie vielleicht das Georgskreuz bekommen.«

Ich stand auf, um zu gehen.

»Wenn ich ertrunken wäre, hätten Sie nie erfahren, wie wunderbar heldenhaft ich war. Ich sehe Sie im Fernsehen, Rupert.«

30. KAPITEL

Ich tat eine Menge Dinge gleichzeitig. Ich empfand eine Menge Dinge gleichzeitig. Das erste Mal in meinem Leben fand ich es gut, von all dem langweiligen Zeug absorbiert zu sein, das man nur bemerkt, wenn es nicht getan wird: den Haushalt zu organisieren, dafür zu sorgen, daß Sachen gewaschen wurden, ein bißchen darauf zu achten, was Elsie anzog, Sally auf die Finger zu sehen, damit sie nicht nur den Küchenboden wischte, die Papierstapel auf dem Küchentisch gerade zu rücken und den Müll nach draußen zu tragen. Einmal in der Woche ging Elsie zu Kirsty und wurde dort schikaniert, einmal in der Woche kam Kirsty zu uns und wurde von Elsie schikaniert. Ich fand noch eine zweite Freundin für sie, Susie, ein dünnes, anämisch aussehendes Kind mit Bändern in den blonden Haaren und einem Kreischen von der Lautstärke eines Preßlufthammers. Für die Nachmittage, an denen Elsie allein war, kaufte ich ein großes Buch mit vielen bunten Bildern, und am Spätnachmittag saßen wir dann immer zusammen und zählten die Bananen an jeder Staude und sortierten die Tiere nach Beinen, Flügeln oder Größe oder danach, ob sie im Wasser oder an Land lebten. Trotz der ganzen Biologie sollte das Buch dazu dienen, ihr Mathematik beizubringen.

Ich arbeitete mich Kapitel für Kapitel in meinem Buch vor, wie ein Maulwurf seinen Bau gräbt. Mein Tagesablauf veränderte sich kaum. Elsie zur Schule fahren. Schreiben. Ein Sandwich essen. Einen flotten Spaziergang zum Meer unternehmen, wenn die Flut am höchsten stand. Sie betrachten und komplizierte Dinge denken. Wieder nach Hause gehen.

Schreiben.

Gedanken kreisten in meinem Kopf, die ich immer und immer wieder durchging, wobei ich aus dem Treibgut, das ich zusammenbekam, mehr oder weniger plausible Strukturen konstruierte. Es gab einfache Teilchen und komplizierte. Das Motiv für den Mord war, daß Finn eine ganz beträchtliche Menge Geld erbte, vielleicht auch ein gewisser Groll. Das Verbrechen wurde von Michael Daley ersonnen und begangen, und zwar mit einem Kind, das immer verhätschelt worden war und, den Berichten zufolge, niemals irgendwelche Anzeichen auch nur der kleinsten jugendlichen Rebellion an den Tag gelegt hatte. Aber darauf haben wir Psychologen natürlich immer eine einfache Antwort. Anzeichen von Rebellion? Das war doch zu erwarten. Keine Anzeichen von Rebellion? Noch schlimmer, sie mußte aufgestaut und unterdrückt worden sein, bis alles auf einmal zum Ausbruch kam. Was ebenfalls zu erwarten war.

Die Tat als solche war einfach genug. Der Mord wurde vermutlich geplant, als Michael durch seine Arbeit in dem Komitee, das die Tierschutzaktivisten im Auge behielt, von der Drohung gegen Leo Mackenzie erfuhr. Die Gelegenheit bot sich geradezu an. Die Morde mußten nur so verübt werden, daß sie aussahen wie das Werk besonders verrückter Tierschutzaktivisten; deswegen die Fesseln, die durchschnittenen Kehlen, die Schrift an der Wand. Ich hatte das Gefühl, Leo und Liz Mackenzie nur durch ein paar unscharfe Fotos in den Zeitungen und – das lag mir schwer auf der Seele –

durch ein paar freundliche Dinge zu kennen, die Finn über sie gesagt hatte. Aber sie waren nicht real für mich. Was real war, ein riesiger Fleck im Gitterwerk meines logischen Denkens, war das Bild von Danny mit einem Revolverlauf an der Schläfe.

Hatte er geweint und gefleht, oder war er tapfer gewesen und hatte geschwiegen? Was hatte ich gerade gemacht in dem Moment, in dem er erkannte, daß es keine Hoffnung mehr gab, daß er auf jeden Fall umgebracht werden würde? Ich war sicher wütend auf ihn gewesen oder hatte mir selbst leid getan.

Und Michael hatte Finn, seine Komplizin, auch getötet. Ich dachte an den geschwätzigen Brief, den sie mir geschrieben hatte, und konnte einfach nicht verstehen, wie sie mit einer Waffe am Kopf einen solchen Schwall von Worten hatte hervorbringen können. Wie wenig ich sie im Grunde doch kannte. Ständig gingen mir all die Erinnerungen an Finn in meinem Haus durch den Kopf; es war, wie wenn man mit der Zunge einen wehen Zahn betastet. Jede Berührung brachte Schmerz und Übelkeit mit sich, und doch konnte ich es nicht lassen. Finn, die wie betäubt auf dem Sofa saß. Finn in ihrem Zimmer. Ich selbst, die sie mit Hilfe meiner kleinen Tochter dazu brachte, wieder am Leben teilzunehmen. Finn, wie sie ihre Kleider vernichtete. Gespräche im Garten. Gemeinsames Kichern bei einem Glas Wein. Wie ich Finn vom Schachspiel erzählte, zuließ, daß sie sich um mich kümmerte. Es war eine Art Selbstquälerei. Vertrauen zu Michael Daley. Michael Daley, der mir Komplimente machte, wie gut ich mit Finn umgehen könne. O Gott, o Gott, o Gott, o Gott. Ich war der Lockvogel bei einer großen Bauernfängerei, die mit Blut in einem Vorort von Stamford begann, mit einer in meinem Haus aufgeführten Scharade ihre Fortsetzung fand und mit Feuer auf einem einsamen Straßenstück an der Küste von Essex endete.

Dann war da noch Mrs. Ferrer. Was war da passiert? Hatte Michael wirklich gesagt, er hätte sie umgebracht, oder hatte ich ihn in einem Augenblick, in dem ich selbst in Lebensgefahr war, mißverstanden? Ich versuchte, an alles zu denken, was Mrs. Ferrer vielleicht herausgefunden hatte. Vielleicht hatte sie als Putzfrau ein verräterisches Beweisstück im Haus gefunden und das dem Mann erzählt, dem sie vertraute – ihrem Arzt. Aber was könnte das gewesen sein?

Plötzlich, an einem trüben Frühlingsnachmittag, als ich im grauen Regen stand und die Segelboote in ein paar Kilometer Entfernung beobachtete, mitten in der Mündung, stellte ich mir die Frage, die zu stellen ich meinen eigenen Patienten abgewöhnte: »Warum ich?« Ich dachte daran, wie ich ein Teil des mörderischen Plans geworden war und wie effizient ich diese Rolle gespielt hatte, ich mit meiner unvergleichlichen Fachkenntnis, meiner scharfen Wahrnehmung, meiner Geschicklichkeit in der Diagnose.

»Aber sie war nicht meine Patientin«, murmelte ich vor mich hin, als wäre es mir peinlich, wenn eine Möwe oder das Schilf zufällig mein Gejammer hörte. Wie sehr wünschte ich mir, der Plan hätte ohne mich ausgeführt werden können, oder jemand anderer wäre ausgewählt, jemand anderes Leben ruiniert, jemand anderes Liebhaber umgebracht worden.

»Warum ich? Warum ich?« Und dann stellte ich fest, daß ich die Frage abkürzte. »Warum? Warum?«

Ich betrachtete das Problem wie eine Schachaufgabe. Wenn man eindeutig im Vorteil ist, weil man einen Läufer mehr hat, dann läßt man sich nicht auf ein Abenteuer mit Ungewissem Ausgang ein. Man vereinfacht. Michael Daleys und Finn Mackenzies Motiv war abstoßend, aber es war einfach. Warum also war ihr Verbrechen so kompliziert? Ich ging das Geschehen im Kopf noch einmal durch, aber wieder verstand ich nicht, warum Finn bei dem Verbrechen anwesend sein mußte, weil es das Risiko erhöhte, daß Michael Daley gefaßt wurde. Sie hätte anderswo sein können, mit einem perfekten Alibi, und es wäre nicht nötig gewesen, ihr den Hals aufzuschlitzen und dann die lange, detaillierte, gefährliche Scharade aufzuführen, die mich und Elsie und den armen Danny und die arme, traurige Mrs. Ferrer in die Falle lockte, falls sie in die Tat einbezogen gewesen war. Und warum hatte Finn ihr Testament so plötzlich geändert und alles dem Mann vermacht, der sie ermorden würde? Hatte sie am Ende doch Selbstmord begangen? Hatte Michael sie umgebracht, weil er plötzlich entschieden hatte, daß ihm die Hälfte nicht genug war? Keine Version schien viel Sinn zu ergeben. Ich versuchte, ein Szenario zu konstruieren, in dem Michael die Eltern tötete und Finn zur Komplizenschaft zwang, indem er ihr mit Mord drohte – aber in meinem Kopf funktionierte das alles nicht richtig.

An diesem Nachmittag arbeitete ich nicht mehr. Ich ging in Wind und Regen spazieren, bis ich auf meiner Uhr sah, daß ich nach Hause rennen mußte, um Elsie in Empfang zu nehmen. Ich war außer Atem, als ich die Einfahrt entlanglief, und fühlte einen unangenehmen Schmerz in der Brust. Ich sah, daß der Wagen bereits da war. Ich rannte hinein und hob mein kleines Bündel hoch, drückte es fest an mich und begrub mein Gesicht in seinen Haaren. Elsie machte sich los und griff nach irgendeinem Bild, das sie in der Schule gemalt hatte. Wir holten die Farben heraus, deckten den Küchentisch mit Zeitungspapier ab und malten weitere Bilder. Wir setzten drei Puzzles zusammen. Wir spielten Scharaden und Verstecken im ganzen Haus. Elsie nahm ihr Bad, und dann lasen wir zwei Bücher.

Gelegentlich machte ich eine Pause und zeigte auf ein kurzes Wort – Kuh, Ball, Sonne – und fragte Elsie, was das sei, und sie riet dann einfach oder suchte auf dem Bild über dem Text nach Hinweisen. Wenn es total offensichtlich war – »Die Kuh sprang über den … Was kommt dann, Elsie?« –, tat sie kunstvoll so, als buchstabiere sie das Wort – »Em … o … nnn … de … Mond!«

–, was mich wegen der raffinierten Schwindelei mehr beeindruckte, als wenn sie es einfach hätte lesen können.

Nach Elsies Bad hielt ich ihren rundlichen nackten Körper fest und rieb mein Gesicht an ihren süß duftenden Haaren (»Suchst du Läuse?« fragte sie), und plötzlich wurden mir zwei Dinge klar. Ich hatte fast drei Stunden verbracht, ohne über Entsetzen und Täuschung und Demütigung nachzugrübeln. Und Elsie fragte nicht nach Finn, nicht einmal nach Danny. In dunkleren Augenblicken hatte ich manchmal ein Gefühl, als klebe Schleim an den Wänden von den Menschen, die sich darin bewegt hatten, aber Elsie war weitergegangen. Ich hielt sie fest und spürte, daß wenigstens sie nicht vom Bösen vergiftet war. Ich krächzte ihr noch ein paar Lieder vor und ging dann nach unten.

Obwohl es erst kurz nach acht war, machte ich mir einen Becher von dem Pulverkaffee, der eigentlich für Linda reserviert war, gab reichlich Milch dazu und ging nach oben ins Bett. Elsie hatte diesen Horror so überstanden, wie es anscheinend in Kindern angelegt ist, und ich hatte plötzlich den Drang, sie von all dem wegzubringen, an einen sicheren Ort zu gehen, fern von Angst und Gefahr. Ich war nie geflohen. Als Teenager hatte ich mich über Bücher gebeugt und immer nur gearbeitet. Als Medizinstudentin hatte ich noch mehr gearbeitet, und dann, nach dem Examen, noch mehr. Es hatte nie ein Licht am Ende des Tunnels gegeben. Nur die nächste Prüfung, den nächsten Preis, das nächste Stipendium oder den nächsten Job, von dem niemand gedacht hatte, daß ich ihn bekommen würde. Essen und Spaß und Sex und die anderen Dinge, aus denen das Leben bestehen sollte, waren etwas gewesen, von dem man unterwegs nur ganz kleine Stückchen mitnahm.

Mir kam ein Gedanke, und ich mußte bitter auflachen. Ich hatte es vergessen. Finn war all dem entkommen, war mit dem Rucksack durch ganz Südamerika gereist – oder was zum Teufel sie sonst getan hatte. Ich erinnerte mich an einen Gegenstand von Finn, den ich behalten hatte. Ich rannte in das eiskalte Zimmer, schnappte mir das zerfledderte Taschenbuch, sprintete zurück in mein Bett und zog die Decke über mich. Zum erstenmal sah ich mir das Buch richtig an. Lateinamerika praktisch: Der schlaue Reiseführer. Ich knurrte. Die besten Reiseführer der Welt – 5 Millionen verkaufte Exemplare. Ich knurrte noch einmal. Weg von allem, in der Tat. Trotzdem kam mir die Idee, ein oder zwei Jahre frei zu nehmen und durch Lateinamerika zu reisen, nur ich und Elsie. Es gab da allerdings ein paar praktische Hindernisse: meine Station sollte in Kürze eröffnet werden, ich hatte kein Geld, ich sprach kein Wort Spanisch. Aber Kinder sind sprachbegabt. Elsie würde es bald lernen, und sie könnte meine Dolmetscherin sein.

Peru. Alle sagten, es sei schön. Ich blätterte in dem Buch, bis ich in dem Teil über Peru an einen Abschnitt mit der Überschrift

»Probleme« kam: »In den urbanen Zentren Perus ist Vorsicht geboten. Touristen werden häufig ausgeraubt –

Taschendiebstähle, weggerissene Taschen und das Aufschneiden von Rucksäcken oder Taschen sind eine lokale Spezialität. Es gibt Trickdiebe, und unter der Polizei ist Korruption verbreitet.« Ich knurrte wieder. Damit konnten Elsie und ich fertig werden. Wo war Finn noch gewesen? Irgend etwas mit »Mich« oder so. Ich schaute mir das Register an.

Machu Picchu. Das war es. Ich schlug die Seite auf: »Die berühmteste und vollendetste archäologische Sehenswürdigkeit Südamerikas.« Ich könnte mir ein Jahr frei nehmen, und wir würden herumreisen, und dann würden wir rechtzeitig zu Elsies Schulbeginn zurückkehren, und sie hätte den Vorteil, fließend Spanisch zu sprechen. Meine Augen überflogen die Seite, bis ich bei ein paar vertrauten Worten hängenblieb: »Wenn Sie das Glück haben, bei Vollmond in der Gegend zu sein, besuchen Sie Machu Picchu bei Nacht. (7 US-Dollar für ein boleto nocturno.) Besichtigen Sie auch Intihuatana – den einzigen Steinkalender, der nicht von den Spaniern zerstört wurde –, und denken Sie über Lichteffekte und die Schicksale von Reichen nach. Das Reich der Inka ist untergegangen. Das spanische Imperium ist untergegangen. Alles, was bleibt, sind die Ruinen, die Bruchstücke. Und das Licht.«

Da war sie, Finns große transzendentale Erfahrung, geklaut aus einem billigen kleinen Reiseführer. Ich erinnerte mich an Finns leuchtende Augen und das Zittern in ihrer Stimme, als sie es mir beschrieben hatte. Ich empfand es wie mein endgültiges Versagen. In einer Ecke meiner Psyche lauerte noch immer diese kleine Eitelkeit, die hoffte, ich hätte bei Finn irgend etwas erreicht, sie hätte mich trotz der Gemeinheit und Täuschung ein bißchen gern gehabt, genau wie sie Elsies Liebe gewonnen hatte. Nun wußte ich, daß sie sich sogar da, wo es um nichts ging, keine Mühe gegeben hatte, mir etwas Echtes anzubieten.

Es war alles falsch, alles.

31. KAPITEL

»Hast du daran gedacht, nach allem, was passiert ist, zu jemandem zu gehen? Ich meine, du weißt …«

Sarah saß an meinem Küchentisch und machte Sandwiches.

Sie hatte Streichkäse, Schinken, Tomaten und Avocados mitgebracht, richtiges Essen, und verteilte dies jetzt auf dicken Weißbrotscheiben. Sie war einer der wenigen Menschen, die ich in meiner Nähe ertragen konnte. Sie war offen und sprach über Gefühle so objektiv, als sei sie eine Mathematikerin, die sich mit einem Rechenproblem befaßt. Jetzt schien die Sonne durch die Fenster, und wir hatten den Nachmittag für uns, bevor Elsie aus der Schule kam und Sarah nach London zurückfuhr.

»Du meinst«, ich trank einen Schluck Bier, »ob ich jemanden konsultiere, der auf Traumata spezialisiert ist?«

»Ich meine«, sagte Sarah ruhig, »daß es schwer sein muß, über das wegzukommen, was passiert ist.«

Ich starrte auf das krumme metallene Auge der Bierdose.

»Das Problem ist«, sagte ich schließlich, »daß es aus so vielen Teilen besteht. Wut. Schuld, Verwirrung. Trauer.«

»Mmm, natürlich. Fehlt er dir sehr?«

Ich träumte oft von Danny. Gewöhnlich waren es glückliche Träume, nicht, ihn zu verlieren, sondern, ihn wiederzufinden. In einem stand ich an einer Bushaltestelle und sah ihn auf mich zukommen; er breitete die Arme aus, und ich flog hinein und fühlte mich, als käme ich nach Hause. Es war so körperlich –

sein Herzschlag an meinem, die warme Höhlung seines Halses –

, daß ich mich, als ich erwachte, in dem riesigen Bett zu ihm umdrehte. In einem anderen Traum sprach ich mit jemandem, den ich nicht kannte, über seinen Tod, und ich weinte, und auf einmal wurde das Gesicht des Fremden zu dem von Danny, und er lächelte mich an. Ich erwachte, und Tränen liefen über mein Gesicht.

Jeden Morgen verlor ich ihn von neuem. Mein Körper verlangte schmerzlich nach ihm, nicht so sehr aus Begehren, sondern aus Einsamkeit. Mein heimwehkranker Körper erinnerte sich an ihn: die Art, wie er mit einer Hand meinen Hinterkopf umfaßte, seine rauhen Finger an meinen Brustwarzen, sein im Bett an meinen geschmiegten Körper. Manchmal nahm ich Elsie hoch und umarmte sie, bis sie aufschrie und sich zappelnd losriß. Meine Liebe zu ihr erschien plötzlich zu groß und eigennützig.

Zu oft nahm ich den Brief heraus, den er seiner Schwester geschrieben hatte. Ich las ihn nicht, sondern starrte auf die kühne schwarze Schrift und ließ einzelne Sätze scharf hervortreten. Ich hatte nur ein paar Fotos von ihm; er war immer derjenige hinter der Kamera gewesen, wie die meisten Männer.

Ein Bild gab es von uns beiden in Shorts und T-Shirts. Ich schaute in die Kamera, und er sah mich an. Ich konnte mich nicht erinnern, wer es aufgenommen hatte. Dann gab es noch eins von ihm, wie er auf dem Rücken lag und Elsie auf seinen ausgestreckten Beinen balancierte. Sein Gesicht im Sonnenschein war unscharf, ausgebleicht und verschwommen, wo die Augen hätten sein sollen, aber Elsies Mund war aufgesperrt vor Angst und Wonne. Meist war Danny von der Kamera abgewandt, verborgen. Ich wünschte mir ein Foto von ihm, auf dem er mich direkt ansah, so etwas wie die Hochglanzfotos von Filmstars, denn ich hatte schreckliche Angst zu vergessen, wie er aussah. Nur in meinen Träumen sah ich sein Gesicht richtig.

»Ja«, antwortete ich Sarah und nahm ein Sandwich, aus dem Tomatenscheiben herausfielen, als ich hineinbeißen wollte, »ja, er fehlt mir.«

Ich kaute ein wenig und fügte dann hinzu: »Die Erinnerung verzerrt ihn. Ich weiß nicht, wie ich die Perspektive zurechtrücken soll. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Was ist mit ihr?«

»Mit Finn, meinst du? Gott, das ist kompliziert. Zuerst hätte ich fast angefangen, sie zu lieben; sie war ein Teil der Familie, verstehst du. Dann habe ich sie gehaßt; ich war fast krank vor Haß und Demütigung. Und dann ist sie gestorben, und es ist, als hätte das all meine Gefühle ausgelöscht. Ich weiß nicht, was ich für sie empfinde. Ich schwimme.« Bei dieser Redewendung fröstelte mich, erinnerte ich mich wieder an das dunkle Wasser.

Ich sah Michael Daley auf dem auseinanderbrechenden Boot stehen, und in Zeitlupe sah ich noch einmal, wie ihn die Metallstange traf, der Baum gegen ihn prallte und sein langer Körper sich zusammenkrümmte.

»Die Polizei sagt ständig, wie froh sie sei, daß alles aufgeklärt ist, und um lose Enden sollte ich mich nicht kümmern, die würden sie Stückchen für Stückchen zusammenfügen, aber das stört mich irgendwie. Nein, das Wort trifft’s nicht ganz. Ich kriege es im Kopf nicht richtig zusammen. Ich meine, es gibt Dinge, da begreife ich nicht, wie es möglich war, daß …« Ich hielt abrupt inne. »Laß uns eine Partie Schach spielen. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr gespielt.«

Ich legte das Schachbrett auf den Tisch und öffnete den Deckel der dunklen Holzschachtel, nahm zwei Bauern mit glatten Köpfen heraus. Ich streckte die Fäuste vor, und Sarah tippte auf meine linke Hand.

»Weiß«, sagte ich, und wir bauten die Figuren auf. Da standen sie sich in entschlossenen Reihen gegenüber, das Holz glänzte im Sonnenlicht; draußen zwitscherte ein Vogel. Es war nicht das einsame Geschrei der Seevögel, bei dem ich eine Gänsehaut bekam, sondern das heimelige, banale Zwitschern eines englischen Gartenvogels auf einem kleinen Baum, dessen Blätter sich gerade entfalteten.

Später, nachdem Sarah nach London aufgebrochen war und ich Elsie abgeholt und Linda übergeben hatte, fuhr ich zum Supermarkt. Ich war erst ein paar Tage vorher dort gewesen, und Vorratsschränke und Tiefkühlfach zu Hause waren voll mit Fertiggerichten. Aber es beruhigte mich, den Einkaufswagen durch die vertrauten Gänge zu schieben und die soliden, beruhigenden Gegenstände herauszunehmen, die immer am richtigen Platz standen. Ich verglich gern die Preise von gebackenen Bohnen mit Süßstoff, Waschpulver, Erdnußbutter.

Ich stand gerade vor einer Tiefkühltruhe voller Süßspeisen –

sollte ich noch einen Pecankuchen oder eine Zitronenmeringue kaufen? –, als ich hinter mir eine Stimme hörte.

»Sam?«

Ich nahm beides und drehte mich um.

»Oh, hallo, äh …« Wieder hatte ich ihren Namen vergessen, genau wie bei unserer letzten Begegnung. Kurz und schmerzhaft stieg die Erinnerung an meine und Finns Einkaufsexpedition in mir auf. Das war der Tag, an dem ich geglaubt hatte, das Tauwetter hätte begonnen. Jetzt wußte ich, daß es nur Teil der Scharade gewesen war.

»Lucy«, half sie mir. »Lucy Myers.«

»Natürlich. Entschuldigung, ich war meilenweit weg.« Ich legte die Süßspeisen in den überquellenden Wagen. »Wie geht es dir?«

»Nein, wie geht es dir? « , antwortete sie eifrig. »Du hast so eine schreckliche Zeit hinter dir, ich habe alles darüber gelesen, na ja, das hat jeder. Wir bewundern dich so sehr. So tapfer. Im Krankenhaus reden sie von nichts anderem.«

»Großartig«, sagte ich.

»Ja.« Sie zog ihren Wagen aus der Mitte des Ganges, so daß er mir den Weg blockierte. Ich war gefangen von den beiden vollgepackten Einkaufswagen und der Tiefkühltruhe, und Lucy war mein Wärter. In ihrem Wagen sah ich Hundefutter, Mineralwasser, Lauch, Deodorant, Küchenkrepp und Mülltüten.

Plötzlich war mir ein wenig übel, und hastig legte ich die Zitronenmeringue zurück. »Ich meine, unglaublich, wie berühmt du jetzt bist. Die Leute müssen dich auf der Straße erkennen und so.«

»Manchmal.« Ich legte auch den Pecankuchen zurück.

»Du wärst fast ertrunken. Wie schrecklich.«

»Ja, das war es«, stimmte ich zu. Ich mußte an Katzenfutter für Anatoly denken.

»Und weißt du, was wirklich erstaunlich ist?«

Sie schob die Wagen auseinander und trat dazwischen, kam mit ihrem Gesicht nahe an meins. Ich konnte ihre Kontaktlinsen erkennen.

»Ich habe sie gekannt.«

»Wen?«

Sie nickte mir nachdrücklich zu, begeistert, selbst auch ein Teil dieses Dramas zu sein.

»Ich kannte Fiona Mackenzie. Ist das nicht merkwürdig, daß ich dich kenne und sie auch?«

»Aber …«

»Es stimmt. Meine Mutter und ihre Mutter waren Freundinnen. Ich war sogar ihr Babysitter, als sie klein war.«

Lucy kicherte, als sei es die faszinierendste Neuigkeit der Welt, daß sie der Babysitter von jemandem gewesen war, der seine Eltern abgeschlachtet hatte und dann in einem Auto verbrannt war. »Ich habe sie ein paar Jahre nicht mehr gesehen, drei Jahre vielleicht. Sie kam mit ihren Eltern zur Hochzeit meiner Schwester. Sie …«

»Warte einen Moment, Lucy.« Ich sprach langsam, als ob sie Englisch nicht sehr gut verstünde. »Du hast sie gesehen.«

»Das sage ich doch gerade, Sam.«

»Nein, ich meine, du hast sie hier mit mir gesehen. Letztes Mal, als wir uns getroffen haben, in, wie heißt das, in Goldswan Green, hatte ich eine junge Frau bei mir, erinnerst du dich?«

»Ja, natürlich.«

»Finn. Fiona Mackenzie.«

»Das war Fiona? Sie war so schlank, und ich hatte doch von ihrem Problem gehört.«

Ich nickte.

»Anorexie«, sagte ich.

Sie sah mich an, ihr rundes Gesicht verzog sich, und dann prallte ein fetter Mann, dem der Bauch über den Gürtel hing und dessen Hemd unter den Achseln schweißnaß war, mit seinem Einkaufswagen gegen die unseren.

»Passen Sie doch auf, wo Sie stehenbleiben!« brüllte er.

»Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen«, fauchte ich zurück und sah dann wieder Lucy an. Die Frau sollte mir nicht so schnell entkommen; endlich hatte ich jemanden, der Finn Mackenzie tatsächlich gekannt hatte. »Erzähl mir von ihr.«

»Wie soll ich sie beschreiben? Ach, meine Güte, sie war«, sie spreizte die Hände so weit auseinander, als halte sie einen Strandball, »ziemlich rundlich, könnte man sagen, aber nett. Ja«

– Lucy sah mich an, als hätte sie mir eine Art Hinweis gegeben

–, »sehr nett.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Nett?«

»Ja. Ziemlich still, glaube ich, sie drängte sich nicht in den Vordergrund. Vielleicht war sie ein bißchen schüchtern.«

»Sie war also nett und still?«

»Ja.« Lucy sah aus, als werde sie gleich in Tränen ausbrechen.

Wie stand diese Frau jemals ihre Schichten auf der Station durch? »Es ist so lange her.«

»Wie sah sie damals aus? Wie zog sie sich an?«

»Tja, das kann ich eigentlich nicht sagen. Nichts Übertriebenes, weißt du. Ich glaube, sie sah immer ganz hübsch aus, obwohl sie natürlich sehr rundlich war. Sie trug ihr Haar lang und offen. Hör mal, Sam, es war nett, dich zu treffen, aber

…«

»Ja, entschuldige, Lucy, du mußt sicher noch einkaufen. Wir sehen uns bald.«

»Das wäre sehr schön.« Der eifrige, freundschaftliche Ton kam jetzt, da wir uns trennten, wieder zurück. »He, warte, Sam, was ist mit deinem Einkaufswagen?«

»Ich hab’s mir anders überlegt!« rief ich, während ich mit leeren Händen durch den Gang zum Ausgang eilte. »Ich brauche eigentlich doch nichts.«

Im Haus war es vollkommen still. Oben schlief Elsie in ihrem sauberen, gebügelten Schlafanzug. Ich saß auf dem Sofa, Anatoly auf dem Schoß, und nur eine einzige Lampe erleuchtete das Zimmer. Ich erinnerte mich an einen Abend hier mit Danny, ein paar Tage nach meinem Einzug, als noch überall Umzugskartons herumstanden und die Regale leer waren. Er hatte ein Video ausgeliehen und uns indisches Essen mitgebracht, das er auf einer Zeitung vor uns ausgebreitet hatte.

Wir saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und sahen uns den Film an, und ich hatte so gelacht, daß mir die Tränen kamen. Danny hatte die Behälter aus Alufolie, die noch dunkelrotes Fleisch und irgendwelche undefinierbaren Gemüse enthielten, weggeschoben, mich an sich gezogen und mir gesagt, daß er mich liebe, und ich hatte weiter gelacht und geweint. Und nie gesagt, daß ich ihn liebte. An diesem Abend nicht und später auch nicht. Jetzt saß ich in seinem Morgenrock mit der Katze im Dunkeln und sagte es ihm. Immer wieder sagte ich es ihm, als sei er irgendwo in der Dunkelheit anwesend und höre es, als könne ich ihn zurückholen, wenn ich es nur oft genug wiederholte. Und dann nahm ich ein Kissen und preßte mein Gesicht hinein und schluchzte, schluchzte mein Herz auf ein plumpes Quadrat aus geblümtem Cordsamt.

Und danach dachte ich an Finn. Sie hatte fast zwei Monate in diesem Haus gelebt und kaum eine Spur hinterlassen. Sie hatte all ihre alten Kleider verbrannt und die paar neuen mitgenommen. Sie hatte keine Bruchstücke ihres Lebens zurückgelassen. Ich sah mich in dem dämmrigen Raum um, in dem ich saß; alle Stellflächen waren voller Gegenstände, die sich in den letzten Monaten angesammelt hatten. Der wacklige Tontopf, den Elsie in der Schule für mich gemacht hatte, der Pfirsich aus Pappmache, den Sarah mir heute mitgebracht hatte, eine Glasschale, die ich in Goldswan Green gekauft hatte, weil mir ihr reines Kobaltblau gefiel, die Katze aus Ebenholz, die Aufgabenliste von gestern, ein hölzerner Kerzenständer, ein welkender Strauß Anemonen, ein Stapel Zeitschriften, ein Stapel Bücher, ein Zinnbecher mit Stiften. Ihr Zimmer aber hatte immer ausgesehen wie ein Hotelzimmer, und sie hatte es bezogen und wieder verlassen, ohne seine Anonymität im geringsten zu stören.

Was wußte ich über dieses Mädchen, das zwei Monate mit mir unter einem Dach gelebt, meine Mahlzeiten geteilt und meine Tochter verzaubert hatte? Nicht viel, obwohl mir klarwurde, daß sie mir eine ganze Menge Informationen entlockt hatte. Ich hatte ihr sogar von Elsies Vater erzählt. Wie hatte Lucy sie noch genannt? »Nett« und »still«. Und diese Schulfreundinnen, die ich bei der Beerdigung ihrer Eltern getroffen hatte? »Lieb«, hieß es; »lieb« und problemlos. Mir erschien sie unvergeßlich mit ihrer weichen Haut, ihrer jugendlichen Ausstrahlung.

Gewöhnlich fixiert der Tod die Menschen, legt sie auf ihr beendetes Leben fest. Aber Finn schien der Tod aufzulösen, zu verwehen wie eine Wolke.

32. KAPITEL

Die Tage und Nächte wurden allmählich wieder normal und gingen ereignislos ineinander über. Es wäre übertrieben, diesen Zustand als segensreich zu bezeichnen, aber er war halbwegs erträglich, und das reichte für den Augenblick. Natürlich geschah das eine oder andere. Nach einem weiteren Monat äußerster Konzentration hatte ich das Buch fertig. Ich war sehr zufrieden über den großen Stapel Papier, den mein Drucker ausspuckte und den ich zur raschen Lektüre an Sarah schickte, damit sie mich ein bißchen ermutigte. Elsie machte Fortschritte im Lesen. Allmählich konnte ich mir vorstellen, daß sie in der Lage sein würde, sehr kurze Wörter, besonders solche mit sich wiederholenden Buchstaben wie »Mama« oder »Papa«, mit ausreichend Zeit und ein wenig gutem Willen ohne die Hilfe des Bildes über dem Text zu erkennen. Und sie gewann eine dritte Freundin: Vanda, die in Wirklichkeit Miranda hieß. Ich lud sie ein – oder vielmehr, Elsie lud sie ein, und ich stimmte der Einladung zu –, bei uns zu übernachten.

Und meine Station sollte tatsächlich bald eröffnet werden.

Zwei Ärzte und eine Sozialarbeiterin waren verpflichtet worden und wurden in Kürze erwartet. Ich verbrachte viele Stunden in Büros und diskutierte über Kosten und Krankenversicherung, ich besuchte Besprechungen über die interne Vermarktungspolitik des Stamford, und dann klapperte ich zusammen mit Geoff Marsh verschiedene

Versicherungsgesellschaften ab, um bei zähen Hähnchen und Mineralwasser über den Schutz vor Haftungsansprüchen zu sprechen, den wir boten. Nur eine Woche lang Dr. Laschens famose Patentmedizin, und Sie sind garantiert gefeit gegen alle Prozesse. Mein Name klang, als sei er so gut zu vermarkten, daß ich mir schließlich wünschte, ich könnte einen Anteil an mir selbst erwerben.

Ich dachte an Danny, aber nicht mehr so oft. Er befand sich nicht mehr in jedem Zimmer meines Hauses. Gelegentlich öffnete ich eine Tür, einen Schrank, und dann war er da in irgendeinem albernen Detail, einem Gegenstand oder einer Erinnerung, aber das war alles. Manchmal wachte ich nachts auf und weinte, aber das sinnlose Grübeln darüber, daß wir vielleicht den Rest unseres Lebens zusammen verbracht hätten, und die Verbitterung gegenüber der Verrückten, die ihn mir genommen hatte, beschäftigten mich nicht mehr die ganze Zeit.

Die Aufmerksamkeit der Presse ließ nach. Aus den Artikeln über die Fehlbarkeit der Trauma-Industrie wurden plötzlich Kolumnen, die den weiblichen Mut analysierten. Ich war keine Versagerin mehr, sondern eine Heldin, aber ich interessierte mich weder für das eine noch für das andere. Es gab Anfragen, ob man mich in meinem Garten fotografieren könne, ob ich über meine Kindheit und wichtige Einflüsse sprechen, Fragebogen ausfüllen, im Rundfunk auftreten oder meine Lieblingsplatten auflegen wolle. Man bot mir die Gelegenheit, im Radio mit einem Psychiater darüber zu diskutieren, wie es war, als mein Liebhaber ermordet wurde und man auch mich fast umgebracht hätte. Zumindest im Moment war ich die berühmteste Expertin Großbritanniens für mentale Traumata, doch ich beschloß, daß derartige Enthüllungen nicht hilfreich sein würden, und lehnte zu Geoffs kaum verhohlenem Ärger alles ab.

Einen Tag jedoch gab es, der sich von allen anderen abhob. Es war der Tag, an dem Miranda kam, um bei Elsie zu übernachten, und ich hatte versprochen, ihnen Lebensmittel für ein nächtliches Festmahl einzukaufen. Beim Frühstück hatte sich Elsie Biskuits, Lutscher, Miniatursalamis in Silberpapier, Frischkäse und Schokostäbchen gewünscht, und während ich ihr den Mund abwischte, die Haare bürstete und die Zähne putzte, überlegte ich, wie ich zwischen zwei Besprechungen schnell in den Supermarkt gehen könnte. Als wir in Eile das Haus verlassen wollten, bemerkte ich, daß es angefangen hatte, in Strömen zu regnen. Ich zog die Jacke aus und einen Regenmantel an und stülpte mir einen Hut auf den Kopf.

»Zieh deinen Regenmantel an, Elsie«, sagte ich.

Sie sah mich an und begann zu kichern.

»Wir haben keine Zeit für Spiele«, sagte ich. »Zieh deinen Mantel an.«

»Du siehst komisch aus, Mummy«, sagte sie kichernd.

Mit einem verzweifelten Seufzer wandte ich mich um und sah in den Spiegel. Und mußte ebenfalls lachen. Ich konnte nicht anders. Ich sah wirklich komisch aus.

»Du siehst aus wie Hardy Hardy«, sagte Elsie.

Sie meinte Laurel und Hardy. Sie erinnerte sich an eine Szene aus einem ihrer Videos, in der die beiden ihre Hüte verwechselt hatten. Der Hut war mir zu klein und saß unsicher ganz oben auf meinem Kopf. Was zum Teufel war das? Ich nahm ihn ab und untersuchte ihn. Er gehörte Finn. Ich warf ihn beiseite, schnappte mir meinen alten Schlapphut, und wir rannten zum Auto.

»Das war ein komischer Hut, Mummy.«

»Ja, das stimmt.« Nun, warum nicht? »Er gehörte Finn.«

»Der auch«, sagte sie und zeigte auf den Hut, der ordentlich auf meinem Kopf saß.

Ich stutzte und sah ihn mir an.

»Ja«, sagte ich. »Stimmt. Der war auch von ihr. Er …«

»Mummy-y-y-y-y. Ich werde naß.«

»Tut mir leid.«

Ich rannte um den Wagen herum und öffnete ihr die Beifahrertür. Ich schnallte sie auf dem Sitz fest. Dann lief ich wieder auf die andere Seite und setzte mich neben sie. Ich war tropfnaß.

»Du riechst wie ein Hund, Mummy.«

Wir hatten zu Musikbegleitung Statuen nachgeahmt und die Reise nach Jerusalem und ein kompliziertes Spiel gespielt, dessen Regeln ich nie ganz begriff, das aber Elsie und Miranda zu Lachstürmen hinriß. Ihr heimliches nächtliches Festessen fand um Viertel nach acht statt, und dann kam ich in Gestalt eines Geistes mit Zahnbürste und wollte ihnen eine Geschichte erzählen. Ich sah mich nach einem Buch um, aber Elsie meinte:

»Nein, aus dem Kopf, Mummy.« Sie wußte, daß ich nur eine einzige Geschichte auswendig kannte, und die beiden lehnten sich zurück, während ich mich an die wichtigsten Passagen von Rotkäppchen zu erinnern versuchte. Kam die Großmutter ums Leben? Nun, in meiner Version würde sie das nicht tun. Schritt für Schritt erzählte ich die Geschichte, bis ich zu ihrem Höhepunkt kam: »Komm herein, Rotkäppchen«, sagte ich mit krächzender Stimme.

»Guten Tag, Großmutter«, sagte ich mit

Kleinmädchenstimme.

»Was hast du für große Ohren, Großmutter!«

»Damit ich dich besser hören kann, Liebes«, sagte ich mit meiner Krächzstimme. Aus dem Bett kam Gekicher.

»Und was hast du für große Augen, Großmutter«, sagte ich mit Kleinmädchenstimme.

»Damit ich dich besser sehen kann«, sagte ich mit krächzender Stimme und mußte husten. Weiteres Gekicher.

»Und was hast du für einen großen Mund, Großmutter«, flötete ich. Diesmal machte ich eine lange Pause und sah in erwartungsvoll aufgerissene Augen.

»Damit ich dich besser fressen kann.« Und ich stürzte mich auf das Bett, nahm die beiden kleinen Mädchen in die Arme und schnappte mit den Lippen nach ihnen. Sie kreischten und lachten und zappelten. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, sprach ich mit dem, was von meiner normalen Stimme noch übrig war.

»Also, wer war in dem Bett, Miranda?«

»Die Großmutter«, sagte Miranda lachend.

»Nein, Miranda, das war nicht die Großmutter. Wer war in dem Bett, Elsie?«

»Die Großmutter«, sagte Elsie, und beide kreischten vor Lachen und rollten und sprangen auf dem Bett herum.

»Wenn jemand Augen hat wie ein Wolf und Ohren wie ein Wolf und einen Mund wie ein Wolf, was ist er dann?«

»Eine Gro-o-o-oßmutter!« schrie Elsie, und beide kreischten von neuem.

»Ihr seid zwei unartige kleine Wolfsjunge«, sagte ich, »und jetzt ist es Zeit zum Schlafen.« Ich umarmte und küßte sie und ging nach unten, wo die Deckenlampe hin und her schwang, weil die beiden oben noch immer auf Elsies Bett herumtobten.

Im Kühlschrank stand noch eine offene Flasche Weißwein, und ich goß mir ein halbes Glas ein. Ich mußte einen Augenblick nachdenken. Etwas spukte mir im Kopf herum, und ich wollte es packen. Ich wußte, wenn ich mich zu sehr anstrengte, würde es mir nicht einfallen. Ich mußte mich sozusagen anschleichen. Ich fing an, vor mich hin zu murmeln.

»Wenn etwas Augen hat wie ein Wolf, Ohren wie ein Wolf und einen Mund wie ein Wolf, dann ist es ein Wolf.« Ich trank einen Schluck von meinem Wein. »Aber wenn es keine Augen hat wie ein Wolf und keine Ohren wie ein Wolf und keinen Mund wie ein Wolf und nicht den Mond anheult, was ist es dann?«

Ich holte mir ein Blatt Papier, um eine Liste zusammenzustellen. Dann begann ich, einzelne Punkte zu unterstreichen und einzukringeln sowie mit Strichen zu verbinden. Ich ließ den Stift fallen. Ich dachte an Geoff Marsh und seine mittelfristige Strategie. Ich dachte an Elsie und mein neues, friedliches Leben, ich dachte daran, daß die Aufmerksamkeit der Presse erlahmt war, und am Ende, unvermeidlich, dachte ich an Danny.

In einem Fach meiner Handtasche, zwischen Fahrkartenabschnitten, Kreditkartenquittungen, meinem Ausweis für das Krankenhaus, Staubflusen und unnützen Dingen, die ich hätte wegwerfen sollen, steckte ein Zettel mit Chris Angeloglous Privatnummer. Er hatte sie mir bei unserem letzten Treffen gegeben und mir angeboten, ihn anzurufen, wenn ich irgendwann einmal über die Dinge reden wollte.

Wahrscheinlich wollte er mir damals seine ganz eigene Art der Heiltherapie aufdrängen. Folglich hatte ich mit einem ausgesprochen trockenen Lächeln reagiert. O Gott. Die Polizei hatte absolut genug von mir. Die Familie, das Krankenhaus, einfach alle wollten, daß diese schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit angehörten. Wenn auch ich sie aus meinen Gedanken verbannte, würde es keine Probleme geben. Sie würden sonst meine Arbeit stören, mich emotional aus dem Gleichgewicht bringen und in Elsie alte Erinnerungen wecken, die ihr nur schaden konnten. Und wenn ich Chris Angeloglou jetzt tatsächlich anriefe, würde er zu allem anderen vermutlich auch noch annehmen, ich wolle mit ihm anbandeln. Mit Sechzehn hatte ich mir etwas sehr Dummes geschworen. Am Ende des Lebens bereut man das, was man nicht getan, und nicht das, was man getan hat. Ich hatte mir also folgendes versprochen: Wenn ich vor der Wahl stünde zu handeln oder nicht zu handeln, würde ich mich immer für das Handeln entscheiden. Das Resultat war häufig verheerend gewesen, also war ich alles andere als optimistisch. Ich nahm den Hörer ab und wählte.

»Hallo, ist da Chris Angeloglou? Oh, Chris, hallo. Ich rufe an

… ich habe mir gedacht, ob wir uns vielleicht auf einen Drink treffen könnten. Da ist etwas, worüber ich mit Ihnen reden möchte … Nein, abends kann ich nicht. Wie wär’s mit mittags?

Gut … Ist das das Lokal am Marktplatz? … Abgemacht, wir sehen uns dort.«

Ich legte den Hörer auf.

»Dumm, dumm, dumm«, sagte ich tröstend zu mir selbst.

33. KAPITEL

Ein Finanzfachmann in einem Anzug mit eigenartigem Revers versuchte, mir den philosophischen Unterschied zwischen einem Krankenhausbett als Objekt der Buchhaltung und einem Krankenhausbett als physikalischem Gegenstand zu erklären, in dem ein Patient liegen kann, und als ich das halbwegs begriffen hatte, merkte ich, daß es spät geworden war. Ich versuchte, Chris Angeloglou anzurufen, aber er war nicht da. Eine weitere Besprechung wickelte ich telefonisch ab und noch eine, während ich durch die Gänge des Krankenhauses eilte. Ich beendete sie schnell und lief zu meinem Wagen. Ich hielt unterwegs an, um ein Rezept für Elsie abzuholen (als gäbe es eine Medizin, die Schlafmangel in Verbindung mit chronischer Ungezogenheit heilen kann), kurvte dann auf dem Parkplatz im Zentrum von Stamford herum und mußte lange hinter Leuten warten, die sich in winzige Parklücken quetschten, obwohl in einiger Entfernung größere Plätze frei waren.

Als ich endlich in das Queen Anne stürmte, war ich fast eine halbe Stunde zu spät. Ich entdeckte Chris sofort in der hinteren Ecke. Als ich näher kam, sah ich, daß er aus Streichhölzern ein kompliziertes Bauwerk errichtet hatte. Entschuldigungen murmelnd, ließ ich mich auf einen Stuhl sinken, und natürlich stürzte das Streichholzgebilde ein. Ich bestand darauf, uns etwas zu trinken zu holen, und ohne nach seinen Wünschen zu fragen, ging ich zur Bar und bestellte hysterisch zwei große Gin Tonic, Chips in allen vorrätigen Geschmacksrichtungen und eine Packung geröstete Speckkrusten.

»Ich trinke nicht«, sagte Chris.

»Ich eigentlich auch nicht, aber ich dachte, dieses eine Mal

…«

»Ich meine, ich trinke wirklich nicht.«

»Was sind Sie, Moslem oder so?«

»Alkoholiker.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

»Gut. Soll ich Ihnen ein Mineralwasser holen?«

»Das hier ist mein drittes.«

»Es tut mir wahnsinnig leid, Chris. Ich weiß, wieviel Sie zu tun haben. Ich bin aufgehalten worden und habe versucht, Sie anzurufen, aber Sie waren nicht mehr im Büro. Und jetzt rede ich zuviel.«

Einen Augenblick schwiegen wir, und ich versuchte abzuschätzen, wie ärgerlich Chris war. Er nahm einen Schluck von seinem Wasser und lächelte mich mitfühlend an.

»Sie sehen besser aus, Sam«, sagte er.

»Besser als was?«

»Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht. Und wir hatten auch Schuldgefühle.«

»Eigentlich gab es keinen Grund zur Sorge. Mein Bad im Meer hat mir nicht mal eine Erkältung eingebracht.«

Er zündete sich eine Zigarette an.

»Stört es Sie?« Ich schüttelte den Kopf. »Daran hatte ich nicht gedacht«, fuhr er fort.

»An was hatten Sie denn gedacht?«

»Es war schwierig für Sie, in mehrfacher Hinsicht. Sie haben uns leid getan.«

»Für andere Leute war es schlimmer.«

»Sie meinen die Mordopfer?« Angeloglou lachte so, als koste es ihn einige Anstrengung. »Ja. Na ja, das ist jetzt alles Vergangenheit. Dieser neue Job wird Sie ablenken. Wir suchen nach diesem Kendall-Mädchen. Sie haben es sicher im Fernsehen gesehen.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich sehe nicht fern.«

»Sollten Sie aber. Es gibt gute Sendungen. Amerikanische Programme hauptsächlich …«

Angeloglou verstummte, und seine Augen wurden schmal. Er sah mich fragend an und lächelte, um mir Gelegenheit zu geben, ihm zu sagen, warum ich ihn hatte treffen wollen.

»Chris, wie sieht Ihre Version der Geschehnisse aus?«

Sein Interesse schien nachzulassen. Er hatte ein hübsches Gesicht, dunkel, mit vorstehenden Wangenknochen und einem starken Kinn, über das er manchmal mit den Fingern strich. Er war zu ordentlich für mich. Zu adrett. Er hatte wohl erwartet, daß ich ihm gestand, ich hätte ihn immer schon gern näher kennengelernt, mich aber zurückgehalten, solange der Fall noch lief. Aber wie wäre es demnächst mit einem gemeinsamen Essen; dann würde man ja sehen, was passierte. Schließlich war ich eine berufstätige Frau und eine dieser Feministinnen und hatte komische Haare, was alles zusammen vermutlich bedeutete, daß ich auf sexuelle Abenteuer aus war. Und jetzt stellte sich heraus, daß ich noch immer neurotisch über den Fall nachgrübelte.

»Sam, Sam, Sam«, sagte er, als wollte er ein Kind beruhigen, das in der Nacht aufgeschreckt war. »Das müssen Sie nicht tun, wissen Sie.«

»Es gibt nichts, was ich tun muß, Chris, darum geht es nicht.«

»Sie hatten eine ganz, ganz schreckliche Zeit. Sie haben ein Trauma erlitten.«

»Erzählen Sie mir nichts von Traumata.«

»Und dann wurden Sie zu einer großen Heldin, und wir haben Sie sehr gelobt und waren Ihnen – und sind es natürlich noch immer – dankbar. Aber es ist vorbei. Ich weiß, Sie sind die Expertin, und ich sollte Ihnen das nicht sagen, aber Sie müssen damit aufhören.«

»Beantworten Sie meine Frage, Chris. Sagen Sie mir, was passiert ist.«

Mit einer fast brutalen Geste zog er an seiner Zigarette.

»Ich bin nicht daran interessiert, noch weiter über diesen Fall zu reden, Sam. Alle Beteiligten sind tot. Es ist nicht besonders gut gelaufen, für niemanden. Aber wir sind damit durchgekommen. Ich möchte nicht mehr daran denken.«

Ich nahm einen großen Schluck aus einem der Gin Tonics.

Dann holte ich tief Luft und sagte mehr oder weniger aufrichtig:

»Hören Sie mir fünf Minuten zu, und wenn Sie dann noch kein Interesse haben, werde ich es nie wieder erwähnen.«

»Das ist der beste Vorschlag, den Sie bis jetzt gemacht haben.«

Ich versuchte, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen.

»Sie glauben, daß Finn und Michael die Mackenzies umgebracht haben und daß Michael Finn dann eine Schnittwunde am Hals zugefügt hat, obwohl es für sie einfach gewesen wäre, sich woanders aufzuhalten und so ein Alibi zu haben.«

Chris zündete sich eine neue Zigarette an.

»Um Himmels willen, Sam, das haben wir doch alles durchgekaut. Ich brauche Ihnen gegenüber nicht das Verhalten dieser Mörder zu rechtfertigen. Sie waren krank, pervers, wer weiß, ob es ihnen nicht sogar Spaß gemacht hat. Vielleicht hat der vorgetäuschte Mordversuch ihre sadomasochistischen Gelüste befriedigt.«

»Und dann ist da der Mord an Mrs. Ferrer.«

»Mrs. Ferrer ist daran gestorben, daß sie sich eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hat.«

»Vielleicht. Aber damit bleiben immer noch die Morde an Danny und Finn. Sie selbst haben mir doch bewiesen, daß Michael das nicht gewesen sein konnte.«

»Ich kann es nicht fassen, daß ich hier sitze und mir das anhöre. Konzentrieren Sie sich nur für einen Augenblick, Sam.

Sie haben bei uns ausgesagt, daß Michael Daley die Morde gestanden hat. Die forensischen Beweise aus dem Bootshaus haben Ihre Aussage klar bestätigt. Es ist unvernünftig, daran zu zweifeln, daß Daley und Fiona Mackenzie die Mackenzies getötet haben und daß Daley dann, mit oder ohne Fiona Mackenzie, Danny Rees getötet hat und anschließend Fiona Mackenzie, damit keine Verbindung zu dem Verbrechen hergestellt würde. Und wenn ihm der angebliche Bootsunfall mit Ihnen geglückt wäre, dann wäre er vermutlich damit durchgekommen.«

»Können Sie sich irgendeinen plausiblen Grund denken, warum Finn ein Testament geschrieben haben könnte, in dem sie alles Michael Daley hinterließ?«

Chris sah mich jetzt mit einem fast schon verächtlichen Ausdruck an.

»Das ist mir scheißegal. Patientinnen verlieben sich manchmal in ihre Ärzte, oder?« Er hielt inne, bevor er entschlossen fortfuhr: »Man weiß, daß Frauen sich unter großem Streß irrational verhalten. Vielleicht litt sie an einem Trauma, vielleicht erwartete sie ihre Periode. Tja, Fälle enden nun mal so. Wenn Sie die richtigen Leute geschnappt haben und nicht zu viele lose Enden übrigbleiben, dann reicht das. Wollten Sie mich deshalb sehen?«

»Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, von ein paar komischen Dingen zu hören, die mir in den letzten Tagen passiert sind.«

»Sind Sie okay, Sam?«

»Vor ein paar Monaten war ich mit Finn unterwegs, um etwas zum Anziehen für sie einzukaufen, und traf dabei eine Frau, die ich vom Medizinstudium her kannte.«

»Das ist ja faszinierend. Ich glaube, Ihre fünf Minuten sind um

…«

»Warten Sie. Am Dienstag habe ich sie wieder getroffen.«

»Richten Sie ihr Grüße von mir aus, wenn Sie sie zufällig noch einmal sehen«, sagte Chris und erhob sich.

»Setzen Sie sich hin!« sagte ich scharf.

Chris runzelte die Stirn; er überlegte sich, ob er mich ignorieren und gehen sollte, aber dann seufzte er und nahm wieder Platz.

»Sie hatte in den Zeitungen von mir gelesen. Sie sagte, das sei ein komischer Zufall, weil sie eine Freundin der Familie Mackenzie sei. Aber als wir uns beim erstenmal getroffen hatten, hatte sie Finn nicht erkannt.«

Chris’ Gesicht war ausdruckslos; er wartete noch immer auf die Pointe.

»Soll das irgend etwas bedeuten?« fragte er.

»Ja. Finden Sie das nicht seltsam?«

Er lachte rauh.

»Hatte Fiona stark abgenommen, Sam?«

»Ja.«

»Hatte sie es vermieden, Leuten persönlich zu begegnen?«

»Ja.«

»Also hat Ihre Freundin sie vielleicht nicht richtig gesehen, vielleicht hatte sie ihre Brille vergessen.«

»Und dann, als ich in Finns Südamerika-Führer geblättert habe, stieß ich zufällig auf einen Abschnitt, und da stand dasselbe – wörtlich dasselbe, meine ich –, was sie mir über ihre Reise erzählt hatte, so als hätte sie es auswendig gelernt.«

Jetzt ließ er seine Fingerknöchel knacken und sah gelangweilt und fast verächtlich aus. Er machte sich nicht die Mühe, etwas zu sagen.

»Und gestern ist mir noch etwas Seltsames passiert. Ich lief eilig aus dem Haus und griff aufs Geratewohl nach irgendeinem Hut, und der, den ich erwischte, war lächerlich klein. Er paßte gerade mal so auf meinen Oberkopf. Er brachte Elsie zum Lachen.«

»Man muß wohl dabeigewesen sein, um die ganze Komik der Situation zu erfassen.«

»Sehen Sie diesen Hut?« Ich nahm ihn vom Tisch und setzte ihn auf.

»Paßt genau, nicht? Der gehörte Finn.«

»In der Wäsche eingelaufen, was? Nun, ich bin natürlich froh, daß Sie mir das mitgeteilt haben, Sam.«

»Stecken Sie Ihre Hüte in die Waschmaschine, Chris? Das würde ein oder zwei Dinge erklären. Haben Sie in der Schule Naturkundeunterricht gehabt?«

»Auch das ist wesentlich für die Ermittlungen, nehme ich an.

Ja, ich hatte Naturkundeunterricht, aber ich wette, ich war darin nicht so gut wie Sie.«

»Nein, sicher nicht. Eines der Dinge, die man dabei lernt, ist eine Märchenversion der wissenschaftlichen Methode. Man stellt eine Hypothese auf und versucht, sie zu beweisen. Später lernen Sie vielleicht eine raffiniertere Version dieses Vorgehens, die darin besteht, daß Sie eine Hypothese aufstellen und sie zu widerlegen versuchen. Es gibt keine Möglichkeit, die Hypothese zu beweisen, daß alle Menschen kleiner als drei Meter sechzig sind. Aber Sie können sie mit einer einzigen Person, die drei Meter neunzig groß ist, widerlegen. In der Praxis ist es kaum je so einfach. Die Realität ist kompliziert, die Leute handeln unlogisch, der Augenschein ist mehrdeutig. Aber …« Ich trank meinen Gin Tonic aus und knallte das Glas so hart auf den Tisch, daß Leute sich nach uns umdrehten und Chris verlegen auf seinem Stuhl herumrutschte.

»Ich hoffe, Sie haben nicht vor, mit dem Auto nach Hause zu fahren.«

»Aber«, wiederholte ich, »dies ist nicht chaotisch. Es ist unmöglich. Bis zu den Entdeckungen in Michaels Bootshaus war es möglich, daß Finn und Danny durchgebrannt sind und dann Selbstmord begangen haben. Es war vielleicht unwahrscheinlich und untypisch und hat mich persönlich zutiefst getroffen, aber es war möglich. Und es ist vielleicht wahrscheinlich und typisch, daß Michael Finn und Danny getötet und ihren Selbstmord vorgetäuscht hat, aber es ist vollkommen unmöglich.« Ich machte eine Pause. Chris antwortete nicht. »Oder?«

Er klopfte die Asche von seiner Zigarette.

»So, wie Sie es beschrieben haben, vielleicht. Aber Michael ist tot. Finn ist tot. Wir wissen nicht, was passiert ist.«

Ich weiß nicht, ob es der Gin Tonic auf leeren Magen oder mein Ärger war, aber auf einmal hatte ich das Gefühl, das Gesumme in der Bar sei in meinen Kopf eingedrungen wie Tinnitus. Ich war plötzlich wütend.

»Um Himmels willen, tun Sie doch mal einen Moment so, als wären Sie kein Polizist; tun Sie nur einen Moment, als wären sie ein intelligenter, normaler Mensch, dem daran liegt herauszufinden, was wirklich passiert ist. Ich meine, machen Sie sich keine Sorgen, hier sind keine anderen Polizisten, die uns belauschen. Sie brauchen sich nicht vor den Jungs aufzuspielen.«

»Sie arrogante …« Mit größter Anstrengung bremste sich Chris.

»Also gut, Sam. Ich höre. Ich möchte es wirklich wissen.

Wenn wir wirklich so dumm sind, dann sagen Sie uns doch, was uns entgangen ist. Aber bevor Sie anfangen, würde ich gern hinzufügen, daß Sie Gefahr laufen, zu einer echten Plage zu werden. Für Ihre Arbeitgeber, für uns, für Sie selbst, für Ihre Tochter. Ist es das, was Sie wollen? Wollen Sie in den Ruf einer verrückten Besessenen kommen, die frei herumläuft? Aber sagen Sie es mir nur. Ich höre.«

Einen Augenblick lang dachte ich ernstlich daran, mit dem Aschenbecher vom Tisch nach ihm zu werfen. Dann beruhigte ich mich und spielte mit dem Gedanken, ihm den Rest des zweiten Gin Tonic ins Gesicht zu schütten. Ich zählte ziemlich lange.

»Ich dachte, ich täte Ihnen einen Gefallen«, sagte ich.

»Dann tun Sie mir einen Gefallen.«

Ich fühlte mich, als würde ich gleich explodieren.

»Ich werde Ihnen keinen Gefallen tun, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen, selbst zu denken.«

»Ich muß gehen.«

»Noch eine Minute. Das brennende Auto wurde am neunten März gefunden. Wie lautete die ursprüngliche Theorie? Daß sie sich auf unbekannte Weise selbst getötet und gleichzeitig den Wagen mit Hilfe eines in den Benzintank gestopften Lappens oder so in Brand gesetzt haben?«

»Ja.«

»Aber da Spuren von Finns und Dannys Leichen im Bootshaus gefunden wurden, ist klar, daß sie tot waren, als der Wagen angezündet wurde, ja?«

»Ja.«

»Und Michael konnte es nicht getan haben. Richtig?«

»Sam, wie ich Ihnen schon sagte, es gibt ein paar lose Enden, ein paar Widersprüchlichkeiten. Aber versuchen Sie, folgendes zu verstehen.« Er sprach jetzt sehr langsam, als sei Englisch nicht meine Muttersprache.

»Wir wissen mit Bestimmtheit, daß Michael Daley Danny Rees und Fiona Mackenzie getötet hat. Klar? Wir haben aber nicht genau herausgefunden, wie. Klar? Er war ein kluger Mann.

Aber wir werden es herausfinden, und wenn wir das getan haben, werden wir Sie informieren. Klar?« Sein Gesicht zuckte förmlich vor Anstrengung, ruhig zu bleiben.

Ich antwortete ebenfalls sehr langsam: »Michael war zu dem Zeitpunkt in Belfast. Ja?«

»Ja.«

»Was ist also die einzige andere Möglichkeit?«

»Es gibt verschiedene andere Möglichkeiten.«

»Zum Beispiel?«

Chris zuckte mit den Schultern.

»Jede Menge. Irgendeine Art von Brandbombe mit Zeitzünder, beispielsweise.«

»Wurde irgendein Beweisstück für eine solche Vorrichtung gefunden?«

»Nein.«

»Selbst wenn es so etwas gegeben hätte, was nicht der Fall war, hätte der Wagen zwei ganze Tage lang mit zwei Leichen dort stehen müssen. Das ist auch nicht möglich. Und welchen Sinn hätte es überhaupt gehabt? Warum sich die Mühe machen, ein Feuer zu legen?«

»Er war ein psychopathischer Mörder.«

»Tun Sie mir für einen Moment den Gefallen und hören Sie auf, wie ein Dummkopf zu reden, Chris. Ich werde Sie auf nichts festnageln, was Sie sagen, ich werde Sie nicht wieder belästigen; aber sagen Sie mir einfach, wie der Wagen in Brand gesteckt wurde.«

Chris brummte etwas.

»Verzeihung, ich habe Sie nicht verstanden.«

Er zündete sich noch eine Zigarette an, blies mit Entschlossenheit das Streichholz aus und legte es in den Aschenbecher, bevor er antwortete.

»Es ist möglich«, sagte er, »daß Daley irgendeinen Mittäter hatte.«

»Nein, Chris, Sie irren sich. Es ist unmöglich, daß er keinen Mittäter hatte.«

Chris sah auf die Uhr und stand auf.

»Ich muß gehen.«

»Ich gehe mit Ihnen«, sagte ich.

Er schwieg mürrisch auf dem Weg zum Polizeirevier. Erst als wir die Stufen des Haupteingangs erreicht hatten, drehte er sich um und sah mich an.

»Sie denken also«, sagte er leise, »daß wir die Ermittlungen wieder aufnehmen und versuchen sollten, diesen mysteriösen Helfer zu identifizieren?«

»Nein«, sagte ich.

»Warum nicht?«

»Weil ich weiß, wer es war.«

»Wer?«

»Es war Finn«, sagte ich und freute mich, als er ungläubig nach Luft schnappte. »In gewisser Weise.«

»Was meinen Sie damit, ›in gewisser Weise‹? Wovon zum Teufel reden Sie?«

»Finden Sie’s heraus«, sagte ich. »Das ist Ihr Job.«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie …«, sagte er. »Sie sind …«

Er schien völlig verwirrt. Ich streckte die Hand aus.

»Tut mir leid, daß ich zu spät gekommen bin. Wir bleiben in Verbindung.«

Er nahm meine Hand, als befürchte er, sie könne ihm einen elektrischen Schlag versetzen.

»Sie … Haben Sie heute abend irgend etwas vor?«

»Ja«, sagte ich und ließ ihn dort auf den Stufen stehen.

34. KAPITEL

Ich konnte Schritte hören, die sich der Tür näherten, und durch das Milchglas einen Schatten sehen, also richtete ich mich voller Erwartung auf der imposanten Veranda auf. Mir wurde plötzlich klar, wie schäbig ich aussah. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und eine Frau schaute heraus. Ich sah, daß sie noch im Morgenrock war und ihr Make-up erst zur Hälfte aufgetragen und nur ein Auge mit Lidstrich und Wimperntusche geschminkt hatte. Sie wirkte verletzlich.

»Laura?« sagte ich durch den Spalt. »Tut mir leid, wenn ich ungelegen komme. Ich dachte, vielleicht könnte ich ein paar Minuten mit Ihnen reden.« Der Ausdruck gereizter Höflichkeit einer Fremden gegenüber, die ungelegen kommt, wich überraschtem und, wie ich feststellte, leicht entsetztem Erkennen. »Ich bin Sam Laschen«, fügte ich hinzu. Die Tür öffnete sich weiter und gab den Blick auf die große Halle mit ihrem gepflegten Parkett frei. Die Atmosphäre, die das Haus ausstrahlte, zeugte von unaufdringlichem Reichtum und Geschmack.

»Meine Liebe, natürlich, Sie waren auf einer meiner Partys, mit …«

Auf ihrem Gesicht zeichnete sich zuerst Unruhe und dann Interesse ab.

»Mit Michael Daley. Ja. Tut mir leid, daß ich hier einfach so aufkreuze. Ich muß etwas herausfinden, und ich habe mich gefragt, ob Sie mir vielleicht helfen könnten. Ist es Ihnen lieber, wenn ich später wieder komme?« Sie sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. War ich das Klatschthema Nummer eins oder eine gefährliche Verrückte? Offenbar das Klatschthema.

»Nein, das heißt, ich muß heute erst später ins Krankenhaus.

Gestern habe ich noch zu Gordon gesagt … Kommen Sie doch herein.«

Ich folgte ihrer stämmigen, in Chenille gewandeten Gestalt in den Raum, wo ich ein paar Monate zuvor Spargel gegessen und Weißwein getrunken hatte. »Ich ziehe mir nur schnell etwas an.

Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Oder Tee?«

»Kaffee.«

»Es dauert nicht länger als fünf Minuten«, sagte sie, und als sie die Treppe hinaufging, hörte ich sie ungeduldig rufen:

»Gordon. Gordon! «

Während ich allein im Zimmer war, nahm ich das Handy heraus, das das Krankenhaus mir zur Verfügung gestellt hatte und bei dessen Benutzung ich mir noch immer ziemlich wichtigtuerisch vorkam, und wählte eine Nummer.

»Hallo, könnte ich bitte mit Philip Kale sprechen? Nein, ich warte.«

Ich nannte meinen Namen, und nach ein paar Sekunden meldete sich Kale.

»Dr. Laschen?« Er war offenbar verblüfft und, wie immer, in Eile.

»Ja, ich dachte, Sie könnten mir vielleicht Finns – Fiona Mackenzies – Blutgruppe nennen. Aus Ihrem Autopsiebericht.«

»Ihre Blutgruppe? Ja, natürlich. Ich rufe Sie zurück.«

Die Aussicht, daß ein Mobiltelefon in meiner Tasche zu piepsen begann, war alles andere als verlockend.

»Nein, ich bin heute den ganzen Tag unterwegs«, sagte ich.

»Ich werde Sie anrufen. In ungefähr einer Stunde, ja? Vielen Dank.«

Aus der Küche hörte ich die elektrische Kaffeemühle und das Klirren von Porzellan. Ich wählte eine zweite Nummer.

»Hallo, ist dort das Krankenhaus? Ja, könnten Sie mich bitte mit Margaret Lessing im Personalbüro verbinden? Maggie?

Hallo, hier ist Sam.«

»Sam!« klang es aus dem Hörer. »Hallo, was gibt’s?«

»So einiges. Können Sie etwas für mich tun? Ich möchte einen kurzen Blick in Fiona Mackenzies Akte werfen. Sie war doch nach dem Mordversuch im Krankenhaus. Könnten Sie sie mir besorgen?«

Sie zögerte einen Moment.

»Es spricht nichts dagegen.«

»Danke, Maggie. Soll ich irgendwann später noch vorbeikommen?«

»Rufen Sie mich vorher an.«

»Ja, gut. Bis bald.«

Laura fühlte sich jetzt wohler, das sah ich. Der Ausdruck ihres Gesichts unter den glänzenden grauen Löckchen war weniger zurückhaltend. Sie trug ein graugrünes, knielanges Kostüm, das zweite Auge war geschminkt, und sie hatte Lippenstift aufgetragen. Sie stellte ein Tablett auf den Tisch zwischen uns –

eine Kanne, zwei Porzellantassen mit kleinen Silberlöffeln, ein zierliches Kännchen, zur Hälfte mit Milch gefüllt, sowie blaßbraune und cremeweiße Zuckerwürfel in einer Schale. Ich dachte an die Milchflasche und das Marmeladenglas auf meinem Küchentisch, die noch immer nicht ausgepackten Kartons auf dem teppichlosen Boden meines Arbeitszimmers.

Ich würde niemals diese Art Stil haben. Gott sei Dank.

»Wie geht es Ihnen? Wir haben Sie alle so bewundert.« Laura schenkte mir gewandt eine Tasse Kaffee ein, und ich gab einen Schuß Milch dazu.

»Gut, danke.« Ich trank einen Schluck. »Ich wollte mit jemandem reden, der Finn kannte.«

Laura sah geschmeichelt aus. Sie legte eine starke, wohlmanikürte Hand auf meine Knie in den Jeans.

»Was Sie durchgemacht haben, ist schrecklich; ich meine, sogar für Leute wie uns, die nicht unmittelbar betroffen sind, war es schockierend, und …«

»Erzählen Sie mir von Finn.«

Sie nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück, sichtlich um eine Antwort verlegen. Sie hatte sich gewünscht, daß ich das Reden übernahm.

»So gut kannte ich sie nicht. Sie war ein sehr freundliches, sanftes Mädchen, das es in der Schule wohl nicht ganz einfach hatte, wie das bei Mädchen eben so ist, wenn sie übergewichtig sind.« Laura sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Und sie wurde ernstlich krank und wandte sich von uns und von allen, die sie kannten, ab. Für Leo und Liz war das schrecklich. Aber sie erholte sich. Liz hat mir dann erzählt, Finn wäre jetzt glücklicher als jemals zuvor. Völlig verwandelt, hieß es. Ich denke, daß sie ihre Reise nach Südamerika als Neuanfang betrachteten, als Zeichen dafür, daß sie erwachsen geworden war.«

Das gefiel mir gar nicht. Ich wollte keine Amateurdiagnose von Laura. Ich wollte Informationen, Fakten, aus denen ich mir selbst etwas zusammenreimen konnte.

»Besitzen Sie vielleicht irgendwelche Fotos von ihr? Die, die in ihrem Haus waren, wurden alle vernichtet.«

»Ich glaube nicht. Eigentlich trafen wir uns immer mit ihren Eltern. Warten Sie eine Minute.« Sie verließ den Raum, kam mit einem dicken, quadratischen roten Album wieder zurück und fing an, rasch die Farbfotos auf den transparenten Seiten durchzublättern. Sie schüttelte den Kopf. Unbekannte Gesichter zogen vorbei, unauffällige Häuser, Hügel und Strande, förmlich arrangierte Gruppen von Leuten.

»Das war eine Gartenparty, zu der wir mit Liz und Leo gegangen sind. Vielleicht war Fiona mit dabei. Aber ich sehe sie nicht.«

Die Eltern Mackenzie, deren verschwommene Gesichter vor ein paar Monaten auf allen Titelseiten abgebildet gewesen waren, standen auf einem gepflegten Rasen und lächelten in die Kamera. Sie war mager und trug einen breitrandigen Strohhut.

Er sah aus, als sei ihm zu warm in Anzug und Krawatte. Links auf dem Foto, halb abgeschnitten, waren ein nackter Arm, ein Stück geblümtes Kleid und eine Welle dunkles Haar zu erkennen.

Ich legte den Finger auf den Arm, als könnte ich die Haut spüren.

»Das wird Finn sein.«

Ich saß auf einer Bank am Rand eines Platzes. Eine Mutter schob ihr Kind auf der einzigen Schaukel an, die es auf diesem grünen Fleckchen gab.

»Dr. Kale, bitte«, sagte ich in mein Handy.

Die Verbindung wurde schnell hergestellt.

»Hallo, Dr. Laschen. Ja, ich habe es hier vor mir. Moment. Da ist es. Fiona Mackenzie hatte die Blutgruppe Null, genau wie ungefähr die halbe Bevölkerung Westeuropas und der Vereinigten Staaten. Ist das alles, was Sie wollten?«

Maggie im Krankenhaus klang gehetzt.

»Tut mir leid, Sam, Sie werden mir ein bißchen mehr Zeit lassen müssen, die Akte zu besorgen. Diese verdammten Computer, jemand muß sich falsch eingeklinkt und alles durcheinandergebracht haben. Würde Ihnen Fionas Karteikarte von der Notaufnahme etwas nützen?«

»Ja.«

»Rufen Sie mich wieder an.«

»Donald Helman? Hallo, ich hoffe, ich störe Sie nicht. Mein Name ist Sam Laschen, und wir haben uns auf einer Party bei Laura und Gordon kennenge … Ja, richtig. Laura hat mir Ihre Nummer gegeben. Sie sagten, Ihre Tochter sei mit Finn befreundet gewesen, und ich dachte, ich könnte vielleicht mit ihr darüber sprechen. Oh, wann wird sie zurück sein? Nun, in dem Fall … Da war auch eine Freundin von Finn aus der Schule, die ich kennengelernt habe, mit Vornamen hieß sie Jenny, glaube ich; wissen Sie zufällig ihren Nachnamen? Aha, Glaister. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Jenny Glaister verbrachte die Osterferien der Universität zu Hause. Das große Anwesen ihrer Eltern lag ungefähr vierzig Kilometer von Stamford entfernt auf einem einzelnen Grundstück. Sie trat auf die kiesbestreute Einfahrt, als ich ankam. Es war ein grauer und ziemlich kalter Tag, aber sie trug einen kurzen, bunten Seidenrock und eine dünne Bluse. Ich erinnerte mich von der Beerdigung an ihr selbstsicheres Auftreten. Sie war verwundert, zeigte aber Interesse. Die Berichte der Zeitungen über Fiona öffneten mir für ein paar Minuten auch diese Tür. Jenny machte Tee und setzte sich dann mir gegenüber an den Tisch, den Kopf in die unberingten Hände gestützt.

»Um ehrlich zu sein«, sagte sie, »Finn gehörte eigentlich nicht zu unserer Clique. Ich meine, sie gehörte dazu und auch wieder nicht.« Sie biß sich auf die Unterlippe und fügte dann hinzu: »In der Schule war sie gehemmt. Ein bißchen linkisch. Eine der Schwierigkeiten, als sie … Sie wissen schon, als sie krank wurde und fortging, war, daß ein paar von uns ihr gegenüber gewisse Schuldgefühle hatten. Wir dachten, wir hätten sie vielleicht nicht genug einbezogen. Ich meine, vielleicht bekam sie Anorexie, weil sie dazugehören wollte, verstehen Sie? Ich sah sie kurz, als sie aus Südamerika zurück war, und hätte sie fast nicht erkannt. Keiner von uns hätte das: Sie war so schlank und gebräunt und hatte all diese tollen neuen Kleider und wirkte soviel selbstsicherer, nicht mehr so ängstlich darauf bedacht, von uns akzeptiert zu werden. Wir hatten alle eine gewisse Scheu vor ihr, als wäre sie auf einmal eine Fremde. Sie war so anders als die dicke Finn, die einfach überall mitgetrottet war.«

Ich versuchte, ihr etwas Spezifischeres zu entlocken. Sie strengte sich sichtlich an.

»Vor ein paar Wochen hätte ich gesagt, sie war intelligent, nett. Solche Sachen. Und loyal«, fügte sie hinzu. »Ich hätte gesagt, Finn war loyal. Man konnte ihr vertrauen und sich auf sie verlassen. Sie machte immer ihre Hausaufgaben, kam pünktlich zu Verabredungen, sie war, nun ja, zuverlässig eben.

Eifrig. Sie haben doch am Ende viel Zeit mit ihr verbracht.

Verstehen Sie, was ich meine?«

»Haben Sie irgendwelche Fotos?«

Wir kramten in einer Schachtel mit Bildern, die hauptsächlich Jenny zeigten, die hübsche Jenny auf dem Pferd, am Meer, mit ihrer Familie, beim Cellospielen, beim Empfang des Schulpreises, sportlich auf Skiern einen Abhang hinunterfahrend. Keine Finn.

»Sie könnten es in der Schule versuchen«, schlug sie vor. »Da muß es ein Schulfoto von ihr geben, und das Trimester ist dort noch nicht zu Ende. Die Schulsekretärin, Ruth Plomer, wird Ihnen helfen. Sie ist ein Schatz.«

Warum war ich darauf nicht selbst gekommen?

Ich fuhr also nach Grey Hall, das nicht grau war, sondern rot und prachtvoll und ehrfurchtgebietend weit von der Straße entfernt hinter hübschen grünen Rasenflächen lag. Auf einem Spielfeld konnte ich eine Horde Mädchen in grauen Shorts und weißen Hemden mit Lacrosse-Schlägern sehen, während eine großgewachsene Frau sie anbrüllte. Drinnen schlug mir der Geruch von Möbelwachs, grünem Gemüse, Leinöl und Weiblichkeit entgegen. Hinter geschlossenen Türen wurde Unterricht abgehalten. So hatte ich die Gesamtschule von Elmore Hill nicht in Erinnerung. Eine Frau in einem Overall wies mich einen Korridor entlang zum Büro der Sekretärin.

Ruth Plomer saß, knopfäugig und spitznasig wie ein Vogel, in einem Nest aus Akten und Drahtkörben und Stapeln von Formularen. Sie hörte sich meine Bitte aufmerksam an und nickte dann.

»Um ehrlich zu sein, Dr. Laschen, die Presse war hier und wollte Fotos, Kommentare, Interviews, und wir haben alle abgewiesen.« Sie schwieg eine Weile. Dann gab sie zögernd nach. »Sie wollen nur ein Foto sehen! Sie wollen es nicht mitnehmen? Und Sie wollen auch mit niemandem sprechen?«

»Ganz recht. Ich möchte wissen, wie sie aussah, bevor sie bei mir wohnte.«

Sie wirkte verwirrt, wußte offensichtlich nicht, was sie tun sollte, und gab schließlich nach.

»Na ja, eigentlich spricht nichts dagegen. Es gibt keine Einzelfotos, aber wir haben immer Gruppenbilder. Wann war ihr Abschlußjahr?«

»Ich glaube, offiziell ging sie im Sommer 95 ab, aber sie war fast während des ganzen Schuljahrs krank. Vielleicht können Sie mir das Foto vom Jahr davor zeigen.«

»Warten Sie hier; ich werde sehen, was ich tun kann.«

Sie verließ das Zimmer, und ich hörte Schritte, die sich entfernten und dann wieder näherten. Miss Plomer hatte ein großes, zusammengerolltes Foto in der Hand und breitete es auf ihrem überfüllten Schreibtisch aus. Ich beugte mich vor und suchte in den Reihen der Mädchengesichter nach dem von Finn.

Miss Plomer setzte ihre Brille auf.

»Das ist das Gruppenbild von 1994. Hier ist eine Liste mit den Namen der Mädchen. Schauen wir mal, ja, sie ist in der dritten Reihe von hinten. Da ist sie.« Ein sauber gefeilter Fingernagel wies auf eine Gestalt auf der linken Seite des Fotos. Dunkles Haar, die Gesichtszüge ein wenig unscharf; sie mußte den Kopf bewegt haben, als die Aufnahme gemacht wurde, genau wie bei mir. Ich nahm das Foto und hielt es ans Licht, starrte intensiv darauf, aber sie schien vor meinem Blick zurückzuweichen. Ich hätte nicht erkannt, daß das Finn war. Ich hätte niemanden erkannt.

»Maggie? Hallo, hier ist noch mal Sam. Haben Sie es schon gefunden?«

»Nein, es gibt irgendein Problem mit den Karteikarten aus der Notaufnahme. Jemand muß sie herausgenommen haben, und ich versuche festzustellen, wer das war. Rufen Sie später wieder an.« Sie war in Eile und gereizt und wollte mich loswerden.

Alles war verschwunden. Was jetzt?

Wo war es, zum Teufel, wo war es bloß? Ich riß den Schrankkoffer auf. Elsies Bilder, zu Dutzenden, waren darin gestapelt. Einige klebten aufeinander. Ein paar hatten noch Klebestreifen an den Ecken, mit denen sie an den Wänden festgemacht waren. Dreibeinige Monster in Grün und Rot, gelbe Gänseblümchen mit schnurgeraden Stengeln und zwei Blättern wie Schleifen, wilde, purpurne Kleckse, Gesichter mit schiefen Augen, unbestimmte Tiere, jede Menge Meerbilder mit blauen Wellenlinien auf dem dicken weißen Papier. Regenbogen, deren Farben ineinanderliefen; Mond und Sterne, die gelb in pechschwarzer Nacht leuchteten. Ich betrachtete jedes Bild und drehte es dann um. Sicher war es hier. Spuren von Finns Anwesenheit im Haus waren sichtbar: gelegentlich ein Titel auf den Bildern, sauber mitsamt dem Datum aufgeschrieben, die Erwachsenenzeichnung eines Hundes neben einer kindlichen, mehrere rasch hingeworfene Skizzen von Pferden, Bäumen und Segelbooten, die offensichtlich von Finn stammten. Aber was ich brauchte, konnte ich nicht finden. Ich war in eine Sackgasse geraten.

Ich ging in Elsies Zimmer und zog Schubladen auf. Puppen mit rosafarbenen Gliedmaßen und grellbunten Kleidern sowie gestrickte Tiere starrten mich an. Außerdem fand ich kleine, leere Schachteln, Perlen in satten Primärfarben, seidenartige Bänder, ganze Armeen dieser winzigen Plastikdinger, die immer in Überraschungstüten für Kinderfeste sind. Auf ihrem Zeichenblock waren mehrere Bilder, aber nicht das, das ich suchte. Unter dem Bett lagen ein Hausschuh, drei einzelne Socken und Anatoly, schlafend. Ich stieg auf einen Stuhl und nahm einen unordentlichen Stoß zusammengefalteter benutzter Papiere vom Schrank. Obenauf war mit Bleistift viele Male Elsies Name geschrieben, mit großen, schiefen Buchstaben.

Darunter lag die Schatzkarte. Ich hatte sie gefunden.

Ich sprang vom Stuhl und breitete das Papier auf dem Boden aus, betrachtete die Farbkleckse, die rostroten Buchstaben. Ein

»S« und ein »E«. Und da, ein »F«: mit ihrem Blut geschrieben.

Ich hob das Papier sehr vorsichtig hoch, als sei es ein Traum, der vergeht, wenn man danach zu greifen versucht. Unten in meinem Arbeitszimmer gab es einen Stapel brauner Umschläge.

Ich schob die Karte mit ihrer Signatur aus Blut in einen davon und klebte ihn zu. Dann nahm ich die Autoschlüssel und rannte nach draußen. Jetzt hatte ich es.

»Sie schon wieder!«

Ich hatte mich gesetzt, aber Chris blieb stehen, die Hände auf die Hüften gestützt, und schaute auf mich herunter.

»Ich habe sie gefunden. Es gefunden.«

»Was?«

Ich nahm den noch immer verschlossenen Umschlag und legte ihn auf seinen Schreibtisch. »Hier drin«, sagte ich und sprach sehr langsam, als sei er oder ich schwachsinnig, »hier drin ist ein Bild.«

»Ein Bild. Wie nett.«

»Ein Bild«, fuhr ich fort, »gezeichnet von Finn.«

»Hören Sie, Sam«, Chris beugte sich zu mir, und ich merkte, daß sein Gesicht ziemlich rot geworden war, »ich meine es gut mit Ihnen, wirklich, aber gehen Sie nach Hause, kümmern Sie sich um Ihre Tochter, lassen Sie mich in Ruhe.«

»Dies ist von einem Kinderspiel übrig. Finn und ich haben mit unseren Initialen unterschrieben, jede mit ihrem eigenen Blut.«

Er öffnete den Mund, und ich dachte, er würde mich anbrüllen, aber er brachte keinen Laut hervor. »Geben Sie es Kale. Lassen Sie es untersuchen.«

Schwer ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Sie sind verrückt.

Sie sind vollkommen verrückt geworden.«

»Und ich möchte eine Quittung dafür. Ich möchte nicht, daß es verschwindet.«

Angeloglou starrte mich lange Zeit an.

»Sie meinen, Sie möchten, daß über Ihr Verhalten Protokoll geführt wird? Na gut!« schrie er und fing an, fieberhaft in seinem Schreibtisch herumzukramen. Er fand nicht, was er suchte, stürmte aus dem Zimmer und kam mit einem Formular zurück. Er knallte es auf den Tisch und nahm entschlossen einen Stift zur Hand.

»Name?« bellte er.

35. KAPITEL

»Ich nehme« – ich fuhr mit dem Finger die handgeschriebene Speisekarte entlang – »geräucherte Makrele und Salat. Und ihr zwei?«

»Chicken Nuggets und Pommes«, sagte Elsie entschieden.

»Und bitzelnde Orangenlimonade. Und als Nachspeise Schokoladeneis.«

»Okay«, sagte ich leichthin. Elsie sah verblüfft aus. »Sarah?«

»Käse, Brot und Pickles, danke.«

»Und zu trinken? Bier mit Limo oder so?«

»Wunderbar.«

Ich bestellte bei einer Kellnerin, die so aussah, als sei sie im zehnten Monat schwanger, nahm unsere Tickets und die Getränke. Wir gingen hinaus in den herrlichen Frühlingstag und setzten uns, die Mäntel noch zugeknöpft, an einen wackligen Holztisch.

»Kann ich schaukeln gehen?« fragte Elsie und lief davon, ohne auf Antwort zu warten. Sarah und ich sahen zu, wie sie sich auf einen Sitz hangelte und heftig vorwärts und rückwärts ruckte, als käme sie dadurch in Schwung.

»Es scheint ihr gutzugehen«, bemerkte Sarah.

»Ja.« Ein kleiner Junge in einem gestreiften T-Shirt kletterte auf die Schaukel neben Elsie, und die beiden starrten sich argwöhnisch an.

»Lustig, nicht?«

»Kinder erholen sich schnell.«

Wir tranken unser Bier mit Limonade, während die Sonne uns in den Nacken schien, und sagten ein Weilchen nichts.

»Komm, Sarah, spann mich nicht auf die Folter. Wie hast du das Buch gefunden? Und bitte, sei offen. Sagst du nichts, weil es so schlecht ist?«

»Es ist gut, Sam.« Sie legte einen Arm um meine Schultern, und ich wäre fast in Tränen ausgebrochen. So lange war es her, daß irgend jemand außer Elsie mich umarmt hatte. »Gratuliere.

Wirklich.« Sie grinste. »Und es ist natürlich überaus kontrovers.

Ich bin erstaunt, daß du so etwas in so kurzer Zeit schreiben konntest, bei allem, was passiert ist. Vielleicht ist das ja der Grund. Es ist sehr gut.«

»Aber?«

»Ein paar ganz kleine Dinge, die ich an den Rand geschrieben habe.«

»Ich meine das eigentliche Aber.«

»Es gibt kein eigentliches Aber. Nur eine Frage.«

»Schieß los.«

»Nicht mal eine Frage, bloß ein Kommentar.« Sie fuhr mit einem Finger um den Rand ihres Glases. »Es wirkt wie das Resümee einer Karriere, nicht wie der Anfang.«

»Ich habe die Angewohnheit, die Brücken hinter mir abzubrechen.«

Sarah lachte.

»Ja, aber diesmal brichst du die Brücken vor dir ab. All diese Angriffe auf Krankenhausmanager und ausgelaugte Berater, und das über Designer-Traumata.«

Der kleine Junge schob jetzt Elsies Schaukel an. Jedesmal, wenn sie hochflog, die kräftigen Beine zum Himmel gestreckt und den Kopf übertrieben nach hinten geneigt, bekam ich Angst um sie.

Unser Essen wurde serviert. Meine Makrele lag zwischen ein paar welken Salatblättern und sah orangefarben und nicht sehr appetitlich aus. Elsies Essen war von ausschließlich beiger Farbe. »Du hast die bessere Wahl getroffen«, sagte ich zu Sarah und rief Elsie, die sofort angelaufen kam.

Nach dem Lunch, nachdem Elsie sämtliche Kartoffeln verzehrt und auch das letzte bißchen Eis ausgelöffelt hatte, machten wir einen kurzen Spaziergang zu der alten Kirche, bei der ich schon einmal mit Finn gewesen war und wo wir über Südamerika und Elsies Vater gesprochen hatten.

»Gefällt es dir hier?« fragte Sarah, als wir unter dem weiten Himmel am Meer entlanggingen, das heute blau und freundlich war; der Boden unter unseren Füßen war sumpfig, über uns schossen Vögel dahin.

Ich sah mich um. Hier in der Nähe hatte Danny mich geliebt, während ich ängstlich nach Traktoren Ausschau hielt. Hier in der Nähe war Finn spazierengegangen und war gesund geworden. Und hatte mein Vertrauen gewonnen. Und da draußen wäre ich beinahe gestorben.

Ich fröstelte. Wir schienen nicht voranzukommen; so weit wir auch gingen, die Landschaft blieb unverändert. Wir hätten den ganzen Tag gehen können, ohne daß sich der Horizont vor uns veränderte.

Ich hatte immer gedacht, wenn man sagte, jemand habe einen knallroten Kopf, sei das eine Übertreibung, aber Geoff Marsh hatte wirklich einen knallroten Kopf. Die pulsierende Arterie am Hals war deutlich zu sehen, und ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei; aber er winkte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und nahm dann mir gegenüber Platz. Als er sprach, tat er es mit erzwungener Ruhe.

»Wie läuft es?«

»Sie meinen die Station?«

»Ja.«

»Die Anstreicher tragen gerade die letzte Farbschicht auf. Und diese Teppiche! Unser Empfangsbereich sieht sehr nach Großkonzern aus.«

»Bei Ihnen hört sich das an wie etwas Schlechtes.«

»Wahrscheinlich geht es mir hauptsächlich darum, einen geeigneten Rahmen für die Therapie zu haben.«

»Wie auch immer, die Existenz der Station und ihre Rolle in unserer internen Ökonomie hängt davon ab, wieviel Geld sie bringt, und das wiederum hängt von den Einnahmen aus Gesundheitsprojekten und Versicherungsgesellschaften ab, die glauben, daß ein Trauma-Behandlungsprogramm für bestimmte Klientengruppen ihnen einen rechtlichen Schutz bietet.

Geprügelte Kleinkinder und Feuerwehrleute, die Angst vor Feuer haben, werden Ihr kostbares therapeutisches Ambiente nicht bezahlen.«

Ich ließ mir Zeit, bis ich darauf antwortete, und als ich dann schließlich etwas sagte, versuchte ich ruhig zu bleiben.

»Geoff, wenn ich Sie nicht so gut kennen und schätzen würde, könnte ich den Eindruck haben, daß Sie versuchen, mich zu beleidigen. Haben Sie mich hergebeten, damit ich Ihnen einen Vortrag über die Grundprinzipien der posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen halte?«

Geoff stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich in einer Haltung auf dessen Ecke, die man ihm vermutlich bei einem Trainingskurs für Manager beigebracht hatte.

»Ich habe Margaret Lessing soeben eine offizielle Verwarnung erteilt. Sie kann von Glück sagen, daß ich sie nicht fristlos entlassen habe.«

»Wie meinen Sie, ›fristlos entlassen‹? Wovon reden Sie?«

»Unser Gremium hat in bezug auf den Schutz der Privatsphäre eine sehr strikte Politik, und Margaret Lessing hat dagegen verstoßen. Wie ich höre, tat sie das auf Ihre Anweisung.«

»Was soll das mit der Privatsphäre? Sie würden Kopien unserer Krankengeschichten an Herrn Ghadafi verkaufen, wenn er Ihnen Geld dafür anbieten würde. Was wird hier eigentlich gespielt?«

»Dr. Laschen, Sie selbst haben mir gegenüber betont, daß Fiona Mackenzie nicht Ihre Patientin war. Es war vollkommen unangebracht, daß Sie ihre Akte verlangt haben.«

»Ich bin Ärztin an diesem Krankenhaus und habe das Recht, jede Akte einzusehen, die ich möchte.«

»Wenn Sie Ihren Arbeitsvertrag lesen, Dr. Laschen, dann werden Sie feststellen, daß Ihre sogenannten Rechte auf strikt definierten Beschäftigungsbedingungen beruhen.«

»Ich bin Ärztin, Geoff, und als Ärztin werde ich tun, was ich für richtig halte. Und übrigens, nur aus Neugier, wann haben Sie damit begonnen, Routineanfragen nach medizinischen Unterlagen zu überwachen?« Ich sah einen Hauch von Unentschlossenheit in Geoffs Gesichtsausdruck und erkannte die Wahrheit. »Das hat nichts mit Ethik zu tun, Sie spionieren mir nach, oder?«

»Wurde diese Akte über ein totes Mädchen im Verlauf einer Behandlung angefordert?«

Ich holte tief Luft.

»Nein.«

»In Ihrer Eigenschaft als Ärztin?«

»Ja«, sagte ich. »Indirekt.«

»Indirekt«, wiederholte Geoff sarkastisch. »Kann es sein, ist es möglicherweise denkbar, daß Sie trotz meiner Warnungen und Ihrer Versprechen noch immer, aus eigener Initiative, private Ermittlungen in diesem Fall anstellen? Einem Fall, sollte ich hinzufügen, der abgeschlossen ist?«

»Richtig.«

»Und?«

»Was, und? Ich brauche Ihnen nicht zu antworten.«

»Doch, Sie müssen mir sehr wohl antworten. Ich kann es nicht glauben. Mehr durch Zufall als durch sonst irgend etwas sind wir anscheinend schlechter Publicity entgangen, und dieser tragische Fall ist abgeschlossen. Als ich hörte, daß Sie sich noch immer damit beschäftigen, war mein erster Gedanke, Sie hätten einen Zusammenbruch erlitten. Um offen zu sein, Dr. Laschen, ich bin nicht sicher, ob bei Ihnen medizinische Behandlung oder Disziplinarmaßnahmen angebracht sind.«

Ich sprang fast vom Stuhl und starrte ihn aus solcher Nähe an, daß ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte.

»Was haben Sie gesagt, Geoff?«

»Sie haben mich verstanden.«

Ich streckte die Hand aus und packte seinen Krawattenknoten so fest, daß sich meine Faust gegen seine Kehle drückte. Er krächzte etwas.

»Sie aufgeblasener Mistkerl«, sagte ich und ließ ihn los. Ich trat zurück und dachte eine Sekunde nach. In meinem Kopf gab es keine Zweifel, und ich spürte sofort Erleichterung. »Sie versuchen mich dazu zu bringen, auf die Stelle zu verzichten.«

Geoff sagte nichts und schaute zu Boden. »Das werde ich sowieso tun.« Er sah mich scharf, fast schon schadenfroh an.

Das hatte er erreichen wollen, aber es war mir egal.

»Fachliche Meinungsverschiedenheiten. So nennt man das doch, oder?«

Geoffs Augen schossen aufmerksam hin und her. Stellte ich ihm irgendwie eine Falle?

»Ich werde eine entsprechende Verlautbarung herausgeben«, sagte er.

»Die haben Sie wahrscheinlich schon in der Schublade.«

Als ich mich umdrehte und gehen wollte, fiel mir etwas ein.

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«

Er sah überrascht aus. Er hatte vielleicht Tränen oder einen Schlag ins Gesicht erwartet, aber nicht das.

»Was?«

»Ziehen Sie die Verwarnung Maggie Lessings zurück. Ich kann für mich selbst sorgen, ihr wird es schaden.«

»Ich werde es mir überlegen.«

»Sie hat schließlich ihren Zweck erfüllt.«

»Seien Sie nicht verbittert, Sam. Wenn Sie an meiner Stelle wären, hätten Sie auch nicht anders gehandelt.«

»Ich gehe sofort.«

»Das ist vermutlich am besten.«

»Ist Fiona Mackenzies Akte schon wieder aufgetaucht?«

Geoff runzelte die Stirn.

»Sie ist anscheinend verlorengegangen«, sagte er. »Wir werden sie finden.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Ich denke, sie wird verloren bleiben.«

Mir fiel etwas ein, und ich lächelte. »Aber es spielt keine Rolle.

Ich habe statt dessen eine Zeichnung meiner fünfjährigen Tochter.«

Als ich die Tür schloß, sah ich als letztes Geoff, der mir mit offenem Mund nachstarrte.

36. KAPITEL

Der Immobilienmakler sah aus wie ungefähr vierzehn.

»Reizend«, sagte er. »Ganz reizend.«

Das waren seine ersten Worte, als er über die Schwelle trat.

»Sehr gut verkäuflich. Sehr gut verkäuflich.«

Ich führte ihn im oberen Stockwerk herum, und alles war überaus reizend und gut verkäuflich.

»Den Garten habe ich nicht richtig in den Griff gekriegt«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Eine Herausforderung für den abenteuerlustigen Gärtner«, meinte er vergnügt.

»Das hört sich ein bißchen abschreckend an.«

»Kleiner Scherz«, sagte er. »Maklerjargon.«

»Wie Sie sehen, sind wir nur einen kurzen Fußweg vom Meer entfernt.«

»Gute Lage«, sagte er. »Sehr attraktiv. Käufer lieben das.

Seeblick.«

»Na, nicht ganz.«

»Kleiner Scherz. Wieder Maklerjargon.«

»Gut. Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen soll. Es gibt einen Speicher und einen Schuppen. Aber Sie haben letztes Jahr den Verkauf vermittelt, also haben Sie die Einzelheiten wahrscheinlich in Ihren Unterlagen.«

»Ja, haben wir. Aber ich wollte doch kommen und einen Blick darauf werfen. Die Luft atmen, ein Gefühl für den Besitz bekommen.«

»Sie wollten mir einen Schätzpreis nennen.«

»Ja, Miss Laschen. Wissen Sie noch, was Sie für das Anwesen bezahlt haben?«

»Fünfundneunzig.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich hatte es eilig.«

»Das ist eine interessante Zahl«, sagte er.

»Sie meinen, der Preis war zu hoch. Ich wünschte, Sie hätten das vor einem Jahr gesagt, als Sie mich herumgeführt haben.«

»Der Markt im Osten von Essex ist im Augenblick schlapp.

Sehr schlapp.«

»Ist das ein Problem?«

»Eine Chance«, sagte er und streckte die Hand aus. »War nett, Sie zu treffen, Miss Laschen. Ich rufe Sie heute nachmittag wegen dem Schätzpreis an. Wir müssen einen aggressiven Preis machen, dann bin ich sicher, daß nächste Woche ein paar Interessenten kommen.«

»Ich werde nicht da sein. Meine Tochter und ich ziehen am Samstag wieder nach London.«

»Wir brauchen nur die Schlüssel und eine Telefonnummer.

Haben Sie es so eilig wegzukommen? Was ist los? Gefällt es Ihnen nicht auf dem Land?«

»Zuviel Kriminalität.«

Er lachte unsicher.

»Kleiner Scherz, nicht?«

»Ja, ein Scherz.«

Diese Woche bestand nur aus Dingen, die getan werden mußten.

Ich setzte mich zu Elsie und fragte sie, ob es ihr gefallen würde, nach London zurückzugehen und ihre alten Freunde zu treffen.

»Nein«, sagte sie fröhlich.

Dabei beließ ich es. Der Rest war reines Abarbeiten einer Liste: Linda und Sally informieren, die gegen weitere Schocks gefeit schienen, und sie für den kurzfristigen Verdienstausfall entschädigen; Vereinbarungen mit den Gas- und Stromlieferanten treffen; Kartons vom Speicher holen und Sachen einpacken, die ich, wie es schien, gerade erst ausgepackt hatte.

Ich verbrachte zuviel Zeit am Telefon. Wenn ich nicht gerade versuchte, jemanden im Gemeinderat zu erreichen, wurde ich von Journalisten und Ärzten angerufen. Ich wies alle Journalisten und wohl die meisten Ärzte ab. Nach und nach engte ich den Kreis der Interessenten ein, und am Ende der Woche hatte ich einen Zeitvertrag als Psychiaterin im Department of Psychology am St. Clementine’s in Shoreditch.

Ich bekam Anrufe von Thelma, die mich fragte, was zum Teufel los sei, und Sarah, die mir sagte, ich täte das Richtige, und ein Freund von ihr ginge für ein Jahr nach Amerika, ob ich seine Wohnung in Stoke Newington solange übernehmen wolle, sie sei nur ein paar Straßen vom Park entfernt. Ich nahm sie.

Allerdings befinde sie sich in der Nähe des Fußballstadions von Arsenal, und die Gegend sei jeden zweiten Samstag und sonst gelegentlich am Wochenende völlig überlaufen, ob mir das etwas ausmache. Es machte mir nichts aus.

Zwischendurch rief ich immer wieder Chris Angeloglou an.

Sie warteten auf die Resultate aus dem Labor. Chris sei nicht da, und ja, Detective Inspector Baird sei auch nicht da. Sie seien nicht zu erreichen. Sie seien bei einer Besprechung. Sie seien bei Gericht. Sie seien nach Hause gegangen. Am Freitag morgen, am Tag vor meinem Umzug, rief ich noch einmal bei der Polizei in Stamford an und wurde mit einer Assistentin verbunden. DC Angeloglou und DI Baird seien leider nicht zu erreichen. Das sei schon in Ordnung, sagte ich. Ich wolle nur eine Nachricht hinterlassen. Ob sie etwas zu schreiben habe.

Gut. Ich wolle Angeloglou und Baird warnen, denn ich sei im Begriff, einer landesweit verbreiteten Zeitung ein Interview anzubieten, in dem ich die ganze Geschichte des Mordfalls Mackenzie, wie ich sie sah, erzählen und auch Vorwürfe gegen die Polizei erheben würde, weil sie den Fall nicht wieder aufnehme. Vielen Dank.

Ich legte den Hörer auf und begann zu zählen. Eins, zwei, drei

… Bei siebenundzwanzig läutete das Telefon.

»Sam?«

»Rupert, wie geht es Ihnen?«

»Was wollen Sie?«

»Ich möchte wissen, was Sie machen.«

»Halten Sie es für konstruktiv, wilde Drohungen auszustoßen?«

»Ja, und ich sage Ihnen auch, was ich wirklich will. Ich will ein Gespräch auf dem Polizeirevier in Stamford.« Eine lange Pause folgte.

»Rupert, sind Sie noch da?«

»Natürlich. Wir werden uns freuen, Sie zu sehen. Ich wollte Sie ohnehin anrufen.«

»Außer Ihnen und Chris möchte ich auch noch Philip Kale dabeihaben.«

»In Ordnung.«

»Und wer immer sonst noch mit dem Fall befaßt war.«

»Das war ich. «

»Ich möchte mit dem Drehorgelspieler reden, nicht mit seinem Affen.«

»Ich bin nicht sicher, ob er Zeit hat.«

»Das sollte er aber besser.«

»Sonst noch was?«

»Bitten Sie Philip Kale, seine Autopsieberichte vom Ehepaar Mackenzie mitzubringen.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann, Sam, ich rufe Sie zurück.«

»Machen Sie sich keine Umstände. Ich bin um zwölf Uhr bei Ihnen.«

»Das ist zu früh.«

»Sie haben eine Menge Zeit gehabt, Rupert.«

Kaum hatte ich am Empfang meinen Namen genannt, führte mich eine junge Polizistin eilig durch das Gebäude und in ein leeres Besprechungszimmer. Als sie mit Kaffee wiederkam, waren Angeloglou und Baird bei ihr. Sie nickten mir zu und setzten sich.

»Wo sind die anderen?«

Baird sah Angeloglou fragend an.

»Kale telefoniert noch«, sagte Chris. »Er kommt in einer Minute. Und Val geht gerade den Chef holen.«

Baird wandte sich zu mir.

»Zufrieden?« fragte er ohne allzuviel Sarkasmus.

»Das hier ist kein Spiel, Rupert.«

Jemand klopfte an die Tür; sie öffnete sich, und ein Mann spähte herein. Er war in mittleren Jahren, sein Haar war gelichtet, und er trug offensichtlich die Verantwortung. Er streckte mir die Hand entgegen.

»Doktor Laschen«, sagte er. »Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Ich bin Bill Day, der Chef des CID

Stamford. Ich glaube, wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen.«

Ich schüttelte ihm die Hand.

»Wie ich Rupert hier gerade erklären wollte«, sagte ich, »führe ich in dieser Sache keine persönliche Kampagne, und ich will auch keine Lorbeeren ernten. Es geht nur darum, einen Mörder zu fassen.«

»Na ja, das sollte eigentlich unser Job sein«, sagte Day mit einem Lachen, das in einer Art Husten endete.

»Deswegen bin ich hier.«

»Gut, gut«, erwiderte Day. »Rupert sagte, Sie wollten herkommen, und das ist ganz verständlich. Leider komme ich nur kurz aus einer sehr wichtigen Besprechung und muß gleich wieder zurück. Aber ich kann Ihnen versichern, daß wir voll und ganz mit Ihnen zusammenarbeiten werden. Wenn Sie in irgendeiner Weise unzufrieden sind, möchte ich, daß Sie sich an mich persönlich wenden. Hier ist meine … äh …« Er kramte in seinen Taschen, fand eine leicht eselsohrige Visitenkarte und reichte sie mir. »Und nun überlasse ich Sie Ruperts fähigen Händen. War nett, Sie kennenzulernen, Dr. Laschen.« Wir gaben uns nochmals die Hand, und er ging hinaus, wobei er fast mit Philip Kale zusammengestoßen wäre. Wir vier anderen setzten uns.

»Also«, sagte Rupert. »Wer beginnt?«

»Ich war in Versuchung, einen Anwalt mitzubringen«, sagte ich.

»Warum? Wollen Sie ein Geständnis ablegen?« fragte Rupert fröhlich.

»Nein, ich dachte, es wäre vielleicht vernünftig, dafür zu sorgen, daß jemand unabhängig über diese Besprechung berichtet.«

»Das ist ganz unnötig. Wir stehen alle auf derselben Seite. So, und weshalb wollten Sie uns sprechen?«

»Herrgott, Rupert, was soll dieses Theater? Also gut, wenn Sie darauf bestehen.« Ich nahm meine Brieftasche heraus und suchte darin herum, bis ich das blaue Formular gefunden hatte. »Letzte Woche habe ich ein Beweisstück übergeben, das meiner Meinung nach die Wiederaufnahme der Mordsache Mackenzie rechtfertigt. Quittungsnummer SD4071/A. Ich habe den Vorschlag gemacht, die Blutgruppe festzustellen. Ist das geschehen?«

»Ja«, sagte Dr. Kale.

»Und?«

Kale sah nicht einmal auf seine Notizen.

»Die Blutprobe von der Initiale Finn auf der Zeichnung war Blutgruppe A, Rhesus D positiv.«

Ich stieß etwas aus, das dem Kichern einer Hexe sehr nahe kam.

»Und Sie haben keinen Zweifel an der Identität der Leiche in dem verbrannten Auto?«

Kale schüttelte den Kopf.

»Das Zahnschema war eindeutig. Aber nur, um alle Zweifel auszuräumen, DC Angeloglou hat festgestellt, daß Fiona Mackenzie im Lauf der letzten Jahre mehrmals Blut gespendet hat.« Kale gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Blut der Blutgruppe Null.«

»Nur aus Interesse«, fragte ich, »welche Blutgruppen hatten ihre Eltern?«

Kale blätterte in seinen Unterlagen.

»Leopold Mackenzie hatte Blutgruppe B.« Er blätterte nochmals.

»Und seine Frau A. Schön.«

Angeloglou sah verwirrt aus.

»Wenn wir das also nachgeprüft hätten, wäre klar gewesen, daß es sich nicht um ihre Tochter handeln konnte«, sagte er.

Unwillkürlich stieß ich einen ärgerlichen Seufzer aus.

»Nein, Chris«, sagte Kale. »Wenn ein Elternteil A ist und der andere B, dann können die Kinder jeder der vier Blutgruppen angehören. Was Michael Daley gewußt haben würde.«

Ein sehr langes Schweigen folgte. Ich zitterte vor Erregung und mußte mich zwingen, Haltung zu bewahren. Ich wollte nicht sprechen, weil ich nicht sicher sein konnte, daß ich nicht irgendwie geäußert hätte, das hätte ich ja gleich gesagt. Philip Kale ordnete ostentativ seine Papiere. Angeloglou und Baird fühlten sich unbehaglich. Endlich murmelte Baird etwas.

»Was?« sagte ich.

»Warum haben wir am Tatort keine Blutprobe von ihr genommen?«

»Die einzigen Blutgruppen am Tatort stammten von den Eltern«, sagte Kale. »Ich bin nicht darauf gekommen, daß ihre Blutgruppe eine Rolle spielen könnte.«

»Ich hatte sie in meinem verdammten Auto«, sagte Baird. »Ich hatte sie beide in meinem verdammten Auto. Vermutlich werden sie diese Polizeistation demolieren und das Land umpflügen. Es in einen Landschaftspark verwandeln, und Chris und ich werden Parkaufseher. Und Phil mit all seinen wissenschaftlichen Kenntnissen« diese letzten Worte betonte er boshaft – »könnte mit einem dieser spitzen Dinger den Unrat aufsammeln.«

Angeloglou formte mit dem Mund lautlos eine Obszönität, die ich ihm da, wo ich saß, von den Lippen ablesen konnte. Er gab sich ungeheure Mühe, meinem Blick auszuweichen. Ich hatte die Arme verschränkt; vorsichtig schob ich die rechte Hand unter den rechten Oberarm und kniff mich fest, um nicht triumphierend zu lächeln.

»Und was ist jetzt Ihre Version der Ereignisse?« fragte ich in sorgfältig einstudiertem, ernstem Ton und achtete darauf, das Wort »jetzt« nicht zu sehr zu betonen.

Rupert zeichnete eine komplizierte Konstruktion aus Quadraten und Dreiecken auf ein Blatt weißes Papier. Dann füllte er sie kreuz und quer mit Schattierungen und Schraffuren aus. Während er sprach, hob er kein einziges Mal den Blick.

»Michael Daley stand vor einer doppelten Herausforderung«, sagte er. »Er mußte die ganze Familie Mackenzie umbringen, und er mußte an das Geld herankommen. Das erste ohne das zweite nutzte ihm nichts. Das zweite ohne das erste wäre nicht gegangen. Also kam er auf etwas so Einfaches, so Offenkundiges, daß es niemand bemerkte. Er hatte eine Mittäterin, die ein bißchen wie Finn aussah – eine flüchtige Ähnlichkeit reichte schon, da sie nie jemandem begegnen würde, der die richtige Finn gekannt hatte. Und als ihr Arzt wußte er besser als jeder andere, daß Finn ihr Aussehen drastisch verändert hatte. Jedes Foto, das zur Zeit der Morde veröffentlicht wurde, würde ein altes Foto sein und Finn vor ihrer Anorexie zeigen. Die Mittäterin – ich werde sie X nennen

– hatte dunkle Haare und etwa die gleiche Größe, möglicherweise war sie auch ein wenig kleiner, aber das machte nichts. Michael verfolgte die Aktionen der Tierrechtsaktivisten, also wußte er von der Drohung gegen Mackenzie. Jetzt ist das nicht mehr genau festzustellen, aber man kann annehmen, daß die echte Finn entführt und umgebracht und am Tag oder Abend des siebzehnten März in das Bootshaus gebracht wurde. Ihre Eltern wurden früh am Morgen des folgenden Tages getötet.

Fiona Mackenzie war eine einigermaßen gesellige junge Frau und ging häufig aus. Die Mackenzies wären nicht überrascht gewesen, wenn sie spätnachts noch außer Haus war. Die auf diese Weise erhaltenen Schlüssel wurden benutzt, um sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Das Ehepaar wurde ermordet, und Finn, ich meine X, zog sich Finns Nachthemd an, und Michael fügte ihr, kurz bevor die Putzfrau kam, einen Schnitt in den Hals zu. Sie wurde geknebelt und ihr Gesicht verklebt, so daß das Mädchen in Finns Nachthemd und in ihrem Schlafzimmer nicht erkannt wurde. Das war die Situation, die wir antrafen.«

»Wie konnten sie so etwas Riskantes planen?« fragte Angeloglou kopfschüttelnd. »Wie konnten sie annehmen, daß sie damit durchkommen würden?«

»Einige Leute wären bereit, allerhand zu riskieren für, wieviel war es?, achtzehn Millionen oder so? Wie auch immer, wenn man die Nerven hat, es zu versuchen, ist es dann überhaupt so riskant? Das Mädchen ist angeblich gefährdet, also wird es sicher untergebracht. Natürlich mußte sie sich weigern, irgend jemanden zu sehen, der Fiona Mackenzie kannte, aber es gibt keine nahen Angehörigen, und außerdem ist so eine Reaktion bei einem traumatisierten jungen Mädchen verständlich, meinen Sie nicht, Dr. Laschen?«

»Ich glaube, daß das zu der Zeit meine fachliche Meinung war«, sagte ich mit tonloser Stimme.

»Und die Frage der Identität stellt sich gar nicht, weil der vertrauenswürdige Hausarzt da ist, um mit ihr zu sprechen und medizinische Details wie ihre Blutgruppe aus einer gefälschten Krankenakte von Finn zu liefern.«

»Und Finns, ich meine, X’ Akte aus dem Krankenhaus ist verschwunden«, fügte ich hinzu.

»Hätte Dr.

Daley sich Zugang zu der Akte verschaffen können?« fragte Baird.

» Ich habe beziehungsweise hätte es getan, wenn Daley mir nicht zuvorgekommen wäre.«

»X mußte lange genug die Rolle von Finn spielen, um ein Testament abfassen zu können, in dem sie alles Daley vermachte. Das einzige, was dazu erforderlich war, war eine halbwegs glaubhafte Fälschung von Fiona Mackenzies Unterschrift. Eine Störung gab es nur, als die Hausangestellte der Familie Fiona sehen wollte, bevor sie nach Spanien zurückkehrte. Das hätte alles verdorben, aber sie starb.«

»Sie wurde ermordet«, warf ich ein. »Michael ging hin und erstickte sie. Dann kehrte er mit mir dorthin zurück. Alle Anzeichen für einen Kampf und Spuren, die er hinterließ, waren durch seine angeblichen Reanimationsbemühungen zu erklären.«

Rupert rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum und fuhr fort:

»Dann brauchte nur noch ein Selbstmord vorgetäuscht zu werden, wobei die Leiche der echten Fiona Mackenzie benutzt wurde. Deshalb war es so wichtig, daß der Wagen ausbrannte.

Daley brauchte kein Alibi für die Morde an den Mackenzies, weil er nicht verdächtigt wurde. Aber er sorgte dafür, daß er nicht im Land war, als X Dannys Wagen an die Küste fuhr und in Brand steckte.«

»Das war perfekt«, sagte ich, widerwillig bewundernd. »Der Selbstmord von jemandem, der schon tot war, und ein Alibi von jemandem, von dessen Existenz niemand wußte. Wenn es irgendeinen Verdacht gegeben hätte, dann hätten sie Finns Leiche testen können, soviel sie wollten. Und der arme Danny, Danny …«

»Rees muß auf der Bildfläche erschienen sein, als sie sich gerade aus dem Staub machte, während Sie nicht da waren.«

Ich schaute auf meinen Kaffee. Er hatte eine Haut und war kalt. Eine Welle von Scham stieg in mir hoch.

»Ich nahm sie in mein Haus auf, mit meinem Kind, mit meinem Freund. Danny wurde ermordet. Ich habe mein Berufsleben der Analyse psychischer Zustände gewidmet, und dieses junge Mädchen hat mich wie eine Marionette an seinen Fäden tanzen lassen. Sie hat das Trauma gespielt, sie hat Freundschaft gespielt, alles. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es. Sie wollte nicht zur Beerdigung gehen.

Ich sah das als Symptom. Sie wollte alle Kleider der echten Finn verbrennen. Das sah ich als therapeutischen Akt. Sie blieb immer ganz vage in bezug auf ihre Vergangenheit. Ich habe das als notwendige Phase betrachtet. Sie hat mir anvertraut, daß sie sich nicht mehr mit ihrem früheren, fetten Selbst verbunden fühlte, und ich sah das als Hinweis auf ihre Fähigkeit, gesund zu werden.«

Endlich blickte Rupert von seiner Zeichnung auf.

»Lassen Sie sich davon nicht unterkriegen, Sam«, sagte er.

»Sie sind Ärztin, kein Detektiv. Das Leben ist, wie es ist, weil die meisten von uns glauben, daß die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, keine Psychopathen oder Betrüger sind.« Er schaute Chris an. »Leider sind wir diejenigen, die Detektive sein sollten.«

»Aber was wäre geschehen?« fragte ich.

»Was meinen Sie?«

»Nach dem falschen Selbstmord von Finn.«

»Alles sehr einfach«, sagte Chris. »Daley kriegt das Geld.

Dann, ein oder zwei Jahre später, würden wir Gerüchte hören, so etwas in der Art: Der arme Daley hat sich den anonymen Spielern angeschlossen, ist auf die schiefe Bahn geraten, hat die Hälfte seines Vermögens oder so auf der Rennbahn verloren.

Und in Wirklichkeit hat er die Hälfte zu Bargeld gemacht, um X

auszuzahlen.« Chris hob resigniert die Hände.

»Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wer diese junge Dame sein könnte?« fragte ich. »Eine Patientin? Eine alte Freundin?

Eine frühere Geliebte?«

Keiner antwortete.

»Vielleicht hat sie ein Vorstrafenregister«, meinte ich.

»Wie sollen wir das feststellen?« fragte Rupert tonlos. »Wir haben nur ein einziges Verbindungsglied zu ihr.«

»Und das wäre?«

»Sie.«

»Wovon reden Sie?«

»Sie kannten sie besser als alle anderen.«

»Sind Sie verrückt? Ich kannte sie überhaupt nicht.«

»Alles, was wir verlangen«, sagte Chris, »ist, daß Sie nachdenken. Sie brauchen uns jetzt nichts zu sagen. Versuchen Sie sich einfach nur zu erinnern, an irgend etwas, irgend etwas, was sie vielleicht gesagt oder getan hat, das einen Hinweis auf ihre wahre Identität geben könnte.«

»Da kann ich Ihnen gleich antworten. Ich habe tagelang alle Erinnerungen durchforstet, alles, was sie mir gesagt hat, jedes Gespräch, an das ich mich erinnern kann. Es war alles gespielt.

Was soll ich sagen? Sie konnte kochen. Sie konnte einfache Zaubertricks vorführen. Aber je mehr ich nachdenke, desto mehr entgleitet sie mir. Alles, was sie gesagt und getan hat, geschah nur, um mir Sand in die Augen zu streuen. Wenn ich dahinterschauen will, ist sie nicht da. Ich fürchte, ich bin keine große Hilfe. Also, was werden Sie jetzt tun?«

Rupert stand auf und reckte sich, wobei seine Hand die Kunststoffplatten der Decke berührte.

»Wir werden ermitteln.«

»Wann geben Sie bekannt, daß Sie den Fall wieder aufgenommen haben?«

Bildete ich mir das ein, oder holte er tatsächlich tief Luft, um sich für das zu stählen, was er sagen wollte?

»Wir geben es nicht bekannt.«

»Warum nicht?«

Rupert räusperte sich.

»Nach Beratungen auf höchster Ebene haben wir entschieden, daß unsere Aussichten vielleicht besser sind, wenn die Mörderin nicht weiß, daß wir hinter ihr her sind. Das Geld ist ihr entgangen. Vielleicht macht sie einen Fehler.«

»Und wenn, wie würden Sie das merken?«

Rupert murmelte etwas.

»Rupert«, sagte ich scharf, »heißt das, daß Sie den Fall auf sich beruhen lassen?«

Er sah schockiert aus.

»Natürlich nicht, diese Anschuldigung ist unter Ihrer Würde, aber ich weiß, Sie stehen unter Streß. Es ist bloß die effizienteste Vorgehensweise, und ich bin sicher, daß wir so am ehesten Resultate erzielen werden. Und jetzt haben wir, glaube ich, alles Wichtige besprochen. Wann gehen Sie nach London zurück?«

»Morgen.«

»Sie werden uns doch Ihre Adresse hinterlassen, oder?«

»Ja.«

»Gut. Wenn Ihnen irgend etwas einfällt oder wenn etwas geschieht, dann setzen Sie sich mit uns in Verbindung.« Er reichte mir die Hand.

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, Sam, weil Sie es uns ermöglicht haben, diesen tragischen Ereignissen auf den Grund zu gehen.«

Ich nahm seine Hand.

»Freut mich, daß Sie dankbar sind, Rupert. Und wenn ich jemals den Verdacht haben sollte, daß dieser Fall unter den Teppich gekehrt wird …«

»Vertrauen Sie uns«, sagte Rupert. »Vertrauen Sie uns.«

Blinzelnd trat ich in die Fußgängerzone am Rand des Marktplatzes hinaus und prallte gegen eine alte Frau. Dabei stieß ich die Einkaufstasche auf Rädern um, die sie nachzog.

Während ich Zwiebeln und Karotten vom Bürgersteig aufsammelte, fühlte ich mich wie ein Kind, das aus einem Traum erwacht und überrascht feststellt, daß die Welt sich unbeeindruckt weiterdreht. Und doch spürte ich, daß ich mich noch in meinem hermetischen Traum befand. Es gab Orte, die ich noch aufsuchen mußte.

37. KAPITEL

Es folgte ein Wochenende mit Umzugskartons, einem interessierten Kind, einer verstörten Katze, einem großen Möbelwagen, zu Flirts aufgelegten Möbelpackern, Bechern voll Tee, Verabredungen, Schlüsselbunden, einem gemieteten Lagerraum und ungefähr fünf Prozent meiner Sachen in der vorübergehend angemieteten Wohnung.

Von all den Aufgaben waren zwei besonders wichtig. Erstens hatte ich eine Liste mit Anfragen für Interviews. Ich blätterte sie durch und rief ein paar Freunde an, die Zeitungen lasen, um sie um Rat zu fragen; am Montag morgen rief ich dann Sally Yates von The Participant an. Innerhalb einer Stunde saß sie mit einem Becher Kaffee, Notizblock und gespitztem Bleistift in der Küche des Mannes, der für ein Jahr in Amerika arbeitete und mir bis dahin die Wohnung überlassen hatte. Yates war mollig, zerknittert, mitfühlend und sehr sympathisch und machte beim Reden lange Pausen, die ich vermutlich mit Geschichten über mein Privatleben füllen sollte. Aber einem Profi kann man nichts vormachen. Ich hatte genug Erfahrung im Interviewen verletzter Menschen, um einigermaßen glaubwürdig die edelmütig leidende Frau darzustellen. Ich war nicht so beeindruckend wie Finn, wie X, aber ich machte es ganz gut. Ich hatte die harmlosen Enthüllungen, die ich mir entlocken lassen würde, vorher genau zurechtgelegt – Enthüllungen über die Trauer, einen Geliebten zu verlieren, über Verbrechen und physische Angst, über den Schmerz und die Ironie, die darin lagen, daß eine Trauma-Spezialistin selbst unter einem Trauma litt: »Es gibt in der Medizin die Maxime, daß man die Störung, auf die man sich spezialisiert hat, immer selbst entwickelt«, sagte ich mit einem traurigen Lächeln und einem Schniefen, als würde ich gleich eine Träne vergießen.

Dann, ganz am Schluß, kam die Aussage, derentwegen ich das ganze Interview überhaupt gab.

»Nachdem Sie nun all dem entronnen sind …«, sagte Sally Yates mitfühlend und ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, damit ich den Faden aufnehmen konnte.

»Ach, Sally«, sagte ich, »als Ärztin und als Frau frage ich mich, ob wir jemals Erfahrungen ausweichen können, indem wir einfach vor ihnen davonlaufen.« Ich machte eine lange Pause, scheinbar zu erschüttert, um weitersprechen zu können, ohne die Beherrschung zu verlieren. Sally griff über den Küchentisch und legte ihre Hand auf meine. Wie unter großen Mühen begann ich weiterzusprechen: »Das war eine persönliche Tragödie und –

was die neue Klinik für posttraumatische Persönlichkeitsstörungen betrifft – auch eine berufliche Niederlage, und im Mittelpunkt stehen Menschen, die nicht das waren, was sie zu sein schienen.«

»Sie meinen Dr. Michael Daley?« fragte Sally und runzelte tief betroffen die Stirn.

»Nein«, sagte ich, und als sie mich fragend ansah, machte ich mit einer Geste deutlich, daß ich nicht mehr sagen konnte.

Als wir auf dem Treppenabsatz standen und uns verabschiedeten, umarmte ich sie.

»Ich gratuliere Ihnen«, sagte ich. »Sie haben mich dazu gebracht, Dinge zu sagen, die ich gar nicht hatte sagen wollen.«

Sie errötete vor Freude, unterdrückte das aber rasch.

»Es war etwas ganz Besonderes, Sie kennenzulernen«, sagte sie und umarmte mich noch fester als ich sie.

Die Zeitung versprach sich offenbar viel von mir, denn weniger als zwei Stunden später erschien ein Fotograf. Der junge Mann war enttäuscht, daß er meine Tochter nicht antraf, und stellte mich neben eine Vase mit Blumen. Seelenvoll schaute ich auf die Blumen und rätselte, welche es wohl waren.

Am nächsten Tag wurde ich durch ein großes Foto und eine Schlagzeile überrascht: »Sam Laschen: weibliches Heldentum und ein Geheimnis, das nicht sterben will«. Nicht besonders packend, aber es war ein Schuß vor den Bug von DCI Baird und seiner fröhlichen Mannschaft. Beim nächstenmal würde ich mich weniger geheimnisvoll geben.

Die zweite Aufgabe fiel mir bedeutend schwerer. Eine Freundin hatte mir vage die Dienste ihres Babysitters für Notfälle angeboten. Dies war ein Notfall. Ich brachte Elsie ein paar Häuser weiter in ein Reihenhaus mit einem spanischen Teenager und einem finster dreinblickenden Fünfjährigen. Elsie marschierte hinein und drehte sich nicht einmal um, um auf Wiedersehen zu sagen. Ich stieg in meinen Wagen und fuhr nach Westen. Ich würde in beiden Richtungen gegen den Strom schwimmen.

Es war nicht schwer, die St. Anne’s Church auf der Avonmouth-Seite von Bristol zu finden. Ich ging durch das Tor in die grüne Stille des Friedhofs, einen Strauß Frühlingsblumen in der Hand.

Dannys Grab war leicht zu erkennen: Zwischen all den bemoosten Grabsteinen, deren Namen kaum noch zu entziffern waren, hob sich seine rosa gesprenkelte Grabplatte auffallend ab. Jemand hatte Blumen hingelegt. Ich sah auf die schwarzen Buchstaben: Daniel Rees, geliebter Sohn und Bruder. Ich zog eine Grimasse: Das schloß mich wirksam aus. 1956-1996. Er hatte es nicht bis zu der Geburtstagsparty geschafft, die wir hatten geben wollen. Ich würde altern, mein Gesicht würde Falten bekommen und mein Körper unter den Beschwerden, Schmerzen und Anfälligkeiten des Alters krumm werden und leiden; aber er würde in meiner Erinnerung immer jung bleiben, immer stark und schön.

Ich schaute auf die zwei Meter häßlichen rosa Marmors nieder und fröstelte. Darunter lag sein herrlicher Körper, den ich umarmt hatte, als er noch warm und voller Verlangen war, jetzt verkohlt und verwesend. Sein Gesicht, die Lippen, die mich erforscht, die Augen, die mich angesehen hatten, vermoderten.

Ich setzte mich neben den Grabstein, legte eine Hand auf die Grabplatte, als sei sie Teil eines warmen Körpers, streichelte sie.

»Ich weiß, daß du mich nicht hören kannst, Danny«, sagte ich.

Selbst seinen Namen laut auszusprechen, schmerzte mich.

»Ich weiß, daß du nicht hier bist und auch sonst nirgends. Aber ich mußte herkommen.«

Ich sah mich um. Niemand war auf dem Friedhof. Nicht einmal ein Vogel zwitscherte. Nur die Autos auf der Hauptstraße ein paar hundert Meter weiter störten die Stille.

Also zog ich meine Jacke aus, legte meine Tasche ab, nahm die Blumen von der Grabplatte und legte mich selbst darauf, die Wange an den kalten Stein gepreßt. Ich streckte mich der Länge nach auf Danny aus, wie ich es noch manchmal in meinen Träumen tat.

Ich weinte hemmungslos, war voller Selbstmitleid und Trauer; salzige Tränen benetzten den Stein. Ich weinte um mein verlorenes Leben. Ich dachte an unsere erste Begegnung zurück, an das erste Mal, als wir miteinander schliefen, an Ausflüge mit Elsie – nur wir drei, die nicht wußten, wie glücklich sie waren.

Ich dachte an seinen Tod. Ich wußte, daß ich darüber hinwegkommen würde; eines Tages würde ich vermutlich jemand anderen kennenlernen, und alles würde von neuem beginnen, aber im Augenblick fühlte ich mich einsam und verlassen.

Dann erhob ich mich steif. Als ich sprach, war ich seltsam verlegen, als spielte ich die Rolle der trauernden Witwe in irgendeiner dilettantischen Laienaufführung: »So, das war es.

Dies ist mein Abschied.« So melodramatisch die Situation auch war, ich konnte nicht aufhören, es zu sagen. Ich konnte mich einfach nicht überwinden, es zum allerletztenmal zu sagen:

»Adieu, adieu, adieu, adieu.«

Ich zog meine Jacke wieder an, hob meine Tasche auf, legte die beiden Blumensträuße wieder auf die Grabplatte, einfach so, verließ den Friedhof und schaute kein einziges Mal mehr durch das Tor zurück auf die Stelle, wo sie lagen. Und wenn ich schnell genug fuhr, würde ich rechtzeitig zurück sein, um Elsie zu Bett zu bringen und ihr ein Lied vorzusingen, bevor sie einschlief.

38. KAPITEL

Das Telefon läutete, als ich die Treppe hinaufrannte, Akten unter einem Arm und mit zwei Tüten in den Händen, in denen sich unser Abendessen befand. Ich stolperte über Anatoly, fluchte, ließ die Tüten fallen und erwischte den Hörer genau in dem Moment, in dem sich der Anrufbeantworter einschaltete.

»Bleiben Sie dran«, sprach ich atemlos über meine höfliche Tonbandstimme, »er schaltet sich gleich aus.«

»Sam, hier ist Miriam. Ich wollte nur fragen wegen heute abend … Bist du noch dabei?«

»Natürlich. Der Film fängt um halb neun an, und ich habe den anderen gesagt, daß wir uns um zwanzig nach acht draußen vor dem Kino treffen. Ich habe etwas zu essen besorgt, das wir uns hinterher zu Gemüte führen können. Wird schön sein, euch wiederzusehen.«

Ich packte die Lebensmittel aus und räumte sie in den Kühlschrank. Elsie und Sophie würden vermutlich in ungefähr einer Stunde aus dem Park zurück sein. Ich ging in mein Schlafzimmer (obwohl ich persönlich »Abstellkammer«

treffender gefunden hätte für einen Raum, in dem ich mich an einer kleinen Kommode vorbeiquetschen mußte, um in mein Bett zu gelangen), nahm den Haufen schmutziger Kleider aus der Ecke und stopfte ihn in die Waschmaschine.

Ein Stoß Rechnungen lag auf dem Küchentisch, ein Stapel Geschirr wartete auf den Abwasch in der kleinen Spüle, Bücher und CDs standen schief aufgetürmt an den Wänden entlang. Der Abfalleimer quoll über. In Elsies Schlafzimmer herrschte das absolute Chaos. Die Pflanzen, die zahlreiche Freunde mir geschenkt hatten, als ich hier einzog, welkten in ihren Töpfen dahin. Achtlos goß ich Wasser hinein und summte dabei eine von Elsies kleinen Weisen, während ich im Kopf Listen erstellte. Das Reisebüro anrufen. Die Bank anrufen. Nicht vergessen, morgen mit Elsies Lehrerin zu sprechen. Morgen früh den Immobilienmakler anrufen. Ein Geschenk zu Olivias viertem Geburtstag kaufen. Den Bericht über das Zugunglück in Harrogate lesen. Den versprochenen Aufsatz für The Lancet schreiben. Jemanden kommen lassen, der eine Katzentür für Anatoly anfertigt.

Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und Sophie wankte herein, beladen mit Elsies Picknickkorb und Springseil.

»Hallo«, sagte ich, während ich zwischen den auf dem Tisch verstreuten Briefen nach der Nachricht von der Eisenbahngesellschaft suchte. »Du bist früh zurück. Wo ist Elsie?«

»Es ist etwas ganz Unerwartetes passiert!« Sie lud ihre Last auf dem Tisch ab und setzte sich, rundlich in den Leggings im Leopardenmuster und dem engen, glänzenden T-Shirt. »Gerade, als wir in den Clissold Park gehen wollten, haben wir Ihre Schwester getroffen. Elsie schien sich wirklich zu freuen, sie zu sehen, sie rannte in ihre Arme. Sie sagte, sie würde sie bald zurückbringen. Zuletzt sah ich die beiden Hand in Hand in den Park gehen. Sie heißt doch Bobbie, nicht? Sie wollte Elsie ein Eis kaufen.«

»Ich wußte gar nicht, daß sie hier ist«, sagte ich überrascht.

»Hat sie gesagt, was sie macht?«

»Ja. Sie hat gesagt, ihr Mann hätte sie auf dem Weg zu irgendeiner Besprechung abgesetzt, und sie hätte in diesem wirklich protzigen Stoffgeschäft an der Church Street Vorhänge ausgesucht. Na ja, das kann sie Ihnen ja später selbst erzählen.

Soll ich Ihnen eine Tasse Tee machen?«

»Da kommt sie diesen ganzen weiten Weg nach London, um Vorhänge zu kaufen. Das ist typisch für meine Schwester. Aber da wir jetzt Zeit haben und kein Kind, könnten wir anfangen, die Bücher und CDs zu sortieren. Ich möchte alles in alphabetischer Reihenfolge geordnet.«

Wir waren bis G gekommen, und ich war staubig und verschwitzt, als das Telefon läutete. Es war meine Schwester.

»Bobbie, das ist eine nette Überraschung. Wo bist du? Wann wirst du hier sein?«

»Was?« Bobbie klang ziemlich verwirrt.

»Sollen wir uns im Park treffen?«

»In welchem Park? Wovon redest du, Sam? Ich rufe an, um mich zu erkundigen, ob Mutter dich …«

»Moment.« Mein Mund war seltsam trocken geworden. »Von wo rufst du an, Bobbie?«

»Na, von zu Hause natürlich.«

»Du bist nicht bei Elsie?«

»Natürlich bin ich nicht bei Elsie, ich habe keine Ahnung, was

…«

Aber ich war schon weg, hatte trotz ihrer Verwirrung den Hörer auf die Gabel geknallt, schrie Sophie zu, sie solle sofort die Polizei anrufen und ihr sagen, Elsie sei entführt worden, und polterte die schmale Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Herz klopfte mir laut bis zum Hals. Bitte, laß ihr nichts zustoßen. Ich stürmte durch die Haustür und sprintete los, meine Füße brannten auf dem heißen Pflaster. Die Straße hinauf, vorbei an alten Damen, Frauen mit Kinderwagen und jungen Männern mit großen Hunden. Mitten durch die langsam dahinschlendernden Menschen, die von der Arbeit kamen. Über die Straße, wo Autofahrer hupten und ihre Fenster herunterkurbelten, um mich zu beschimpfen.

Durch das eiserne Tor von Clissold Park, vorbei an der kleinen Brücke und den überfütterten Enten, den Rehen, die mit ihrem Samtmaul an den hohen Zaun stießen, durch die Allee mit den Kastanienbäumen. Während ich rannte, suchten meine Augen die Gegend ab. Es gab so viele Kinder, aber keines von ihnen war meins. Ich raste auf den Spielplatz. Jungen und Mädchen in bunten Anoraks schaukelten, rutschten, sprangen, kletterten. Ich stand zwischen Wippe und Sandkasten, wo der Parkwächter letzten Monat weggeworfene, benutzte Spritzen gefunden hatte, und schaute voller Panik um mich.

»Elsie!« schrie ich. »Elsie!«

Sie war nicht da, obwohl ich sie in jedem Kind sah, in jedem Schrei hörte. Ich schaute hinüber zu dem Teich mit den Ruderbooten, türkisfarben und verlassen, und dann rannte ich weiter, zum Café, zu den großen Teichen am Ende des Parks, wo wir immer die Enten und die streitlustigen kanadischen Gänse fütterten. Ich starrte über den Zaun dahin, wo Krumen und Abfall schwammen, als würde ich gleich ihren kleinen Körper im öligen Wasser treiben sehen. Dann rannte ich auf der anderen Seite des Parks wieder zurück. »Elsie!« schrie ich in regelmäßigen Abständen. »Elsie, Schätzchen, wo bist du?« Aber ich erwartete keine Antwort und bekam auch keine. Ich fing an, Leute anzusprechen, eine Frau mit einem Kind etwa in Elsies Alter, eine Gruppe von Teenagern auf Skateboards, ein älteres Ehepaar, das Händchen hielt.

»Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?« fragte ich. »Ein kleines Mädchen in einem dunkelblauen Mantel, mit blonden Haaren? Mit einer Frau?«

Ein Mann glaubte, sie gesehen zu haben. Er wies mit der Hand vage auf den Kreis von Rosenbüschen hinter uns. Ein kleiner Junge, dessen Mutter ich ansprach, sagte, er habe ein kleines Mädchen in Blau auf der Bank sitzen sehen, auf dieser Bank, und er zeigte auf die leere Bank.

Sie war nirgends. Ich schloß die Augen und sah ein Horrorszenario vor mir: Elsie, die mitgeschleift wurde, schreiend; Elsie, die in ein Auto gestoßen und weggefahren wurde; Elsie verletzt; Elsie, die immer wieder nach mir schrie.

Es half nichts. Ich rannte zurück zum Tor des Parks, stolpernd, ich hatte Seitenstechen, Angst brannte sich wie Säure in meinen Magen. Immer wieder rief ich ihren Namen, und die Menschen wichen aus, um mich durchzulassen – eine Verrückte.

Ich rannte auf den Friedhof nahe beim Clissold-Park, denn wenn jemand ein Kind verschleppen und ihm etwas antun wollte, wäre dies der geeignete Ort. Dornenranken rissen an meinen Kleidern. Ich stolperte über alte Grabsteine, ich sah Paare, Gruppen von Teenagern, aber keine Kinder. Ich rief und schrie und wußte, daß es nutzlos war, denn der Friedhof war riesig und voller versteckter Winkel, und selbst wenn Elsie sich hier aufhielt, hatte ich keine Chance, sie zu finden.

Also ging ich nach Hause, und die Hoffnung, daß sie dort auf mich wartete, ließ meine Knie weich werden. Aber sie war nicht da. Sophie wartete mit ängstlichem, fassungslosem Gesicht auf mich. Und zwei Polizisten. Einer von ihnen, eine Beamtin, telefonierte gerade. Völlig außer Atem berichtete ich, was geschehen war – daß die Frau im Park nicht meine Schwester gewesen war –, aber Sophie hatte ihnen bereits berichtet, was sie wußte.

»Ich bin schuld«, sagte sie gerade, und ich hörte Hysterie in ihrer sonst sachlichen Stimme, »nur ich bin schuld.«

»Nein«, antwortete ich müde, »wie hättest du das wissen können?«

»Elsie schien sich so zu freuen, mit ihr zu gehen. Ich verstehe das gar nicht. Sie redet sonst nicht so einfach mit Fremden.«

»Das war keine Fremde.«

Nein, ich hatte kein Foto von Elsie. Zumindest nicht hier. Und als ich zu einer detaillierten Beschreibung meiner Tochter ansetzte, klingelte es. Ich rannte wieder die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Meine Augen wanderten vom lächelnden Gesicht eines weiteren uniformierten Polizisten zu einem kleinen Mädchen in blauem Mantel, das den Rest von einem Orangeneis am Stiel lutschte. Ich sank auf die Knie, und einen Moment lang dachte ich, ich müßte mich auf die glänzend polierten Schuhe des Polizisten übergeben. Ich schlang meine Arme um Elsies Körper und vergrub mein Gesicht in ihrem rundlichen Bauch.

»Paß auf mein Eis auf«, sagte sie endlich, beunruhigt.

Ich erhob mich und nahm sie auf den Arm. Der Polizist grinste mich an.

»Eine junge Dame hat sie im Park herumspazierend gefunden und mir übergeben«, sagte er. »Und dieses kluge kleine Mädchen wußte seine Adresse.« Er faßte Elsie am Kinn.

»Passen Sie das nächste Mal besser auf sie auf«, sagte er. Dann entdeckte er die beiden anderen Polizeibeamten, die gerade die Treppe herunterkamen. »Das kleine Mädchen war weggelaufen.« Die Beamten nickten einander zu. Die Beamtin ging an mir vorbei und begann, etwas in ihr Funkgerät zu sprechen. Der andere Beamte warf seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zu und zog müde eine Augenbraue nach oben. Noch eine durchgedrehte Mutter.

»Nein, ganz so war das nicht …«, setzte ich an, gab dann aber auf.

»Wie hat sie ausgesehen, die Frau, die sie ›gefunden‹ hat?«

Der Polizist zuckte mit den Schultern.

»Eine junge Frau. Ich habe gesagt, Sie wollten sich vielleicht persönlich bei ihr bedanken, aber sie sagte, das wäre nicht der Rede wert.«

Ich heuchelte überschwengliche Dankbarkeit und schaffte es, die Haustür zu schließen.

»Elsie«, sagte ich, »wen hast du getroffen?«

Sie schaute zu mir auf, den Mund orange vom Eis verschmiert.

»Du hast gelogen«, sagte sie. »Sie ist doch wieder lebendig geworden. Ich hab’s doch gewußt.«

39. KAPITEL

Mein Ausflug ins Kino und alles andere wurden abgesagt.

Wieder einmal waren Elsie und ich allein zu Hause, und sie bekam von mir alles, was sie wollte. Reispudding aus der Dose mit goldenem Sirup in Form eines Fohlens darauf.

»Es ist ein Pferd«, behauptete ich. »Schau, da ist der Schwanz, und da sind die spitzen Ohren.«

Es war eine ungeheure Anstrengung, aber ich schaffte es, beiläufig zu klingen.

»Und wie geht es Finn?«

»Gut«, sagte Elsie geistesabwesend, denn sie war damit beschäftigt, mit ihrem Löffel Spiralen in das goldene Sirupmuster auf dem Reispudding zu ziehen.

»Das sieht aber schön aus, Elsie. Wirst du etwas davon essen?

Gut. Was habt ihr gemacht, du und Finn?«

»Wir haben Hühner gesehen.«

Ich manövrierte Elsie ins Bad und blies mit Hilfe meiner Finger Seifenblasen.

»Die ist aber toll, Mummy.«

»Soll ich mal versuchen, eine noch größere zu fabrizieren?

Wovon habt ihr geredet, du und Finn?«

»Wir haben geredet und geredet und geredet.«

»Da sind zwei kleine Baby-Seifenblasen. Und worüber habt ihr geredet?«

»Über unser Haus.«

»Das ist schön.«

»Kann ich in deinem Bett schlafen, Mummy?«

Ich trug sie zu meinem Bett und spürte dabei voller Dankbarkeit ihren warmen, feuchten Körper durch meine Bluse.

Sie bat mich, mit ihr unter das Laken zu schlüpfen. Auf dem Nachttisch lag eine Bürste, und wir bürsteten uns gegenseitig die Haare. Wir sangen ein paar Lieder, und ich brachte ihr das Spiel von Stein, Schere und Papier bei. Ich mit meiner großen und sie mit ihrer kleinen Hand bildeten abwechselnd Stein, Schere oder Papier. Stein schleift Schere, Schere schneidet Papier, Papier wickelt Stein ein. Jedesmal, wenn wir es spielten, wartete sie ab, bis ich ihr zeigte, was ich darstellen würde; und dann traf sie ihre Entscheidung so, daß sie gewinnen mußte, und ich warf ihr vor, sie mogle, und wir lachten beide. Es war ein Augenblick intensiven Glücks, und ich mußte mich zusammenreißen, um nicht aus dem Zimmer zu laufen und zu heulen. Ich hätte es vielleicht getan, aber ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, Elsie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

»Wann können wir Finn wiedersehen?« fragte sie auf einmal.

Mir fiel keine Antwort ein.

»Es ist komisch, daß du über unser Haus gesprochen hast mit

… mit Finn«, sagte ich. »Sicher deshalb, weil du da mit ihr so schöne Spiele gespielt hast.«

»Nein«, sagte Elsie entschieden.

Unwillkürlich mußte ich sie anlächeln.

»Warum nicht?«

» Das Haus war es nicht, Mummy.«

»Was meinst du?«

»Es war unser sicheres Haus.«

»Wie schön, mein Liebling.« Ich drückte Elsie fest an mich.

»Aua, du tust mir weh.«

»Entschuldigung, Schatz. Und hat sie Sachen in das sichere Haus getan?«

»Ja«, sagte Elsie, die anfing, meine Augenbraue zu untersuchen. »Da ist ein weißes Haar.«

Mir war schwindlig und übel, als starrte ich in einen schwarzen Abgrund.

»Ja, ich weiß. Ulkig, nicht?« Ohne Elsie zu stören, tastete ich hinter mir nach dem Stift und dem Notizblock, die neben dem Telefon auf dem Nachttisch lagen. »Sollen wir in das sichere Haus gehen?«

»Welche Farbe hat dein Auge?«

»Au!« Ich heulte auf, als sie neugierig den Finger in mein linkes Auge bohrte.

»Entschuldigung, Mummy.«

»Es ist blau.«

»Und meins?«

»Blau. Elsie, sollen wir in das sichere Haus gehen und uns mal umsehen? Elsie?«

»Also guuut«, sagte sie wie ein aufsässiger Teenager.

»In Ordnung, mein Schatz, mach die Augen auf. So ist es richtig. Jetzt gehen wir den Weg hinauf. Was ist an der Tür?«

»Da sind runde Blätter.«

»Runde Blätter? Das ist ja komisch. Komm, wir machen die Tür auf und schauen, was auf der Fußmatte ist.«

»Da steht ein Glas Milch.«

Ich notierte das.

»Ein Glas Milch auf der Fußmatte?« sagte ich in meinem besten Kindergärtnerinnenton. »Wie seltsam! Gehen wir vorsichtig um das Glas Milch herum, damit wir es nicht umwerfen, und in die Küche. Was ist in der Küche?«

»Eine Trommel.«

»Eine Trommel in der Küche? So ein verrücktes Haus! Und jetzt gehen wir mal und gucken, was auf dem Fernseher steht, ja? Was steht auf dem Fernseher?«

»Eine Birne.«

»Das ist schön. Du magst Birnen, nicht? Aber wir wollen noch nicht hineinbeißen. Faß sie nicht an. Ich habe gesehen, daß du sie angefaßt hast.« Elsie kicherte. »Laß uns nach oben gehen.

Was ist auf der Treppe?«

»Eine Trommel.«

»Noch eine Trommel? Bist du sicher?«

»Ja-a-a, Mum«, sagte Elsie ungeduldig.

»In Ordnung. Das ist ein lustiges Spiel, nicht? So, und jetzt bin ich gespannt, was im Bad ist.«

»Ein Ring.«

»Das ist aber komisch, ein Ring im Bad. Ist er dir vielleicht vom Finger gerutscht, als du im Bad geplanscht hast?«

»Hab ich gar nicht!« rief Elsie.

»Und jetzt gehen wir aus dem Bad und in Elsies Bett. Was ist in dem Bett?«

Elsie lachte.

»Im Bett ist ein Schwan.«

»Ein Schwan in einem Bett? Wie soll Elsie denn schlafen, wenn ein Schwan in ihrem Bett ist?« Elsies Augenlider begannen zu flattern, ihr Kopf wackelte. In einer Sekunde würde sie eingeschlafen sein. »Und jetzt gehen wir in Mummys Schlafzimmer. Wer liegt in Mummys Bett?«

Jetzt klang Elsie, als würde sie gleich wegdösen.

»Mummy ist in Mummys Bett«, sagte sie leise. »Und Elsie ist in Mummys Armen. Und ihre Augen sind zu.«

»Das ist schön«, sagte ich. Aber ich sah, daß Elsie bereits schlief. Ich beugte mich über sie und strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Paul, der geheimnisvolle abwesende Besitzer der Wohnung, hatte in der Ecke seines Schlafzimmers einen Schreibtisch, zu dem ich auf Zehenspitzen schlich und an den ich mich mit dem Notizblock setzte. Ich rieb mir leicht mit den Fingern den Hals und spürte den Puls. Er mußte fast hundertzwanzig betragen. Heute hatte die Mörderin meines Geliebten meine kleine Tochter entführt. Warum hatte sie sie nicht getötet oder ihr sonst etwas angetan? Ich mußte plötzlich ins Badezimmer rennen, übergab mich aber nicht. Ich atmete ein paarmal tief durch und kehrte an den Schreibtisch zurück, schaltete die kleine Lampe ein und sah mir meine Notizen an.

Die Mörderin, X, hatte meine Tochter entführt, hatte riskiert, geschnappt zu werden, und all das nur, um mit ihr eines der albernen kleinen Gedächtnisspiele von früher zu spielen. Als Elsie mir schilderte, was sie gemacht hatten, war ich auf etwas Schlimmes gefaßt gewesen, aber statt dessen war da diese dumme Aufzählung banaler Gegenstände: runde Blätter, ein Glas Milch, eine Trommel, eine Birne, noch eine Trommel, ein Ring, ein Schwan und dann Elsie und ich in meinem Bett, mit geschlossenen Augen. Was sind runde Blätter? Ich machte kleine Skizzen davon. Ich nahm den ersten Buchstaben von allen Gegenständen und spielte nutzlos damit herum. Ich versuchte einen Zusammenhang zwischen den Orten herzustellen, an denen sich die Objekte befanden. Gab es etwas bewußt Paradoxes an einem Schwan in einem Bett, einem Glas Milch auf der Fußmatte? Vielleicht hatte diese namenlose Frau meinem Kind zufällige Gegenstände eingeprägt, um ihre Macht zu demonstrieren.

Ich verließ den Schreibtisch, ging ins Bett zurück, legte mich neben Elsie, lauschte ihrem Atem, spürte das Heben und Senken ihrer Brust. Gerade, als ich das Gefühl hatte, eine ganze Nacht ohne Schlaf hinter mir zu haben, und mich fragte, wie ich den nächsten Tag überstehen sollte, weckte mich Elsie, indem sie meine Augenlider auseinanderzog. Ich stöhnte.

»Was passiert heute, Elsie?«

»Weiß nicht.«

Es war der erste Tag in ihrer neuen Schule. Meine Mutter hatte am Telefon mißbilligend geklungen. Elsie ist kein Möbelstück, das man einfach aus London weg- und dann wieder zurückbringen kann, wie es einem paßt. Sie braucht Stabilität und ein Zuhause. Ja, ich wußte, was meine Mutter sagen wollte.

Daß sie einen Vater und Brüder und Schwestern und vorzugsweise eine Mutter brauchte, die mir so unähnlich wie möglich war. Ich war forsch und fröhlich, als ich mit meiner Mutter telefonierte. Als sie aufgelegt hatte, weinte ich und war gereizt und deprimiert, aber danach ging es mir besser. Die Grundschule war verpflichtet, Elsie aufzunehmen, weil unsere derzeitige Wohnung buchstäblich auf ihren Schulhof hinausging.

Mein Magen verkrampfte sich, als Elsie in einem neuen gelben Kleid, das Haar glatt nach hinten gekämmt und mit einem Band zusammengehalten, mit mir die Straße zur Schule überquerte.

Ich sah kleine Kinder ankommen und sich begrüßen. Wie sollte Elsie hier zurechtkommen? Wir gingen ins Büro, und eine Frau in mittleren Jahren lächelte Elsie an. Elsie starrte die ältere Frau an. Sie führte uns in die Vorschulklasse in einem Anbau. Die Lehrerin war eine junge Frau mit dunklem Haar und einer ruhigen Art, um die ich sie sofort beneidete. Sie kam unverzüglich auf uns zu und umarmte Elsie.

»Hallo, Elsie. Möchtest du, daß deine Mummy noch ein bißchen bei uns bleibt?«

»Nein, möchte ich nicht«, sagte Elsie mit düsterer Miene.

»Na, dann nimm sie zum Abschied fest in die Arme.«

Ich hielt sie und spürte ihre kleinen Hände in meinem Nacken.

»Alles in Ordnung?« fragte ich.

Sie nickte.

»Elsie, warum sind die Blätter rund?«

Sie lächelte.

» Wir hatten runde Blätter an der Tür.«

»Wann?«

»Für den Weihnachtsmann.«

Runde Blätter. Sie meinte eine Girlande. Ich konnte nicht sprechen. Ich küßte sie auf die Stirn und rannte aus dem Klassenzimmer und den Gang hinunter. Ein Notfall, rief ich einer mißbilligend dreinschauenden Lehrerin zu. Ich sprintete über die Straße, rannte die Treppe zur Wohnung hinauf. Ich hatte Schmerzen in der Brust und einen üblen Geschmack im Mund. Ich war nicht fit. Das meiste unserer Sachen war eingelagert, aber ich hatte zwei Kartons mit Büchern von Elsie.

Ich kippte einen davon auf dem Fußboden aus und kramte darin herum. Es war nicht da. Ich kippte den anderen um. Da. Die zwölf Tage des Weihnachtsbilderbuchs. Ich nahm es mit ins Schlafzimmer und setzte mich an den Schreibtisch. Das war es.

Die Schwäne schwammen. Die fünf goldenen Ringe. Die Trommler trommelten. Und ein Rebhuhn in einem Birnbaum.

Aber was war mit dem Glas Milch? Ich blätterte das Buch durch und fragte mich, ob ich vielleicht irgendwie auf der falschen Spur war. Nein. Ich mußte fast lächeln. Acht Mädchen beim Melken. Also ein verfälschter Verweis auf ein Weihnachtslied.

Was sollte das?

Ich schrieb sie in der Reihenfolge auf, in der Elsie sie gesehen hatte: acht Mägde beim Melken, neun Trommler beim Trommeln, ein Rebhuhn in einem Birnbaum, wieder neun trommelnde Trommler, fünf goldene Ringe, sieben schwimmende Schwäne. Ich starrte auf die Liste, und dann schienen die Gegenstände auf einmal zu verschwimmen, und die Zahlen schwebten frei im Raum. Acht, neun, eins, neun, fünf, sieben. Eine vertraute Zahl. Ich griff nach dem Telefon und wählte. Nichts. Natürlich. Ich rief die Auskunft an und ließ mir die Vorwahl von Otley geben. Dann wählte ich erneut. Es kam kein Freizeichen, sondern ein durchgehender Ton. War es abgestellt worden, als ich auszog? Verwirrt rief ich Rupert beim CID Stamford an.

»Das war Gedankenübertragung. Eben wollte ich Sie anrufen«, waren seine ersten Worte.

»Ich wollte Ihnen sagen …« Ich geriet unvermittelt ins Stocken.

»Warum?«

»Niemand ist verletzt worden, keine Sorge, aber ich fürchte, es hat ein Feuer gegeben. Ihr Haus ist letzte Nacht abgebrannt.«

Ich konnte nicht sprechen. »Sind Sie noch da, Sam?«

»Ja. Wie? Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Aber es ist so trocken und heiß. Es hat eine ganze Serie von Bränden gegeben. Könnte irgendein elektrischer Defekt gewesen sein. Wir werden es uns genau ansehen und bald Bescheid wissen.«

»Ja.«

»Komisch, daß Sie gerade jetzt anrufen. Wollten Sie mir irgend etwas mitteilen?«

Ich dachte an Elsies Worte gestern abend vor dem Einschlafen.

»Mummy ist in Mummys Bett. Und Elsie ist in Mummys Armen. Und ihre Augen sind zu.« Schliefen wir und waren in Sicherheit, oder waren wir tot und kalt wie die zwei Leichenpaare, die X schon gesehen hatte? Leo und Liz Mackenzie. Danny und Finn, im Tod vereint.

»Eigentlich nichts«, sagte ich. »Ich wollte nur hören, wie es so läuft.«

»Es geht voran«, sagte er.

Ich glaubte ihm nicht.

40. KAPITEL

Mark, der junge Immobilienmakler, rief mich am späteren Nachmittag an.

»Ich hoffe, Sie haben ein Alibi«, sagte er munter.

»Was?«

»Na, Sie haben doch gesagt, daß Sie Feuer mögen.«

»Also, hören Sie mal …«

»Kleiner Scherz, Dr. Laschen. Es ist nichts passiert.«

»Mein Haus ist abgebrannt.«

»Niemand ist zu Schaden gekommen, das ist die Hauptsache.

Aber es ist so – nicht, daß ich selbst so denken würde, aber die Hauptsache, dick unterstrichen, ist, daß Sie versichert sind und daß manche Leute in der heutigen Zeit vielleicht sagen würden, daß Sie durch den Brand des Hauses besser wegkommen, als wenn Sie es verkauft hätten.«

»Wie ist das möglich?«

»Ich will ja nichts gesagt haben, aber manche Häuser gehen nur sehr schlecht weg, und verkauft werden vorzugsweise die, die einen sehr konkurrenzfähigen Preis haben. Einen sehr konkurrenzfähigen Preis.«

»Aber ich dachte, mein Haus wäre so besonders gut verkäuflich.«

»Theoretisch war es das auch.«

»Sie hören sich bei der ganzen Sache sehr fröhlich an. Waren Sie auch versichert?«

»Insoweit, als wir gewisse finanzielle Vorsichtsmaßnahmen treffen mußten.«

»Also scheinen wir beide ganz gut aus dieser Katastrophe herauszukommen.«

»Vielleicht gibt es zu unseren Gunsten ein oder zwei Formulare zu unterschreiben. Könnten wir das eventuell bei einem Drink besprechen?«

»Schicken Sie mir die Formulare zu. Wiederhören, Mark.«

Ich legte den Hörer auf und fragte mich, ob das Feuer eine Warnung oder das perverse Geschenk einer Frau war, die meine pyromanischen Tendenzen kannte, oder beides.

»Alles gut verlaufen«, sagte Miss Olds, als ich Elsie abholte.

»Heute nachmittag war sie ein bißchen müde, aber dann habe ich sie auf den Schoß genommen, und wir haben zusammen ein Buch gelesen. Nicht, Elsie?«

Elsie, die mir kurz zugewinkt hatte, als sie mich sah, war in die Spielecke hinübergegangen, wo sie und ein anderes kleines Mädchen wortlos Plastikspeisen auf Plastiktellern anrichteten und so taten, als würden sie sie essen. Bei den Worten der Lehrerin sah sie auf, nickte aber nur.

»Die letzte Zeit war sehr, äh, sehr ereignisreich für sie«, sagte ich. Das Herz hämmerte noch immer in meiner Brust wie der hochgejagte Motor eines Rennwagens vor dem Start. Ich ballte die Fäuste und versuchte, langsamer zu atmen.

»Ich weiß«, sagte Miss Olds lächelnd. Sie hatte auch die Zeitungen gelesen.

Ich sah wieder zu meiner Tochter hinüber und beherrschte mich, um nicht durch den Raum zu laufen, sie auf den Arm zu nehmen und an mich zu drücken.

»Ja, und deswegen liegt mir sehr daran, daß sie sich wohl fühlt.«

Miss Olds sah mich mitfühlend an. Sie hatte dunkelbraune Augen und einen kleinen Leberfleck über der Oberlippe. »Ich glaube, sie lebt sich hier ein.«

Elsie, die engumschlungen schliefen. Die Geschichte hatte zwei mögliche Enden, Elsie und Mummy zusammen tot oder Elsie und Mummy, die weiterlebten bis an ihr glückliches Ende. Nein, das war übertrieben. Die lebten. Das genügte. Meine Tagträume wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen. Baird war am Apparat.

»Ich hoffe, Sie haben ein Alibi«, sagte er im Spaß wie vor ihm der Immobilienmakler.

»Mich kriegen Sie nie, Bulle«, antwortete ich. Er lachte, dann folgte eine Pause. »War das alles?« fragte ich.

»Wir haben von dem Vorfall gestern gehört.«

Sie behielten mich also im Auge. Dies war der Moment der Entscheidung, aber ich lauschte dem Plätschern aus dem Bad und wußte, daß ich sie bereits getroffen hatte.

»Das war ein Mißverständnis, Rupert. Elsie ist im Park weggelaufen. Es war nichts.«

»Sind Sie sicher, Sam?«

Wir waren wie zwei Schachspieler, die gegenseitig ihre Verteidigung testen, ehe sie einen Zug akzeptieren, aufgeben und nach Hause gehen.

»Ja, ich bin sicher, Rupert.«

Ich konnte die Erleichterung am anderen Ende der Leitung spüren, und er verabschiedete sich herzlich und sagte, wir würden in Verbindung bleiben. Ich wußte, daß dies unser letztes Gespräch sein würde.

Ich hob Elsie aus der Badewanne, setzte sie im Bademantel aufs Sofa und stellte einen Teller mit Toast und Hefeextrakt auf ihren Schoß.

»Kann ich ein Video sehen?«

»Später vielleicht, nach dem Abendessen.«

»Kannst du mir eine Geschichte vorlesen?«

»Ja, bald. Ich dachte, wir könnten zuerst ein Spiel machen.«

»Können wir die Reise nach Jerusalem spielen?«

»Das ist schwer, wenn wir nur zu zweit sind und einer sich um die Musik kümmern muß. Ich sag dir was, in ein paar Wochen hast du Geburtstag, und wir spielen es dann auf deiner Geburtstagsparty.«

»Party? Geben wir eine Party. Geben wir wirklich eine Party?«

Ihr blasses Gesicht strahlte unter den blassen Sommersprossen.

Mit der Zungenspitze leckte sie sich etwas Hefeextrakt von den Lippen.

»Paß auf, das gehört zum Spiel, Elsie. Wir werden deine Party planen, und die wichtigsten Sachen für die Party tun wir in das sichere Haus.«

»Damit wir sie nicht vergessen!«

»Richtig, damit wir sie nicht vergessen. Wo fangen wir an?«

»An der Haustür.« Selig zappelte Elsie auf dem Sofa herum, eine klebrige Hand in meiner.

»Gut. Nehmen wir die Blättergirlande ab. Weihnachten ist längst vorbei. Was sollen wir statt dessen aufhängen für deine Party?«

»Ich weiß es: Ballons!«

»Ballons: einen roten, einen grünen, einen gelben und einen blauen. Vielleicht sind Gesichter aufgemalt!« In meiner Phantasie sah ich eine Reihe von kleinen Mädchen in ihren rosa und gelben Partykleidern. Ich erinnerte mich an die Feste, auf denen ich als Kind gewesen war: klebriger Schokoladenkuchen, Kekse mit rosa Glasur, Knabbereien und Limonade; blinde Kuh und Topfschlagen, damit jeder etwas gewann, Tanz- und Ratespiele; und am Ende der Party bekam jeder eine Tüte mit einer kleinen Packung Smarties und einem Plastikspielzeug, das eine Stunde lang bewundert und dann für immer vergessen wurde: eine Pfeife, ein unaufgeblasener, glänzender Luftballon.

Elsie sollte all das bekommen, all die billigen und geschmacklosen Dinge. »Und als nächstes?«

»Die Fußmatte, die Fußmatte, wo Finn ein Glas Milch hingestellt hat.«

»Ja. Na, ich denke, inzwischen haben wir sie bestimmt umgeworfen.« Elsie kicherte. »Was sollen wir statt dessen hinstellen?«

»Äh, was paßt denn auf eine Fußmatte, Mummy?«

»Tja, da gibt es jemanden, den wir sehr gern haben und der sich immer näher an deinen Toast heranmacht, also paß auf; und er schläft gern auf der Fußmatte.«

»Anatoly!«

»Er kann unsere Wachkatze sein. Und was stellen wir in die Küche? Wie wär’s mit etwas, das wir gekocht haben?«

Elsie hüpfte auf und nieder, so daß ihr der Teller vom Schoß rutschte und ich mir beim Auffangen die Finger klebrig machte.

»Mein Kuchen! Mein Kuchen, der die Form von einem Pferdehaus hat.«

Ich erinnerte mich. Das war bei der Geburtstagsparty einer Freundin, die Wände des Pferdestalls bestanden aus Schokoladenflocken, und in der Mitte standen Plastikpferdchen; nach der Hälfte der Party war Elsie schlecht geworden. Ich nahm sie in die Arme.

»Pferdekuchen. Und was steht auf dem Fernseher?« Sie zog die Stirn kraus. »Wie wär’s mit meinem Geburtstagsgeschenk für dich? Etwas, was du dir schon lange wünschst, vielleicht etwas, das singt.«

Sie bewegte sich nicht.

»Wirklich, Mummy, versprichst du’s? Darf ich wirklich?«

»Wir suchen ihn dieses Wochenende zusammen aus. Also ein Kanarienvogel auf dem Fernseher, der dauernd singt.«

»Kann ich ihn Yellowy nennen?«

»Nein. So, und was tun wir auf die Treppe?«

In diesem Punkt war sie entschieden: »Da will ich Thelma und Kirsty und Sarah und Granny und Grandpa, weil die alle zu meiner Party kommen. Und das Mädchen, mit dem ich heute in der Schule gespielt habe. Und die andere auch, die, mit der du mich gesehen hast. Ich möchte ihnen Einladungen schicken.«

»Gut, all deine Partygäste auf der Treppe. Was ist im Bad?«

»Das ist leicht. Mein rotes Boot mit dem Propeller, das nie untergeht, nicht mal in großen Wellen.«

»Gut.« Ein anderes Boot kam mir in den Sinn, zerschellt und in der brodelnden See versunken. »Und als nächstes?«

»Mein Schlafzimmer.«

»Was sollen wir denn in dein Bett legen, Elsie?«

»Können wir da meinen Teddybär hinlegen? Können wir ihn aus dem Umzugskarton nehmen, damit er die Party nicht verpaßt?«

»Natürlich. Ich hätte ihn überhaupt nicht einpacken sollen. So, und zum Schluß – ich weiß, was in meinem Bett ist.«

»Was denn?«

»In meinem Bett sind wir. Du und ich. Wir liegen ganz wach zusammen im Bett, die Party ist vorbei, alle unsere Gäste sind gegangen, und wir reden über die Geburtstage, die du noch feiern wirst.«

»Bist du ganz alt, Mummy?«

»Nein, bloß erwachsen, nicht alt.«

»Dann wirst du nicht bald sterben?«

»Nein, ich werde noch lange leben.«

»Wenn ich so alt bin wie du, bist du dann tot?«

»Vielleicht hast du dann Kinder, und ich bin eine Granny.«

»Können wir immer Zusammensein, Mummy?«

»Solange du willst.«

»Und kann ich jetzt ein Video sehen?«

»Ja.«

Ich schloß die Tür, hinter der Mary Poppins lief, und ging in die Küche, wo ich weit das Fenster öffnete. Die Geräusche Londons fluteten herein: Schulkinder auf dem Heimweg, kichernd oder streitend, synkopierte Musik aus einem Ghettoblaster, das Dröhnen und ungeduldige Röhren von Automotoren, Hupen in der Stop-and-go-Schlange, ein anhaltender Alarm, der ignoriert wurde, in der Ferne Sirenen, in der Luft ein Flugzeug. Ich atmete den Duft von Geißblatt, Abgasen, geröstetem Knoblauch und Großstadthitze ein – den Geruch der City.

Sie war irgendwo da draußen in diesem wunderbaren, unbegreiflichen Chaos, draußen in der Menge. Vielleicht war sie ganz in der Nähe, vielleicht aber für immer fort. Ich fragte mich, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Vielleicht würde ich eines Tages, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in einer Warteschlange am Flughafen oder auf dem Marktplatz einer fremden Stadt, ein glattes Gesicht erblicken, leicht schräg nach oben gerichtet, wie ich es so oft gesehen hatte, würde stehenbleiben, den Kopf schütteln und rasch weitergehen. Ich würde sie in meinen Träumen sehen, wo sie mich noch immer anlächelte. Ihre Freiheit war ein geringer Preis für Elsies Sicherheit. Und ich würde in die Zeitungen schauen. Sie war entkommen, aber sie war nicht mit dem Geld entwischt, davon hatte sie nichts gesehen. Was würde sie jetzt tun? Ich schloß die Augen und atmete, ein, aus, ein, aus, mitten im Getöse der Stadt.

Danny war tot, aber wir – ich und Elsie – hatten es überstanden.

Das war schon eine ganze Menge.

Aus dem Wohnzimmer hörte ich Mary Poppins fröhlich den Kindern und meinem Kind vorsingen. Ich stieß die Tür auf.

Elsie saß zurückgelehnt auf dem Sofa, die Beine hochgezogen, und starrte auf den Bildschirm. Ich kniete mich neben sie, und sie tätschelte mir abwesend den Kopf.

»Kannst du das mit mir angucken, Mummy, so wie Fing immer?«

Also blieb ich und sah zu, bis wir beide eingeschlafen waren.

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