»Ich weiß.«

»Ich liebe dich, du schwierige Frau.«

Ich antwortete nicht, und er sagte düster. »Ist das Wort für dich so schwer auszusprechen?«

11. KAPITEL

Wir standen nebeneinander vor dem langen Spiegel in meinem Schlafzimmer und sahen aus wie zwei Hexen bei einer Hexenversammlung. Ich trug einen schwarzen, knielangen Rock, ein schwarzes Hemd aus Rohseide und eine schwarze Weste, und dann, erstaunt darüber, wie sehr sich meine roten Haare von dieser dunklen Aufmachung abhoben, hatte ich noch einen schwarzen Glockenhut aufgesetzt. Finn trug ihren schwarzen Pullover mit Polokragen und darüber ein formloses, tiefschwarzes Mantelkleid, das ich ihr geliehen hatte. Es reichte ihr bis zu den Waden, und sie sah darin rührend und anmutig aus. Ihr Kopf mit dem glänzenden Haar reichte mir kaum bis zur Schulter; ihr Gesicht war blaß, und ihre Lippen sahen leicht angeschwollen aus. Plötzlich, ohne einen Blick von ihrem Spiegelbild zu wenden, machte sie eine kleine, verwirrende Wackelbewegung; eine knochige Hüfte ragte aus der Hülle hervor. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht gekichert und irgendeine spöttische oder selbstironische Bemerkung gemacht. Doch nun schwieg ich. Was konnte ich schon sagen?

Außerhalb des Spiegelbildes saß – nur eines ihrer rundlichen Knie ragte hinein – Elsie, die wegen einer Erkältung, theatralisch schniefend alle zwanzig Minuten demonstriert, nicht in der Schule war. Wenn ich mich umgedreht hätte – was ich noch nicht tun wollte, weil ich spürte, daß für Finn vor diesem Spiegel irgendein subtiles Drama ablief –, hätte ich sie dort sitzen sehen, die Beine unter den Körper gezogen, während sie sich mit den billigen runden Perlen schmückte, die sie aus einer Schatulle mit Deckel hervorkramte. So hörte ich sie vor sich hin murmeln: » Das sieht schön aus. Ich bin so stolz auf dich. Eine kleine Prinzessin.«

Draußen regnete es. Auf dem Land ist es bei Regen feuchter als in der Stadt. Das hat damit zu tun, daß all die Blätter und Grashalme mehr Oberfläche bieten. Ein großer Teil der Nässe schien auch noch in der Luft zu hängen, als seien das Sumpfland und der Schlamm schon so vollgesogen, daß sie nicht noch mehr Flüssigkeit aufnehmen konnten. Dies war mein Stückchen England, und es schien unklar, ob es sich im Meer oder an Land befand. Ein lautes Motorengeräusch und aufspritzender Kies signalisierten, daß sich ein Auto näherte.

»Danny«, sagte ich. Elsie rutschte von meinem ungemachten Bett, ein Durcheinander von Daunendecken hinter sich herziehend, Schnüre mit bunten Glasperlen um den Hals, eine Krone aus rosa Plastik auf dem Kopf, die von ihren wirren Haaren rutschte, als sie zur Treppe lief.

»Bist du sicher?« fragte ich Finn noch einmal. Sie nickte.

»Und du bist sicher, daß du mich auch dort haben willst?

Weißt du, ich werde nicht in deiner Nähe sitzen können.«

»Ja. Sicher.«

Ich war nicht sicher. Ich weiß, daß Beerdigungen uns helfen zu erkennen, daß geliebte Menschen tot sind und nicht wiederkommen; ich weiß, daß wir bei einer Beerdigung adieu sagen und zu trauern beginnen können. Ich war auf Beerdigungen – nun ja, speziell auf einer Beerdigung –

gewesen, wo das tatsächlich geschehen ist. Die vertrauten Worte berühren uns, und die Gesichter ringsum, die alle den gleichen trauernden, kummervollen Ausdruck haben, machen uns zu einem Teil der Gemeinschaft. Die Musik, das Schluchzen in der eigenen Brust, der Anblick des Sargs – das alles leitet die Trauerarbeit ein.

Doch bei dieser Beerdigung würden Polizei und Journalisten, Fotografen und Wichtigtuer anwesend sein, die sie neugierig beobachteten. Finn würde all die Leute treffen, vor denen sie sich seit dem Tag, an dem sie ihre Eltern verlor, versteckt hatte.

Wir würden von Polizisten in Zivil begleitet werden, die während der ganzen Zeremonie an ihrer Seite blieben, Leibwächter für ein noch immer gefährdetes Mädchen. Die Leute haben leicht reden, sich einem Verlust zu stellen, ihn zu bewältigen. Finn schien mehr Schutz als Selbsterkenntnis nötig zu haben. Vermeidung ist eine häufige und wenig empfehlenswerte Bewältigungsstrategie für Menschen, die nach einem traumatischen Erlebnis depressiv sind; und Finn ging ganz bestimmt vielem aus dem Weg. Aber ungefährliche, beruhigende Routineabläufe können den Heilungsprozeß fördern.

»Du hast die Wahl«, sagte ich. »Wenn du gehen willst, sag mir einfach Bescheid. In Ordnung?«

»Ich brauche nur …«

Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende.

»Dann komm und laß uns Danny begrüßen.«

Sie sah mich flehend an.

»Er wird dich nicht beißen. Zumindest nicht auf unangenehme Weise.«

Ich nahm Finn bei der Hand und zog sie aus dem Zimmer.

Später lachte Danny über den ersten Anblick von Finn, wie wir beide in melodramatischem Schwarz die Treppe herunterkamen, aber in diesem Moment sah er zu uns nach oben. Das Haar fiel ihm über die Schultern, und er lächelte nicht. Auch Finn lächelte nicht, doch sie zögerte auch nicht. Sie ließ meine Hand los, und wir beide – ich hinter ihr laut klappernd in meinen ledernen Schnallenschuhen, sie leise vorneweg in ihren Pumps – gingen nach unten. Sie blieb vor ihm stehen, winzig vor seiner massigen Gestalt, und sah zu ihm auf. Noch immer kein Lächeln, weder bei ihm noch bei ihr.

»Ich bin Finn«, murmelte sie leise hinter ihrem seidigen Haarvorhang hervor.

Danny nickte. Er streckte die Hand aus, und statt sie zu schütteln, legte sie ihre dünnen Finger in seine Handfläche wie ein kleines Kind, das beschließt, jemandem zu vertrauen. Erst dann sah Danny an Finn vorbei zu mir.

»Hi, Sammy«, sagte er ungezwungen, als wäre er nur eine Stunde fort gewesen und nicht beinahe zwei Wochen. »Weißt du, wie du aussiehst?«

»Ich bin sicher, du wirst es mir sagen.«

»Später.«

Elsie kam aus der Küche.

»Da ist ein Mann, der Mike heißt.«

»Es wird Zeit, daß wir gehen, Finn.«

Danny beugte den Kopf und küßte mich auf die Lippen. Ich legte die Handfläche an seine Wange, und er lehnte sich kurz dagegen. Wir lächelten uns an. Ich roch seine Haut. Dann gingen Finn und ich hinaus in den Regen. Daley stieg aus seinem Wagen. Er trug einen zerknitterten marineblauen Anzug mit breitem Revers. Er sah eher wie ein leicht verkaterter Jazzmusiker aus als wie ein Trauergast. Finn hielt plötzlich inne, mit einem Fuß schon im Wagen.

»Nein.«

Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken.

»Finn?«

Daley trat vor.

»Komm schon, Finn«, drängte er. »Es wird …«

Ich unterbrach ihn.

»Du mußt das nicht tun«, sagte ich.

»Sie gehen«, sagte Finn plötzlich. »Sie und Michael gehen für mich.«

»Finn, du solltest hingehen, finden Sie nicht auch, Sam?«

sagte Daley. »Du solltest Leute sehen.«

»Bitte, Sam. Bitte, gehen Sie für mich!«

Daley sah mich an.

»Sam, meinen Sie nicht, daß es gut für sie wäre, wenn sie hinginge? Sie kann nicht so weitermachen, überhaupt niemanden sehen zu wollen.«

Ein Ausdruck von Panik trat in Finns Augen. Ich wurde naß und wollte aus dem schlammigen Kies und dem strömenden Regen fort. Wir konnten sie nicht zwingen.

»Sie sollte selbst entscheiden«, sagte ich.

Ich winkte den Gestalten an der Tür zu, die herausgerannt kamen, um von der Änderung der Pläne zu erfahren. Mein letzter Blick galt Finn, als sie ins Haus geführt wurde, ein kleine, nasse Gestalt, die sich schlaff gegen Danny lehnte, während Elsie hinter ihnen herhüpfte und der Regen vom Himmel strömte.

Während des Gottesdienstes schwieg ich und verhielt mich still.

Daley schwieg ebenfalls, zappelte aber unablässig herum. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, rieb sein Gesicht, als könne er die dunklen Schatten unter seinen Augen wegwischen, die ihn so mitgenommen aussehen ließen, verschob sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Endlich legte ich ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

»Sie brauchen Urlaub«, flüsterte ich. Er lächelte zurück, weiße Zähne blitzten aus dem düsteren Grau. Eine ältere Frau, die links von mir saß, einen flachen Hut fest auf dem Kopf, sang.

»Bro-o-o-t des Hihi-hi-mmels«, trällerte sie in leidenschaftlichem Vibrato. Ich bildete die Worte nur mit den Lippen und sah mich um. Ich versuchte, ein Gefühl für Finns Welt und ihre Familie zu bekommen. Für mich war Finn einstweilen beklagenswert isoliert. Diese Beerdigung erschien mir unwirklich. Ich hatte überhaupt keine Beziehung zu dem toten Ehepaar, außer durch ihre Tochter. Ich wußte kaum, wie sie aussahen, bis auf das Foto, das ich in allen Zeitungen gesehen hatte – ein unscharfes Bild, das bei einem Wohltätigkeitsball aufgenommen worden war, er rundlich, sie hager, beide höflich jemandem außerhalb des Bildes zulächelnd, während die Tatsache ihres gräßlichen Todes sie in die Geschichte eingehen ließ. »Spei-ei-ei-se mich, bis ich gesä-ättigt bin.«

Manchmal frage ich mich, ob Menschen die Vorstadt an mir riechen können, wie Hunde angeblich die Angst wittern. Ich glaube, ich kann Reichtum und Ehrbarkeit aus einer Meile Entfernung riechen, und hier roch ich beides. Züchtige schwarze Röcke und ordentliche schwarze Handschuhe, graue Gabardinekostüme mit etwas Glänzendem am Hals, glatte schwarze Strumpfhosen, einfache, flache Schuhe (meine Schnallenschuhe glänzten auffallend in der dumpfen Atmosphäre der viktorianischen Kirche), kleine Ohrringe an hundert Ohrläppchen, Make-up, das man nicht sah, von dem man aber wußte, daß es sich auf den Gesichtern all der Frauen in mittleren Jahren befand, zurückhaltende Trauer, eine diskrete Träne hier und da, dezente und teure Sträuße aus Frühlingsblumen auf den beiden Särgen, die so kahl auf dem Katafalk standen. Einmal hatte ich eine Beerdigung arrangieren müssen, die Kataloge durchgesehen und das Vokabular gelernt.

Ich schaute von Gesicht zu Gesicht. In einer Bank vor mir saßen sieben Mädchen im Teenageralter; aus dem Winkel, in dem ich sie sah, überschnitten sich ihre hübschen Profile wie die von Engeln auf einer vergoldeten Weihnachtskarte. Ich bemerkte, daß sie sich alle an den Händen hielten, sich anstießen und gelegentlich die Köpfe schräg legten, um ein geflüstertes Wort von der einen oder anderen Seite aufzufangen. Finns Schulfreundinnen, entschied ich und beschloß, später einen Versuch zu machen, sie kennenzulernen. Mir gegenüber schluchzte eine plumpe Frau in glänzendem Schwarz mit einem großen Hut in ihr großes Taschentuch. Ich wußte sofort, daß sie die Reinemachefrau war, die, welche die Leichen gefunden hatte. Sie war der einzige Mensch, der geräuschvolle, würdelose Trauer an den Tag legte. Was würde aus ihr werden?

Schweigend knieten wir nieder, um der lieben Verstorbenen zu gedenken, und Dutzende alternder Knie knackten. Ich fragte mich, woran all diese Menschen sich erinnerten – welches Gespräch, welcher Streit, welcher kleine Vorfall ließ sie an die Toten denken? Oder dachten sie daran, ob sie den Herd angelassen hatten, überlegten, was sie zu dem Konzert heute abend anziehen sollten, fragten sich, ob vielleicht Schuppen auf ihren dunkel bekleideten Schultern sichtbar waren? Wer hatte Finn nahegestanden – wer waren die alten Freunde der Familie, die sie während ihrer ganzen Kinderjahre gekannt hatten, die sie hatten leiden sehen, die miterlebt hatten, wie sie zu einer hübschen jungen Frau heranwuchs, wie aus dem häßlichen Entlein ein anmutiger Schwan wurde? Wer waren die entfernten Bekannten, die nur aus Sensationslust gekommen waren?

»Vater unser«, intonierte der Vikar.

»Der Du bist im Himmel«, setzten wir gehorsam fort.

»Geheiligt werde Dein Name …« Und die Putzfrau, wie auch immer sie hieß, schluchzte weiter.

Ferrer, so war ihr Name. Sie blieb zurück, als sich die Menschen durch das Kirchenschiff nach draußen schoben. Ich bewegte mich gegen den Strom auf sie zu. Sie war kaum zu sehen, hockte geduckt zwischen zwei Bankreihen. Ich kam näher und sah, daß sie Dinge vom Boden aufhob und in ihre Tasche steckte. Sie schickte sich an, ihren Mantel anzuziehen, und stieß dabei ihre Tasche wieder um.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte ich, bückte mich und tastete unter den Bänken nach Schlüsseln und einer Geldbörse, nach Münzen und gefalteten Zetteln, die herausgefallen waren.

»Kommen Sie mit nach nebenan?« Ich sah ihr Gesicht aus der Nähe, die Haut war blaß, die Augen waren geschwollen vom Weinen. »Nebenan?«

Jemand tippte mir auf den Rücken. Ich drehte mich um und sah Detective Baird. Er nickte mir lächelnd zu, dann besann er sich und schaute finster drein.

»Sie kennen Mrs. Ferrer schon«, sagte er.

»Hat irgend jemand irgend etwas für diese Frau getan?« fragte ich.

Baird zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, sie geht in ein paar Tagen nach Spanien zurück.«

»Wie geht es Ihnen?« fragte ich die Frau. Sie antwortete nicht.

»Es ist schon gut«, sagte Baird mit der lauten, langsamen Stimme, die Engländer benutzen, wenn sie mit Ausländern reden. »Das ist Dr. Laschen. Sie ist Ärztin.« Mrs. Ferrer sah ängstlich und abwesend aus.

»Ähm … , Doctoray, Medico.«

Mrs.

Ferrer ignorierte mich und begann schnell und unzusammenhängend auf Baird einzureden. Sie hatte Sachen für das kleine Mädchen. Wo war es? Sie wollte nach Hause gehen und Miss Mackenzie Sachen bringen. Ihr auf Wiedersehen sagen. Sie mußte sich verabschieden, konnte nicht gehen, ehe sie sie gesehen hatte. Baird schaute nervös zu mir.

»Nun, Mrs. Ferrer, wenn Sie mir die Sachen geben, dann werde ich dafür sorgen …« Er sah mich an und nickte, mich auf diese Weise verabschiedend. »Keine Sorge, Doktor, ich bringe sie nach drüben.«

»Sie sehen aus, als würden Sie Bridge spielen. Helfen Sie uns aus?«

Zwei Frauen – eine mit kräftigem braunen Haar und einer stark ausgeprägten Nase, die andere kleiner, mit makellosem weißen Haar unter einem winzigen schwarzen Hut – zogen mich ins Gespräch. Als ich ungefähr dreizehn war, hatte meine Mutter mich gezwungen, dem Bridgeclub der Schule beizutreten; das sollte Teil meiner aufstiegsorientierten gesellschaftlichen Erziehung sein. Ich hatte etwa zwei Wochen durchgehalten, genug, um zu lernen, wie man die Punkte der Court-Karten zählt, aber das war alles.

»Wenn ich mit zwei Nichttrümpfen eröffne, was bedeutet das dann für Sie, eh?«

»Trümpfe«, sagte ich ernst. »Sind das die schwarzen Karten oder die roten?«

Ihre Gesichter wurden lang, und ich zog mich zurück, die Teetasse in der Hand, ein entschuldigendes Lächeln auf den Lippen. Drüben auf der anderen Seite der Halle sah ich Michael in ein Gespräch mit einem kahl werdenden Mann vertieft. Ich fragte mich, wer das alles arrangiert hatte – den Saal gemietet, die Sandwiches gemacht, den großen Teekessel bestellt. Doch plötzlich erregte etwas meine Aufmerksamkeit.

»Ich hatte gehofft, Fiona zu sehen, das arme Kind. Hat irgend jemand mit ihr gesprochen?«

Ich blieb stehen und trank aus meiner leeren Tasse.

»Nein«, kam die Antwort, »ich glaube nicht. Ich habe gehört, sie wäre ins Ausland geschickt worden, damit sie sich erholt. Ich glaube, sie haben Verwandte in Kanada oder sonstwo.«

»Ich habe gehört, sie wäre noch im Krankenhaus oder in einem Pflegeheim. Sie wäre fast gestorben, wissen Sie. Das arme Herzchen. So ein nettes, vertrauensvolles Mädchen. Wie soll sie das jemals überwinden?«

»Monika sagt« – die Stimme hinter mir senkte sich zu einem Bühnenflüstern, so daß ich sie deutlicher als zuvor verstehen konnte –, »daß sie, nun ja, vergewaltigt wurde, wissen Sie.«

»Nein, wie schrecklich.«

Ich entfernte mich, dankbar, daß Finn das erspart geblieben war. Die Trauerarbeit konnte warten. Baird hatte gehorsam mit Mrs. Ferrer in einer Ecke gestanden, und ich sah sie zusammen in Richtung Tür gehen. Ich fing Mrs. Ferrers Blick auf, und sie kam zu mir herüber, ergriff meine Hand und murmelte etwas, das sich nach Dank anhörte. Ich versuchte ihr zu sagen, wenn ich irgend etwas für sie tun könne, wäre ich gern dazu bereit, und ich würde mir von Baird ihre Adresse geben lassen und sie besuchen. Sie nickte, aber ich war nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte. Dann ließ sie meine Hand los und wandte sich ab.

»Wie geht es der Reinemachefrau?« sagte eine Stimme hinter mir. Es war Michael Daley.

»Sind Sie nicht ihr Arzt?«

»Sie steht in meiner Kartei. Ich habe sie aufgenommen, um den Mackenzies einen Gefallen zu tun.« Daley drehte sich um und sah ihr stirnrunzelnd nach, während sie aus dem Saal ging, ehe er sich wieder zu mir wandte. »Weiß sie, wer Sie sind?«

»Baird hat uns bekannt gemacht, aber ich glaube nicht, daß sie die Verbindung zwischen mir und Finn versteht«, sagte ich.

»Was wollte sie?«

»Hilfe, würde ich sagen, und dringende dazu. Und sie möchte Finn ein paar von ihren Sachen geben. Und sie sehen, bevor sie nach Spanien zurückgeht.«

Daley nippte nachdenklich an seinem Sherry.

»Für mich hört sich das gut an«, sagte er. »Ich würde meinen, es wäre auch gut für Finn, jemanden zu sehen, den sie kennt.«

»Ich weiß nicht, ob es ungefährlich ist, aber andererseits ist sie vielleicht ein Besuch, der nicht bedrohlich wirkt«, sagte ich.

»Das ist schon in Ordnung«, meinte er.

Es trat eine Pause ein. Halb lächelnd sagte er: »Da sind ein paar Leute, mit denen ich vielleicht reden sollte. Ich nehme Sie dann mit, wenn ich gehe.«

In einer Ecke des Raums standen zusammengedrängt die Mädchen, die ich in der Kirche bemerkt hatte. Ich ging zu ihnen hinüber, und als eine von ihnen mich ansah, trat ich in ihren Kreis.

»Sie sind sicher Freundinnen von Finn.«

Ein großes Mädchen mit dunklem, schulterlangem Haar und Sommersprossen auf der kecken Nase streckte die Hand aus und sah mich und dann ihre Freundinnen argwöhnisch an. Wer war ich?

»Nur aus der Schule«, sagte sie.

Ich hatte etwas über Finn von Leuten erfahren wollen, die sie kannten, aber jetzt fiel mir nichts ein, was ich hätte sagen können.

»Ich kannte ihren Vater. Beruflich.«

Sie nickten mir alle zu, waren aber nicht neugierig. Sie warteten darauf, daß ich weiterging.

»Wie ist Finn?« fragte ich.

»Wie sie ist?« Das kam von einem blonden Mädchen mit kurzem Haar und scharfgeschnittener Nase. »Sie ist lieb.« Sie sah sich um, Bestätigung heischend. Die Mädchen nickten.

»Sie war lieb«, sagte ein anderes Mädchen. »Ich bin im Krankenhaus gewesen, um sie zu besuchen. Man ließ mich nicht mal in ihre Nähe. Kommt mir ziemlich blöd vor.«

»Ich nehme an …«

»Können wir gehen?«

Ich fuhr herum und sah Michaels Gesicht. Er hakte einen Arm unter meinen Ellbogen und nickte den Mädchen zu. Sie erwiderten sein Lächeln in einer Weise, wie sie es bei mir nicht getan hatten.

Der Parkplatz der kleinen Pfarrkirche in Monkeness lag direkt an der Ufermauer, und wir blieben einige Minuten dort sitzen.

Ich knabberte an einem Stück Nußkuchen, das ich mir beim Hinausgehen von einem Tablett genommen hatte, und Michael zündete sich eine Zigarette an. Er brauchte mehrere Streichhölzer.

»Kam Finn gut mit ihren Eltern aus?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Standen sie sich nahe? Haben sie gestritten? Helfen Sie mir, Michael, ich lebe mit diesem Mädchen.«

Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und machte eine hilflose Geste.

»Ich denke, sie standen sich ziemlich nahe.«

»Michael, da muß es Probleme gegeben haben. Sie kam wegen Depression und Anorexie ins Krankenhaus. Sie waren ihr Arzt.«

»Ja, das war ich«, sagte er und schaute von mir weg über das dunstige Meer. »Sie war ein Teenager, das ist für die meisten von uns eine schwierige Zeit, und so …« Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Satz in der Luft hängen.

»War es schlimm für Sie? Sie waren doch mit ihren Eltern befreundet, nicht?«

Daley wandte sich um und sah mich mit seinen dunklen, müden Augen an.

»Es war sehr schwer für mich als Freund von Leo und Liz. Hat die Polizei Ihnen erzählt, was man ihnen angetan hat?«

»Ein bißchen. Es tut mir leid.«

Wir stiegen in den Wagen und fuhren los. Die Landschaft wirkte grau, struppig, konturlos. Ich wußte, daß es an meiner eigenen Stimmung lag. Ich war bei einer Beerdigung gewesen und empfand keine Trauer. Ich hatte bloß unnötig nachgedacht.

Ich sah aus dem Fenster. Nichts als Schilf.

»Ich bin nicht die Richtige für Finn«, sagte ich. »Und ich war heute nicht besonders stolz auf mich.«

Michael sah mich an.

»Warum?«

»Ich glaube, Finn hat mir etwas mitgeteilt, indem sie wollte, daß ich zur Beerdigung ihrer Eltern gehe, und ich habe bloß herumgeschnüffelt und herauszufinden versucht, wie sie war.«

Michael schien überrascht.

»Warum haben Sie das getan?« fragte er.

»Ich kann eine Patientin nicht in einem Vakuum sehen. Ich brauche einen Kontext.«

»Und was haben Sie erfahren?«

»Nichts, was ich nicht schon wüßte: daß wir auch unsere engen Freunde und Verwandten nur merkwürdig vage kennen.

Lieb. Ich habe erfahren, daß Finn lieb ist.«

Er legte die Hand auf meinen Arm, nahm sie weg, um einen anderen Gang einzulegen, und legte sie dann wieder hin.

»Sie hätten es mir sagen sollen. Wenn Sie möchten, mache ich Sie mit einigen Leuten bekannt, die die Familie gut kannten.«

»Das wäre gut, Michael.«

Er drehte sich zu mir und lächelte mich verschmitzt an.

»Ich bin Ihr Passierschein für die bessere Gesellschaft auf dem Land, Sam.«

»Sie werden mich nicht wollen, Michael. Ich stamme aus der unteren Mittelklasse.«

Er lachte.

»Ich bin sicher, daß sie in Ihrem Fall eine Ausnahme machen werden.«

12. KAPITEL

»Sie hält mich für einen Nichtstuer. Warum sollte ich höflich zu ihr sein?«

»Du bist ein Nichtstuer! Versuch, wenigstens nicht allzu ruppig zu sein. Oder mach einen langen Spaziergang und sei überhaupt nicht hier.«

Danny legte eine Hand um meine Taille, während ich am Spülbecken stand, und biß mich in die Schulter.

»Ich habe Hunger, und ich bin gern hier.«

»Ich wasche das Geschirr ab«, sagte ich unwirsch. Danny ging mir heute auf die Nerven, wie er mir gestern auf die Nerven gegangen war. Nachdem wir von der Beerdigung zurückgekommen waren, Finn ausführlich davon erzählt hatten und Michael Daley auf einen Drink geblieben war – Danny hatte ihn düster angestarrt, als hätten er und ich den Tag zusammen im Bett verbracht und nicht auf einer Beerdigung, während Michael merkwürdig nervös auf ihn reagierte –, hatten wir eine leidenschaftliche Wiedervereinigung gefeiert, als Elsie im Bett war; aber die beiden folgenden Tage waren nicht gut verlaufen.

Danny hatte rumgehangen, wie es seine Art war, hatte ausgiebig gefrühstückt, während Sally um ihn herum saubermachte, war erst gegen Morgen ins Bett gekommen und hatte sich mit nach Bier riechendem Atem an mich gedrückt – und das hatte mich geärgert. Er hatte sich für Finn nicht zusammengenommen, obwohl er auch nicht richtig grob gewesen war, und auch das hatte mich gereizt. Er hatte sein Geschirr ungewaschen im Spülbecken stehenlassen und seine Kleider ungewaschen in die Ecke meines Zimmers geworfen, er hatte meinen Kühlschrank fast leergegessen, ohne irgend etwas Neues zu besorgen, und dann war ich über meine eigene Pingeligkeit verärgert. Wollte ich nicht, daß Danny Danny war? »Kannst du nicht wenigstens den Tisch decken oder so?« beschwerte ich mich.

»Den Tisch decken? Laß sie doch ihre Gabel selbst aus der Schublade nehmen. Sie wird frühestens in einer Viertelstunde hier sein. Warum gehen wir nicht einfach nach oben?« Jetzt waren seine Hände unter meiner Bluse.

Ich stieß seine herumwandernden Finger mit meinen seifigen weg.

»Elsie und Finn sind nebenan.«

»Sie haben erst das halbe Rätsel gelöst.«

»Es ist ganz nett, sie hierzuhaben, nicht?«

Danny ließ mich los und setzte sich schwerfällig an den Küchentisch. »Tatsächlich?« fragte er.

»Was paßt dir daran nicht?«

»O Gott«, er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, »ich will nicht über deine Patientin reden.«

Ich nahm fünf Gabeln aus dem Plastikkorb neben der Spüle und knallte sie vor ihn auf den Tisch.

»Im Kühlschrank ist Quiche. Mach sie warm. Eiscreme ist im Tiefkühlschrank. Ich glaube, du bist eifersüchtig auf sie.«

»Warum sollte ich denn eifersüchtig sein?« Jetzt hatte Danny die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich an.

»Weil ich sie mag und Elsie sie mag und du dich nicht ganz so sehr als Schloßherr fühlst, wenn du geruhst, uns auf dem Land zu besuchen – deswegen.«

»Und weißt du, was ich denke, Sam? Ich denke, du hast aufgehört, Arbeit und Privatleben zu trennen. Du bist in Schwierigkeiten. Und denk auch darüber nach, wenn du schon einmal dabei bist: Zuerst muß ich mit einem toten Mann um deine Liebe konkurrieren und dann mit einem kranken Mädchen. Wie kann ich da jemals gewinnen?«

Jemand klopfte laut an die Haustür. Diesmal war ich froh, daß Roberta zu früh gekommen war.

Manchmal bin ich unfreundlich zu Roberta, weil ich Angst vor den gemischten und widersprüchlichen Gefühlen habe, die sie in mir hervorruft. Ich will nicht wissen, ob sie unglücklich ist. Als wir Mädchen waren, war Roberta die designierte Schönheit, und ich war die Intelligente. Sie hatte nie eine Chance. Sie trug die rosa Kleider und hatte im Regal in ihrem Zimmer Reihen von Puppen stehen; ich trug Hosen (auch wenn sie, was ich verabscheute, Stege an den Hosenbeinen und keine Taschen hatten) und las mit der Taschenlampe unter der Bettdecke Bücher. Sie bemalte ihre manikürten Fingernägel mit Perlmuttlack (ich biß meine ab), trug hübsche Blusen und zupfte sich die Augenbrauen. Als ihre Brüste sich zu entwickeln begannen, unternahmen sie und Mutter eine besondere Einkaufsfahrt zu Stacey’s, wo sie niedliche kleine Büstenhalter und passende Höschen erstanden. Als sie ihre Periode bekam, umgab etwas Glamouröses und Geheimnisvolles die Damenbinden und die Blutflecken. Sie war ein unsicheres kleines Mädchen, das tapfer und voller Angst zur Frau wurde, als sei das ihre schreckliche Berufung.

Während ich im Sussex Zweiundsiebzig-Stunden-Schichten als Assistenzärztin ableistete, wurde sie Mutter und wohnte in Chigwell, und während ich dünn und abgehärmt und schließlich älter wurde, wurde sie runder, müder und ebenfalls älter. Ihr Mann nannte sie »Bobbsie« und erzählte mir einmal, meine Schwester backe die besten Scones in ganz Essex. Was aber dachte sie, wenn sie mich betrachtete? Sah sie eine erfolgreiche Ärztin? Oder sah sie eine hagere, unverheiratete Mutter mit einem vulgären Gelegenheitsfreund und ordinären roten Haaren, die nicht einmal Quiche backen konnte, wenn ihre Schwester zum Mittagessen kam?

»Und wie gefällt es Ihnen, bei Sam zu wohnen, Fiona?«

»Es ist nett.«

Finn hatte ihr Essen kaum angerührt. Einmal Anorexie, immer Anorexie, heißt es, wie bei Alkoholikern und Rauchern. Sie hatte mit einem halb ängstlichen Lächeln auf den Lippen dagesessen, während Danny schlaff am Tisch hing und flapsig kokettierende Bemerkungen machte, ich schimpfte und Bobbie fröhlich verkündete, wir müßten uns alle viel häufiger sehen.

»Gefällt Ihnen das Landleben, oder ziehen Sie die Stadt vor?«

Bobbie, in Gesellschaft immer ein wenig unsicher, klang, als redete sie mit einer Sechsjährigen.

»Ich weiß nicht recht …«

»Tante Bobbie?« Elsie hatte darauf bestanden, so dicht bei Roberta zu sitzen, daß sie praktisch auf ihrem Schoß hockte.

Ihre spitzen kleinen Ellbogen stießen meine Schwester jedesmal an, wenn sie mehr Schokoladeneis in ihren verschmierten, gierigen Mund schob.

»Ja, Elsie.«

»Rate mal, was ich werden will, wenn ich groß bin.«

Das war die Art von Gespräch, mit der Bobbie umgehen konnte. Sie wandte sich von den drei erwachsenen Gesichtern ihr gegenüber ab.

»Laß mich mal überlegen. Ärztin wie deine Mummy?«

»Nie im Leben!«

»Äh, Krankenschwester?«

»Nein.«

»Tänzerin?«

»Nein. Gibst du auf? Eine Mummy, so wie du.«

»Ach, das ist ja süß.«

Danny grinste und löffelte mehr Eis auf seinen Teller, verzehrte es laut schmatzend. Ich schaute ihn an.

»Du bist ihr Rollenmodell, Roberta«, sagte er.

Bobbie lächelte unsicher. Wir schikanieren sie, dachte ich.

»Laß mich abwaschen«, sagte sie und stapelte klappernd die Teller aufeinander.

»Ich setze Wasser auf«, sagte ich, »und dann können wir vielleicht alle einen Spaziergang machen.«

»Ich nicht«, sagte Danny. »Ich bleibe hier und lege mich ein bißchen hin, denke ich. Das tue ich wirklich gern, was, Sammy?«

Finn folgte Roberta und mir in die Küche. Sie wandte sich an meine Schwester, die wütend bereits saubere Teller schrubbte.

»Wo haben Sie Ihren Pullover gekauft?« fragte sie. »Er ist hübsch. Er steht Ihnen.«

Ich blieb mitten im Raum stehen, den Wasserkessel in der Hand. Bobbie lächelte entzückt und verlegen.

»In einem kleinen Laden ganz bei uns in der Nähe, ich dachte, ich würde darin vielleicht zu dick aussehen.«

»Überhaupt nicht«, sagte Finn.

Eine Welle von Gefühlen überrollte mich – Erstaunen über Finns Sicherheit im Auftreten, Scham, weil ich Bobbie so vernachlässigte, Zärtlichkeit für meine Schwester, die man mit einer so kleinen Bemerkung glücklich machen konnte. Aber dann hörte ich, wie Bobbie Finn fragte, was genau sie denn eigentlich studiere. Es läutete an der Haustür, ich hörte Stimmengemurmel, und dann erschien Danny an der Küchentür.

»Ein Mann namens Baird«, sagte er.

»Ich spreche in der Küche mit ihm. Kannst du die anderen ins Wohnzimmer bringen?«

»Ich fühle mich wie ein verdammter Butler«, sagte Danny und sah zu Roberta hinüber.

Baird setzte sich an meinen Küchentisch und spielte mit einem Becher herum.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nein, danke. Ihr Dunstabzug muß repariert werden. Ich könnte ihn mir ansehen, wenn Sie wollen. Ihn auseinandernehmen.«

Ich setzte mich ihm gegenüber.

»Was gibt es?«

»Ich kam zufällig vorbei.«

»Niemand kommt zufällig an Elm House vorbei.«

»Dr. Daley sagt, daß Miss Mackenzie gewisse Anzeichen von Besserung erkennen läßt.«

»Ein paar.«

»Hat sie irgend etwas über das Verbrechen gesagt?«

»Rupert, ist etwas passiert?«

»Alles bestens«, sagte er förmlich. »Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht.«

»Bei uns ist auch alles bestens.«

Er stand auf, als wollte er gehen.

»Ich möchte Sie nur bitten«, sagte er, als sei ihm das gerade erst eingefallen, »daß Sie weiterhin auf alles Ungewöhnliche achten.«

»Natürlich.«

»Nicht, daß da irgend etwas wäre, aber wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt oder wenn Miss Mackenzie irgend etwas sagt, wählen Sie 999, und verlangen Sie Stamford Central 2243. Das ist der schnellste Weg, mich jederzeit zu erreichen, Tag und Nacht.«

»Aber ich werde diese Nummer natürlich nicht brauchen, Rupert, weil Sie mir ja erklärt haben, wie vollkommen ungefährlich die Situation ist und daß ich mir keine Sorgen zu machen brauche.«

»Absolut nicht. Und das gilt noch immer, obwohl wir gehofft hatten, es wäre inzwischen schon zu einer Verhaftung gekommen. Ist das die einzige Tür nach draußen, abgesehen von der Haustür?« Er griff nach der Klinke und probierte sie aus. Sie schien nicht sehr stabil.

»Sollte ich Gitter anbringen lassen?«

»Natürlich nicht.«

»Rupert, es wäre bestimmt hilfreicher, wenn Sie mir sagen würden, nach wem ich Ausschau halten soll.«

»Sie sollen überhaupt nach niemandem Ausschau halten.«

»Haben Sie einen Verdächtigen oder eine Beschreibung oder ein Phantombild?«

»Wir gehen verschiedenen Möglichkeiten nach.«

»Rupert, hier wird nichts passieren. Keiner kümmert sich um Finn, und keiner weiß, daß sie hier ist.«

»Das ist der Sinn der Sache.«

»Mein Gott, Rupert, da war doch dieser Brand in einem Fuhrpark am Montag. Wie viele Kälbertransporter wurden zerstört? Vierzig?«

»Vierunddreißig Lastwagen erlitten Schäden verschiedenen Ausmaßes.«

»Sollten Sie also nicht unterwegs sein und den Tierfreunden Schwierigkeiten machen, statt mir Angst einzujagen?«

»Ich denke, daß einige meiner Kollegen auch dort ermitteln.

Tatsächlich …« Er beendete den Satz nicht.

»Haben Sie einen Verdächtigen? Weshalb sind Sie wirklich hier?«

»Ich wollte nur mal vorbeischauen. Und jetzt gehe ich. Wir bleiben in Verbindung.«

»Möchten Sie Finn sehen?«

»Besser nicht. Ich will sie nicht nervös machen.«

Wir gingen zusammen zu seinem Wagen. Mir kam ein Gedanke.

»Haben Sie von Mrs. Ferrer gehört?«

»Nein.«

»Sie wollte Finn besuchen, ihr ein paar Sachen bringen, und ich dachte, es könnte Finn helfen, sie zu sehen.«

»Das ist im Augenblick wohl keine so gute Idee.«

»Aber vielleicht könnte ich sie besuchen. Ich fürchte, keiner hat sich in irgendeiner Weise um sie gekümmert. Und ich würde mit ihr auch gern über die Familie sprechen, über Finn. Könnten Sie mir vielleicht ihre Adresse geben?«

Baird blieb stehen und schaute zu meinem Haus zurück, anscheinend tief in Gedanken versunken. Er rieb sich die Augen.

»Ich werde darüber nachdenken.«

Wir verabschiedeten uns, und für den Bruchteil einer Sekunde hielt er meine Hand fest. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir etwas sagen, aber er schwieg und nickte nur zum Abschied. Als ich mich umdrehte, um ins Haus zurückzugehen, sah ich Finns blasses Gesicht am Fenster. So leicht würde ich mich nicht abspeisen lassen. Und alles, was die Begegnung mit Danny und Roberta um ein paar Minuten hinauszögerte, war mir recht. Ich nahm den Telefonhörer und rief Michael Daley an.

13. KAPITEL

»Wie kommen Sie zurecht?« fragte Daley.

»Womit?«

Er lachte.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mit Finn. Mit einem Kind. Mit dem Umzug aufs Land. Einem tollen neuen Job.«

»Ich komme zurecht. Ja, das tue ich.«

Michael fuhr mich auf der Ringstraße von Stamford in die Gegend von Castletown, wo Mrs. Ferrer wohnte. Michael hatte sich zuerst gesträubt, aber ich sagte ihm, nachdem ich Mrs.

Ferrer getroffen hätte, fühlte ich eine gewisse Verantwortung für sie. Ich machte mir Sorgen um ihre Gemütsverfassung. Und ich dachte, wenn sie Finn sehen wollte, wäre das vielleicht für beide gut. Ich wollte sie unbedingt dazu ermutigen. Gewiß, sie hatte ziemlich entschlossen gewirkt, Finn aufzuspüren und sich zu verabschieden. Ich wollte in jedem Fall mit ihr sprechen. Nein, ich wollte mich nicht am Telefon mit ihr unterhalten, denn nach meiner Erfahrung bei der Beerdigung würde es viel Geduld erfordern – von Zeichensprache ganz zu schweigen –, einen sinnvollen Kontakt zu ihr herzustellen.

»Geben Sie mir einfach ihre Adresse, und ich werde vormittags hinfahren.«

»Ich glaube, daß sie vormittags arbeitet. Wenn Sie bis zum Nachmittag warten können, komme ich mit. Schließlich gelte ich als ihr Arzt. Es könnte wie ein Hausbesuch aussehen.«

Unterwegs zeigte Michael mir Überreste römischer Festungen, die Spuren einer Belagerung im Bürgerkrieg, einen alten Berg, aber dann ließen wir die interessanten lokalen Sehenswürdigkeiten hinter uns und fuhren zwischen Schulsportplätzen, Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, Einkaufsmärkten und Tankstellen dahin, über die es nichts zu sagen gab.

»Wie kommen Sie zurecht?«

»Gut«, sagte Daley ein wenig scharf. »Warum fragen Sie?«

»Aus Höflichkeit.«

»Zu mir brauchen Sie nicht höflich zu sein.«

»Sie haben mich noch nicht erlebt, wenn ich unhöflich bin.«

»Ich würde damit fertig.«

Michael wandte den Blick nicht von der Straße, und ich konnte den Ausdruck seiner Augen nicht sehen.

»Paßt es Ihnen nicht, daß ich hier bin?« fragte ich.

»In meinem Wagen?«

»Hier, auf der Bildfläche. Schließlich sind Sie doch Finns Arzt.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nichts dagegen habe.«

»Es wäre nur natürlich.«

»Sie meinen, weil ich ein schlichter Allgemeinarzt in der Provinz bin und Sie eine hochgestellte Chefärztin?« Er schaute zu mir, um sich zu vergewissern, ob ich schockiert war.

»Sie sind nicht gerade das, was ich mir unter einem Landarzt vorstelle«, sagte ich. »Das ist ein Kompliment, glaube ich. Oder so etwas Ähnliches. Aber ich bin überrascht, daß Ihnen das genügt.«

Jetzt befanden wir uns in einer Wohngegend mit Terrassenhäusern.

»Wenn wir hier links abbiegen würden, kämen wir zum alten Haus der Mackenzies. Aber wir biegen rechts ab, in den etwas zweifelhaften Teil von Castletown. Ich glaube, wir sind uns ähnlich, Sie und ich.«

Ich grinste über seinen offensichtlichen Flirtversuch.

»Wieso?«

»Wir mögen Herausforderungen. Wir gehen auf die Dinge zu.«

»Worauf gehen Sie zu?«

»Als Kind hatte ich Höhenangst. Es gab eine Art Turm in der Nähe meiner Schule, ein Denkmal, das ein exzentrischer alter Herzog hatte erbauen lassen. Es hatte hundertsiebzig Stufen, und wenn man ganz oben war, hatte man ein Gefühl, als würde man fallen. Ich zwang mich während des Schuljahres, jede Woche hinaufzugehen.«

»Und, hat Sie was von Ihrer Höhenangst kuriert?«

»Nein. Dann wäre es langweilig geworden. Meine Arbeit ist bloß ein Job. Außer für Leute wie Mrs. Ferrer natürlich. Aber mein wirkliches Leben spielt sich woanders ab. Ich zwinge mich zu Dingen. Gleitschirmfliegen. Reiten. Sind Sie je gesegelt?«

»Nein, ich hasse Wasser.«

»Sie können nicht hier wohnen und nicht segeln. Sie müssen mal auf mein Boot kommen.«

»Tja …«

»Dieses Auto ist ein anderes Beispiel. Verstehen Sie etwas von Autos?«

»Mir kommt es nicht so vor, als wären wir uns ähnlich. Ich tue niemals Dinge, vor denen ich Angst habe.«

»Hier irgendwo muß es sein.«

»Hier? Dürfen wir denn hier parken?«

»Vertrauen Sie mir. Ich bin Arzt. Ich habe einen Aufkleber an der Windschutzscheibe. Ich mache einen Hausbesuch.«

»Wohnt sie bei Woolworth?«

Wir befanden uns in einer geschäftigen Einkaufsstraße.

Mrs. Ferrer wohnte in einer der Wohnungen, die man nicht bemerkt. Eine Haustür zwischen Geschäften führte in den ersten Stock, von dem man nicht angenommen hätte, daß es ihn gibt.

Durch eine Tür gelangte man von der Straße aus über ein paar mit grauem Teppich belegte Stufen zu einem Treppenabsatz, von dem zwei Türen abgingen. An der einen hing das Namensschild eines Zahnarztes, an der anderen stand nichts.

»Das muß es sein«, sagte Daley. »Praktisch zum Einkaufen jedenfalls.«

Es gab weder eine Klingel noch einen Türklopfer. Er klopfte mit dem Fingerknöchel an die Tür. Wir warteten in unbehaglichem Schweigen. Niemand erschien. Er klopfte noch einmal. Nichts.

»Vielleicht arbeitet sie«, schlug ich vor.

Daley drehte am Türknopf. Die Tür ließ sich öffnen.

»Ich glaube nicht, daß wir reingehen sollten«, sagte ich.

»Das Radio ist an.«

»Vermutlich hat sie vergessen, es auszuschalten, als sie wegging.«

»Vielleicht kann sie uns nicht hören. Gehen wir nach oben und sehen nach.«

Es folgten weitere Stufen. Diesmal ohne Teppich. Als ich oben angekommen war, wehte mir stickige heiße Luft entgegen.

Michael schnitt eine Grimasse.

»Stimmt etwas mit der Stromversorgung nicht?« fragte ich.

»Erinnerung an Spanien, nehme ich an.«

»Mrs. Ferrer!« rief ich. »Hallo? Wo ist das Radio?«

Michael wies nach vorn in die winzige, schmutzige Küche.

»Ich suche die Heizung«, sagte er.

Ich ging in die Küche, in der blechern die Musik spielte. Ich fand das Radio neben dem Spülstein, drückte vergeblich auf Knöpfe und zog dann den Stecker aus der Wand. Ich hörte einen Schrei, den ich zuerst für ein verspätetes Plärren aus dem Radio hielt, aber dann erkannte ich, daß es mein Name war: »Sam!

Sam!« Ich rannte weiter ins andere Zimmer und stieß auf eine seltsame Szene. Als ich, nur wenige Minuten später, daran zurückdachte, konnte ich mich nicht mehr erinnern, wie ich sie in meinem Kopf gedeutet hatte. Ich konnte eine vollständig bekleidete Frau auf dem Bett liegen sehen, in einem grauen Rock mit buntem Nylonpullover. Kein Kopf. Doch, da war ein Kopf, aber er wurde von etwas verdeckt, und Michael zog und riß hektisch daran herum. Es war Plastik, eine Tüte, wie man sie im Supermarkt für Obst bekommt. Michael steckte der Frau die Finger in den Mund und drückte dann fest auf ihre Brust, während er etwas mit ihren Augen machte. Ich sah mich nach einem Telefon um. Dort. Ich wählte.

»Bitte einen Krankenwagen. Was? Wo wir sind? Michael, wo sind wir?«

»Quinnan Street.«

»Quinnan Street. Bei Woolworth. Über Woolworth, glaube ich.

Und die Polizei auch.« Wie hieß er noch? Rupert. Rupert.

»Sagen Sie Inspector Baird vom Stamford CID Bescheid.«

Ich legte den Hörer auf und sah mich um. Michael saß jetzt reglos da, verdeckte den größten Teil von Mrs. Ferrers Körper, obwohl ich ihre offenen Augen und ihr wirres graues Haar sehen konnte. Er stand auf und ging an mir vorbei. Ich hörte in der Küche einen Wasserhahn laufen. Ich ging hinüber und setzte mich neben die Leiche. Ich berührte ihr Haar und versuchte, es ein wenig zu ordnen, nur konnte ich mich nicht erinnern, wie es liegen sollte. Wer war noch da, der es wußte?

»Es tut mir leid«, sagte ich laut zu mir selbst, zu ihr. »Es tut mir so furchtbar leid.«

Der Krankenwagen war innerhalb von fünf Minuten da. Ein Mann und eine Frau in grünen Overalls kamen hereingerannt, wurden dann langsamer und hielten nach einer kurzen Untersuchung der Leiche inne. Sie sahen sich um, als erwachten sie aus einem Traum und sähen uns zum erstenmal. Während wir uns vorstellten, kamen zwei junge Constables die Treppe herauf. Ich fragte nach Baird, und einer von ihnen sprach in ein Funkgerät. Ich flüsterte mit Daley, fühlte mich schuldig, als wären wir Verschwörer.

»Wie ist sie gestorben?« Ich kannte die Antwort.

Er sah benommen aus.

»Plastiktüte«, murmelte er. »Über den Kopf. Erstickt.«

Ich spürte Schmerzen im Magen, die durch den Ösophagus aufzusteigen schienen und zu pochenden Kopfschmerzen wurden. Ich konnte nicht klar denken, wußte nur, daß ich am liebsten gegangen wäre, aber es nicht konnte. Ich war seltsam erleichtert, als ein paar Minuten später Baird erschien und in Begleitung eines zerstreut und zerknittert aussehenden Mannes, der mir als Kale, der Polizeipathologe, vorgestellt wurde, ins Zimmer trat. Mit einem Nicken ging Baird an mir vorbei und stand einen Moment schweigend vor der Leiche. Dann drehte er sich zu mir um.

»Was wollen Sie hier?« fragte er in gedämpftem Ton.

»Ich machte mir Sorgen um sie«, sagte ich.

»Aus gutem Grund, wie es scheint. Ist die Leiche bewegt worden?«

»Nein. Michael hat versucht, sie wiederzubeleben.«

»Ist der Tod erst vor kurzem eingetreten?«

»Keine Ahnung. Bei dieser Hitze ist das schwer zu sagen.«

Baird schüttelte den Kopf.

»Schrecklich«, sagte er.

»Ja«, sagte ich.

»Sie brauchen nicht zu bleiben. Keiner von Ihnen.«

»Ich denke, wir sollten es Finn besser sagen.«

»Das würde ich gern selbst tun, wenn es Ihnen recht ist.« Das war Michael. »Ich bin schließlich ihr Arzt.«

»Ja, das sind Sie.«

Und so fuhren wir auf lächerlich umständliche Art zurück nach Elm House. Michael fuhr mich zu seiner Praxis, wo ich meinen Wagen abgestellt hatte. Dann fuhren wir im Konvoi aus Stamford hinaus. Während der ganzen Fahrt dachte ich an diese Frau, die an den Schauplatz eines Verbrechens kommt, das Blut und das Leid sieht, damit nicht fertig wird, aber niemand hat, der ihr hilft. Und ich hatte das bereits gewußt und war zu spät gekommen.

Wir trafen Finn in der Küche an, wo sie mit Elsie Buchstaben malte. Ohne ein Wort nahm ich Finn und Elsie bei der Hand und ging hinaus zu Michael. Ich hielt Elsie fest in meinen Armen und redete mit ihr über den Tag in der Schule, während ich beobachtete, wie Michael und Finn zum Meer hinuntergingen.

Ich sah ihre Silhouetten, und hinter ihnen hatte das Schilf in der tiefstehenden Sonne goldene Spitzen, obwohl es noch nicht mal vier Uhr war. Sie redeten und redeten und lehnten sich manchmal aneinander. Endlich kamen sie zurück. Ich setzte Elsie ab, und wortlos fiel Finn in meine Arme und drückte mich an sich, so daß ich ihren Atem an meinem Hals spürte. Ich fühlte, wie Elsie seitlich an mir zog, und wir alle lachten und gingen ins Haus.

14. KAPITEL

»Bin ich Ihre Patientin?«

Ich fühlte mich wie eine Mutter, die gefragt wird, woher die Babys kommen, als hätte ich mir bereits die verschiedenen Antworten überlegt, die ich geben konnte, wenn die Frage gestellt wurde. Für einen Augenblick war ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu trösten und der Verpflichtung, mich klar auszudrücken.

»Nein. Du bist Dr. Daleys Patientin. Aber du solltest dich nicht als Patientin betrachten.«

»Ich rede nicht von mir, ich rede von Ihnen.«

»Was meinst du?«

»Ich weiß nicht, was ich in Ihrem Haus mache. Verstecke ich mich? Bin ich auf der Flucht? Bin ich eine Untermieterin? Eine Freundin? Eine Kranke?«

Wir saßen in einer Art Bistro in der Nähe des alten Hafens in Goldswan Green, eine halbe Stunde die Küste hinauf und fast leer an diesem kalten Montag im Februar. Ich aß einen Teller Pasta, und Finn stocherte mit der Gabel in einem Beilagensalat, den sie als Hauptgericht bestellt hatte. Sie spießte ein Blatt von irgendeinem bitteren Salat auf, den ich ungenießbar fand, und drehte es.

»Ich nehme an, von allem etwas«, sagte ich. »Bis auf die Kranke.«

»Ich fühle mich krank. Ich fühle mich die ganze Zeit krank.«

»Ja.«

»Sie sind die Expertin, Sam«, sagte Finn, den Salat auf ihrem Teller herumschiebend. »Was sollte ich fühlen?«

»Finn, in meiner beruflichen Eigenschaft achte ich normalerweise darauf, daß ich den Leuten nicht sage, was sie tun oder fühlen sollten. Aber in diesem Fall werde ich eine Ausnahme machen.«

Finns Gesichtszüge verhärteten sich.

»Was meinen Sie?«

»Als Autorität auf dem Gebiet der posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen würde ich dir dringend raten, daß du aufhörst, mit deinem Salat herumzuspielen und mit der Gabel über den Teller zu kratzen, denn das geht mir auf die Nerven.«

Finn fuhr zusammen, schaute nach unten und entspannte sich dann mit einem halben Lächeln.

»Andererseits«, fuhr ich fort, »könntest du etwas davon von deinem Teller in deinen Mund befördern.«

Finn zuckte mit den Schultern, steckte das große Salatblatt in den Mund und kaute es. Ich empfand ein Gefühl des Triumphes.

»Siehst du«, sagte ich. »Das war nicht so schwierig.«

»Ich habe Hunger«, sagte Finn, als registriere sie das Verhalten eines fremdartigen Geschöpfs.

»Ausgezeichnet.«

»Vielleicht könnte ich mir auch solche Nudeln bestellen wie Sie.«

»Nimm meine.«

Ich schob den Teller zu ihr hinüber, und sie begann zu essen, ganz aufgeregt von der Neuheit dessen, was sie da versuchte.

Mehrere Minuten lang sprach keine von uns ein Wort. Mir genügte es, sie essen zu sehen.

»Vielleicht habe ich jetzt zuviel gegessen«, sagte Finn, als die beiden Teller leer waren.

»Soviel war es gar nicht. Eigentlich nur das, was ich übriggelassen habe. Möchtest du Kaffee?«

»Ja. Mit Milch.«

»Gut, Finn. Noch ein bißchen Eiweiß und Kalzium. Wir können anfangen, dich aufzupäppeln.«

Sie begann zu lachen, hielt dann aber inne.

»Warum hat sie es getan?«

»Wer? Mrs. Ferrer?« Ich zuckte mit den Schultern, und dann machte ich einen Versuch. »Sie wollte dich besuchen kommen, weißt du. Sie wollte nach Spanien zurück, aber vorher wollte sie dich gern sehen.«

Ich erinnerte mich an ihr hektisches Verlangen, das »kleine Mädchen« zu sehen – und dann dachte ich daran, wie sie in ihrem farbenfrohen Pullover tot auf dem Bett gelegen hatte.

Finns Gesicht verdüsterte sich. Sie schien durch mich hindurch auf etwas sehr Fernes zu blicken.

»Ich wünschte – das glaube ich jedenfalls –, daß sie es getan hätte. Ich hätte sie gern gesprochen. Es war der Horror vor dem, was sie gesehen hat, nehme ich an.«

»Irgend etwas muß es gewesen sein«, sagte ich abwesend.

»Sie hören sich argwöhnisch an.«

»Das wollte ich nicht.«

»Meinen Sie, daß ich dumm war? Wegen dem Feuer?«

An diesem chaotischen Samstag nachmittag war Danny kurz nach Rupert und Bobbie gegangen – er hatte seine Reisetasche und die Schultertasche genommen, Michael und Finn ignoriert und mir kurz zugenickt. Als ich versuchte, ihn zurückzuhalten (»Ich weiß, daß es nicht ideal ist, aber laß uns später darüber reden«), hatte er müde gesagt, er habe drei Tage darauf gewartet, mit mir zu reden, und ich sei bloß schnippisch und feindselig gewesen, und ob ich inzwischen nicht gemerkt hätte, daß mein »Später« niemals kam. Außerdem habe er ohnehin in London zu tun. Worauf ich kindisch zischte, daß er sich wie ein Baby benehme. Dann war er in einer Abgaswolke verschwunden. Das wurde zur Gewohnheit. Weder Finn noch Michael sagten irgend etwas dazu, und Elsie schien kaum zu bemerken, daß er nicht mehr da war. Mrs. Ferrers Tod, meine Konzentration auf Finn, all das hatte ihn an die Peripherie meines Bewußtseins gedrängt. Dann, am folgenden Sonntagmorgen, war plötzlich Michael Daley aufgetaucht. Ich war im Garten und sammelte Bretter, Holzreste und abgebrochene Äste für ein Feuer, als sein Audi in die Einfahrt bog. Er kam nicht zu mir herüber, sondern nahm ungefähr ein Dutzend oder mehr Einkaufstüten von Waitrose aus dem Kofferraum. Kaufte er jetzt unsere Lebensmittel ein?

Doch dieses Glück war uns nicht beschieden. Er hatte ein paar von Finns Kleidern mitgebracht, die die Polizei aus dem Haus freigegeben hatte.

»Wo soll ich das alles hintun?« fragte ich, als wir die Tüten über den Weg in den Flur trugen.

»Ich dachte, das wäre vielleicht ein Schritt in die Normalität«, sagte Daley.

»Ich habe mich schon gefragt, wie lange Finn wohl in meinen aufgekrempelten Jeans herumlaufen muß.«

»Tut mir leid, daß ich nicht bleiben kann«, sagte Daley.

»Grüßen Sie sie von mir?«

»Grüße«, sagte ich. »Ich weiß nie, was das ist.«

»Sie können sich etwas ausdenken.«

»Sind Sie in Ordnung?«

»Was meinen Sie?«

»Sie haben noch eine Patientin verloren.«

»Soll das ein Scherz sein?« fragte er scharf und schwieg dann.

Er ging, ohne Finn gesehen zu haben. Ich rief sie nach unten.

»Sieh mal, was der Arzt dir gebracht hat«, sagte ich.

Sie war sichtlich verblüfft. Sie zog eine braune, zerknitterte Samtbluse aus einer der Tüten und hielt sie hoch.

»Ich habe draußen zu arbeiten«, sagte ich. »Ich verbrenne so ungefähr alles, was sich im Garten bewegen läßt. Wenn du willst, lasse ich dich jetzt allein, damit du deine Sachen durchsehen kannst.«

Sie nickte, sagte aber nichts. Ich ging, und als ich mich noch einmal umschaute, bevor ich die Haustür schloß, sah ich sie im Flur knien und den Samt an ihre Wange drücken, als wäre sie ein kleines, verlorenes Kind.

Gärtnern wird mir immer ein Geheimnis bleiben, aber ich zünde gern Feuer an. Es hatte geregnet, und es war nicht einfach, aber das machte die Sache nur spannender. Ich hatte Zeitungspapier zu Bällen zusammengeknüllt und an verschiedenen Stellen auf der Windseite meines Müllhaufens verteilt. Ich zündete sie an, und sie knisterten, glühten und verloschen. Ich sah im Schuppen nach und fand eine fast leere Schachtel mit Zündwürfeln und eine Spülmittelflasche, die nicht mehr nach Spülmittel roch. Ich wickelte die ganze Schachtel in Zeitungen und schob sie tief in den Müllhaufen. Dann schüttete ich alles, was von der benzinähnlichen Flüssigkeit noch übrig war, darüber. Ich war nicht sicher, ob mein Müllhaufen zu brennen anfangen oder einfach in die Luft fliegen würde. Ich zündete ein Streichholz an und warf es auf den Haufen. Es gab einen lauten Knall, als sei ein Punchingball auf einen Betonboden gefallen. Ich sah ein gelbes Licht, hörte Knistern, und dann schlugen Flammen aus dem Haufen, und ein weiches, unsichtbares Kissen aus Hitze an meinen Wangen und meiner Stirn trieb mich zurück.

Wie immer faszinierte mich das Feuer am stärksten, wenn es sich nach dem Ende der ersten widerspenstigen Phase plötzlich nicht mehr stoppen ließ. Ich fing an, die Flammen mit Abfällen aus dem Garten zu füttern. Da waren alte, graue Holzgitter, ein Stapel alter Bretter an der Rückwand des Hauses, und alle knackten und knisterten bald mitten in der Glut und sprühten Funken. Ich spürte jemanden neben mir. Es war Finn. Die Flammen spiegelten sich tanzend in ihren Augen.

»Tolles Feuer, was?« sagte ich. »Ich hätte Pyromanin werden sollen. Ich bin Pyromanin. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Bank auszurauben oder jemanden umzubringen, aber ich kann die Lust verstehen, ein großes Gebäude anzuzünden und zu beobachten, wie es verbrennt. Aber das hier muß reichen.«

Finn lehnte sich dicht an mich und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich konnte die Berührung ihrer Lippen spüren, als sie mir ins Ohr flüsterte. Als sie alles gesagt hatte, trat sie ein wenig zurück, war aber immer noch nahe. Ich konnte den goldenen Flaum auf ihren Wangen sehen.

»Bist du sicher?« fragte ich.

Sie nickte.

»Möchtest du sie nicht in einen Secondhandladen bringen oder so?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich will nicht, daß jemand anders sie trägt.«

»Was immer du möchtest, ist richtig.«

Sie ging ins Haus zurück, und eine Minute später kam sie mit einem Arm voller Röcke, Kleider und Blusen zurück. Sie ging an mir vorbei und warf sie auf den brennenden Haufen. Die bunten Stoffe bliesen sich auf wie Luftballons, warfen Blasen und zerplatzten. Finn holte eine Tüte nach der anderen. Es waren ein paar schöne Kleidungsstücke darunter, Dinge, die sie gekauft haben mußte, nachdem sie abgenommen hatte. Finn mußte einen wehmütigen Ausdruck auf meinem Gesicht wahrgenommen haben, denn nach einem ihrer Gänge stülpte sie mir einen Filzhut auf den Kopf und wickelte mir einen pflaumenfarbenen Kaschmirschal um den Hals. Der Hut paßte mir genau.

»Miete«, sagte sie mit einem Lächeln.

Sie selbst behielt überhaupt nichts. Als alles vorüber war, betrachteten wir gemeinsam das Feuer, sahen zu, wie die Reste von Borten und Bändern von den Flammen verzehrt wurden, und mir war ein bißchen übel dabei.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Finn schließlich.

»Ich denke, daß ich dich morgen zum Einkaufen fahre.«

»Es tut mir leid, Sam«, sagte Finn, während sie den Rest ihres Kaffees austrank. »Oh, ist der bitter. Schön. Ich weiß, daß es melodramatisch war, alles so zu verbrennen, aber mein Gefühl sagte mir, daß ich es tun müßte.«

»Du brauchst es mir nicht zu erklären.«

»Doch, ich möchte es aber. Es ist schwer für mich, das in Worte zu fassen, aber ungefähr so empfinde ich. In gewisser Weise fühle ich mich angesteckt von diesen Leuten, die versucht haben … Sie wissen schon. Durch sie ist mein Leben auseinandergerissen und völlig verändert worden. Verstehen Sie, was ich meine? Man möchte doch das Gefühl haben, daß das eigene Leben eine gute Richtung eingeschlagen hat. Aber ich fühlte, ich fühle, daß mein Leben von Menschen, die uns gehaßt haben, in eine bestimmte Richtung gedrängt worden ist.

Ich mußte all das kappen und noch einmal neu geboren werden.

Mich selbst neu definieren. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich verstehe vollkommen«, sagte ich mit absichtlich freundlicher Billigung. »Aber du bist daran gewöhnt, nicht?«

»Wie meinen Sie das?«

»Du hast an Anorexie und Bulimie gelitten, und das war lebensbedrohlich. Aber du hast weitergemacht. Du weißt, wie man wieder gesund wird, und das ist wunderbar.« Ich schwieg einen Moment und fragte mich, wie weit ich gehen konnte.

»Weißt du, es ist komisch. Das erste Mal habe ich dich auf irgendeinem alten Foto gesehen, rundlich und ängstlich. Und nun bist du hier, ein anderer Mensch, in Sicherheit, lebendig.«

Ich sah Finn an. Ihre Hand zitterte so, daß sie das Messer hinlegen mußte.

»Ich habe dieses Mädchen gehaßt. Die fette Fiona Mackenzie.

Ich spüre keine Verbindung zu ihr. Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut, oder ich dachte, ich hätte das getan. Aber es fällt mir schwer, das Gute zu akzeptieren. Sie und Elsie kennengelernt zu haben und all das. Manchmal denke ich, daß ich Sie und Elsie durch, Sie wissen schon, durch die kennengelernt habe. Ich weiß nicht recht, ob ich darüber reden sollte. Soll ich darüber reden?«

Ich hatte immer wieder andere Gefühle und fürchtete, daß ich mich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich äußerte. Wenn ich Fionas Fall mit einem Kollegen diskutiert hätte, dann hätten wir die verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten und deren unterschiedliche und sehr umstrittene Erfolgsaussichten diskutiert. Einem oder zwei besonders vertrauten Freunden gegenüber hätte ich vielleicht angemerkt, daß wir bei der Behandlung posttraumatischer Persönlichkeitsstörungen noch im Mittelalter stecken, im Zeitalter von Aberglauben, Körpersäften, Wechselfieber und Blutungen. Finn suchte bei mir die Art von Autorität, die die Leute von Ärzten erwarten. Und ich wußte so viel über das Thema, daß ich mir nicht so sicher war wie jemand, der vielleicht weniger Ahnung hatte. Das meiste, was die Menschen über Traumata und deren Behandlung zu wissen glaubten, war falsch. Die Wahrheit scheint eher so zu sein, daß es manchen Leuten hilft, wenn sie über ihre Erfahrung sprechen können, wohingegen sich bei anderen der Zustand verschlechtert und bei wieder anderen ziemlich unverändert bleibt. Und das hören die Leute von einem Arzt nicht gern.

Ich atmete tief ein und versuchte, so wahrheitsgetreu zu antworten, wie wir beide es ertragen konnten.

»Ich weiß nicht, Finn. Ich wünschte, ich könnte dir eine einfache Antwort geben, durch die du dich besser fühlst, aber das kann ich nicht. Ich möchte nur, daß du weißt, daß du mir alles sagen kannst. Andererseits bin ich nicht die Polizei. Ich will von dir keine Indizien. Und ich kann es nicht oft genug sagen: Ich bin nicht deine Ärztin. Hier geht es nicht um irgendeinen Therapieplan. Aber wenn ich meinem großen und edlen Beruf für einen Augenblick untreu werden kann, dann ist das vielleicht nicht nur schlecht.« Ich griff über den Tisch und nahm Finns Hand. »Manchmal denke ich, daß es Ärzten besonders schwerfällt, Leiden zu akzeptieren. Dir ist etwas überaus Schreckliches, Unaussprechliches zugestoßen. Alles, was ich sagen kann, ist, daß der Schmerz mit der Zeit nachlassen wird. Vermutlich wird es besser, wenn die Mistkerle, die das getan haben, geschnappt worden sind. Aber wenn du besondere physische Symptome an dir feststellst, dann mußt du mit mir oder Dr. Daley reden, und er wird sich darum kümmern. In Ordnung?«

»Wahrscheinlich.«

»Das genügt.«

»Sam?«

»Ja?«

»Ich bin im Weg, oder?«

»Alles in meinem Leben war immer allem anderen im Weg.

Aber ich habe entschieden, daß du eines von den guten Dingen bist, und das ist alles, was zählt.«

»Sie müssen nicht denken, Sie müßten nett zu mir sein, Sam.

Ich hindere Sie beispielsweise daran, Ihr Buch zu schreiben.«

»Ich war im Nichtschreiben auch schon ganz gut, bevor du gekommen bist.«

»Wovon handelt es?«

»Ach, weißt du, Traumata, das, was ich mache, dieses ganze Zeug.«

»Nein, wirklich, wovon handelt es?«

In gespielter Ungläubigkeit kniff ich die Augen zusammen.

Ich rief die Kellnerin und bestellte noch zwei Tassen Kaffee.

»Gut, Finn, du hast danach gefragt. Die Grundlage des Buches ist der Status von posttraumatischen

Persönlichkeitsveränderungen als Krankheit. Es ist immer die Frage, ob eine Pathologie, ich meine, eine spezielle Krankheit, tatsächlich schon existiert hat, bevor sie identifiziert und mit einem lateinischen Namen versehen wurde. Bobbie, ausgerechnet, hat mir einmal eine gute Frage gestellt. Sie hat gefragt, ob die Steinzeitmenschen nach einem Kampf mit einem Dinosaurier an posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen gelitten hätten. Zuerst habe ich ihr erklärt, daß es in der Steinzeit keine Dinosaurier gab, aber ihre Frage ließ mich nicht los. Wir wissen, daß Neandertaler Knochenbrüche hatten, aber hatten sie nach schrecklichen Erlebnissen auch schlechte Träume, zeigten sie Reaktionen oder Vermeidungsverhalten?«

»Und, hatten sie?«

»Das weiß Gott allein. Mein Plan ist, die Geschichte dieses Zustands kurz zu umreißen, der oftmals mit falschen Analogien zu sichtbaren physischen Traumata beschrieben wurde. Und dann werde ich die erstaunlichen Widersprüche in Diagnose und Behandlung dieser Störung im heutigen Großbritannien analysieren.«

»Werden Sie mich als Fallbeispiel nehmen?«

»Nein. Und jetzt laß uns ein bißchen Geld ausgeben.«

Wir verbrachten ein paar Stunden wie im Delirium, indem wir in der gepflasterten Fußgängerzone des Einkaufszentrums von Goldswan Green herumliefen. Ich probierte einen absurd aussehenden kleinen Pillbox-Hut mit Schleier an, der perfekt zu einem schwarzen Kleid, schwarzen Strümpfen und schwarzen Schuhen gepaßt hätte, was ich alles nicht besaß. Aber ich kaufte eine marineblaue Samtweste und dachte an ein Paar Ohrringe, bis ich mir klarmachte, daß der Sinn unserer Expedition darin bestand, Finn auszustatten und nicht mich; ich wandte meine Aufmerksamkeit also ihr zu. Wir fanden einen großen Laden und kleideten sie von Grund auf ein: Socken, Unterhosen, Unterhemden, T-Shirts, zwei Jeans – eine schwarz, eine blau.

Ich tendiere eher dazu, hastig herumzugehen und mehr oder weniger im Schnellverfahren einzukaufen, aber Finns Ernsthaftigkeit und Genauigkeit beeindruckten mich. Ihre Wahl hatte nichts Frivoles oder Leichtfertiges. Sie suchte ihre Kleider mit der Präzision eines Menschen aus, der sich darauf vorbereitet, einen Berg zu besteigen, wo jedes überflüssige Gramm Gewicht eine Belastung darstellt.

Während wir durch das Geschäft schlenderten, fiel mir auf, daß eine andere Frau uns beobachtete. Ich fragte mich, ob das daran lag, daß wir so viel kauften, und vergaß sie schließlich, bis ich hinter mir eine Stimme hörte.

»Bist du nicht, Sam, oder irre ich mich?«

Ich drehte mich um und hatte nicht das Gefühl, sie zu kennen.

Die Frau war mir irgendwie vertraut, aber ich wußte nicht, wo ich sie unterbringen sollte.

»Hallo …«

»Ich bin Lucy, Lucy Myers.«

»Hallo …«

»Aus Barts.«

Jetzt wußte ich, wer sie war. Christian Society. Eine Brille, die sie nicht mehr trug. Sie hatte Pädiatrie belegt.

»Lucy, wie geht es dir? Tut mir leid, ich habe dich nicht sofort erkannt. Das muß an deiner Brille liegen, die du nicht mehr trägst.«

»Ich war auch nicht ganz sicher, ob du es bist, Sam, wegen deiner Haare. Sie wirken richtig … richtig …« Lucy suchte nach dem passenden Wort. »Mutig«, sagte sie verzweifelt.

»Interessant, meine ich. Aber ich weiß alles über dich. Du bist jetzt am Stamford General.«

»Richtig, du auch?«

»Ja, seit Jahren. Ich bin dort in der Gegend aufgewachsen.«

»Oh.«

Eine Pause trat ein. Lucy sah Finn erwartungsvoll an.

»Oh«, sagte ich. »Das ist Fiona. Jones. Wir arbeiten zusammen.«

Sie nickten einander zu. Ich wollte das nicht in die Länge ziehen.

»Also, Lucy, schön, dich zu sehen. Wenn du im Krankenhaus bist, müssen wir, weißt du …«

»Ja.«

»Also, ich muß weiter einkaufen.«

»Ja.«

Lucy wandte sich ab.

»Sie waren nicht sehr nett zu ihr«, flüsterte Finn mir zu, während wir ein paar Strickjacken betrachteten.

»Sie war keine Freundin, wir waren bloß im gleichen Studienjahr. Ich möchte auf keinen Fall, daß wir hier draußen mitten in der Wildnis plötzlich als Seelenfreundinnen gelten.«

Finn kicherte.

»Und ich sehe Leute gern nur auf Verabredung«, fügte ich hinzu.

»Hier.« Ich hielt ihr eine graue Strickjacke vor. »Ich befehle dir, die zu kaufen.«

»Kaufen Sie sie für sich.«

»Wenn du meinst.«

Ich lag mit offenen Augen in der Dunkelheit im Bett.

Übermorgen war Valentinstag. Würde Danny mit einer roten Rose, einem sarkastischen Lächeln, einem ärgerlichen Wort und einem freundlichen Blick erscheinen? Würde er überhaupt je wiederkommen? Oder hatte ich ihn verloren, achtlos, ohne es wirklich zu wollen, nur weil ich nicht in seine Richtung geschaut hatte? Ich würde ihm morgen schreiben, nahm ich mir vor, ich würde die Dinge wieder in Ordnung bringen, und mit diesem Vorsatz schlief ich ein.

15. KAPITEL

Als ich am Mittwoch, in Dannys Morgenrock gehüllt, den er bei seinem hastigen Aufbruch vergessen hatte, die kalte Treppe heruntergeschlurft kam, hatte ein Brief auf der Fußmatte gelegen. Aber für den Postboten war es zu früh, und das »SAM«

auf dem Umschlag, mit blauem Filzstift geschrieben, zeigte, daß er von Elsie stammte und nicht von Danny. Nachdem der Thermostat hochgedreht und der Wasserkessel aufgesetzt war, hatte ich mit dem Finger den zugeklebten Umschlag aufgerissen.

Sie hatte ein rosa Herz aus Kreppapier auf eine weiße Karte geklebt. In der Karte stand in schiefen Buchstaben, die Elsie gemalt hatte, zweifellos nach Finns Diktat: »Alles Gute zum Valentinstag. Wir lieben Dich.«

Das »Wir« hatte mich irritiert, aber auch gerührt. In einem Augenblick der Schwäche hatte ich Elsie gestattet, mit einer weiteren, nicht sehr schweren Erkältung zu Hause zu bleiben, und wir hatten zu dritt am Küchentisch gesessen und Reiscrispies und Toast gegessen. Von Danny war nichts gekommen – keine Karte, kein Anruf, kein Zeichen, daß er an mich dachte. Ich wünschte, ich hätte ihm den gestrigen, ziemlich groben Brief nie geschickt. Nun ja, wem lag denn überhaupt etwas am Valentinstag? Mir.

Am Vormittag hatten wir im Haus herumgewerkelt. Eine Weile sah Finn das Bündel von Briefen durch, die Angeloglou am Vortag vorbeigebracht hatte – Briefe, die Freunde ihr geschrieben und bei der Polizei abgegeben hatten, damit sie sie ihr zustellte. Es war ein ziemlich dickes Päckchen, das sie ein bißchen geheimniskrämerisch auf den Knien hielt. Ich beobachtete sie sehr genau, um zu sehen, ob sie sich aufregte, aber sie blieb seltsam unberührt. Es war fast, als hätte sie kein Interesse an den Briefen. Nach kurzer Zeit schob sie alle wieder zusammen und trug sie nach oben in ihr Zimmer. Sie erwähnte sie mir gegenüber nie, und ich sah auch nicht, daß sie sie noch einmal zur Hand nahm.

Inzwischen war Finn fasziniert vom Thema Trauma, vielleicht auch von sich selbst, und ich erzählte ihr von den Anfängen, von abnormer Angst vor Eisenbahnfahrten und vom Granatschock und daß die Ärzte im Ersten Weltkrieg gedacht hatten, das sei die Folge von Artillerieeinschlägen. Finns Interesse amüsierte mich; ich war nur ein bißchen darüber besorgt, ob die Beschäftigung mit ihrem eigenen Zustand ihr nicht schadete.

Wir wollten zu einem Spaziergang aufbrechen, sobald der Regen nachließ. Aber der Regen ließ nicht nach. Er wurde immer stärker und dichter, und die Fenster waren jetzt beinahe undurchsichtig, als wohnten wir hinter einem Wasserfall.

»Es ist, als wären wir in einer Arche«, sagte ich, und natürlich wollte Elsie wissen, was eine Arche sei. Wo sollte ich anfangen?

»Das ist eine Geschichte«, sagte ich. »Vor langer Zeit kam Gott – in der Geschichte hatte er vorher die Welt gemacht – zu dem Entschluß, die Welt sei nicht gut geworden und alle Menschen würden sich schlecht benehmen. Also beschloß er, es regnen und regnen und regnen zu lassen, bis die ganze Welt unter Wasser stand, und so alle umzubringen …«

Ich unterbrach und schaute ängstlich zu Finn hinüber, die ausgestreckt auf dem Sofa lag. Schon allein das Aussprechen dieses Worts schien taktlos. Wie hatte sie es aufgenommen?

Finn sah mich nicht an. Sie blickte zu Elsie hinüber, rollte sich vom Sofa auf den Boden und kroch zu Elsie, die neben ihrer Spielzeugkiste saß.

»Aber er hat nicht alle umgebracht«, sagte Finn. »Da gab es einen Mann, der hieß Noah, und Noahs Frau und seine Kinder, und Gott hatte sie lieb. Darum sagte Gott zu Noah, er solle ein ganz großes Boot, eine Arche, bauen und alle Tiere auf das Boot bringen, damit sie gerettet werden könnten. Also baute Noah die Arche und brachte alle Tiere hinein, die er finden konnte. Hunde und Katzen zum Beispiel.«

»Und Löwen«, sagte Elsie. »Und Pandabären. Und Haifische.«

»Haifische nicht«, sagte Finn. »Den Haifischen ging es gut.

Die konnten ja schwimmen. Aber die anderen, die Familie und die Tiere … die blieben alle in der Arche. Und es regnete und regnete, und die ganze Welt stand unter Wasser, und sie blieben heil und trocken.«

»Hatte sie ein Dach?«

»Ja. Die Arche war wie ein Haus auf einem Boot. Und am Ende, als das Wasser wieder fort war, versprach Gott, er würde es nie wieder tun. Und weißt du, was er getan hat, um sein Versprechen zu bekräftigen?«

»Nein«, sagte Elsie mit offenem Mund.

»Schau, ich werde es dir zeigen. Wo sind deine Filzstifte?«

Finn griff in Elsies Spielkiste und nahm ein paar Stifte und ein Blatt Papier heraus. »Mal sehen, ob du raten kannst, was ich zeichne.« Sie zeichnete eine zinnoberrote Kurve. Dann zog sie darüber eine gelbe Linie und über dieser eine blaue.

»Ich weiß es«, sagte Elsie. »Das ist ein Regenbogen.«

»Richtig. Den hat Gott in den Himmel gesetzt als Zeichen für sein Versprechen, daß es nie wieder passieren wird.«

»Können wir einen Regenbogen sehen? Jetzt?«

»Vielleicht später. Falls die Sonne herauskommt.«

Das tat sie nicht. Wir nahmen ein gutes, altmodisches, ländliches Mittagessen zu uns, das irgendein großstädtischer Idiot erfunden hatte. Schönes frisches Brot, halb gebacken im Supermarkt gekauft. Ich pulte die Frischhaltefolie von einem Stück Käse. Ein paar Tomaten aus einer Folienpackung. Ein Glas Relish. Margarine aus Sonnenblumenkernen. Finn und ich teilten uns eine große Flasche belgisches Bier. Elsie plapperte, aber Finn und ich waren ziemlich schweigsam. Bier und Käse und der Regen auf dem Dach. Mir reichte das.

Ich holte ein paar Scheite aus dem Schuppen an der Seite des Hauses und zündete im Wohnzimmerkamin ein Feuer an. Als die Flammen loderten, nahm ich das Schachbrett und die Figuren und stellte alles auf den Teppich. Während ich eine Weltmeisterschaftspartie zwischen Karpow und Kasparow nachspielte, hockten Finn und Elsie auf der anderen Seite des Kamins. Elsie malte mit wilder Entschlossenheit, und Finn erzählte ihr mit leiser, verschwörerischer Stimme eine Geschichte. Manchmal flüsterte Elsie etwas zurück.

Ich schaute auf das Brett und verlor mich in Karpows strategischen Spinnennetzen, die den winzigsten Vorteil in einen durch nichts aufzuhaltenden Angriff verwandelten, und in Kasparows Kopfsprüngen in furchterregende Komplikationen, immer in der Gewißheit, daß er es schaffte, wieder herauszukommen. Ich spielte mit Variationen herum, und so dauerte die Partie sehr lange. Nach einer gewissen Zeit, wie lange, weiß ich nicht mehr, nahm ich das Klirren von Porzellan und einen warmen, vertrauten Duft neben mir wahr. Finn kniete mit einem Tablett auf dem Teppich. Sie hatte Tee und Toast und ein paar heiße Brötchen für Elsie gemacht.

»Wie soll ich es schaffen, je wieder in eine Praxis zu gehen?«

sagte ich.

»Ich begreife nicht, wie Sie sich so in ein Spiel vertiefen können«, sagte Finn. »Spielen Sie bloß etwas nach, das jemand anderer schon gespielt hat?«

»Richtig. Es ist, als würde man Gedanken in Aktion sehen.«

Finn rümpfte die Nase.

»Für mich hört sich das nicht sehr spaßig an.«

»Ich weiß auch nicht, ob Spaß das richtige Wort ist. Wer hat gesagt, daß das Leben Spaß machen soll? Kennst du die Züge?«

»Wie meinen Sie das?«

»Daß ein Läufer sich diagonal bewegt, daß ein König nur jeweils ein Feld weitergehen darf und all das.«

»Ja, soviel weiß ich.«

»Dann schau dir das an.«

Ich stellte die Figuren rasch wieder in die Ausgangsposition und begann, eine Partie nachzuspielen, die ich auswendig konnte.

»Wer gewinnt?« fragte Finn.

»Schwarz. Er war dreizehn Jahre alt.«

»Ein Freund von Ihnen?«

Ich lachte.

»Nein. Das war Bobby Fisher.«

»Nie von ihm gehört.«

»Er wurde Weltmeister. Sein Gegner traute sich jedenfalls zuviel zu und vernachlässigte die Entwicklung seiner Figuren.«

Ich spielte den siebzehnten Zug von Weiß.

»Schau auf das Brett«, sagte ich. »Was kannst du sehen?«

Finn bedachte die Stellung mehr als eine Minute lang mit ihrer ernsthaften Konzentration, die mich so beeindruckte.

»Es sieht so aus, als wäre Weiß in der besseren Position.«

»Sehr gut. Warum?«

»Sowohl die Dame von Schwarz als auch sein Springer …«

»Ja?«

»Sie sind … beide bedroht. Er kann sie nicht beide retten.

Also, wie hat Schwarz gewonnen?«

Ich griff nach dem Läufer und zog ihn über das Brett.

Amüsiert beobachtete ich Finns Verblüffung.

»Aber das bewirkt doch nichts, oder?«

»Doch. Ich liebe diese Stellung.«

»Warum?«

»Weiß hat viele verschiedene Möglichkeiten. Er kann die Dame oder den Springer nehmen. Er kann den Läufer abtauschen. Er kann gar nichts tun und versuchen, alles dichtzumachen. Was immer er macht, er verliert auf vollkommen andere Weise. Versuchs mal, probier was.«

Finn überlegte einen Augenblick und nahm dann den schwarzen Läufer. Nach nur vier Zügen gab es ein wunderschönes Matt mit dem Springer.

»Das ist toll«, sagte Finn. »Wie konnte er das alles im Kopf vorhersehen?«

»Das weiß ich nicht. Es tut mir weh, wenn ich bloß dran denke.«

»Trotzdem, das ist kein Spiel für mich«, sagte Finn. »Die Figuren stehen alle offen da. Mein Spiel ist Poker. Das ganze Bluffen und Täuschen.«

»Laß das bloß nicht Danny hören, sonst hält er dich die ganze Nacht damit wach. Jedenfalls ist das die Schönheit des Spiels.

Des Schachspiels, meine ich. Zwei Leute sitzen sich am Brett gegenüber, alle Figuren sind sichtbar, und sie manipulieren sich gegenseitig, bluffen, locken, halten sich zum Narren. Es gibt kein Versteck. Warte eine Sekunde.« Ich griff nach einem Buch, das neben dem Brett lag, und schlug das Motto auf. »Hör dir das an: ›Auf dem Schachbrett können Lüge und Heuchelei nicht lange überleben. Die kreative Kombination deckt die Anmaßung der Lüge auf; das gnadenlose Faktum, das im Schachmatt gipfelt, stellt den Heuchler bloß.‹«

Finn zog eine fast kokette kleine Schnute.

»Für mich hört sich das ein bißchen angsterregend an. Ich möchte nicht bloßgestellt werden.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Wir brauchen unsere kleinen Selbsttäuschungen und Strategien. Im wirklichen Leben, meine ich, was immer das wirkliche Leben ist. Schach ist eine andere Welt, wo all das abgelegt wird. In der Partie, die ich dir gerade gezeigt habe, hat ein kleiner Junge einen erwachsenen Meisterspieler dazu verleitet, sich ganz offen selbst zu zerstören.

Laß mich dir etwas zeigen. Als du heute morgen mit Elsie gesprochen hast, habe ich daran denken müssen.«

Ich stellte die Figuren wieder auf und spielte die ersten paar Züge der Abtauschversion der Ruy-Lopez-Eröffnung.

»Du bist Weiß. Was würdest du tun?«

Finn dachte einen Augenblick nach.

»Den Bauern nehmen, denke ich.«

»Also gut. Tu es.«

Nach wenigen erzwungenen Zügen hatte sie ihren Läufer verloren. Finn lächelte.

»Erwischt«, sagte sie. »Wieso mußten Sie bei meiner Bibellektion für Elsie daran denken?«

»Weil es einen Namen hat. Es heißt ›die Arche-Noah-Falle‹.«

»Wieso denn das?«

»Keine Ahnung. Vielleicht sieht die Linie der schwarzen Bauern, die deinen Läufer gefangen haben, wie das geneigte Dach einer Arche aus. Vielleicht ist es einfach eine sehr alte Falle. Ich wollte nur versuchen, dir zu zeigen, daß Schach kein zivilisiertes Spiel ist.« Ich merkte, daß mir ihre Aufmerksamkeit entglitt. »Wir müssen irgendwann einmal spielen. Aber nicht heute.«

»Nein, heute bestimmt nicht«, sagte Finn entschieden. »Ich möchte Ihnen nicht ausgeliefert sein. Jedenfalls nicht mehr, als ich es schon bin. Noch Tee?«

»Ich möchte Schach spielen.«

Das war Elsie, die ihre Zeichnung beendet oder aufgegeben hatte.

»Schach«, sagte ich. »In Ordnung. Wie nennt man diese Figur?«

»Weiß nicht.«

»Wie können Sie sich all diese Züge merken?« fragte Finn.

»Weil sie mich interessieren.«

»Mein Gedächtnis ist vollkommen unbrauchbar.«

»Das bezweifle ich. Ich will dir etwas zeigen. Such dir sieben oder acht Gegenstände hier im Raum aus und sag uns, welche es sind.«

Nachdem Finn das getan hatte, schickten wir sie für ein paar Minuten aus dem Zimmer und riefen sie dann wieder herein. Sie hockte sich zu Elsie und mir auf den Fußboden.

»Also, Elsie, was war es?«

Elsie schloß die Augen und runzelte die Stirn und ihre kleine, runde Nase.

»Es war eine Schachfigur … und eine Tasse … und eine Lampe … und ein Bild von einem Schaf und ein rosa Filzschreiber und ein gelber Filzschreiber … und Fings Schuhe und Mummys Uhr.«

»Großartig«, sagte ich.

»Das ist sehr gut für eine Fünfjährige, nicht?« sagte Finn.

»Wie macht sie das?«

»Sie übt«, sagte ich. »Vor Jahrhunderten war die Erinnerung an Dinge eine Kunst, die die Leute gelernt haben. Man macht das, indem man ein Gebäude im Kopf hat und Dinge an verschiedene Orte in diesem Gebäude bringt, und wenn man sich an sie erinnern möchte, geht man in das Gebäude – mit dem geistigen Auge – und holt sich die Gegenstände wieder heraus.«

»Was hast du, Elsie?« fragte Finn.

»Ich hab mein besonderes Haus«, sagte Elsie.

»Und wo war die Schachfigur?«

»An der Haustür.«

»Und wo war die Tasse?«

»Auf der Fußmatte.«

»Wie ist jemand auf so was gekommen?« fragte Finn.

»Darüber gibt es eine alte Geschichte«, sagte ich. »Eine Art Mythos. Im alten Griechenland hat einmal ein Dichter bei einem Festmahl rezitiert. Vor dem Ende des Fests wurde er abgerufen, und ein paar Minuten später stürzte die Festhalle ein, und alle kamen um. Die Leichen waren so entstellt, daß die nächsten Angehörigen sie nicht für die Bestattung identifizieren konnten.

Aber der Dichter konnte sich erinnern, wo jeder gesessen hatte.

Er erinnerte sich an alle Gäste, weil er sie an einer bestimmten Stelle gesehen hatte, und ihm wurde klar, daß das eine Möglichkeit war, sich auch andere Dinge zu merken.«

Finns Gesicht war jetzt nachdenklich.

»Erinnerung und Tod«, sagte sie. »Ich würde nicht wagen, im Haus meines eigenen Geistes herumzuwandern. Ich hätte Angst vor dem, was ich da vielleicht fände.«

» Ich nicht«, sagte Elsie stolz. » Mein Haus ist sicher.«

Ich blieb lange auf. Kein Danny …

16. KAPITEL

Am nächsten Abend ging ich zu etwas, das Michael Daley als gesellschaftlichen Anlaß bezeichnet hatte, als er mich einlud, ihn zu begleiten. »Sie wollten, daß ich Sie in die hiesige Gesellschaft einführe«, sagte er, also mußte ich fair sein und ja sagen.

Ich zog Kleider von den Bügeln und warf sie aufs Bett. Da war ein langes, kastanienbraunes Wollkleid mit hoher Taille, das ich mochte, aber es wirkte zu düster. Ich legte auch ein paar schwarze Miniröcke, das zarte blaue Kleid mit dem weichen Schalkragen und den dreiviertellangen Ärmeln, das ich nicht wegwarf und auch nie trug, und die weite schwarze Seidenhose beiseite, die allmählich aussah wie ein Schlafanzug. Schließlich zog ich ein schwarzes Kleid mit einem Oberteil aus Voile und wadenlangem Satinrock an. Ich kramte meine Lieblingsschuhe heraus, schwarz, flach (ich überrage ohnehin die meisten Männer) und mit einer schweren Silberschnalle, und hängte Ohrringe aus einem Durcheinander leuchtender Farben an meine Ohrläppchen. Dann musterte ich mich im Spiegel; ich sah nicht sehr honorabel aus. Ich schminkte mich nicht bis auf einen Tupfer Rouge, der zu meinen Haaren paßte. Ich nahm Finns Filzhut von der Garderobe und stülpte ihn mir auf den Kopf. Ich wünschte, es wäre Danny gewesen, der mich zu dieser Party mitnahm; ohne ihn fühlte ich mich feingemacht und irgendwie im Bühnenbild des falschen Stücks. Wo war Danny jetzt? Ich hatte meinen Stolz hinuntergeschluckt und versucht, ihn anzurufen, aber ich hatte ihn nicht erreicht, nicht einmal die Stimme auf seinem Anrufbeantworter, die mir sagte, er sei nicht da, würde mich aber so bald wie möglich zurückrufen.

Elsie schlief bereits in einem Nest aus Daunen. Ich kniete mich neben sie und atmete ihren reinen Duft ein; ihr Atem roch nach Heu, ihr Haar nach Klee. Mein Hut berührte sie an der Schulter, und sie verzog im Schlaf das Gesicht und rollte sich zusammen. Dabei murmelte sie etwas, das ich nicht verstand.

Ihre Zeichnungen lagen über das ganze Zimmer verstreut, es wurden jeden Tag mehr. Regenbogen und Leute mit schielenden Augen, denen Arme und Beine direkt aus den voluminösen Köpfen wuchsen; Tiere mit fünf Beinen, grellbunte Farbflecken.

Finn hatte jedes Bild sorgfältig mit Elsies Namen und dem Datum versehen, an dem sie es gezeichnet hatte. Manchmal gab es Titel: Eines, ein purpurnes Gekritzel, bei dem Augen und Hände in einem Chaos von Farbe verflossen, hieß »Mummy bei der Arbeit«. Mir kam der Gedanke, wenn ich jetzt sterben würde, hätte Elsie wohl keine wirkliche Erinnerung an mich. Sie würde Finn vermissen, wenn die Zeit für ihr Fortgehen käme, aber sie würde es schnell überwinden.

Linda und Finn auf dem Sofa wandten sich mir zu, als ich ins Wohnzimmer trat. Sie saßen vor dem Fernseher, aßen Popcorn aus der Mikrowelle und tranken Cola. Finn hatte sich hartnäckig all meinen Vorschlägen widersetzt, Kontakt mit ihren alten Freunden aufzunehmen, aber zwischen ihr und Linda war eine ungewöhnliche Freundschaft entstanden, kameradschaftlich und tröstlich.

»So, ich gehe jetzt. Was seht ihr euch da an?«

»Linda hat ein Video von Der mit dem Wolf tanzt mitgebracht.

Sie sehen gut aus.« Finn lächelte liebenswürdig und stopfte sich eine Handvoll Popcorn in den Mund. Sie schien sich vollkommen wohl zu fühlen; sie hatte ihre Schuhe abgestreift und die Beine unter sich gezogen. Ein weiter Pullover verhüllte ihren Körper. Ihr Haar war geflochten, und sie sah sehr jung aus.

Ich versuchte, sie mir fett vorzustellen, aber es gelang mir nicht.

Kevin Costner tanzte nackt herum, seine niedlichen weißen Pobacken leuchteten.

»Ein aufreizender Schauspieler«, sagte ich bissig. Linda sah mich schockiert an.

»Er ist sagenhaft.«

Draußen ertönte eine Hupe. Ich nahm meinen Mantel.

»Das wird Michael sein. Ich bleibe nicht lange, Linda.

Nehmen Sie sich, was Sie möchten. Finn, ich sehe dich morgen früh.«

Und fort war ich, zuerst in der kalten Nachtluft, dann in der Wärme von Michaels Auto, wo ich seinen anerkennenden Blick auffing und mich, in meinen Mantel gehüllt, in den Sitz lehnte.

Ich liebe es, gefahren zu werden, wahrscheinlich, weil das so selten vorkommt. Michael fuhr umsichtig, sein großer Wagen glitt zügig über schmale Straßen. Er trug einen marineblauen Mantel über einem dunklen Anzug, der ziemlich teuer und weniger unordentlich wie seine übliche Kleidung aussah. Er spürte meinen Blick, drehte sich zur Seite, sah mich an, lächelte.

»Was denken Sie, Sam?«

Ich antwortete, bevor sich mein Gehirn einschaltete.

»Ich frage mich, warum Sie nie geheiratet und Kinder gekriegt haben.«

Er runzelte die Stirn.

»Sie hören sich an wie meine Mutter. Mein Leben ist so, wie ich es haben möchte.«

»Sie sind nicht das, was ich mir unter einem Landarzt vorstelle«, sagte ich.

»Gleich sind wir da« – wir waren in Castletown mit seinen steinernen Löwen auf Torpfosten und Rasenflächen –, »in ein paar Minuten.«

Ich richtete mich ein bißchen gerader auf, schob eine Haarsträhne zurück, die aus dem Hut gerutscht war.

»Wie viele Leute werden da sein?«

»Ungefähr dreißig. Es wird ein Büffet geben. Laura ist eine der erträglicheren Ärztinnen an Ihrem Krankenhaus. Ihr Mann Gordon arbeitet in London, in der City. Sie sind sehr reich. Es werden auch ein paar andere Ärzte da sein.« Michael lächelte ein wenig spöttisch. »Ein Querschnitt durch die Gesellschaft der Provinz.«

Er bog von der Straße ab und hielt am Beginn der Einfahrt.

Das Haus dahinter war beeindruckend groß. War ich richtig angezogen?

»Ich stelle mir vor, daß Finns Eltern in so einem Haus gewohnt haben«, sagte ich.

»Es liegt nur ein paar Straßen entfernt«, sagte Michael und sah einen Moment sehr ernst aus. Er stieg aus dem Wagen, ging um ihn herum und öffnete meine Tür. So etwas würde Danny nie tun. »Laura und Gordon waren enge Freunde von Leo und Liz.

Ich nehme an, es werden auch noch ein paar andere da sein.«

»Denken Sie daran, daß ich sie nicht kenne, Michael.«

»Sie kennen Finn nicht«, sagte Michael mit verschwörerischem Lächeln. »Ich werde versuchen, daran zu denken.«

Er nahm meinen Ellbogen und führte mich die von Rhododendren gesäumte Einfahrt hinauf. Ein Mercedes parkte vor dem georgianischen Haus, dessen Veranda von einer Lampe erhellt wurde. Hinter den dünnen Vorhängen konnte ich die Umrisse von Gästegruppen sehen, das Klirren von Gläsern, Stimmengewirr und das Lachen von Leuten hören, die sich amüsierten. Ich hätte doch das zarte blaue Kleid anziehen und mir die Lippen rosa schminken sollen. Michael schnupperte demonstrativ in die Luft.

»Können Sie es riechen?« fragte er.

»Was?«

»Geld. Es liegt in der Luft. Überall. Und wir können es bloß riechen.« Einen Augenblick lang klang er bitter. »Haben Sie manchmal das Gefühl, daß Leute wie Laura und Gordon drinnen und wir draußen sind und unsere Nasen gegen die Scheiben drücken?«

»Wenn Sie läuten, lassen sie uns vielleicht auch hinein.«

»Jetzt haben Sie mir das Bild verdorben«, sagte er.

Er betätigte den schweren Messingklopfer, und fast sofort öffnete eine hübsche Frau mit eisgrauen Locken und bodenlangem Taftrock die Tür; die Halle hinter ihr war groß, die Wände hingen voller Gemälde. »Michael!« Sie küßte ihn nach französischer Art dreimal auf die Wangen. »Und Sie müssen Dr. Laschen sein. Ich bin Laura.«

»Samantha«, sagte ich. Ihr Händedruck war fest. »Vielen Dank für die Einladung.«

»Wir freuen uns so darauf, Sie am Krankenhaus zu haben.

Jetzt dauert es nicht mehr lange, oder?«

Aber sie wartete nicht auf Antwort. Vermutlich sollte ich nicht aus dem Nähkästchen plaudern. Und Finn konnte ich nicht erwähnen. Damit blieb nicht viel, was für mich von Interesse war. Der Raum war voll mit Leuten, die in exklusiven Grüppchen herumstanden, in den Händen Gläser mit bernsteinfarbenem Wein. Alle Männer trugen dunkle Anzüge; Männer gehen nur bei ihren Krawatten Risiken ein. Die meisten Frauen waren in langen Kleidern erschienen, und feine Juwelen funkelten an ihren Ohren und Fingern. Michael schien sich überraschend zu Hause zu fühlen. Er brach in einen geschlossenen Kreis von vier Leuten ein und sagte freundlich:

»Hallo, Bill« – ein großer Mann in, Gott, einem dieser Dinger, die man sich um die Taille wickelt, schüttelte ihm herzlich die Hand –, »Karen, Penny, Judith, nicht wahr? Darf ich Ihnen unsere neue Nachbarin vorstellen? Das ist Samantha Laschen –

Samantha ist Ärztin. Sie richtet im Stamford General ein eigenes neues Zentrum ein.«

Gedämpft interessiertes Gemurmel wurde laut. »Irgend etwas mit Trauma. Leute, denen Unfälle auf die Psyche geschlagen sind, so in der Art, nicht?«

Ich brummelte etwas Belangloses. Die Trauma-Industrie herunterzuspielen, war mein Job. Ich war nicht so scharf darauf, derlei von bornierten Amateuren zu hören. Es setzte ein Chor höflicher Begrüßungen ein, dann gab es eine kleine Pause. Aber diese Leute waren gesellschaftliche Profis. Binnen einer halben Stunde hatte ich mich mit Bill über Gartenarbeit unterhalten und über Landleben versus Stadtleben mit einem rundlichen Mann mit heiserer Stimme und beständig hochgezogenen Augenbrauen, dessen Namen ich nie herausfand. Eine aufgeputzte Frau namens Bridget erzählte mir von den neuesten Aktivitäten der Tierschutzterroristen, von Hunden, die aus einem Forschungslabor entführt worden waren, von Sabotage an der Universität und Vandalismus an Lastwagen von Bauern »Ich selbst esse ja kein Kalbfleisch«, gestand sie. »Einmal habe ich einen Artikel darüber gelesen, daß die Kälber so schwach sind, daß sie nicht mal stehen können, die armen Tiere. Ich fand das Fleisch ohnehin immer ziemlich fade. Aber das, was die machen, das ist etwas anderes. Es geht darum, daß diese Leute aus der Stadt die ländlichen Traditionen nicht verstehen.«

»Sie meinen, daß beispielsweise Beagles dazu gezwungen werden, Zigaretten zu rauchen?«

Ich sah mich nach dem Sprecher zu meiner Rechten um. Ein melancholischer junger Mann mit raspelkurz geschnittenen Haaren und ungewöhnlich hellen Augen nickte mir zu und schlenderte dann zu einem Tablett mit Drinks davon.

»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte Bridget. »Das tut er nur, um die Leute zu ärgern.«

Ich wurde fachmännisch von Gruppe zu Gruppe weitergereicht, während Frauen in schwarzen Röcken und weißen Blusen Wein in mein Glas gossen oder mir winzige Canapes mit einer knackigen Krabbe oder einem Stückchen Räucherlachs mit Dill in der Mitte servierten, bis ich mich erneut neben Laura wiederfand.

»Samantha, das ist mein Mann Gordon. Gordon, Samantha Laschen, du erinnerst dich, Michaels Freundin. Und das ist Cleo.« Cleo war größer als ich. Und breit. Sie trug ein knallrotes Kleid, und ihr Haar, das einmal blond gewesen sein mußte, jetzt aber rostig grau wirkte, hing lose herab.

»Wir sprachen gerade von Leo und Liz.«

Ich setzte eine Miene ausdruckslosen Interesses auf und fragte mich, ob ich vielleicht Mayonnaise am Kinn hatte. Ich strich wie nachdenklich darüber. Nichts. Vielleicht hatte ich sie aber auch bloß verteilt.

»Sie müssen sich doch erinnern. Leo und Liz Mackenzie, die letzten Monat in ihrem eigenen Haus ermordet wurden.«

»Ich habe darüber gelesen«, sagte ich.

»Und Ihre Tochter natürlich, Fiona, ein reizendes Mädchen.

Sie hat aber überlebt, hielt sich eine Zeitlang im Stamford General auf. Sie war schrecklich verletzt und verstört, wie ich hörte. Furchtbare Sache.«

»Entsetzlich«, sagte ich.

»Sie waren Freunde von uns, fast Nachbarn. Wir haben jeden ersten Donnerstag im Monat zusammen Bridge gespielt. Leo hatte das beste Kartengedächtnis, das ich je gesehen habe.«

»Eine solche Vergeudung«, sagte Gordon, nickte energisch und verzog sein Gesicht zu einer geübt traurigen Grimasse. Sie hatten diese Zweipersonenvorstellung schockierter Erinnerung offenbar schon häufiger gespielt.

»Was ist mit Fiona passiert?« Das kam von Cleo, die es geschafft hatte, sich einen Teller zu besorgen und nun eine Handvoll in Speck gewickelten Spargel von dem Tablett der vorbeigehenden Serviererin zu angeln.

»Keiner weiß, wo sie sich im Augenblick aufhält. Sie scheint verschwunden zu sein.«

»Michael wird es natürlich wissen.« Gordon wandte sich an mich.

»Er war ihr Hausarzt. Aber er ist die Diskretion in Person.«

»Wie war Fiona denn so?« Ich war Cleo dafür dankbar, daß sie Fragen stellte, die ich nicht stellen konnte; gleichzeitig bemerkte ich, daß die anderen über das Mädchen redeten, als sei es tot.

»Reizend. Sie hatte natürlich diese Gewichtsprobleme, das arme Ding. Donald«, Laura ergriff den Arm eines totenblassen Mannes, der vorbeischlenderte, und zog ihn in unseren Kreis.

»Cleo hat gerade gefragt, wie Fiona war. Sie traf sich doch häufiger mit Ihrer Tochter, nicht?«

»Fiona?« Er runzelte die Stirn. Eine Spargelstange rutschte aus ihrem Speckmantel, als ich sie an den Mund hob, und landete zwischen meinen Füßen.

»Sie wissen schon, Fiona Mackenzie, deren Eltern beide …«

»Ach, Finn.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ziemlich nettes Mädchen, nicht so laut wie manche, oder frech. Cleo hat sie natürlich nicht mehr gesehen, seit sie fortging, aber ich glaube, sie hat bei der Polizei einen Brief für sie abgegeben.«

Ich versuchte, Näheres von ihm zu erfahren.

»Schwieriges Alter, nicht? Die ersten Liebschaften, Partys, all das.«

Diese Bemerkung warf ich ein und schloß dann fest den Mund, als sei sie nicht von mir gekommen.

»Liebschaften? Oh, ich glaube nicht, daß sie so etwas hatte.

Nein, wie ich schon sagte, sie war sehr angenehm und höflich; ein bißchen unter Leos Knute, habe ich immer gedacht. Nettes Mädchen, wie ich schon sagte.«

Das war alles. Das Essen wurde um halb zehn serviert.

Wildpastete und grüner Salat, kleine Halbmonde aus Brandteig, mit Fisch gefüllt, Hähnchen-Satay an Spießen, viele verschiedene Käse, die, auf einem großen Holzbrett arrangiert, wunderbar aussahen, eine übervolle Schüssel mit Mandarinen.

Ich trank und aß und nickte und lächelte, und die ganze Zeit dachte ich daran, daß Finn in diesem Haus gewesen sein mußte

– wie war es möglich, daß sie aus dieser feinen Gesellschaft stammte und sich doch so leicht in meine Welt einfügte? Ich saß auf einem gelb bezogenen Stuhl, den Teller auf den Knien, und einen Moment lang überkam mich das quälende, vertraute Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht hierher, nicht in die Doppelhaushälfte, in der ich aufgewachsen bin und der ich entkommen wollte, und jetzt (ich spürte eine Art Panik) auch nicht in mein eigenes Haus, wo ein junges Mädchen mit weichem Haar auf meine Tochter aufpaßte und ihr Schlaflieder vorsang, wie das eigentlich nur Mütter tun sollten. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich vielleicht sogar die Arme um meinen Körper geschlungen und mich in der uralten Geste der Verzweiflung gewiegt, die ich oft bei meinen Patienten sah. Ich wollte Elsie, ich wollte Danny, und sie waren alles, was ich wollte. »Scheiße, Danny, ich werde nicht rumsitzen und Trübsal blasen«, murmelte ich unhörbar.

» Clockwork Orange. «

»Was?« Ich runzelte die Stirn und sah mich um, unsanft aus meinen Gedanken gerissen. Es war der Mann mit den kurzgeschorenen Haaren.

»Ihre Aufmachung. Sie sind als Figur aus Clockwork Orange gekommen.«

»Nie gesehen.«

»Das war ein Kompliment. Sie sehen aus wie eine der Gestalten, die in das Haus ahnungsloser, ehrbarer Leute eindringen und sie ein bißchen aufmischen.«

Ich sah mich im Raum um.

»Sie meinen, daß die Leute hier das nötig hätten?«

Er lachte.

»Sie können mich einen schlappschwänzigen Liberalen nennen, aber nach so einem Abend fange ich an zu denken, daß die Roten Khmer die richtige Idee hatten. Alle Städte ausradieren. Alle umbringen, die Brillen tragen. Den Rest hinaus auf die Felder treiben und körperlich arbeiten lassen.«

»Sie tragen selbst eine Brille.«

»Nicht die ganze Zeit.«

Ich sah den Mann an, und er sah mich an. Nach dreißig Sekunden Bekanntschaft hätte ich gesagt, er sei der attraktivste Mann, den ich kennengelernt hatte, seit ich aus London weggezogen war. Er hob sein Glas zu einem ironischen Toast, und dabei sah ich seinen Ehering. Aha.

»Sie sind eine Freundin von Dr. Michael Daley.«

»Freunde sind wir eigentlich nicht.«

»Der jagende Arzt.«

»Was?«

»Na, Sie haben doch sicher von den fliegenden Ärzten gehört.

Und vom funkenden Arzt. Und von der singenden Nonne.

Michael Daley ist der jagende Arzt.«

»Was meinen Sie?«

»Was ich sage. Er reitet Pferde, die wilden Tieren nachsetzen, die manchmal eingefangen und zerrissen werden. Und dann schmieren sich die triumphierenden Jäger gegenseitig die Eingeweide dieser Tiere ins Gesicht. Noch eine von diesen ländlichen Traditionen, über die man Sie belehrt hat.«

»Ich wußte nicht, daß Michael das tut. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, daß er auf die Jagd geht.«

»Ich heiße übrigens Frank.«

»Ich bin …«

»Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind Dr. Samantha Laschen. Ich habe einige Ihrer sehr interessanten Artikel über Krankheitsstrukturen gelesen. Und ich weiß, daß Sie die neue Trauma-Station am Stamford General einrichten. Die potentielle neue Melkkuh des Stamford-Trusts.«

»Das ist eigentlich nicht der Sinn der Sache«, sagte ich, so schroff ich konnte und mit unbeweglichem Gesicht. Franks zweideutige Bemerkungen und seine launige Art zogen mich an, verunsicherten mich aber gleichzeitig.

»Also, Sam, wir müssen uns wirklich mal an einem realen Ort zu einem Drink treffen und beispielsweise darüber diskutieren, inwiefern Funktion und Zweck eines Projekts wie Ihre Trauma-Station anders sein können, als man auf den ersten Blick vermuten sollte.«

»Das hört sich für mich ein bißchen abstrakt an.«

»Wie weit ist die Station?«

»Ich fange im Sommer an.«

»Und was machen Sie jetzt?«

»Ein Buch schreiben und verschiedene andere Dinge.«

»Dinge?«

Frank nahm kein Glas, sondern eine ganze Flasche Weißwein von einem vorbeigetragenen Tablett und füllte unsere beiden Gläser. Ich schaute nachdenklich noch einmal auf seinen Ehering; ein Gefühl der Tollkühnheit, das nur eine weitere Art von Unglücklichsein war, stieg in mir auf. Er sah mich nachdenklich mit zusammengekniffenen Augen an.

»Sie sind ein Paradox, wissen Sie. Sie sind hier im Haus von Laura und Gordon Simms, aber Sie sind, Gott sei Dank dafür, kein Mitglied ihres Zirkels von Bridgespielern und Jägern. Sie kommen mit Michael Daley zur Party, aber Sie behaupten, keine Freundin von ihm zu sein. Das ist alles ziemlich geheimnisvoll.

Warum sollte eine Expertin für traumatischen Streß …?«

»Hallo, Professor.«

Frank drehte sich um.

»Ach, der jagende Doktor. Ich habe Dr. Laschen von Ihren Hobbys erzählt.«

»Haben Sie ihr auch von Ihren eigenen erzählt?«

»Ich habe keine Hobbys.«

Ich wandte mich zu Michael um und war überrascht, weil er wütend die Zähne zusammenbiß. Er sah mich an.

»Ich sollte Ihnen erklären, Sam, daß Frank Laroue einer der Theoretiker ist, die hinter all den verbrannten Scheunen, den Protesten gegen die Kälbertransporte und den Einbrüchen in Labors stehen.«

Frank neigte ironisch den Kopf.

»Sie schmeicheln mir, Doktor, aber ich glaube nicht, daß Aktivisten Anweisungen von einem bescheidenen Gelehrten wie mir brauchen. Sie sind auf der anderen Seite wesentlich effizienter.«

»Was meinen Sie damit?«

Frank zwinkerte mir zu.

»Sie sollten bezüglich Ihrer Freizeitaktivitäten nicht so bescheiden sein, Dr. Daley. Lassen Sie mich sein Lob singen. Er ist Berater eines inoffiziellen und geheimen Komitees aus Akademikern und Polizisten und anderen beherzten Bürgern, das die Aktionen und Veröffentlichungen von Leuten wie mir überwacht, die sich für ökologische Fragen interessieren, damit man uns gelegentlich Schwierigkeiten machen kann, pour encourager les autres. Ist das ungefähr richtig?«

Michael antwortete statt dessen: »Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen, Sam.«

Er hatte meinen Arm genommen. Ich war versucht, Widerstand zu leisten und zu bleiben, aber ich gab dem Druck nach.

»Bis demnächst«, sagte Frank leise, als ich an ihm vorbeiging.

»Stimmt das, was Frank über Sie gesagt hat?« fragte ich Michael, als wir wieder im Auto saßen. Er ließ den Wagen an, und wir fuhren los.

»Ja, ich reite Treibjagden. Ja, ich berate ein Komitee, das die Aktivitäten dieser Terroristen überwacht.« Ein langes Schweigen folgte, während wir Stamford verließen. »Ist das für Sie ein Problem?« fragte er schließlich.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Etwas daran hinterläßt einen üblen Geschmack. Sie hätten es mir sagen sollen.«

»Ja, ich weiß, das hätte ich«, sagte er. »Es tut mir leid.«

»Das ist alles so kindisch«, sagte ich. »Leute, die sich gegenseitig ausspionieren.«

Michael fuhr scharf an den Straßenrand, bremste und hielt. Er drehte den Schlüssel, und der Motor bebte und erstarb. Ich konnte unten leise das Meer hören. Er drehte sich zu mir. Ich sah nur seinen Umriß, nicht seinen Gesichtsausdruck.

»Es ist nicht kindisch«, sagte er. »Erinnern Sie sich an Chris Woodeson, den Verhaltensforscher?«

»Ja, das tu ich.«

»Wir alle wissen, daß Verhaltensforscher Ratten in Labyrinthe setzen, nicht? Also hat ihm jemand eine Paketbombe geschickt, die ihm das Gesicht wegpustete und ihn erblinden ließ. Er hat drei Kinder, wissen Sie.«

»Ja, ich weiß.«

»Frank Laroue kann manchmal sehr charmant sein, die Frauen mögen ihn, aber er spielt mit Ideen, und manchmal setzen andere Leute sie in die Tat um, doch dafür übernimmt er keine Verantwortung.«

»Ja, aber …«

»Es tut mir leid, ich hätte Ihnen das früher sagen sollen, nur hat Baird mir geraten, es nicht zu tun. Aber jetzt tue ich es doch.

Es gibt eine Zeitschrift, die von den Tierschutzaktivisten veröffentlicht wird. Sie ist illegal und erscheint im Untergrund, und sie druckt die Adressen von Leuten ab, von denen behauptet wird, sie seien Tierquäler, was natürlich eine Einladung für andere Leute ist, Strafaktionen gegen sie durchzuführen. Im Dezember erschien eine Ausgabe der Zeitschrift mit der Privatadresse von Leo Mackenzie, Pharmamillionär.«

»Um Gottes willen, Michael, warum hat man mir nichts davon gesagt? Baird hat die Tierschutzaktivisten nur am Rand erwähnt, als eine Möglichkeit; er hat nie etwas von einem direkten Zusammenhang gesagt.«

»Das war nicht meine Entscheidung.«

Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Zeigte es Reue? Trotz?

»Jetzt, da ich das weiß und die Polizei auch, kann ich nicht glauben, daß Sie es für eine gute Idee gehalten haben, Finn in meinem abgelegenen Haus unterzubringen.«

»Wir hätten das nicht in Erwägung gezogen, wenn wir nicht davon ausgegangen wären, daß es ungefährlich ist.«

»Das können Sie leicht sagen, Michael.«

»Vielleicht sollte ich Ihnen erzählen, daß ich von dieser Zeitschrift zuerst durch Philip Carrier erfuhr, einen der Detectives, die die Ermittlungen gegen die Tierschützer leiten.

Die Veröffentlichung von Leos Adresse war nicht der Grund, warum er mich anrief.«

»Nein? Was dann? Meine Adresse, nehme ich an. Das reicht mir.«

»Nein, Sie haben meinen Namen und meine Adresse abgedruckt.«

»Ihre?« Ich wurde verlegen. »Gott, das tut mir leid.«

»Schon in Ordnung.«

»Und was unternehmen Sie dagegen?«

Michael startete den Wagen, und wir fuhren weiter.

»Ich schließe die Tür nachts zweimal ab, das ist so ungefähr alles. Machen Sie sich keine Sorgen, ich kann mich wehren.«

»All diese Jagden mit den Hunden.«

»Ich mache auch andere Sachen. Ich muß Ihnen mein Boot zeigen. Wir sollten mal einen Tag rausfahren. Weg von all dem.«

Ich murmelte etwas.

»Was machen Sie am Samstag?«

Ich murmelte noch etwas.

»Ich hole Sie nach dem Frühstück ab.«

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich zog meinen Morgenrock an – Dannys Morgenrock, in dessen Frotteefalten sein Geruch hing –, saß am Fenster und lauschte dem Meer. Ich glaube, ich weinte. Wenn Danny ins Zimmer gekommen wäre, hätte ich ihn ohne ein Wort zum Bett geführt, hätte ihn langsam ausgezogen und zärtlich geküßt und seine Blöße mit meinem Körper bedeckt, meinen Mantel geöffnet, mich über ihn gesenkt, ihn in mich eindringen lassen und dabei die ganze Zeit in sein Gesicht geschaut. Ich hätte ihn gebeten, uns wegzuholen, mit uns zu leben, mich zu heiraten, mir ein Kind zu machen. Im Morgengrauen schlief ich endlich ein.

17. KAPITEL

»Eine Melkkuh?«

Geoff Marsh sah amüsiert, fast geschmeichelt aus über den Ausdruck.

»Das hat der Mann zu mir gesagt.«

»Sie sollten nicht alles glauben, was fremde Männer Ihnen auf Partys erzählen. Wer war das?«

»Ein Mann namens Frank Laroue, ein Wissenschaftler.« Geoff Marshs Gesicht verzog sich zu einem wissenden Lächeln. »Ein Freund von Ihnen?«

»Ich kenne Laroue. Er glaubt wahrscheinlich, daß die ganze westliche Medizin eine kapitalistische Verschwörung ist, damit die Arbeiter krank bleiben, aber in diesem Fall hat das etwas für sich. Posttraumatische Persönlichkeitsstörungen sind eine Wachstumsbranche, zweifellos.«

Es war der Montag nach der Party, und Geoff und ich saßen mit Kaffee und Croissants bei einem Arbeitsfrühstück. Ich hatte Laroue für Geoff scherzhaft zitiert und war überrascht, daß er es ernst nahm.

»Da kann keine Menge Geld drinstecken«, sagte ich.

Marsh schüttelte energisch den Kopf und schluckte einen Bissen von seinem Croissant hinunter.

»Sie würden überrascht sein. Sie haben von dem Urteil letzte Woche zugunsten der Feuerwehrleute von Northwick, die ein Trauma erlitten hatten, gehört. Wie hoch waren die Schäden und die Kosten? Fünf Millionen und etwas?«

»Gut für die Feuerwehrleute.«

»Gut für uns. Ich nehme an, wir werden jetzt Versicherungsgesellschaften finden, die auf einer Politik vorbeugender psychologischer Beratung bestehen, um sich gegen zukünftige Rechtsstreitigkeiten abzusichern. Und wir können diese Beratung zur Verfügung stellen, da sind wir dem Markt voraus.«

»Ich dachte, der Zweck dieser Station bestünde darin, einen therapeutischen Bedarf zu decken, nicht darin, die Investitionen von Versicherungsgesellschaften zu schützen.«

»Beides läuft Hand in Hand, Sam. Sie sollten stolz sein auf dieses Potential. Schließlich ist die Station Ihr Baby.«

»Manchmal habe ich das Gefühl, daß mein Baby nicht so wird, wie ich mir das vorgestellt hatte.«

Geoff trank seinen Kaffee aus, und sein Gesicht nahm einen salbungsvollen Ausdruck an.

»Nun ja, wissen Sie, man muß seinen Kindern gestatten, eigene Wege zu gehen.«

»Vielen Dank, Dr. Spock«, sagte ich säuerlich. »Bis jetzt ist das Baby noch nicht mal geboren.«

Geoff stand auf und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab.

»Sam, ich möchte Ihnen etwas zeigen. Kommen Sie hierher.«

Er führte mich an ein Fenster seines großen, hoch gelegenen Eckbüros. Er zeigte hinunter auf eine Stelle des Krankenhausgeländes, wo einige Männer mit orangefarbenen Helmen verloren vor einem Baucontainer standen.

»Wir expandieren«, sagte er. »Stamford expandiert. Wir sind am richtigen Ort, an der richtigen Küste Englands. Nahe bei London, nahe bei Europa, und in grüner Lage. Ich habe einen Traum, Sam. Stellen Sie sich vor, daß dieser Krankenhaustrust sein volles Potential ausschöpft und an die Börse geht. Wir könnten in der Gesundheitsfürsorge das sein, was Microsoft im Computerbereich ist.«

Bestürzt folgte ich seinem Blick.

»Ich nehme an, Sie werden mich bitten, Steine in Brot zu verwandeln. Leider kann ich nicht die vollen vierzig Tage hier in der Wildnis bleiben, weil ich zurück muß, damit mein sogenanntes Buch vorankommt.«

Geoff sah verwirrt aus.

»Wovon reden Sie, Sam?«

»Nichts Wichtiges, Geoff. Wir sehen uns nächste Woche, wenn Sie wieder in der realen Welt sind.«

»Dies ist die reale Welt, Sam.«

Als ich auf der inzwischen vertrauten Strecke aus Stamford hinausfuhr, kam mir der düstere Gedanke, daß er wahrscheinlich recht hatte, und dann dachte ich an den Rest meiner Welt –

Elsie, Danny, Finn, mein Buch – und fühlte mich noch schlechter. Elsie war in der Schule, Danny weiß Gott wo, aber als ich nach Hause kam, saß Finn auf dem Sofa, eine Zeitschrift in den Händen, die sie nicht las. Es gab mir einen Stich, als ich in Richtung Arbeitszimmer schaute. Dann holte ich tief Luft und ging zu ihr.

»Unternehmen wir einen Spaziergang?« schlug ich vor.

Schweigend machten wir uns auf den Weg, wandten uns nach links und gingen ungefähr eine Meile parallel zum Meer. Dann bogen wir wieder scharf nach links ab. Wir wanderten am Rand eines gepflügten Feldes an einem Graben vorbei, der fast so breit war wie ein Kanal. Vor uns konnten wir nur dünne Baumreihen sehen, gerade ausgerichtet wie Zaunpfähle – zum Schutz gegen den Wind, vermutete ich.

Mein Geist arbeitete heftig. Wir schrieben den neunzehnten Februar. Finn war jetzt vier Wochen bei uns. Noch zwei, vielleicht drei Wochen, dann würde ich dem ein Ende bereiten.

Aber für Elsie war es eine vorübergehende Maßnahme des Lebens geworden. Sie liebte es, jeden Morgen nach unten zu kommen und uns beide (Finn in meinem alten Morgenrock, ich in Kleidern, die nur für das Haus geeignet waren) plaudernd beim Kaffee am Küchentisch vorzufinden. Sie mochte es, daß ich sie jeden Morgen zur Schule fuhr, mit den anderen Eltern an der Tür des Klassenzimmers stand, rasch ihre kalte Wange küßte, wenn die Glocke läutete, und sagte: »Ich hole dich heute nachmittag ab.« Und jeden Tag, wenn die Glocke um zwanzig vor vier wieder läutete, rannte sie mit ihrem Mantel und ihrem Schulranzen und gewöhnlich einem Blatt Papier mit buntem Gekritzel darauf hinaus, und ich konnte sehen, daß sie sehr glücklich war, genau so zu sein wie die anderen Kinder. Ich achtete sogar darauf, meine am wenigsten exotischen Kleider zu tragen, wenn ich sie abholte. Ich versuchte, mit den anderen Müttern über Lotionen gegen Kopfläuse und den nächsten Schulbasar zu plaudern. Für ein Weilchen hatte ich den Wunsch, wir würden mit der Szenerie verschmelzen. Zur Teezeit machte Finn Toast mit Honig für Elsie; das wurde zu einer Art Ritual.

Wenn es Zeit zum Schlafengehen war, erschien sie schweigend in Elsies Zimmer, um ihr gute Nacht zu sagen, während ich ihr vorlas. Eines Tages merkte ich, daß sie uns das Gefühl gegeben hatte, eine richtige Familie zu sein und nicht nur Mutter und Tochter; so hatten wir uns bei Danny nie gefühlt. Und ich wußte auch, es lag daran, daß ich Danny das niemals erlaubt hatte.

Aber sowohl für Finn als auch für mich war das eine falsche, eine Märchenexistenz. Bald würde sie in ihre eigene Welt zurückkehren. Gute Noten, Verpflichtungen, Partys, Wettbewerb, Sex, Universität, Chancen, Schmerzen.

Wir kamen zu einer kleinen, armseligen Kirche, kaum mehr als eine Hütte, mit einem einzigen Fenster und einer an der Außenmauer angebrachten Tafel, die besagte, daß sie aus dem achten Jahrhundert stamme. Man hatte sie als Scheune, als Kuhstall und, wie es der hiesigen Tradition entsprach, als Lager für geschmuggelte Weinfässer benutzt. Und bitte keine Abfälle hinterlassen. Ich fragte Finn direkt, ob sie sich überlegt habe, was sie tun werde. Sie zuckte mit den Achseln, trat einen Stein aus dem Weg, schob die Hände tiefer in die Taschen.

»Du kannst nicht dableiben, das weißt du. In ein paar Monaten fängt mein Job an. Und dein Leben ist sowieso nicht hier.«

Sie murmelte etwas.

»Was?« Ich schaute zu ihr hinüber. Ihr Gesicht war mürrisch gegen den Wind gerichtet.

»Ich habe gesagt«, antwortete sie wütend, »daß mein Leben nirgends ist.«

»Schau, Finn …«

»Ich will nicht darüber reden, okay? Sie sind nicht meine Mutter. «

»Da wir gerade beim Thema sind«, sagte ich so sachlich wie möglich, genervt von ihrem Ton, » meine Mutter kommt morgen zum Mittagessen.«

Finn blickte auf. Ihr Gesicht verlor den Ausdruck von Verschlossenheit.

»Wie ist sie? Ist sie Ihnen ähnlich?«

»Ich glaube nicht.« Ich stockte und lächelte. »Vielleicht doch, mehr, als mir lieb ist. Vielleicht ist sie auch mehr wie Bobbie.

Sehr konservativ. Sie findet es furchtbar, daß ich nicht verheiratet bin. Ich glaube, das ist ihr gegenüber ihren Freundinnen peinlich.«

»Möchte sie, daß Sie Danny heiraten?«

»Gott, nein.«

»Kommt Danny bald wieder?«

Ich zuckte mit den Schultern, und wir gingen weiter, setzten den weiten Bogen fort, der uns nach Hause zurückführen würde.

»Sam? Wer war Elsies Vater?«

»Ein netter Mann«, antwortete ich kurz angebunden. Dann wurde ich weich und war über mich selbst erstaunt, als ich etwas zu Finn sagte, was ich fast niemandem sonst anvertraut hatte.

»Er starb ein paar Monate vor Elsies Geburt. Er hat sich umgebracht.«

Finn schwieg. Das war die einzig richtige Reaktion. Ich sah eine Gelegenheit.

»Du sprichst nie über deine Vergangenheit, Finn. Ich verstehe das. Aber erzähl mir etwas. Erzähl mir von etwas, das für dich wichtig war, eine Person, eine Erfahrung, irgendwas.«

Finn marschierte weiter und gab nicht zu erkennen, daß sie mich gehört hatte. Ich machte mir Sorgen, sie vielleicht verprellt zu haben. Nach ungefähr hundert Metern fing sie an zu sprechen, noch immer gehend, noch immer nach vorn blickend.

»Haben Sie gehört, wie ich das letzte Jahr verbracht habe?«

»Jemand hat mir erzählt, du wärst durch Südamerika gereist.«

»Ja. Das kommt mir jetzt alles so unwirklich und weit entfernt vor, so sehr, daß ich ein Land kaum vom anderen unterscheiden kann. Es war eine seltsame Zeit für mich, eine Art Genesung und Wiedergeburt. Aber an eines erinnere ich mich genau. Ich war in Peru und ging nach Machu Picchu, das im Reich der Inka irgendeine wichtige Bedeutung hatte. Wenn man zur Zeit des Vollmonds dort ist, kann man sieben Dollar für etwas bezahlen, das boleto nocturno heißt, und man kann die Sehenswürdigkeit bei Nacht besichtigen. Ich ging hin und schaute mir den Intihuatana an – das ist der einzige steinerne Kalender, der nicht von den Spaniern zerstört wurde –, und ich stand da im Mondschein und dachte über Licht und darüber nach, daß Reiche zerfallen und sterben wie Menschen. Das Reich der Inka gibt es nicht mehr. Auch das spanische Imperium gibt es nicht mehr. Als ich da stand, dachte ich darüber nach, daß nur diese Ruinen überlebt haben, die Bruchstücke, und das schöne Licht.«

So hatte ich Finn noch nie reden hören und war tief berührt.

»Das ist schön, Finn«, sagte ich. »Warum wolltest du mir das jetzt erzählen?«

»Sie haben mich gefragt«, sagte sie, und ich fühlte mich ein klein wenig zurückgewiesen.

Als das Haus wieder in Sicht kam, sagte Finn:

»Was werden Sie für Ihre Mutter kochen?«

»Für meine Eltern. Dad kommt auch. Ach, ich weiß nicht. Ich werde in den Supermarkt gehen und irgendwas Fertiges kaufen.«

»Kann ich für sie kochen?«

»Kochen?«

»Ja. Das würde ich gern machen. Und könnten wir auch Dr. Daley einladen?«

Ich war überrascht, als ich feststellte, daß ein kleiner Teil von mir Finns Anhänglichkeit an Michael Daley übelnahm. Das war zwar verständlich, denn er war ein Kontakt zur Normalität, er sah gut aus, er war der Hausarzt. Aber gegen alle Vernunft wollte meine Eitelkeit, daß sie von mir abhängig war, obwohl ich mir andererseits fest vorgenommen hatte, sie in zwei Wochen wegzuschicken.

»Ich werde ihn anrufen.«

»Und Danny?«

»Danny diesmal vielleicht nicht.«

Für einen kurzen Augenblick sah ich Dannys Nachtgesicht, zärtlich und stopplig und ganz ohne seine tagsüber zur Schau getragene Ironie – das Gesicht, von dem ich hoffte, daß nur ich es kannte –, und ich spürte ein panikartiges Verlangen nach ihm.

Ich wußte nicht einmal, wo er sich aufhielt. Ich wußte nicht, ob er in London oder anderswo war. Was in aller Welt machte ich überhaupt in dieser sumpfigen Einöde, warum kümmerte ich mich um ein verstörtes Mädchen, während ich meinen Geliebten verlor?

Das unbehagliche Gefühl hielt den ganzen Tag über an wie schlechtes Wetter und wollte nicht einmal vergehen, als ich zur Schule fuhr, um Elsie abzuholen. Sie war ebenfalls mürrisch, und ich versuchte sie aufzuheitern, indem ich ihr erzählte, daß Finn und ich eine Kirche besichtigt hatten, die früher ein geheimes Piratenlager war, wo sie den Schatz versteckten, den sie von ihren Piratenschiffen an Land geschmuggelt hatten.

»Was für einen Schatz?« fragte Elsie.

»Goldene Kronen und Perlenketten und silberne Ohrringe«, sagte ich. »Und dann vergruben sie alles und zeichneten eine Karte, die sie mit ihrem eigenen Blut unterschrieben.«

Als wir nach Hause kamen, war Elsie entschlossen, ihre eigene Schatzkarte zu zeichnen. Finn und ich saßen mit unseren Kaffeebechern in der Küche, während Elsie sich über den Tisch beugte, die Stirn gerunzelt, die Zungenspitze zwischen den Lippen, und nahezu jede Farbe aus der bunten Auswahl ihrer Malstifte verwendete. Das Telefon läutete. Linda nahm ab.

»Es ist für Sie!« rief sie von oben.

»Wer ist es?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

Ich schnaubte und nahm den Hörer im vorderen Zimmer ab.

»Ist da Dr. Laschen?«

»Ja, wer ist am Apparat?«

»Frank Laroue. Es hat mich gefreut, Sie am Samstag kennengelernt zu haben, und ich hatte gehofft, wir könnten uns wiedersehen.«

»Ja, das wäre nett«, sagte ich gleichmütig, während sich meine Gedanken überschlugen. »Was würden Sie gern unternehmen?«

»Ich hätte gern, daß Sie mich zum Tee in Ihr neues Haus einladen. Ich sehe immer gern die Häuser von Leuten.«

»Und Ihre Frau?«

»Meine Frau ist verreist.«

»Ich fürchte, mein Haus ist im Moment noch nicht in dem Zustand, um es irgend jemandem vorzuführen. Wie wär’s mit einem Drink in der Stadt?«

Wir einigten uns auf Zeit und Ort und hängten ein, bevor ich die Möglichkeit hatte, es mir anders zu überlegen. Ich fragte mich, ob ich es Michael Daley sagen sollte, verwarf den Gedanken aber rasch. Ich würde auf sein Boot mitkommen. Das war genug. Ich schuldete mir selbst ein bißchen Spaß, und zum Teufel mit Danny.

»Wir sind wie drei Piraten, nicht, Elsie?« sagte Finn, als ich wieder in der Küche auftauchte. »Mummy und ich und du.«

»Ja«, sagte Elsie.

»Ist es fertig?«

»Ja.«

Sie lachte.

»Sollen wir deinen Schatzplan jetzt alle unterschreiben, du und ich und Finn?«

Elsies Augen leuchteten.

»Ja-a-a-a!« rief sie begeistert.

»Dann laß uns den roten Stift suchen.«

»Nein«, sagte Elsie. »Blut. Mit Blut unterschreiben.«

»Elsie!« sagte ich scharf und sah ängstlich zu Finn hinüber.

Sie stand auf und verließ den Raum. »Elsie, so etwas darfst du nicht sagen.«

Finn kam in die Küche zurück und setzte sich neben mich.

»Schauen Sie«, sagte sie. Sie hielt eine Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger und lächelte. »Ist schon in Ordnung, Sam. Es geht mir besser. Noch nicht toll, aber besser. Sieh mal, Elsie, es ist ganz einfach.« Sie stach mit der Nadel in die Spitze ihres linken Daumens, beugte sich dann vor und drückte einen roten Tropfen auf Elsies Karte. Mit dem Nadelöhr malte sie aus dem Tropfen etwas, das halbwegs wie ein F aussah. »Jetzt Sie, Sam.«

»Nein, ich hasse Nadeln.«

»Sie sind Ärztin.«

»Deswegen bin ich ja Ärztin geworden, da kann ich Nadeln in andere Leute stechen.«

»Ihre Hand«, sagte Finn entschlossen. »Ist schon gut, ich nehme eine neue für Sie.« Widerstrebend streckte ich die linke Hand aus und zuckte zusammen, als sie mir in die Daumenspitze stach. Sie drückte das Blut auf das Papier.

»Und jetzt soll ich wohl Samantha schreiben«, brummte ich.

»Ein S reicht«, lachte Finn.

Ich schrieb mit meinem Blut ein S.

»Und jetzt Elsie«, sagte Finn.

»Ich nehme Mummys Blut«, sagte Elsie sehr entschieden.

Finn drückte noch einen Tropfen aus meinem Daumen, und Elsie verschmierte ihn zu etwas, das eher wie eine zertretene Himbeere aussah. Ich betrachtete meinen Daumen.

»Es tut weh«, sagte ich.

»Lassen Sie mal sehen«, meinte Finn. Sie nahm meine Hand und schaute sich den Daumen an. Er wies einen roten Fleck auf.

Sie beugte sich vor und tupfte ihn mit ihrer Zunge ab, dann sah sie mich mit ihren großen, dunklen Augen an.

»So«, sagte sie. »Jetzt sind wir Blutsschwestern.«

18. KAPITEL

»Sam, Sam, wachen Sie auf.«

Ein Flüstern dicht an meinem Ohr riß mich aus wirren Träumen. Ich sah in ein weißes Gesicht, hörte ein angstvolles Wimmern. Ich setzte mich auf und schaute auf die blaßgrünen Zahlen meines Radioweckers.

»Finn, es ist drei Uhr früh.«

»Ich habe draußen was gehört. Da ist jemand.«

Ich runzelte ungläubig die Stirn, aber dann hörte ich es auch.

Etwas knarrte. Jetzt war ich hellwach in der pechschwarzen Kälte. Ich nahm Finn bei der Hand und rannte mit ihr den Gang zu Elsies Zimmer hinunter. Ich hob Elsie samt Daunendecke, Teddy und allem auf und trug sie in mein Schlafzimmer. Sie hatte den Daumen noch im Mund und einen Arm ausgestreckt.

Ich legte sie auf mein Bett. Sie murmelte etwas, rollte sich mit Daunendecke und Bär zusammen und schlief weiter. Ich nahm den Telefonhörer ab. Neun, neun, neun.

»Hallo, Sie wünschen?«

Ich konnte mich nicht an die Nummer erinnern, die Baird mir gegeben hatte. Vor Frustration heulte ich beinahe.

»Ich bin in Elm House in der Nähe von Lymne. Da ist jemand auf dem Grundstück. Wir brauchen die Polizei. Bitte sagen Sie Inspector Baird vom CID Stamford Bescheid. Mein Name ist Samantha Laschen.« O Gott, sie wollte, daß ich es buchstabierte.

Warum konnte ich nicht Smith oder Brown heißen? Endlich war sie fertig, und ich legte den Hörer auf. Ich dachte an die Autopsieberichte über die Mackenzies, und plötzlich hatte ich ein Gefühl, als krabbelten Insekten über meine Haut. Finn klammerte sich an mich. Was war jetzt am besten zu tun? Mir schwirrte der Kopf. Die Tür zum Schlafzimmer verbarrikadieren? Allein nach unten gehen und vielleicht irgendeinen Eindringling so lange hinhalten, bis die Polizei kam? Auf einmal ging es mir nur noch um Elsie. Sie hatte das nicht gewollt, sie war für nichts von all dem verantwortlich.

Würde sie sicherer sein, wenn ich sie irgendwie von Finn fernhalten könnte?

»Finn, komm mit«, zischte ich.

Ich hatte den vagen Plan, mir irgendwo eine Waffe zu besorgen, aber plötzlich – sicher zu schnell, um schon die Reaktion auf meinen Anruf zu sein – hörte ich Automotoren, aufspritzenden Kies, sah blinkende Lichter. Ich schaute aus dem Fenster. Da standen Polizeiwagen, dunkle Gestalten liefen umher, ich sah Taschenlampen aufblitzen und einen Hund. Ich ging zu Finn, nahm sie in die Arme und murmelte in ihr Haar.

»Jetzt ist es gut, Finn. Du bist in Sicherheit. Die Polizei ist da.

Das hast du gut gemacht, Schätzchen, sehr gut. Du kannst dich jetzt entspannen.«

Es klopfte an der Tür. Ich sah aus dem Fenster. Eine Gruppe uniformierter Beamter stand auf dem Weg, eine zweite befand sich weiter entfernt. Noch ein Wagen fuhr vor. Ich rannte die Treppe hinunter, warf mir einen Morgenrock über und öffnete.

»Sind alle in Ordnung?« fragte der vorderste Beamte.

»Ja.«

»Wo ist Fiona Mackenzie?«

»Oben, mit meiner Tochter.«

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Natürlich.«

Der Mann drehte sich um.

»Sichert den ersten Stock!« befahl er.

Zwei Beamte, einer davon weiblich, drängten sich an mir vorbei und rannten die Treppe hinauf; ihre Füße polterten auf dem Holz.

»Was ist eigentlich los?«

»Haben Sie einen Moment Geduld«, sagte der erste Beamte.

Ein anderer Polizist kam angerannt und flüsterte ihm ins Ohr.

»Wir haben einen Mann gefaßt. Er sagt, daß er Sie kennt.

Können Sie kommen und ihn identifizieren?«

»Ja.«

»Möchten Sie sich erst anziehen?«

»Nein, ist schon gut.«

»Dann kommen Sie bitte hier entlang. Er sitzt dort drüben im Auto.«

Mein Herz klopfte so heftig, daß es fast weh tat, als ich mich den schattenhaften Umrissen im Wagen näherte, und dann mußte ich einfach lachen. Da saß Danny, völlig zerzaust, fest zwischen zwei Polizisten eingeklemmt.

»Das ist in Ordnung«, sagte ich. »Er ist ein Freund. Ein enger Freund.«

Widerstrebend ließen die Polizisten ihn los. Ich sah, daß einer von ihnen sich ein Taschentuch an die Nase drückte.

»Nun, Sir«, sagte der andere. »Ich würde mich in Zukunft davor hüten, mitten in der Nacht in fremden Gärten herumzuschleichen.«

Danny antwortete nicht. Finster sah er die Polizisten und dann mich an und ging zum Haus. An der Haustür holte ich ihn ein.

»Was hast du denn gemacht?«

»Mein verdammter Kombiwagen hat im Dorf den Geist aufgegeben, also bin ich zu Fuß gegangen. Jemand hat mich gepackt, und ich habe zurückgeschlagen.«

»Ich bin froh, daß du gekommen bist, o mein Gott, bin ich froh«, sagte ich und schlang die Arme um seine Taille. »Und es tut mir leid.«

Ein Kichern stieg in meiner Kehle auf wie ein Schluchzen.

Wieder hörte ich in der Einfahrt hinter mir Kies aufspritzen.

Ich drehte mich um und sah ein ziviles Fahrzeug quietschend anhalten. Die Tür öffnete sich, und eine stämmige Gestalt stieg aus. Baird. Er kam auf uns zu. Dann blieb er stehen und musterte Danny mit verschlafenen Augen.

»Verdammter Sauhaufen«, sagte er und ging an uns vorbei ins Haus.

»Jetzt habe ich einen verdammten Kaffee nötig.«

»Ihre Leute waren unwahrscheinlich schnell hier«, sagte ich.

Baird saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Danny stand in der entfernten Ecke, ein Glas Whisky in der Hand, das er gelegentlich aus der Flasche in seiner anderen Hand auffüllte.

»Meine Leute waren in der Nachbarschaft«, sagte Baird.

»Warum?«

»Wie ich hörte, haben Sie Frank Laroue kennengelernt.«

»Hat Daley Ihnen das erzählt?«

»Wir halten ihn für einen gefährlichen Mann, Sam. Und jetzt hat er Kontakt mit Ihnen aufgenommen.«

Einen Augenblick lang war ich verwirrt.

»Wieso …? Hören Sie etwa mein Telefon ab?«

»Das war doch eine naheliegende Vorsichtsmaßnahme«, sagte Baird.

»Scheiße«, sagte Danny und ging hinaus.

»Wieviel weiß er?« fragte Baird.

»Wieviel weiß ich? Warum hat man mir das alles nicht gesagt?

Ist Laroue ein Verdächtiger?«

Baird runzelte die Stirn und sah auf seine Uhr.

»Verdammter Mist«, sagte er. »Ich glaube, es ist wahrscheinlich, daß die Mackenzie-Mörder mit der Terrorismuswelle in der Stamford-Gegend von Essex in Verbindung stehen. Wir hielten es für möglich, daß hier ein Anschlag auf Fiona Mackenzie verübt werden könnte. Bitte sagen Sie Ihrem Freund, daß ich mich entschuldige.« Er stand auf, um zu gehen. »Zu Ihrer Information: Morgen …« Er stockte und lächelte matt. » Heute wird eine Operation stattfinden, geleitet von einem Kollegen namens Carrier, und es wird in der ganzen Gegend Festnahmen geben. Darunter auch die von Frank Laroue, dem man verschiedene Vergehen, wie das der Verschwörung und des Aufrufs zur Gewalt, zur Last legt.«

»Ach du liebe Güte«, sagte ich. »Dann kann ich wohl davon ausgehen, daß mein Drink mit ihm verschoben werden muß.«

»Das war nicht besonders vorsichtig«, sagte Baird. »Wie auch immer, ich bin überzeugt, daß Sie jetzt vollkommen sicher sind.«

»Und was ist, wenn es nicht die militanten Tierschützer waren, die die Mackenzies umgebracht haben?«

»In dem Fall waren die Mörder vermutlich Einbrecher.«

»Was haben sie gestohlen?«

»Es ging schief. Sie wurden gestört. Wie auch immer, Sie sind jetzt sicher.«

»Nein, bin ich nicht. Gegen Abend kommen meine Eltern zum Essen.«

Später an diesem Morgen, um zehn Uhr, klopfte jemand schüchtern an die Tür. Ein dünner junger Mann, eigentlich noch ein Junge, dessen Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, stand mit einer Tüte und einem nervösen, anbetenden Lächeln davor. Als er mich sah, verschwand das Lächeln.

»Miss Fiona wollte ein wenig Gemüse«, sagte er und drückte mir die Tüte in die Hand.

»Frisch vom Bauernhof. Was kommt als nächstes?« fragte Danny.

»Vielleicht echte Hausmannskost?«

Finn und Elsie kamen aus der Küche. Beide hatten die Ärmel hochgekrempelt, und um Elsies Taille war ein Geschirrtuch geschlungen.

»Warum machen Sie beide nicht einen Spaziergang, bevor Ihre Mutter kommt?« fragte Finn.

War das das Mädchen, das noch vor ein paar Wochen kaum ein Wort herausgebracht hatte? Sie trug ihre neuen dunkelblauen Jeans und ein weißes Baumwollhemd; ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und wurde von einer Samtschleife gehalten. Ihr Gesicht war jetzt gebräunt von unseren Spaziergängen und gerötet von der Hitze des Ofens. Sie sah sauber und mädchenhaft aus mit ihren biegsamen Gliedern und ihren starken, schmalen Schultern; ich wußte, wenn ich näher bei ihr stünde, könnte ich ihre Seife und den Talkumpuder riechen.

Sie gab mir das Gefühl, alt und verwittert zu sein. Sie kam näher, nahm mir die Tüte aus den Händen und schaute hinein.

»Kartoffeln«, sagte sie. »Und Spinat. Genau, was wir wollten, nicht, Elsie?«

»Wer war dieser Junge?« fragte ich.

»Och, das war Roy, Judiths Sohn«, sagte sie beiläufig. Sie kannte wesentlich mehr Leute aus der Gegend als ich. Sie kicherte. »Ich glaube, er ist in mich verknallt«, und dann wurde sie rot von den Haarwurzeln bis zum Hals, auf dem die Narbe bereits verblaßte.

Danny sah ihr nach, als sie ging.

»Sie sieht gut aus.«

»Du und dieser Junge mit dem Pferdeschwanz!« sagte ich.

Danny lachte nicht.

Draußen war der Himmel von einem blassen Hellblau, und obwohl es vor ein paar Tagen geschneit hatte – nadelspitze, gemeine kleine Schneeflocken, die sich an den Rändern der rötlichen Felder sammelten –, war die Luft mild. Ich hatte alle Heizkörper ausgeschaltet und die Fenster geöffnet. Im Garten leuchteten die ersten Narzissen, und die Tulpen, noch mit geschlossenen Knospen, standen in einer dichten Reihe.

»Ja, sollen wir einen Spaziergang machen?« fragte Danny.

»Wann kommen deine Eltern?«

»Wir haben noch gut zwei Stunden Zeit. Laß uns über Stone-on-Sea gehen« – obwohl die Ufermauern das Meer längst zurückgedrängt hatten und das Dorf von ödem Marschland und merkwürdigen, auf dem Trockenen stehenden Hafenmolen umgeben war – »und von da aus ans Wasser.«

Es war so mild, daß wir nicht einmal Jacken brauchten. Durch das Küchenfenster konnte ich Finn erkennen, die sich mit konzentriert gerunzelter Stirn über irgend etwas beugte. Elsie war nicht zu sehen. Danny zog mich enger an sich, und lange gingen wir im Gleichschritt schweigend nebeneinander her.

Dann begann er zu sprechen.

»Sam, da ist etwas, worüber ich mit dir reden muß.«

»Was denn?« Sein Ton war ungewöhnlich ernst, und mich überkam eine unerklärliche Angst.

»Es hat mit Finn zu tun, natürlich, und mit dir und auch mit Elsie. Ach, Mist, ich weiß nicht, komm her.«

Er blieb stehen, zog mich eng an sich und vergrub sein Gesicht an meinem Hals.

»Was ist los, Danny? Sag’s mir, wir hätten schon längst reden sollen, bitte, sag es mir.«

»Nein, warte«, murmelte er. »Körper reden besser.«

Ich schob meine Hände unter seinen Pullover und sein Hemd und fühlte seinen warmen, starken Rücken nackt unter meinen Fingern. Das Gesicht noch immer an meinem Hals, während seine Bartstoppeln meine Wange kitzelten, öffnete er den Gürtel meiner Jeans, schob eine Hand hinein und umfaßte meinen Po.

Mein Atem wurde flacher und keuchend.

»Nicht hier, Danny.«

»Warum? Es sieht uns keiner.«

Um uns herum breitete sich in alle Richtungen Marschland aus, durchsetzt von verkümmerten Bäumen und verrottenden Booten, die gestrandet waren, als die See von den Mauern gezähmt wurde. Mit kundiger Hand öffnete Danny meinen BH.

Ich zog seinen Kopf an den langen, nicht ganz sauberen Haaren zurück und sah, daß sein Gesicht in einer Art konzentrierter Unruhe verzogen war.

»Keine Angst, Liebster«, sagte ich, knöpfte seine Hose auf und ließ ihn meine herunterziehen, und verzweifelt stieß er in mich hinein, während mein Jeans und mein Slip wie Fesseln um meine Fußgelenke hingen. So standen wir ineinander verschlungen inmitten des großen, leeren Raums unter einer milden Sonne, und ich dachte, wie würdelos ich aussehen mußte. Ich hoffte, daß kein Farmer beschloß, diesen Weg zu nehmen, und fragte mich, was meine Mutter wohl dazu sagen würde.

»Das«, sagte Danny mit vollem Mund, während meine Mutter ihn über den Tisch hinweg mißbilligend ansah, »ist toll, Finn.«

Finn hatte uns gebratene Lammkeule mit Knoblauch und Rosmarin, Folienkartoffeln mit Sauerrahm und Butter und grob gehackten Spinat serviert, und sie hatte gestern im Supermarkt sogar daran gedacht, Minzsauce zu kaufen. Mein Vater – so angezogen, wie er es für lässig hielt: in Tweedjackett, Hose von unbestimmbar gräulicher Farbe, mit offenem Kragenknopf am makellos gebügelten Hemd und einem Scheitel, der wie eine neue, rosafarbene Straße durch sein dünn werdendes graues Haar verlief –, hatte zwei Flaschen Wein zutage gefördert.

Meine Mutter aß höchst manierlich, tupfte sich nach jedem Bissen die Lippen ab und trank hin und wieder vorsichtig ein Schlückchen von ihrem Wein. Finn aß fast gar nichts, saß aber mit leuchtenden Augen am Tisch, ein nervöses Lächeln um die Lippen. Danny hatte neben ihr Platz genommen und legte sein bestes Benehmen an den Tag, war aber ziemlich zurückhaltend, wie ich fand. Auf der anderen Seite saß Michael Daley, bemüht lebhaft und eifrig darauf bedacht, alle zu bezaubern. Er war mit einem großen Strauß gelber Rosen (für mich), Anemonen (für Finn, die sie an sich drückte wie eine scheue Braut), Wein und festem Händedruck erschienen. Er hörte meiner Mutter aufmerksam zu, als sie über den schrecklichen Vormittag sprach, den sie hinter sich hatte, ließ sich von meinem Vater respektvoll die Route schildern, die sie genommen hatten, um mich zu besuchen, lud sich die kichernde Elsie auf die Schultern, beugte sich tröstend zu Finn, wann immer er mit ihr sprach, wobei ihm das dunkelblonde Haar über die Augen fiel.

Er raspelte kein Süßholz, sondern war auf angenehme Weise bemüht zu gefallen. Er drehte sich auf seinem Stuhl wie ein Wetterhahn, wandte sich bei jeder Bemerkung dem Sprecher zu.

Er reichte Gemüse herum, sprang auf, um Finn in der Küche zu helfen. Er war voll seltsam nervöser Energie. Plötzlich schoß mir der Gedanke durch den Kopf, ob er womöglich im Begriff war, sich in Finn zu verlieben, und dann fragte ich mich, ob er vielleicht in mich verliebt war, und falls ja, was ich davon hielte.

Ich sah mir die beiden Männer rechts und links von Finn an; der eine dunkel, mürrisch und hinreißend, der andere heller, rätselhafter. Und bei jedem Bissen, den sie fleißig kaute, konnte ich sehen, welcher von beiden meiner Mutter gefiel. Zwischen den Männern herrschte eine eigenartige Spannung; sie konkurrierten miteinander, wußten aber nicht so genau, worum.

Danny faltete unaufhörlich Papierfiguren, indem er Stückchen von seiner Papierserviette in Blumen und Boote verwandelte.

Als wir bei den Backäpfeln angelangt waren (mit Rosinen und Honig gefüllt von Elsie, die sich jetzt in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, angeblich, um ein Bild zu malen) sagte meine Mutter mit ihrer interessiertesten Stimme:

»Und wie geht die Arbeit voran, Samantha?«

Ich murmelte etwas von Wartezeit, und das Gespräch wäre versickert (tatsächlich sah ich, daß Michael sich gerader hinsetzte und darauf wartete, galant das Schweigen zu brechen, das sich auszubreiten drohte), als mein Vater sich förmlich räusperte und seine Serviette beiseite legte. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Als ich in Japan in Gefangenschaft war«, begann er, und mir sank das Herz; das hatte ich schon öfter gehört, »habe ich viele Männer sterben sehen. Sie wurden dahingerafft wie die Fliegen.« Er machte eine Pause, und wir warteten mit dem automatischen Respekt von Leuten, die vor einer Tragödie den Kopf neigen. »Ich sah mehr, als irgendeiner von euch jemals sehen wird; und mehr, da bin ich sicher, als irgendeiner deiner kostbaren Patienten sieht.«

Ich schaute Finn an, aber sie hielt den Kopf gesenkt und schob mit der Gabel eine Rosine auf ihrem Teller herum.

»Dann kam ich wieder nach Hause und machte einfach weiter.

Ich erinnere mich noch an alles.« Er legte die Hand auf den Tweed über seiner Brust. »Aber ich schob es beiseite. Das ganze Gerede über Traumata und Streß und Opfer, weißt du, das tut nicht gut, das reißt nur alte Wunden auf. Am besten läßt man die Dinge ruhen. Ich zweifle nicht an deinen Motiven, Samantha.

Aber ihr jungen Leute denkt, ihr hättet ein Recht auf Glück.

Dabei muß man seine Erfahrungen einfach aushalten. Trauma!«

Er nahm sein Weinglas und trank einen Schluck; seine Augen sahen über den Rand des Glases. Meine Mutter wirkte ängstlich.

»Nun ja …«, begann Michael in verständnisvollem Ton.

»Dad …«, fing ich in einem jammernden Tonfall an, den ich als den Tonfall meiner Kindheit erkannte.

Aber Finns Stimme, weich und klar, setzte sich durch.

»Soweit ich das verstehe, Mr. Laschen, ist Trauma ein Wort, das zu häufig benutzt wird. Die Leute verwenden es, wenn sie einfach Kummer oder Schock oder Trauer meinen. Ein wirkliches Trauma ist etwas anderes. Das überwinden die Menschen nicht einfach so. Sie brauchen Hilfe.« Einen Moment lang traf mich ihr Blick, und ich lächelte ihr zu. Es war merkwürdig still im Raum.

»Manche Leute, die traumatisiert sind, empfinden das Leben buchstäblich als unerträglich. Sie sind keine schwachen Feiglinge oder Narren; sie sind einfach verletzt, und man muß sie heilen.

Ärzte heilen unsere körperlichen Wunden, aber manchmal kann man die Wunden nicht sehen. Sie sind aber trotzdem da. Nur, weil Sie gelitten und sich nicht beklagt haben, glauben Sie, andere Menschen sollten auch leiden?« Niemand sprach. »Ich glaube, daß Sam den Menschen sehr hilft. Sie rettet Menschen.

Wissen Sie, es geht nicht um Glück, es geht darum, überhaupt leben zu können.«

Michael beugte sich zu ihr und nahm ihr die Gabel aus der Hand, die sie noch immer auf dem Teller herumschob. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie lehnte sich dankbar an ihn.

»Finn und ich werden jetzt Kaffee für alle machen«, sagte er und führte sie aus dem Zimmer.

Meine Mutter stapelte geräuschvoll unsere Dessertteller aufeinander.

»Mädchen im Teenageralter reagieren immer sehr heftig«, sagte sie verständnisvoll.

Ich schaute zu meinem Vater hinüber.

»Weißt du, was das Problem ist?« sagte er.

»Nein«, sagte ich.

»Deine Tür klemmt. Ich wette, es liegt an den Angeln. Ich sehe sie mir später an. Hast du Kohlepapier?«

»Kohlepapier? Wozu brauchst du das?«

»Man breitet es unter dem Türsturz aus, um zu sehen, wo die Reibung ist. Dazu gibt es nichts Besseres als Kohlepapier.«

19. KAPITEL

Einmal, als ich ungefähr zehn war, fuhren wir in den Sommerferien nach Files Bay oben an der Ostküste. Ich war nie wieder dort, und alles, woran ich mich erinnere, sind Sanddünen und ein heftiger, schmutziger Wind – wie er abends am Ufer entlangfegte, die Dosen klappern ließ, die auf den Gehsteigen lagen, und kratzige Pflanzenreste in die Luft wirbelte wie kleine, zerfledderte Drachen. Und ich weiß auch noch, daß mein Vater in einem Tretboot mit mir hinausfuhr. Meine Beine reichten kaum bis zu den Pedalen, und ich mußte auf dem Sitz ganz nach vorn rutschen, während er sich zurücklehnte und seine Beine –

mager und glänzend weiß in den ungewohnten Shorts – fleißig strampelten. Ich schaute ins Wasser hinunter und konnte auf einmal den Grund nicht mehr sehen, nur ein bodenloses Graubraun. Als sei es gestern gewesen, kann ich mich an die Panik erinnern, die bis in die hintersten Winkel meines Bewußtseins drang. Ich schrie und schrie, klammerte mich an den Arm meines verwirrten Vaters, so daß meine Mutter, die am Ufer wartete, dachte, irgend etwas Schreckliches sei passiert, obwohl unser kleines rotes Tretboot ungefährdet nur ein paar Meter entfernt auf dem Wasser dümpelte. Wenn es um Wasser geht, fühle ich mich niemals sicher; ich kann zwar schwimmen, vermeide es aber nach Möglichkeit. Wenn ich mit Elsie ins Schwimmbad gehe, bleibe ich da, wo es nur knietief ist, und sehe zu, wie sie herumplanscht. Das Meer ist für mich kein Ort, wo man Spaß hat, kein riesiges Freizeitzentrum, sondern ein unheimlicher Moloch, der Boote und Leichen, radioaktiven Müll und Scheiße verschluckt. Manchmal, besonders abends, wenn die verschiedenen Grautöne des Meeres mit dem dunkler werdenden Himmel verschmelzen, stehe ich vor meiner Tür und schaue auf die glänzende Wasserfläche; dann stelle ich mir die andere Welt vor, die unter dem Wasser verborgene – und mir wird ganz schwindlig.

Was also dachte ich mir, als ich mit Michael Daley segeln ging?

Als er angerufen hatte, um sich mit mir zu verabreden, hatte ich mit begeisterter Stimme geantwortet, ich würde sehr gern auf seinem Boot hinausfahren. Ich mag es, wenn die Leute denken, ich wäre mutig und unerschrocken.

»Was soll ich mitbringen?« fragte ich.

»Nichts. Ich habe einen wasserdichten Overall, der Ihnen passen müßte, und natürlich Schwimmwesten. Denken Sie daran, Handschuhe mitzunehmen.«

»Wasserdichter Overall?«

»Wissen Sie, so eine Art Gummianzug, wie Taucher ihn tragen – er wird Ihnen gut stehen. Ohne den würden sie um diese Jahreszeit erfrieren, falls wir kentern.«

»Kentern?«

»Hat dieses Telefon ein Echo, oder sind Sie das?«

»Der paßt mir nie im Leben.«

Ich schaute auf etwas, das einem Bündel von schwarzen und limonengrünen Eingeweiden glich.

»Sie müssen vorher Ihre Kleider ausziehen.« Wir waren in meinem Wohnzimmer. Danny war nach Stamford gefahren, um Farbe zu kaufen, Finn war zum Laden an der Ecke gegangen, um Milch und Brot zu besorgen, und Elsie befand sich in der Schule. Michael trug bereits seinen Gummianzug unter einer gelben Regenjacke. Er sah lang und schlank aus, aber irgendwie komisch, wie ein Astronaut ohne Raumschiff oder ein Fisch auf dem Trockenen.

»Oh.«

»Lassen Sie die Unterwäsche an, vielleicht auch Ihr T-Shirt.«

»Gut. Ich denke, ich ziehe mich im Schlafzimmer um.

Nehmen Sie sich Kaffee.«

Oben entkleidete ich mich bis auf BH und Slip und fing an, meine Beine in das dicke schwarze Gummi zu zwängen. Gott, war das eng. Es legte sich elastisch um meine Schenkel, und ich zog es über die Hüften hoch. Meine Haut fühlte sich an, als müßte sie ersticken. Am schwierigsten war es, die Arme in die Ärmel zu befördern; ich hatte das Gefühl, als würde mein Körper sich unter dem Zug des Gummis zusammenrollen. Der Reißverschluß saß auf dem Rücken, aber ich konnte ihn nicht erreichen – tatsächlich konnte ich die Arme kaum höher als waagerecht heben.

»Alles in Ordnung?« rief Michael.

»Ja.«

»Soll ich helfen?«

»Ja.«

Er kam ins Zimmer, und ich sah uns beide im Spiegel, langbeinige Mondspaziergänger.

»Ich hatte recht, er steht Ihnen«, sagte er, und ich zog verlegen den Bauch ein, als er den Reißverschluß schloß und ich das kalte Metall und seine warmen Finger auf meinen Rückenwirbeln spürte. Ich fühlte seinen Atem in meinem Haar.

»Ziehen Sie die Stiefel an« – er reichte mir ein Paar saubere Gummischuhe –, »und dann können wir gehen.«

Der Wind wehte in eisigen Böen über den steinigen Strand, wo Michaels Boot mit anderen Dinghis in einer Reihe lag. In seinem Bootshaus lagerte er anscheinend nur seine Surfbretter und Reservesegel; Dinghis blieben bei jedem Wetter draußen.

Die kahlen Boote verursachten mit all ihren Schnüren (»Wanten«, sagte Michael), die die Masten hielten, ein merkwürdig summendes Geräusch, ein bißchen wie Wälder in einer kalten Winternacht. Die kleinen Wellen hatten weiße Schaumkronen. Ich sah, wie Böen das graue Wasser kräuselten.

Michael legte den Kopf zurück.

»Mmm. Gutes Segelwetter.«

Mir gefiel nicht, wie das klang. Draußen in der Mündung konnte ich ein einziges kleines Dinghi mit weißen Segeln sehen, das beunruhigend schräg lag, so daß sein Unterbau (»Rumpf«) aus dem Wasser zu ragen schien. Sonst konnte ich weit und breit niemand entdecken. Der Horizont verschwand in grauem Dunst.

Es war einer dieser Tage, an denen es nie richtig hell wird; feuchte Gaze schien über dem Wasser zu liegen.

Michael zog die dicke grüne Persenning von seinem Boot (ein Wayfarer namens Belladonna, sagte er mir, wegen des schwarzen Spinnakers; ich fragte nicht, was ein Spinnaker ist).

Er beugte sich über den Boden des Bootes und nahm eine Schwimmweste heraus.

»Ziehen Sie die an. Ich takle nur rasch auf.«

Er schüttelte ein großes, rostfarbenes Segel aus einem Nylonsack und fing an, lange, flache Stäbe in Taschen im Stoff zu schieben.

»Spanten«, erklärte er. »Sonst würden die Segel überall herumflattern.«

Dann hakte er einen Draht vom Ansatz des Masts los und hängte ihn in die Spitze des Segels ein; das untere Ende schob er durch einen Schlitz im Baum – diesen Namen kannte ich – und befestigte es.

»Das ist das Hauptsegel«, sagte er. »Wir ziehen es erst hoch, wenn wir das Boot im Wasser haben.«

Das nächste Segel hängte er an einen anderen Draht, den er vom Mast losmachte. Mit vielen kleinen Haken befestigte er es am Vorstag und ließ es eingerollt an Deck liegen. Dann zog er eine lange Kordel durch ein Loch am unteren Rand des Dreiecks, führte die beiden Enden durch zwei Ösen auf beiden Seiten des Bootes und knüpfte zwei Knoten in Form einer Acht, damit sie nicht aus den Ösen rutschen konnten. Schließlich förderte er eine kleine schwarze Flagge zutage, band sie an einen am Mast befestigten Draht und zog sie hoch, bis sie an der Mastspitze flatterte.

»So, und jetzt ziehen wir das Boot ins Wasser.«

Mir fiel auf, welche Autorität er ausstrahlte. Seine Hände arbeiteten kräftig und sorgfältig, er war ganz bei der Sache. Ich dachte, daß er ein guter Arzt sein mußte, und fragte mich, wie viele seiner Patientinnen sich wohl in ihn verliebten. Zusammen zogen wir Belladonna, noch auf dem Trailer, an den Rand des Wassers, wo Michael sie in die kabbeligen Wellen schob, während ich das Tau hielt.

»Es macht nichts, wenn Sie naß werden!« rief er, während er in das Boot kletterte und anfing, das Ruder einzuhängen und die flatternden Segel aufzuziehen. »Es wird Ihnen sogar wärmer sein, wenn ein bißchen Wasser zwischen Anzug und Haut kommt.«

»Gut«, sagte ich mit etwas belegter Stimme und watete ins Wasser, die Leine in den blau gefrorenen Händen, die schmerzten, wo sie noch nicht taub geworden waren, denn ich hatte meine Handschuhe vergessen. »Wann?« schrie ich.

»Wann was?«

»Wann wird mir wärmer? Mir ist eiskalt, Dr. Daley.«

Er lachte, seine ebenmäßigen weißen Zähne strahlten, die Segel flatterten wild um ihn herum. Plötzlich, als das Vor- und dann das Hauptsegel hochgezogen waren, hörte das Boot auf herumzuhüpfen; es fühlte sich nicht mehr an, als müßte ich einen zuckenden Drachen bändigen, sondern eher einen Hund, der begierig ist loszurennen.

»Schieben Sie die Nase ein bißchen an!« rief Michael. »Und dann springen Sie rein; springen, sagte ich, nicht fallen.«

Strampelnd landete ich im Rumpf des Bootes und stieß mir das Knie an. Sofort legte sich das Boot schräg. Wasser schwappte über den Rand. Mein Gesicht war ungefähr zehn Zentimeter davon entfernt.

»Kommen Sie auf meine Seite«, wies Michael mich an, der nicht übermäßig besorgt schien. »So, und jetzt setzen Sie sich hier neben mich und schieben die Zehen unter diese Leine dort.

Dann fallen Sie nicht ins Wasser, wenn Sie sich hinauslehnen.«

Er hielt die Pinne mit einer Hand, mit der anderen zog er die Leine an, die das kleine Segel hielt, und straffte es. Die Segel blähten sich, und ich merkte, daß das Boot nun nicht mehr seitwärts trieb, sondern Fahrt aufnahm. Für meinen Geschmack viel zuviel Fahrt.

»So, Sam, bis es richtig losgeht und solange der Wind noch schwach ist …«

»Schwach!« ächzte ich.

»Wir kriegen erst richtig Fahrt, wenn wir um die Landspitze herum und im offenen Wasser sind.«