Nicci French

Ein sicheres Haus

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Die Ärztin Samantha Laschen zieht mit ihrer 5jährigen Tochter Elsie in das einsam gelegene Elm House in Essex. Hier will sie endlich Ordnung in ihr chaotisches Leben bringen. Kurz nach ihrer Ankunft wird im benachbarten Stamford ein reiches Ehepaar ermordet, die Tochter Fiona überlebt unter Schock. Die Polizei sucht für sie eine sichere Bleibe. Samantha und ihr Haus scheinen die ideale Lösung zu sein. Für Fiona wird Elm House zum zweiten Zuhause, Samantha könnte eigentlich zufrieden sein. Aber warum hat sie dann das Gefühl, eine Fremde im eigenen Haus zu sein? Warum wird sie den Verdacht nicht los, auf subtile Weise manipuliert zu werden?

ISBN: 3-570-00145-8

Original: A Safe House

Deutsch von Elke vom Scheidt

Verlag: C. Bertelsmann

Erscheinungsjahr: 1. Auflage 1998

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Die Ärztin Samantha Laschen, Spezialistin für posttraumatische Medizin, zieht mit ihrer kleinen Tochter Elsie in das einsam gelegene Elm House in Essex. Hier will Samantha endlich Ordnung in ihr Lebenschaos, Klarheit in ihre Liebe zu Danny und Ruhe in ihre Beziehung zu Elsie bringen. Doch kurz nach ihrer Ankunft wird im benachbarten Stamford das wohlhabende Ehepaar Mackenzie brutal ermordet. Nur Fiona, die neunzehnjährige Tochter, überlebt unter Schock Als die Polizei für das Mädchen eine sichere Bleibe sucht, scheint Samanthas Haus die ideale Lösung zu sein. Fiona fühlt sich bei Samantha wohl und übernimmt immer mehr Aufgaben im Haus. Doch eines Tages ist sie verschwunden, zusammen mit Danny. Wenig später wird ein Auto mit ihren verbrannten Überresten gefunden.

Und ein Testament, in dem Fiona ihrem Arzt Michael Daley ihr gesamtes Erbe überschreibt, immerhin 18 Millionen Pfund.

Samantha ist völlig verstört. Hat sie sich so in Fiona und Danny getäuscht? Dann macht sie in einem Bootshaus eine unheimliche Entdeckung. Und ist sich plötzlich sicher, daß Michael Daley der eigentliche Drahtzieher war. Doch gerade als sie glaubt, die vermeintliche Bedrohung für immer gebannt zu haben, wird ihre Tochter Elsie entführt. Und Elm House brennt …

Autor

Nicci French sorgte mit ihrem Erstling »Der Glaspavillon«

international für Furore und reihte sich in die erste Garde britischer Autorinnen wie Minette Walters ein.

»Ein sicheres Haus« ist der zweite Roman der in London lebenden Journalistin.

FÜR PAT UND JOHN

1. KAPITEL

Mit der Tür fing es an. Die Tür war geöffnet. Sonst stand die Haustür nie offen, nicht einmal bei der wunderbaren Hitze im vorigen Sommer, die sie so an zu Hause erinnert hatte; aber da war sie, leicht nach innen geöffnet, und das an einem so kalten Morgen, daß die in der Luft hängende Feuchtigkeit Mrs. Ferrer in die pockennarbigen Wangen stach. Sie drückte ihre behandschuhte Hand gegen das weißlackierte Türblatt und prüfte nach, was ihre Augen ihr sagten.

»Mrs. Mackenzie?«

Stille. Mrs. Ferrer rief noch einmal nach ihrer Arbeitgeberin, lauter diesmal. Als ihre Worte in der großen Eingangshalle widerhallten, war es ihr peinlich. Sie trat ins Haus und streifte ihre Schuhe dabei gründlich an der Fußmatte ab; das tat sie immer. Sie zog die Handschuhe aus und hielt sie in der linken Hand. Jetzt nahm sie einen Geruch wahr. Schwer und süßlich.

Er erinnerte sie an etwas. So roch es auf dem Hof vor einer Scheune. Nein. Drinnen. In einer Scheune vielleicht.

Jeden Morgen um Punkt halb neun sagte Mrs.Ferrer.

Mrs.Mackenzie mit einem Nicken guten Morgen, ging geräuschvoll an ihr vorbei, über das blankgebohnerte Parkett der Eingangsdiele, nahm die Treppe gleich rechts in den Keller, zog ihren Mantel aus, holte den Staubsauger aus dem Geräteraum und verbrachte eine Stunde mit dessen ohrenbetäubendem Lärm.

Die große Treppe auf der Vorderseite des Hauses hinauf, durch die Flure im ersten Stock, die Flure im zweiten Stock, dann über die kleine Hintertreppe wieder hinunter. Aber wo war Mrs. Mackenzie?

In ihrem fest zugeknöpften, haferschleimfarbenen Tweedmantel stand Mrs. Ferrer unsicher an der Tür und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie konnte einen Fernsehapparat hören. Der Fernseher lief sonst nie. Sorgfältig streifte sie die Sohlen beider Schuhe an der Matte ab. Sie sah nach unten. Hatte sie das nicht eben schon getan?

»Mrs. Mackenzie?«

Sie trat von der Matte auf das harte Holz – Bienenwachs, Weinessig und Paraffin. Sie ging hinüber zum vorderen Zimmer, das nie zu irgend etwas benutzt wurde und kaum gesaugt werden mußte, obwohl sie es trotzdem tat. Natürlich war niemand darin. Alle Vorhänge waren zugezogen, das Licht brannte. Sie ging hinüber zum Fuß der Treppe und zum zweiten vorderen Zimmer. Sie legte die Hand auf den Treppenpfosten, der von einer ornamentreichen Schnitzerei aus dunklem Holz gekrönt wurde, die aussah wie eine Ananas mit Schnabel.

Afrormosia, ein Tropenholz – Leinöl brauchte man dafür, abgekocht, nicht roh. Niemand da. Sie wußte, daß der Fernseher im Wohnzimmer stand. Sie trat einen Schritt vor, ihre Hand streifte die Wand, als wollte sie sich abstützen. Ein Bücherschrank. Ledergebundene Bände, die Lanolin und Klauenfett benötigten, zu gleichen Teilen. Es war möglich, überlegte sie, daß, wer immer da fernsah, ihren Ruf nicht gehört hatte. Und was die Tür betraf – vielleicht wurde etwas geliefert, oder der Fensterputzer hatte sie beim Hereinkommen offengelassen. So beruhigt, ging sie zur Rückseite des Hauses und in das Hauptwohnzimmer. Sehr schnell, binnen weniger Sekunden nach dem Betreten des Raums, hatte sie sich heftig auf den Teppich übergeben, den sie seit achtzehn Monaten an jedem Werktag gestaubsaugt hatte.

Sie stand vorgebeugt, mit gesenktem Oberkörper, und keuchte.

Sie suchte in ihrer Manteltasche herum, fand ein Papiertaschentuch und wischte sich den Mund ab. Sie war über sich selbst überrascht, fast verlegen. Als Kind war sie einmal von ihrem Onkel durch ein Schlachthaus außerhalb von Fuenteobejuna geführt worden. Er hatte auf sie herabgelächelt, weil sie nicht in Ohnmacht fallen wollte beim Anblick des Blutes und der abgehackten Gliedmaßen und vor allem des Dampfes wegen, der von dem kalten Steinboden aufstieg. Das war der Geruch, an den sie sich erinnert hatte. Ganz und gar kein Scheunengeruch.

Blutspritzer waren so weiträumig verteilt, bis hinauf an die Decke, bis an die gegenüberliegende Wand, als wäre Mr. Mackenzie explodiert. Doch das meiste Blut befand sich in dunklen Lachen auf seinem Schoß und auf dem Sofa. Es war so viel. Konnte das von einem einzigen Menschen stammen? Das, wovon ihr schlecht geworden war, war vielleicht die Normalität seines Pyjamas, so englisch, sogar der oberste Knopf war geschlossen. Mr. Mackenzies Kopf lag in einem unnatürlichen Winkel nach hinten gebeugt. Sein Hals war durchtrennt, und nichts außer der Rückenlehne des Sofas hielt den Kopf mehr aufrecht. Sie sah Knochen und Sehnen und die Brille, die immer noch nutzlos auf seiner Nase saß. Das Gesicht war sehr weiß.

Und stellenweise gräßlich blau verfärbt.

Mrs. Ferrer wußte eigentlich, wo das Telefon stand, aber sie hatte es vergessen und mußte danach suchen. Sie fand es auf einem kleinen Tisch auf der anderen Seite des Zimmers, weit weg von all dem Blut. Sie kannte die Nummer aus einer Fernsehsendung. Neun, neun, neun. Eine weibliche Stimme antwortete.

»Hallo. Ein schrecklicher Mord ist passiert.«

»Wie bitte?«

»Ein Mord ist passiert.«

»Gut, in Ordnung. Beruhigen Sie sich, weinen Sie nicht.

Sprechen Sie Englisch?«

»Ja, ja. Entschuldigung. Mr. Mackenzie ist tot. Umgebracht.«

Erst als sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, fiel ihr Mrs.

Mackenzie ein, und sie ging nach oben. Mrs.

Ferrer

brauchte nur eine Sekunde, um zu sehen, was sie befürchtet hatte. Ihre Arbeitgeberin war an ihr Bett gefesselt. Sie schien fast in ihrem eigenen Blut zu schwimmen, ihr Nachthemd auf dem hageren Körper glänzte von Blut. Zu dünn, hatte Mrs. Ferrer insgeheim immer gedacht. Und das Mädchen? Sie fühlte ein Gewicht auf der Brust, als sie eine weitere Treppe hinaufging. Sie stieß die Tür des einzigen Zimmers im Haus auf, das sie nicht saubermachen durfte. Sie konnte kaum etwas von der Person sehen, die an das Bett gefesselt war. Was hatten sie mit ihr gemacht? Braunes, glänzendes Klebeband auf dem Gesicht. Ausgestreckte Arme, die Handgelenke an die Ecken des metallenen Bettgestells gebunden, dünne rote Streifen auf der Vorderseite des Nachthemds.

Mrs. Ferrer sah sich in Finn Mackenzies Schlafzimmer um.

Flaschen lagen verstreut auf der Kommode und auf dem Boden.

Fotos waren zerfetzt und zerrissen, Gesichter ausgestochen. An einer Wand stand in einem schmierigen, dunklen Rosa ein Wort, das sie nicht verstand: Piggies. Schweine? Plötzlich drehte sie sich um. Vom Bett war ein Geräusch zu hören. Ein Gurgeln. Sie stürzte hinüber. Sie berührte die Stirn über dem ordentlich angebrachten Klebeband, das die Augen verschloß. Sie war warm. Sie hörte draußen einen Wagen und schwere Schritte in der Diele. Sie rannte die Treppe hinunter und sah Männer in Uniform. Einer von ihnen blickte zu ihr auf.

»Lebt noch«, keuchte Mrs. Ferrer. »Lebt noch.«

2. KAPITEL

Ich sah mich um. Dies war keine Landschaft, sondern Brachland, in das man Bröckchen von Landschaft gestreut und dann aufgegeben hatte, einen Baum oder Busch hier und da, eine winterlich kahle Hecke, plötzlich ein Feld, gestrandet in Schlamm und Marschland. Ich wollte ein geographisches Merkmal – einen Hügel, einen Fluß – und konnte keines finden.

Mit den Zähnen zog ich einen Handschuh aus, um auf die Landkarte zu schauen, und ließ ihn in das schleimige Gras fallen. Das große Blatt flatterte wild im Wind, bis ich es mehrfach faltete und mir die blaßbraunen Konturen, die rot gepunkteten Fußwege und die rot gestrichelten Reitwege anschaute. Kilometerweit war ich der gepunkteten roten Linie gefolgt, hatte aber die Ufermauer, die mich an den Ort zurückführen würde, von wo ich losgegangen war, nicht erreicht. Ich spähte in die Ferne. Der Horizont war ein dünner Streifen Grau vor Himmel und Wasser.

Wieder sah ich auf die Karte, die sich unter meinem Blick aufzulösen schien, ein unentzifferbarer Code aus Kreuzen und Linien, Punkten und Strichen. Ich würde zu spät bei Elsie sein.

Ich hasse es, zu spät zu kommen. Ich komme nie zu spät. Ich bin immer zeitig da, immer bin ich diejenige, die man warten läßt –

die verärgert unter der Uhr steht, die vor einer kalt werdenden Tasse Tee in einem Café sitzt, ein Zucken der Ungeduld unter dem rechten Auge. Ich komme nie, niemals zu spät zu Elsie.

Dieser Spaziergang sollte exakt dreieinhalb Stunden dauern.

Ich drehte die Karte. Ich mußte eine Weggabelung übersehen haben. Wenn ich nach links ging, an dieser dünnen schwarzen Linie entlang, konnte ich den Weg über die sumpfige Landspitze abkürzen und die Ufermauer erreichen, bevor sie an den Weiler stieß, wo mein Auto geparkt war. Ich stopfte die Karte, die jetzt an den Faltstellen brach, in meine Anoraktasche und hob den Handschuh auf. Seine kalten, schlammigen Finger schlossen sich um meine taub werdenden. Ich ging los. Meine Wadenmuskeln schmerzten, und meine Nase lief; schleimige kleine Tropfen, die stechend meine Wangen hinunterrannen. Der riesige graue Himmel drohte mit Regen.

Einmal flog ein dunkler Vogel, den langen Hals ausgestreckt und mit schwer schlagenden Schwingen, niedrig über mich hinweg, doch sonst war ich ganz allein in einer Landschaft aus graugrünem Sumpf und graublauem Meer. Vermutlich ein seltenes und interessantes Tier, aber ich kenne die Namen von Vögeln nicht. Auch nicht die von Bäumen, bis auf die bekanntesten, Trauerweiden und Silberbirken, die in jeder Londoner Straße stehen und mit ihren Wurzeln die Häuser untergraben. Auch nicht die von Blumen, bis auf die gewöhnlichen, wie Butterblumen und Gänseblümchen, und die, die man freitags abends im Blumengeschäft kauft und in eine Vase stellt, wenn Freunde zu Besuch kommen: Rosen, Iris, Chrysanthemen, Nelken. Aber nicht die der schwachen Pflänzchen, die an meinen Stiefeln kratzten, als ich auf einen kleinen Wald zuging, der nicht näher zu kommen schien.

Manchmal, als ich noch in London wohnte, fühlte ich mich bedrückt von all den Plakattafeln, Ladenschildern, Hausnummern, Straßenschildern, Grundstücksgemarkungen und Lieferwagen mit Aufschriften wie »Frische Fische« oder »Ihre freundlichen Möbelpacker«, Neonschriften, die am orangefarbenen Himmel aufleuchteten und verblaßten. Jetzt hatte ich für nichts mehr Worte.

Ich kam zu einem Stacheldrahtzaun, der den Sumpf von etwas trennte, das wie beackertes Land aussah. Ich drückte den Draht mit dem Daumenballen fest nach unten und schwang ein Bein über den Zaun.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme klang freundlich. Ich drehte mich nach ihr um, und der Stacheldraht verfing sich im Schritt meiner Jeans.

»Danke, ich komme schon zurecht.« Ich schaffte es, das andere Bein hinüberzuheben. Er war ein bärtiger Mann mittleren Alters in einer braunen Steppjacke und grünen Stiefeln und kleiner als ich.

»Ich bin der Farmer.«

»Wenn ich in gerader Linie hier weitergehe, komme ich dann auf die Straße?«

»Mir gehört dieses Feld.«

»Nun ja …«

»Dies ist kein öffentlicher Weg. Sie betreten Privatbesitz.

Mein Land.«

»Oh.«

»Sie müssen da entlanggehen.« Ernst zeigte er in die Richtung.

»Dann erreichen Sie einen Fußweg.«

»Kann ich nicht einfach …?«

»Nein.«

Er lächelte mich an, nicht unfreundlich. Sein Hemd war am Hals falsch zugeknöpft.

»Ich dachte immer, auf dem Land kann man überall frei herumlaufen.«

»Sehen Sie meinen Wald da drüben?« fragte er grimmig.

»Jungen aus Lymne« – er sprach es aus wie »Lumney« – »haben angefangen, auf dem Weg durch den Wald Fahrrad zu fahren.

Dann kamen sie mit Motorrädern. Sie haben die Kühe erschreckt und den Weg unpassierbar gemacht. Letztes Frühjahr sind ein paar Leute mit einem Hund über das Feld meines Nachbarn gegangen und haben drei von seinen Lämmern getötet. Ganz zu schweigen von all den Gattern, die sie offenlassen.«

»Das tut mir leid, aber …«

»Und Rod Wilson, gleich da drüben, der hat früher Kälber rüber nach Ostende geschickt. Sie haben angefangen, Streikposten am Hafen in Goldswan Green aufzustellen. Vor ein paar Monaten wurde Rods Scheune niedergebrannt.

Nächstesmal ist es vielleicht ein Haus. Und dann sind da das Winterton und die Thell-Jagd.«

»Schon gut, schon gut. Wissen Sie, was ich machen werde?

Ich werde wieder über diesen Zaun klettern und in einem großen Bogen um Ihr Land herumgehen.«

»Kommen Sie aus London?«

»Früher habe ich in London gewohnt. Ich habe Elm House auf der anderen Seite von Lymne gekauft. Lumney. Sie wissen schon, das Haus, wo es überhaupt keine Ulmen gibt.«

»Also ist es denen endlich gelungen, es loszuwerden.«

»Ich bin aufs Land gekommen, um dem Großstadtstreß zu entkommen.«

»Sind Sie ja. Wir haben immer gern Besucher aus London. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«

Freunde hatten gedacht, ich mache Witze, als ich sagte, ich würde am Krankenhaus in Stamford arbeiten und auf dem Land wohnen. Ich habe immer nur in London gelebt – in London oder zumindest seinen Vorstädten bin ich aufgewachsen, zur Universität gegangen, habe meine Assistenzzeit absolviert und gearbeitet. Was ist mit Geschäften, die Essen ins Haus liefern?

hatte einer gefragt. Und was ist mit Spätfilmen, Läden, die rund um die Uhr geöffnet haben, Babysitten, M&S-Mahlzeiten, Schachpartnern?

Und Danny, als ich endlich den Mut aufbrachte, es ihm zu sagen, hatte mich mit Augen voller Wut und Verletzung angesehen.

»Was soll das, Sam? Willst du dich auf irgendeiner verdammten Dorfwiese ganz intensiv deinem Kind widmen?

Sonntags Lunchs geben und Blumenzwiebeln pflanzen?« Ich hatte tatsächlich an ein paar Blumenzwiebeln gedacht.

»Oder«, hatte Danny weiter gesagt, »verläßt du mich endlich?

Ist es das, worum sich alles dreht, ist das der Grund, warum du dich nie damit aufgehalten hast, mir wenigstens mitzuteilen, daß du dich um einen Job auf dem flachen Land bewirbst?«

Ich hatte mit den Schultern gezuckt, kühl und feindselig, weil ich wußte, daß ich mich schlecht benahm.

»Ich habe mich nicht darum beworben. Die sind zu mir gekommen.

Und vergiß nicht, Danny, wir leben nicht zusammen. Du wolltest deine Freiheit.«

Er hatte eine Art Ächzen von sich gegeben und gesagt: »Hör mal, Sam, vielleicht ist die Zeit gekommen …«

Aber ich hatte ihn unterbrochen. Ich wollte nicht, daß er sagte, wir sollten endlich zusammenleben, und ich wollte auch nicht, daß er sagte, wir sollten uns endlich trennen, obwohl ich wußte, daß wir uns bald würden entscheiden müssen. Ich hatte eine Hand auf seine widerstrebende Schulter gelegt. »Es ist nur anderthalb Stunden entfernt. Du kannst kommen und mich besuchen.«

»Dich besuchen? «

»Bei mir bleiben.«

»Oh, ich werde kommen und bei dir bleiben, mein Liebling.«

Und er hatte sich vorgebeugt, ganz dunkles Haar und Bartstoppeln und Geruch von Sägemehl und Schweiß, und hatte mich an dem Gürtel, der durch die Schlaufen meiner Jeans gezogen war, an sich gerissen. Er hatte meinen Gürtel geöffnet und mich auf das Linoleum der Küche hinuntergedrückt, auf die warme Stelle, unter der ein Heizungsrohr verlief, und seine Hände unter meinem Kopf mit den kurzen Haaren hatten verhindert, daß er auf den Boden aufschlug, als wir hinfielen.

Wenn ich rannte, würde ich vielleicht noch rechtzeitig zu Elsie kommen. An der Ufermauer pfiff der Wind, und der Himmel wurde vom Wasser verschluckt. Ich atmete stoßweise. In meinem linken Schuh befanden sich ein paar Steinchen, die beim Gehen in den Ballen drückten, aber ich wollte nicht anhalten. Es war erst ihr zweiter Tag in der Schule. Die Lehrerin wird denken, daß ich eine schlechte Mutter bin. Häuser! Endlich sehe ich Häuser. Häuser aus den dreißiger Jahren, rote Ziegel, quadratisch, Häuser, wie Kinder ihr Zuhause zeichnen. Perfekt gekräuselter Rauch, eins, zwei, drei Wölkchen aus der ordentlichen Reihe der Schornsteine. Und da war das Auto; vielleicht würde ich doch nicht zu spät kommen.

Elsie wiegte sich von den Fersen auf die Fußspitzen, von den Zehen auf die Fersen. Ihr glattes, helles Haar schwang bei der Bewegung. Sie trug eine braune Regenjacke, ein rot und orange kariertes Kleid und rosa getupfte Strumpfhosen an den staksigen Beinen, die an den sich ständig drehenden Fußknöcheln Falten warfen. (»Du hast gesagt, ich dürfte mir meine Kleider aussuchen, und ich will diese anziehen«, hatte sie beim Frühstück aufsässig gesagt.) Ihre Nase war rot, und ihr Blick leer.

»Komme ich zu spät?« Schuldbewußt umarmte ich ihre abweisende Gestalt.

»Mungo war bei mir.«

Ich sah mich auf dem verlassenen Spielplatz um.

»Ich sehe niemanden.«

»Jetzt nicht mehr.«

An diesem Abend, nachdem Elsie eingeschlafen war, fühlte ich mich in meinem Haus am Meer einsam. Die Dunkelheit draußen war wirklich sehr dunkel, die Stille geradezu unheimlich. Ich saß am unangezündeten Kamin, Anatoly auf dem Schoß, und sein Schnurren, wenn ich ihn hinter den Ohren kraulte, schien das Zimmer zu erfüllen. Unschlüssig stöberte ich im Kühlschrank herum, aß ein Stück hart gewordenen Käse, einen halben Apfel, einen Riegel Milchschokolade mit Rosinen. Ich rief Danny an, es meldete sich aber nur seine unpersönliche Stimme auf dem Anrufbeantworter, und so hinterließ ich keine Nachricht.

Ich schaltete den Fernseher ein, um die Abendnachrichten zu sehen. Ein reiches Ehepaar aus der hiesigen Gegend war brutal ermordet worden; man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten.

Auf ein Bild ihrer förmlich lächelnden Gesichter, seines gerötet und plump, ihres blaß, mager und zurückhaltend, folgte eine Ansicht ihres großen roten Hauses vom Ende einer breiten, kiesbestreuten Einfahrt aus. Ihre Tochter im Teenageralter

»erhole sich« im Stamford General Hospital. Es gab ein verwackeltes Schulfoto, das Jahre alt sein mußte; ein glückliches, rundes, plumpes Gesicht. Das arme Ding. Ein großer Polizeibeamter sagte etwas von keine Mühe scheuen, ein lokaler Politiker äußerte Betroffenheit und Empörung und verlangte, daß Maßnahmen ergriffen würden.

Ich dachte kurz an die Tochter und ihre zerstörte Zukunft.

Dann befaßten sich die Nachrichten damit, daß irgendwo in der Welt der Friedensprozeß ins Stocken geraten war, und schon bald hatte ich das Mädchen vergessen.

3. KAPITEL

»Nach dir.«

»Nein, nach dir.«

»Herrgott, nun gieß schon ein, du Blödmann.«

Sie standen zu viert um die Kaffeemaschine herum, Uniformierte und Anzugträger kämpften um den Zucker und das Milchkännchen. Sie hatten es eilig. Die Sitzplätze in dem normalerweise unbenutzten Konferenzraum waren begrenzt, und keiner wollte zu diesem Anlaß zu spät kommen.

»Für eine Fallkonferenz ist es noch ein bißchen zu früh, was?«

»Der Super will es aber.«

»Ich würde sagen, es ist noch ein bißchen früh.«

Der Konferenzraum befand sich im neuen Anbau der zentralen Polizeidienststelle von Stamford, ganz Resopal, Leuchtröhren, summende Heizanlage. Der Chef des CID, Superintendent Bill Day, hatte das Treffen für 11.45 Uhr an diesem Vormittag anberaumt, an dem die Leichen entdeckt worden waren. Die Jalousetten waren hochgezogen und gaben den Blick auf das Bürogebäude gegenüber frei, dessen verspiegelte Fenster einen hellen Winterhimmel zurückwarfen. Einen Overhead-Projektor und einen Videorecorder hatte man in die hintere Ecke des Raums geschoben. Plastikstühle wurden von Stapeln an der Wand genommen und um den langen Tisch herum verteilt.

Detective Inspector Frank »Rupert« Baird bahnte sich einen Weg durch das Gedränge der Beamten – er überragte die meisten von ihnen – und nahm seinen Platz am Ende des Tisches ein. Er legte ein paar Aktenordner vor sich auf den Tisch und sah auf seine Uhr, sich nachdenklich über seinen Schnurrbart streichend. Bill Day und ein älterer Mann in Uniform betraten den Raum, in dem plötzlich aufmerksame Stille herrschte. Day setzte sich neben Rupert Baird, der Uniformierte aber blieb demonstrativ gleich neben der Tür stehen und lehnte sich leicht an die Wand. Bill Day sprach als erster.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte er. »Und Damen«, fügte er hinzu, als er den ironischen Blick von WPC MacAllister am anderen Ende des Tisches auffing. »Wir werden Sie nicht lange aufhalten. Dies ist nur eine vorbereitende Sitzung.« Er hielt inne und musterte die Gesichter um den Tisch herum.

»Also, Leute, wir müssen diese Sache ordentlich hinkriegen.

Kein Herumpfuschen.« Es gab zustimmendes Nicken. »Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen Chief Superintendent Anthony Cavan vorzustellen, den die meisten von Ihnen noch nicht kennen dürften.«

Der uniformierte Mann an der Tür nickte den Köpfen zu, die sich nach ihm umwandten.

»Danke, Bill«, sagte er. »Guten Morgen allerseits. Ich bin wegen der Pressekonferenz hier, aber ich wollte gern hereinschauen und Ihnen etwas Mut machen. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.«

»Ja«, sagte Bill Day mit einem dünnen Lächeln. »Ich habe Detective Inspector Baird gebeten, die Leitung der Versammlung zu übernehmen. Rupert?«

»Danke, Sir«, sagte Baird und schob mit wichtiger Miene einige Papiere auf dem Tisch vor sich herum. »Der Sinn dieser vorbereitenden Besprechung ist, von Anfang an Klarheit zu schaffen. Die Polizei von Stamford wird im Rampenlicht stehen.

Machen wir uns nicht zum Narren. Erinnern Sie sich an den Fall Porter.« Alle kannten den Fall Porter, selbst wenn sie nur davon gehört hatten: die Fernsehdokumentationen, das öffentliche Interesse, die Bücher, die vorzeitigen Pensionierungen, die Versetzungen. Die Atmosphäre wurde merklich kühler.

»Ich werde versuchen, die Sache so schnell wie möglich darzulegen. Fragen Sie, was Sie wollen. Ich möchte, daß mich jeder richtig versteht.« Er setzte seine Lesebrille auf und schaute auf seine Notizen. »Die Leichen wurden gegen halb neun heute morgen gefunden, Donnerstag, den achtzehnten Januar. Die Opfer sind Leopold Victor Mackenzie und seine Ehefrau Elizabeth. Mr. Mackenzie war der Firmenchef von Mackenzie und Carlow. Sie stellen Medikamente, Arzneien und dergleichen her. Ihre Tochter Fiona wurde ins Stamford General Hospital gebracht.«

»Wird sie überleben?«

»Ich habe noch nichts gehört. Wir haben sie in ein besonders gesichertes Zimmer im Krankenhaus gebracht, zu dem nur wenige Personen Zutritt haben. Ihr Hausarzt hat darauf bestanden, und wir denken, daß er recht hat. Zwei Polizisten halten Wache.«

»Hat sie irgend etwas gesagt?«

»Nein. Gerufen wurden wir von der spanischen Putzfrau der Familie, einer Mrs. Juana Ferrer, und zwar um kurz nach halb neun. Binnen zehn Minuten war der Tatort gesichert. Im Augenblick ist Mrs. Ferrer unten.«

»Hat sie irgend etwas gesehen?«

»Anscheinend nicht, sie …«

Baird verstummte und blickte auf, als sich die Tür öffnete. Ein Mann mittleren Alters mit wirrem Haar und dicken Brillengläsern betrat den Raum. Er trug eine vollgepackte Aktentasche, und er war außer Atem.

»Danke, daß Sie vorbeigekommen sind, Philip«, sagte Baird.

»Könnte ihm jemand einen Stuhl bringen?«

»Ich habe keine Zeit. Ich komme gerade aus dem Haus und bin unterwegs zur Farrow Street. Ich möchte mir die Leichen sofort vornehmen. Ich kann Ihnen ungefähr eine Minute widmen.

Außerdem glaube ich sowieso nicht, daß ich Ihnen hier sehr viel nutzen kann.«

»Das ist Dr. Philip Kale, der Rechtsmediziner«, erklärte Baird den Versammelten. »Was können Sie uns sagen?«

Dr. Kale stellte seine Tasche auf den Boden und runzelte die Stirn.

»Wie Sie wissen, bin ich als Gerichtspathologe unter anderem dafür verantwortlich, daß keine verfrühten Theorien aufgestellt werden. Aber …« Er fing an, an den Fingern abzuzählen.

»Auf der Basis der Untersuchung der Leichen am Tatort scheinen die beiden Fälle auffallend ähnlich. Todesursache: anämische Anoxie, zurückzuführen auf die Schnittwunden in den Kehlen, die einige von Ihnen gesehen haben. Todesart: Ihre Kehlen wurden mit einer möglicherweise nicht gezähnten Klinge von mindestens zwei Zentimeter Breite durchtrennt. Das könnte alles sein, von einem Stanley-Messer bis zum Schnitzmesser. Todesmodus: Tod durch Fremdeinwirkung.«

»Können Sie uns die Todeszeit nennen?«

»Nicht genau. Sie müssen verstehen, daß alles, was ich sage, noch sehr vorläufig ist.« Er hielt einen Moment inne. »Als ich die Leichen am Tatort untersuchte, hatte die Hypostase eingesetzt, war aber noch nicht voll entwickelt. Ich schätze, daß der Tod mehr als zwei Stunden vor dem Auffinden der Leichen eintrat und nicht länger als, sagen wir, fünf oder sechs Stunden zurücklag. Auf keinen Fall länger als sechs Stunden.«

»Die Tochter hätte mit durchschnittener Kehle keine fünf Stunden überleben können, oder?«

Dr. Kale dachte nach.

»Ich habe sie nicht gesehen. Wahrscheinlich nicht.«

»Noch irgend etwas, was Sie uns sagen können? Irgend etwas über den Mord?«

Dr. Kale zeigte die winzige Andeutung eines Lächelns. »Die Person, die das Messer geführt hat, hat dazu die rechte Hand benutzt. Sie hat offenbar keine Aversion gegen Blut, die ihr das unmöglich gemacht hätte. Und jetzt muß ich gehen. Die Autopsien dürften am späten Nachmittag beendet sein. Sie bekommen einen Bericht.«

Als er gegangen war, erhob sich ein leises Gemurmel, das abbrach, als Baird mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopfte.

»Gibt es irgend etwas von der Spurensicherung?«

Kopfschütteln.

»Ich habe mit der Putzfrau geredet.«

Das kam von Detective Chris Angeloglou.

»Ja?«

»Sie sagte, daß Mrs. Mackenzie in dem Haus vorgestern eine Party gegeben hat. Es waren zweihundert Personen da.

Schlechte Nachrichten, tut mir leid.«

»Herrgott. Haben Sie das Foster gesagt?«

»Ja.«

»Wir müssen unsere Leute einfach weitermachen lassen. Wir brauchen eine Liste der Anwesenden.«

»Ich bin schon dabei.«

»Gut. Wir haben bislang noch keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen gefunden. Aber es ist noch früh am Tag. Wie auch immer, man könnte die Haustür mit einer Kreditkarte, einem Plastiklineal oder irgend etwas anderem öffnen. Eine flüchtige Untersuchung des Inhalts ergab, daß Schubladen und Schränke durchsucht worden sind. Jede Menge Schäden. Zerrissene und zerbrochene Fotos und Bilder.«

»Wurde nach etwas Bestimmtem gesucht?«

»Die Theorien lassen wir, bis wir die Informationen gesammelt und abgeglichen haben. Ich will nicht, daß Beamte nach Beweisen suchen, um eine Theorie zu erhärten. Ich will zuerst das gesamte Beweismaterial. Mit dem Denken können Sie hinterher anfangen.« Er schaute auf seine Notizen. »Was haben wir sonst noch? Da war diese Schrift, an der Wand, mit Mrs. Mackenzies Lippenstift. Piggies, Schweine.«

»Manson«, sagte DC Angeloglou.

»Was ist das?«

»Hat das nicht die Manson-Bande mit Blut an die Wand geschrieben, als sie in Kalifornien all diese Leute umbrachte? Es ist aus einem Beatles-Song.«

»Also gut, Chris. Gehen Sie der Sache nach, aber lassen Sie sich zu nichts hinreißen. Vermutlich ist es eine Sackgasse.

Soweit sind wir also im Moment, und wir haben nicht viel. Ich komme gleich zum Schluß. Wenn Sie hinterher bei Christine vorbeigehen, wird sie Ihnen Kopien des Dienstplans aushändigen. Bei den Ermittlungen untersuchen Sie jeden Zentimeter des Hauses, Sie klopfen bei den Nachbarn in der Gegend an, Sie reden mit Mackenzie und Sowieso, wie immer die Firma heißt, und befragen die Leute, die auf der Party waren.

Wir haben bereits Beamte auf dem Bahnhof, die sich nach Zeugen umhören, und Straßensperren auf der Tyle Road errichtet. Ich hoffe, wir kriegen die Schweinehunde binnen vierundzwanzig Stunden. Wenn nicht, möchte ich eine Menge Informationen, auf die ich zurückgreifen kann. Irgendwelche Fragen?«

»Hatten sie Feinde?«

»Das ist der Grund, warum wir ermitteln.«

»Gab es viele Wertgegenstände im Haus?«

»Gehen Sie, und finden Sie es heraus. Sie sind Polizist.«

»Es könnte doch ganz einfach sein, Sir.«

Bairds buschige Augenbrauen hoben sich und bildeten einen Winkel von fünfundvierzig Grad. Alle Augen richteten sich auf Pam MacAllister am anderen Ende des Tisches.

»Klären Sie uns auf, PC MacAllister.«

»Wenn sie überlebt, kann uns die Tochter das vielleicht sagen.«

»Ja«, sagte Baird kühl. »Und inzwischen, bis sie soweit ist, daß sie eine Aussage machen kann, könnten wir so tun, als ob wir Polizisten wären. Oder Polizistinnen. Wenn Sie es tun, tue ich es auch.«

Pam MacAllister wurde rot, sagte aber nichts.

»Also«, meinte Baird, nahm seine Papiere und stand auf.

»Wenn Sie auf irgend etwas Bedeutsames stoßen, kommen Sie zu mir. Aber vergeuden Sie nicht meine Zeit.«

4. KAPITEL

»Dreh dein Fenster hoch.«

»Aber mir ist heiß.«

»Es ist eiskalt; wir werden uns beide eine Lungenentzündung holen. Dreh es hoch!«

Mürrisch kämpfte Elsie mit der Kurbel. Das Fenster ging nur ein Stück weit nach oben.

»Ich kann’s nicht.«

Ich beugte mich zu dem Fenster auf ihrer Seite hinüber. Der Wagen geriet aus der Spur.

»Können wir mein Band anmachen? Das mit den Würmern.«

»Gefällt es dir in der Schule?«

Schweigen.

»Was habt ihr gestern gemacht?«

»Weiß nicht.«

»Sag mir drei Dinge, die du gestern gemacht hast.«

»Ich hab gespielt. Und gespielt. Und gespielt.«

»Mit wem hast du gespielt?« Munter. Eifrig.

»Mungo. Kann ich mein Band hören?«

»Der Recorder ist kaputt. Du hast Münzen reingesteckt.«

»Das ist nicht fair. Du hast es versprochen.«

»Ich habe es nicht versprochen.«

»Doch, hast du.«

Wir waren schon drei Stunden wach, und es war noch nicht einmal neun Uhr. Elsie war vor sechs in mein Bett gekrochen, hatte sich neben mir zusammengerollt, mir in der eisigen Morgendämmerung die Daunendecke weggezogen, meine Beine mit ihren Zehennägeln zerkratzt, die ich vergessen hatte zu schneiden, mir ihre kalten kleinen Füße an den Rücken gedrückt, den Kopf unter meinen Arm geschoben, mich mit einem warmen, nassen, gespitzten Mund geküßt, mir mit kundigen Fingern die Augenlider hochgezogen und das Licht neben dem Bett angeknipst, so daß für einen Augenblick das Zimmer voller unausgepackter Kartons und Kisten, aus denen zerknitterte Kleider quollen, in einem schmerzhaften Nebel verschwamm.

»Warum kannst du mich nicht abholen?«

»Ich muß arbeiten. Und du magst doch Linda.«

»Mir gefallen ihre Haare nicht. Warum mußt du arbeiten?

Warum kann Daddy nicht arbeiten, damit du zu Hause bleiben kannst wie andere Mütter?«

Sie hat keinen Daddy. Warum sagt sie so etwas?

»Ich komme und hole dich bei Linda ab, sobald es geht, das verspreche ich dir. Und ich mache dir etwas zum Abendessen.«

Ich ignorierte das Gesicht, das sie daraufhin zog. »Und ich bringe dich morgens zur Schule. In Ordnung?« Ich versuchte, an etwas Fröhliches zu denken. »Elsie, warum spielen wir nicht unser Spiel? Was ist im Haus?«

»Weiß ich nicht.«

»Doch, du weißt es . Was ist in der Küche?«

Elsie schloß die Augen und runzelte vor Anstrengung die Stirn.

»Ein gelber Ball.«

»Fabelhaft. Was ist im Bad?«

»Eine Packung Coco Pops.«

»Phantastisch. Und was ist in Elsies Bett?«

Aber ich hatte ihre Aufmerksamkeit verloren. Elsie starrte aus dem Fenster. Sie zeigte auf eine langsam dahinziehende graue Wolke. Ich schaltete das Radio ein. »… frostiges Wetter …

starke nordöstliche Winde …« Bedeutete das aus Nordosten oder in Richtung Nordosten? Was spielte es schon für eine Rolle? Ich drehte den Knopf, Rauschen, Jazz, Rauschen, eine dumme Diskussion, Rauschen. Ich schaltete aus und konzentrierte mich auf die Landschaft. Flach, gefurcht, grau, naß, gelegentlich eine industriell aussehende Scheune aus Aluminium oder Leichtbausteinen. Kein guter Ort, um sich zu verstecken.

Als ich versucht hatte, zu einer Entscheidung über den Job in Stamford zu kommen, hatte ich eine Liste aufgestellt. Auf eine Seite hatte ich die Dinge geschrieben, die dafür, auf die andere die, die dagegen sprachen. Ich mag Listen – an jedem Arbeitstag schreibe ich eine Liste, auf der ich die Dinge, die Priorität haben, mit verschiedenfarbigen Sternchen kennzeichne. Das gibt mir das Gefühl, daß ich mein Leben unter Kontrolle habe; und ich liebe es, die Dinge, die ich erledigt habe, sauber durchzustreichen. Manchmal schreibe ich sogar ein paar ordentlich durchgestrichene Aufgaben ganz oben auf die Liste, um mich ein bißchen in Schwung zu bringen, weil ich hoffe, daß ich so auch die Sachen in den Griff bekomme, die ich noch nicht erledigt habe.

Was hatte für den Job gesprochen? Die Liste sah ungefähr so aus:

Landleben

Größeres Haus

Mehr Zeit für Elsie

Job, den ich mir immer gewünscht habe

Mehr Geld

Zeit, das Trauma-Projekt zu beenden

Spaziergänge

Haustier für Elsie (?)

Kleinere Schule

Klärung der Beziehung zu Danny

Abenteuer und Veränderung

Mehr Zeit (Das war mit mehreren Sternchen versehen, da es alle anderen Gründe einschloß.)

Auf der Seite mit den Kontras hieß es schlicht: London verlassen. Ich bin in den Vorstädten groß geworden, und während meiner Teenagerjahre wollte ich immer bloß ins Zentrum gelangen, in die Mitte, ins Schwarze sozusagen. Als ich klein war und meine Mutter noch meine Kleider auswählte (sittsame Röckchen, Polohemden, ordentliche Jeans, blaue Sandalen mit diskreten kleinen Schnallen, vernünftige Mäntel mit Messingknöpfen, dick gerippte Strumpfhosen, die immer rutschten – »also schau mal einer an, wie du gewachsen bist«, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn sie versuchte, meinen schlaksigen Körper in Kleider für zierliche kleine Mädchen zu zwängen), gingen wir immer in der Oxford Street einkaufen. Ich saß oben im Doppeldeckerbus und starrte auf die Menschen-menge, den Schmutz, das Chaos, die Jugendlichen mit den wilden Frisuren, die über die Gehsteige schlenderten, Paare, die sich in den Ecken küßten, die heißen, hellerleuchteten Läden, die ganze Unordnung, den Schrecken und das Entzücken. Ich sagte immer, ich würde Ärztin werden und ins Zentrum Londons ziehen. Während Roberta ihre Puppen anzog, an die Brust drückte, hätschelte und herumtrug, amputierte ich den meinen die Gliedmaßen. Ich wollte Ärztin werden, weil niemand, den ich kannte, Arzt war, weil die Hälfte der Mädchen in meiner Klasse Krankenschwester werden wollte und weil meine Mutter jedesmal die Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte, wenn ich meinen Ehrgeiz erwähnte.

Für mich bedeutete London Müdigkeit, Aufbruch am frühen Morgen, Spätfilme, Verkehrsstaus, freche Radiosendungen, sobald man nur den Knopf drehte, Schmutz in meinen Kleidern, Hundekot auf den Gehsteigen; bedeutete, daß Männer, die aussahen wie mein Vater, »Doktor« zu mir sagten; bedeutete Vorankommen und Geld auf der Bank, das ich für riesige Ohrringe und unvernünftige Mäntel und spitze Schuhe mit auffallenden Schnallen ausgab; bedeutete Sex mit Fremden an seltsamen Wochenenden, an die ich mich jetzt kaum noch erinnern konnte, bis auf das Gefühl in meinem euphorischen Körper, daß ich Edgware hinter mir gelassen hatte, nicht Edgware als geographischen Ort, sondern das Edgware in meinem Kopf, mit seinen Sonntagsessen und den drei Straßen, durch die man gehen mußte, um irgendwo hinzukommen, wo keine Häuser standen. London bedeutete, Elsie zu haben und ihren Vater zu verlieren. London bedeutete Danny. Es war die Geographie meines Erwachsenwerdens. Als ich nach Stamford hineinfuhr, nachdem ich Elsies Finger von meiner Jacke gelöst und ihre plötzlich geröteten Wangen geküßt und ihr impulsiv versprochen hatte, sie selbst von der Schule abzuholen, vermißte ich London plötzlich wie einen Liebhaber, ein weit entferntes Objekt der Begierde. Obwohl die Stadt mich nach Elsies Geburt eigentlich verraten hatte: Sie war ein Raster aus Spielplätzen und Kinderkrippen, Babysitten und Beratungsstellen für Mütter.

Ein paralleles Universum, das ich niemals auch nur bemerkt hatte, bis ich es betrat, bis ich wochentags arbeitete, samstags und sonntags einen Kinderwagen schob und Rache schwor.

Das war es, wovon ich geträumt hatte. Zeit. Ich, allein im Haus, und kein Kind und kein Kindermädchen und kein Danny und kein Terminplan, der in meinem Kopf abschnurrte. Ich hörte ein Miauen und spürte das Kratzen von Krallen an meinem Bein.

Mit gestrecktem Arm öffnete ich die Dose mit Katzenfutter, füllte Anatolys Napf und schob ihn und den Napf zur Hintertür hinaus. Ein Windstoß blies mir den Geruch von Thunfisch und Kaninchen in Gelee ins Gesicht, was einen würgenden Hustenreiz und Erinnerungen an Seekrankheit auslöste. Wie konnte so etwas gut sein, selbst für eine Katze? Ich wusch Elsies Teller und Becher vom Frühstück ab und machte mir eine Tasse Pulverkaffee mit Wasser, das nicht richtig gekocht hatte, so daß die Kaffeekörnchen auf der Oberfläche schwammen. Draußen fiel Regen auf meinen Garten; die rosa Hyazinthen, die ich gestern so aufregend gefunden hatte, hingen seitlich geknickt in der mit Steinen durchsetzten Erde, und ihre gummiartigen Blütenblätter sahen schlammig aus. Abgesehen vom Geräusch des Regens konnte ich nichts hören, nicht einmal das Meer. Ein Gefühl der Trostlosigkeit beschlich mich. Normalerweise wäre ich jetzt schon seit zwei, vielleicht drei, in Ausnahmefällen sogar vier Stunden in der Arbeit; das Telefon würde läuten, mein Posteingangskorb würde überfließen, meine Sekretärin würde mir eine Tasse Tee bringen, und ich wäre entsetzt darüber, wie rasch der Vormittag verging. Ich schaltete das Radio ein: »Vier kleine Kinder starben bei einem …« und hastig wieder aus. Ich wünschte, jemand hätte mir einen Brief geschickt; selbst Postwurfsendungen wären besser als nichts.

Ich beschloß zu arbeiten. Die Zeichnung, die Elsie letzte Woche für mich gemacht hatte, als ich mich über die Leere der gelblichen, abblätternden Wände meines Arbeitszimmers beklagt hatte, starrte mich anklagend von der Wand über meinem Schreibtisch an, wo ich sie festgepinnt hatte. Das Zimmer war feucht und kalt, also schaltete ich den Heizofen ein; er erwärmte mein linkes Bein und gab mir das Gefühl, ein Vormittagsschläfchen zu brauchen.

Der Bildschirm meines Computers schimmerte grün. Der Cursor pulsierte mit gesunden sechzig Schlägen pro Minute. Ich klickte mit der Maus die Festplatte und dann eine leere Datei mit dem Titel BUCH an. »Selbst eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzelnen Schritt«, hatte irgend jemand einmal gesagt. Ich legte eine Datei an und betitelte sie mit

»Einleitung«. Ich öffnete die Datei und schrieb erneut

»Einleitung«. Das Wort stand, bemitleidenswert klein, oben über einer grünen, leeren Fläche. Ich druckte es fett und größer und wählte dann eine andere Schriftart, so daß es dicker und farbiger aussah. So, das war besser; jedenfalls wirkte es eindrucksvoller.

Ich versuchte mich zu erinnern, was ich in dem Exposé für meinen Verleger geschrieben hatte. Mein Gehirn fühlte sich so leer an, wie es der Bildschirm vor mir war. Vielleicht sollte ich mit dem Titel anfangen. Wie nennt man ein Buch über traumatische Erlebnisse? In meinem Exposé hatte ich es einfach

»Trauma« genannt, aber das klang ein bißchen schlicht, wie eine Art gelehrter Idiotenführer, und ich wollte etwas Kontroverses, Polemisches und Aufregendes; ich wollte mich damit beschäftigen, wie Trauma als Begriff mißbraucht wird, so daß die Menschen, die wirklich darunter leiden, keiner bemerkt, während Leute, die sich von Katastrophen angezogen fühlen, als Trittbrettfahrer davon profitieren. In großer Druckschrift schrieb ich über »Einleitung« »Die verborgene Wunde« und zentrierte die Wörter. Das hörte sich an wie ein Buch über Menstruation.

Mit einem kurzen Wischen der Maus löschte ich die Buchstaben. »Vom Geburtsschock zum Kulturschock«. Nein, nein, nein. »Traumata – Opfer und Süchtige«? Aber das war nur ein kleiner Aspekt des Buches, nicht der Gesamtinhalt.

»Seelensuche«, ein passender Titel für ein religiöses Pamphlet.

»Auf den Spuren der Trauer«. Na ja. Wie wär’s mit »Die Trauma-Jahre«? Das würde ich mir für meine Memoiren aufheben. Doch jetzt verging wenigstens die Zeit. Fast eine Dreiviertelstunde tippte und löschte ich Titel, bis ich schließlich wieder am Anfang war. »Einleitung«.

Ich ließ mir ein Bad ein, goß teure Badeöle hinein und lag in dem glitschigen Wasser, bis meine Finger schrumplig wurden; ich las ein Buch über Endspiele von Schachpartien und lauschte dem Geräusch des Regens. Dann aß ich zwei Scheiben Toast mit zerdrückten Sardinen darauf und den Rest eines Käsekuchens, der seit Tagen unter Klarsichtfolie im Kühlschrank gestanden hatte, zwei Schokoladenkekse und eine ziemlich mehlige Scheibe Melone.

Ich ging zurück in mein Arbeitszimmer zum melancholischen Grün des Bildschirms und tippte entschlossen: »Samantha Laschen wurde 1961 geboren und wuchs in London auf. Sie ist leitende Psychiaterin am neuen Zentrum für posttraumatische Persönlichkeitsstörungen mit Sitz in Stamford. Sie wohnt mit ihrer fünfjährigen Tochter und ihrer Katze im ländlichen Essex und spielt in ihrer Freizeit Schach.« Das mit der Katze strich ich wieder aus: zu versponnen. Und das mit dem Schach auch. Ich löschte mein Alter (zu jung, um eine Autorität zu sein, zu alt für ein Wunderkind), das über das Aufwachsen in London und den Wohnsitz in Essex ebenfalls (langweilig). Ich löschte Elsie – ich würde meine Tochter nicht tragen wie ein Accessoire. Dann fing ich an herumzuspielen. Kannten wir Ärzte nicht auch ein gewisses Statusdenken? So, das gefiel mir: »Samantha Laschen ist Fachärztin für Psychiatrie.« Oder wie wär’s einfach mit:

»Samantha Laschen ist …«

Minimalismus war immer mein Stil. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und schloß die Augen.

»Keine Bewegung«, sagte eine Stimme, und zwei warme, schwielige Hände legten sich über meine geschlossenen Augen.

»Mmmm«, sagte ich und lehnte den Kopf nach hinten. »Ein fremder Mann, der mir die Augen zuhält.«

Ich spürte Lippen an meiner Kehle. Mein Körper rutschte tiefer in den Sessel, und ich fühlte, wie seine Spannung sich löste.

›»Samantha Laschen ist …‹ Na, dagegen kann ich nichts sagen. Aber vielleicht gibt es bessere Arten, wie du deine Tage verbringen kannst, als drei Wörter zu schreiben, was?«

»Zum Beispiel?« fragte ich, noch immer blind, noch immer schlaff, das Gesicht von seinen rauhen Händen umschlossen.

Er drehte den Stuhl um, und als ich die Augen aufschlug, war sein Gesicht nur ein paar Fingerbreit von meinem entfernt: so braune Augen unter den geraden, dunklen Brauen, daß sie fast schwarz wirkten, wirres, ungewaschenes Haar über einer abgetragenen Lederjacke, stoppeliges Kinn, Geruch von Öl, Sägespänen, Seife. Wir berührten uns nicht. Er sah in mein Gesicht, und ich sah auf seine Hände.

»Ich hab dich nicht kommen hören. Ich dachte, du würdest ein Dach bauen.«

»Gebaut. Installiert. Bezahlt. Wie lange haben wir Zeit, bis du Elsie abholen mußt?«

Ich sah auf meine Uhr.

»Ungefähr zwanzig Minuten.«

»Dann müssen zwanzig Minuten reichen. Komm her.«

»Mummy?«

»Ja.«

»Lucy hat gesagt, daß dein Haar getötet ist.«

»Sie hat nicht gemeint, daß es getötet ist, sie hat vermutlich gemeint, daß es getönt ist. Daß ich es färbe.«

»Ihre Mummy hat braune Haare.«

»Nun ja …«

»Und Mias Mummy hat auch braune Haare.«

»Möchtest du, daß ich auch braune Haare hätte?«

»Es ist ein ganz helles Rot, Mummy.«

»Ja, da hast du recht, das ist es.« Manchmal bin ich selbst noch schockiert, wenn ich morgens verschlafen ins Bad komme und mein Gesicht zufällig in dem fleckigen Spiegel sehe: weißes Gesicht, feine Linien, die sich allmählich um die Augen herum ausbreiten, und ein flammend roter Schopf auf einem schlanken Hals.

»Es sieht aus wie …«, sie starrte aus dem Fenster, ihr widerspenstiger Körper stemmte sich gegen den Gurt, »… wie diese rote Ampel.«

Dann folgte Stille, und als ich mich das nächste Mal umsah, war sie fest eingeschlafen, wie ein Baby mit dem Daumen im Mund, den Kopf zur Seite gelegt.

Ich saß auf einer Kante von Elsies schmalem Bett und las ihr ein Buch vor, zeigte gelegentlich auf ein Wort, das sie stockend buchstabierte oder – wild drauflos und meist fehlerhaft – zu erraten versuchte. Danny saß auf der anderen Bettkante und faltete kleine Stücke Papier zu einer eckigen Blume, einem flinken Mann, einem schlauen Hund. Elsie saß zwischen uns, den Rücken gerade, die Augen leuchtend, die Wangen rot, befangen, lieb und ernst. Wir waren wie eine richtige Familie.

Elsies Blick schnellte zwischen uns hin und her, verband uns.

Mein Körper glühte in der Erinnerung an meine kurze Begegnung mit Danny auf dem staubigen Boden meines Arbeitszimmers und in der Vorfreude auf den Abend, der vor uns lag. Während ich las, spürte ich Dannys Blick auf mir. Die Luft zwischen uns war erotisch aufgeladen. Und als Elsie immer undeutlicher redete und schließlich einschlief, gingen wir ohne ein Wort in mein Schlafzimmer, zogen uns gegenseitig aus, berührten uns, und das einzige Geräusch, das man hörte, war das Tropfen des Regens draußen oder manchmal ein Atemzug, der wie ein schmerzliches Aufstöhnen klang. Es war, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen.

Später nahm ich eine Pizza aus der Tiefkühltruhe und schob sie in den Backofen, und wir aßen sie vor dem Feuer, das Danny angezündet hatte. Dabei erzählte ich ihm von meinen Fortschritten mit der Trauma-Station, von Elsies ersten Schultagen, von dem Versuch, mit dem Buch anzufangen, und von meiner Begegnung mit dem Farmer. Danny sprach davon, welche Freunde er in London gesehen und wie er in bitterer Kälte auf feuchten, baufälligen Sparren gehockt hatte, und dann lachte er und sagte, während ich durch meinen Beruf aufstiege, würde er absteigen: vom Theater zum Nichtstun, dann zur Zimmererarbeit und schließlich zu Gelegenheitsjobs; im Augenblick baute er ein Dach für eine streitsüchtige alte Frau.

»Tu’s nicht«, sagte er, als ich anfing, hastig etwas darüber zu sagen, daß Erfolg mehr sei als Arbeit. »Spiel es nicht herunter.

Du brauchst dir nicht solche Sorgen zu machen. Dir gefällt, was du tust, und mir gefällt, was ich tue.«

Als das Feuer erlosch, gingen wir wieder die knarrende Treppe hinauf, schauten nach Elsie, die in einem Nest aus Daunen und weichen Spielsachen schlief, legten uns in das Doppelbett und wandten einander müde und wie selbstverständlich das Gesicht zu.

»Vielleicht könnten wir …«, sagte er.

»Könnten was?«

»… zusammenleben. Sogar …«, seine Hand rieb meinen Rücken, und seine Stimme wurde ganz leicht und beiläufig, »…

sogar daran denken, ein Kind zu haben.«

»Vielleicht«, murmelte ich schläfrig. »Vielleicht.«

Es war einer unserer besseren Tage.

5. KAPITEL

»Alles in Ordnung, Sir?«

»Nein.«

»Ich werde Sie aufheitern. Vielleicht etwas zu lesen?«

Detective Angeloglou warf eine Zeitschrift auf Rupert Bairds Schreibtisch. Baird nahm es auf und knurrte, als er den verblichenen Druck sah.

» Rabbit Punch? Was ist das?«

»Haben Sie das nicht abonniert? Wir haben unten sämtliche Ausgaben. Das ist die Hauszeitschrift von ARK.«

»ARK?«

»Das steht für Animal Rights Knights, die militanten Tierschützer.«

Baird stöhnte. Sanft tätschelte er die Haare oben auf seinem Kopf, die die kahle Stelle darunter bedeckten, aber nicht verbergen konnten.

»Wirklich?«

»Allerdings. Das sind die, die 1992 drüben in Ness in die Nerzfarm eingebrochen sind. Sie haben die Nerze befreit.«

Angeloglou zog die Akte zu Rate, die er in der Hand hielt.

»Dreiundneunzig haben sie den Brandsatz im Supermarkt in Goldswan Green gelegt. Dann war nichts mehr bis zur Explosion in der Universität im letzten Jahr. Sie sind auch in einige der extremeren Protestaktionen wegen der Kälber verwickelt, in die direkten Aktionen gegen Farmer und Transportfirmen.«

»So?«

»Schauen Sie sich das an.«

Angeloglou schlug die Zeitschrift in der Mitte auf, wo ein Artikel mit der roten Titelzeile »Schlächter des Monats«

überschrieben war.

»Ist das irgendwie von Bedeutung?«

»Das ist eine der Dienstleistungen für ihre Leser. Sie drucken die Namen und Adressen von Leuten ab, die sie beschuldigen, Tiere zu quälen. Sehen Sie, hier steht Professor Ronald Maxwell vom Linnaeus-Institut. Er erforscht den Gesang der Vögel. Dazu benutzt er Vögel, die in Käfige gesperrt sind. Dr. Christopher Nicholson hat jungen Katzen die Augenlider zugenäht. Charles Patton führt die Pelzfirma seiner Familie. Und hier haben wir Leo Mackenzie, Firmenchef von Mackenzie und Carlow.«

Baird griff nach der Zeitschrift.

»Was soll er denn tun … getan haben, meine ich?«

»Tierversuche, steht hier.«

»Ach du Scheiße. Gut gemacht, Chris. Haben Sie das überprüft?«

»Ja. In ihren Labors in Fulton arbeitet die Firma an einem Projekt, das teilweise vom Landwirtschaftsministerium finanziert wird. Es geht um Streß bei der Tierhaltung, hat man mir gesagt.«

»Und was machen die da?«

Angeloglou lächelte breit.

»Das ist das Gute«, sagte er. »Zu den Untersuchungen gehört es, Schweinen Elektroschocks zu versetzen und verschiedene Verletzungen zuzufügen und dann ihre Reaktionen zu testen.

Haben Sie je gesehen, wie ein Schwein geschlachtet wird?«

»Nein.«

»Sie schneiden ihm die Kehle durch. Überall Blut. Daraus machen sie Blutwurst.«

»Ich kann Blutwurst nicht ausstehen«, sagte Baird und blätterte mehrere Seiten der Zeitschrift um. »Ich finde kein Datum. Wissen wir, wann das veröffentlicht wurde?«

»Sie bekommen den Rabbit Punch nicht bei Ihrem örtlichen Zeitungshändler. Sein Erscheinen bezeichnet man wohl am besten als unregelmäßig, die Verteilung als lückenhaft. Wir haben uns dieses Exemplar vor sechs Wochen besorgt.«

»Wurde Mackenzie davor gewarnt?«

»Man hatte ihm davon erzählt«, sagte Angeloglou. »Aber das war nichts Neues. Wie mir seine Geschäftsleitung sagte, war er an derartige Dinge gewöhnt.«

Baird runzelte konzentriert die Stirn.

»Was wir jetzt brauchen, sind ein paar Namen. Wer war noch für die Aktionen dieser Tierfreunde zuständig? Mitchell, nicht?«

»Ja, aber der hat im Augenblick in den West Midlands alle Hände voll zu tun. Ich habe mit Phil Carrier telefoniert, der sein DI war. Seit Monaten läuft er dort herum und sieht sich abgefackelte Scheunen und zerstörte Lastwagen an. Er wird uns ein paar Namen liefern.«

»Gut«, sagte Baird, »dann mal ran an die Sache. Was gibt’s Neues über die Mackenzie-Tochter?«

»Sie ist bei Bewußtsein. Außer Lebensgefahr.«

»Irgendwelche Chancen, daß sie aussagt?«

Angeloglou schüttelte den Kopf.

»Im Augenblick nicht. Die Ärzte glauben, daß sie unter einem schweren Schock steht. Sie hat noch nichts gesagt. Außerdem, Sie erinnern sich, hatte man ihr die Augen verbunden. Ich würde mir davon vorerst nicht allzuviel versprechen.«

1990 war Melissa Hollingdale noch Biologielehrerin an einer Gesamtschule und vollkommen unbescholten; nicht einmal einen unbezahlten Parkschein konnte man ihr zur Last legen.

Inzwischen aber war sie ein häufiger Gast in den Vernehmungszimmern der Polizei, und auf dem Bildschirm rollte Seite um Seite ihre Akte ab. Chris Angeloglou saß hinter dem nur einseitig transparenten Spiegel und starrte die Frau mit dem unbewegten Gesicht an, die etwa Mitte Dreißig war. Ihr langes, dichtes dunkles Haar war im Nacken zusammengebunden, sie trug kein Make-up. Ihre Haut war blaß, glatt, sauber. Sie kleidete sich praktisch. Rollkragenpullover, Jeans, Turnschuhe. Ihre Hände, die mit den Handflächen nach unten ruhig auf dem Tisch vor ihr lagen, waren überraschend zierlich und weiß. Sie wartete ohne jedes Zeichen von Ungeduld.

»Wir fangen also mit Melissa an?«

Angeloglou drehte sich um. Es war Baird.

»Wo ist Carrier?«

»Unterwegs. Es gab eine Meldung über eine Bombe, die an eine Truthahnfarm adressiert war.«

»Großer Gott.«

»In einer Weihnachtskarte.«

»Himmel. Bißchen spät, nicht?«

»Er kommt später her.«

Ein Constable erschien mit einem Tablett, auf dem drei Tassen Tee standen. Angeloglou nahm es ihm ab. Die beiden Detectives nickten einander zu und traten ein.

»Danke, daß Sie gekommen sind. Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Ich trinke keinen Tee.«

»Zigarette?«

»Ich rauche nicht.«

»Haben Sie die Akte, Chris? In welcher Eigenschaft ist Miss Hollingdale hier?«

»Sie ist Koordinatorin der Vivisection and Export Alliance.

VEAL.«

»Nie davon gehört«, sagte Hollingdale in ruhigem Ton.

Angeloglou schaute in seine Akte.

»Wie lange sind Sie jetzt draußen? Zwei Monate, nicht? Nein, drei. Mutwillige Sachbeschädigung, Angriff auf einen Polizisten, Störung der öffentlichen Ordnung.«

Hollingdale gestattete sich ein resigniertes Lächeln.

»Ich habe mich in Dovercourt vor einen Lastwagen gesetzt.

Was soll das hier alles?«

»Welche Tätigkeit üben Sie zur Zeit aus?«

»Ich habe Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden.

Anscheinend stehe ich auf verschiedenen Schwarzen Listen.«

»Warum glauben Sie das?«

Sie sagte nichts.

»Vor drei Tagen wurden ein Geschäftsmann namens Leo Mackenzie und seine Ehefrau in ihrem Haus in Castletown, einem Vorort von Stamford, ermordet. Ihre Tochter liegt in kritischem Zustand in einem Krankenhaus.«

»Ja?«

»Lesen Sie manchmal eine Zeitschrift namens Rabbit Punch? «

»Nein.«

»Das ist ein Untergrundmagazin, das von einer terroristischen Tierschützergruppe herausgegeben wird. In der letzten Ausgabe standen Name und Adresse von Mr. Mackenzie. Sechs Wochen später wurden ihm, seiner Frau und seiner Tochter die Kehlen durchgeschnitten. Was haben Sie dazu zu sagen?«

Hollingdale zuckte mit den Achseln.

»Was halten Sie von Aktionen dieser Art?« fragte Baird.

»Haben Sie mich hierhergeholt, um über die Rechte der Tiere zu diskutieren?« fragte Hollingdale mit sarkastischem Lächeln.

»Ich bin dagegen, daß irgendeiner Kreatur die Kehle durchgeschnitten wird. Ist es das, was Sie von mir hören wollen?«

»Würden Sie solche Akte verurteilen?«

»Ich bin nicht an Gesten interessiert.«

»Wo waren Sie in der Nacht vom siebzehnten zum achtzehnten Januar?« Hollingdale schwieg lange.

»Ich nehme an, ich lag im Bett, wie alle anderen auch.«

»Nicht alle. Haben Sie irgendwelche Zeugen dafür?«

»Vermutlich kann ich ein oder zwei Leute finden.«

»Ich wette, daß Sie das können. Übrigens, Miss Hollingdale«, fügte Baird hinzu, »wie geht es Ihren Kindern?«

Sie zuckte zusammen, ihre Miene wurde hart.

»Das sagt mir ja keiner. Werden Sie es mir sagen?«

»Mark Featherstone, oder möchten Sie bei Ihrem angenommenen Namen Loki genannt werden?«

Loki trug eine extravagante Mischung verschiedener Stoffe, die zu einer formlosen Tunika zusammengenäht waren, über weiten weißen Baumwollhosen. Sein rotes Haar war zu Dreadlocks gezwirbelt und hing ihm steif wie riesige Pfeifenreiniger bis auf den Rücken. Er roch nach Patschuliöl und Zigaretten.

»Reimt sich Loki auf ›Hockey‹ oder auf ›Chokey‹*? Ich würde eher auf Chokey tippen.« Angeloglou sah in seine Akte.

»Einbruch. Einbruchsdiebstahl. Körperverletzung. Ich dachte, Sie wären gegen Gewalt?«

Loki sagte nichts.

»Sie sind ein kluger Mann, Loki. Chemieingenieur.

Doktorgrad in Naturwissenschaften. Nützliches Training für die Herstellung von Sprengstoffen, nehme ich an.«

* Deutsch etwa: Knast (A. d. Ü.)

»Wurden sie denn in die Luft gesprengt, dieses Ehepaar?«

fragte Loki.

»Nein, aber meine Kollegen werden Sie zweifellos nach dem Päckchen fragen, das bei der Geflügelfarm Marshall’s Poultry eingegangen ist.«

»Ist es hochgegangen?«

»Zum Glück nicht.«

»Na, dann«, sagte Loki verächtlich.

»Mr.

und Mrs.

Mackenzie wurden die Kehlen

durchgeschnitten. Wie finden Sie das?«

Loki lachte.

»Ich denke, er wird es sich zweimal überlegen, bevor er wieder Tiere foltert!«

»Sie kranker Mistkerl, was wollen Sie eigentlich erreichen, indem Sie auf diese Weise Leute umbringen?«

»Wollen Sie einen Vortrag über die Theorie revolutionärer Gewalt?«

»Versuchen Sie’s ruhig«, sagte Baird.

»Das Foltern von Tieren ist Teil unserer Wirtschaft, Teil unserer Kultur. Das Problem unterscheidet sich nicht von dem, vor dem die Gegner der Sklaverei oder der Kolonisierung Amerikas standen. Man muß die Aktivität einfach unökonomisch machen, wirtschaftlich unattraktiv.«

»Selbst wenn dazu Mord gehört?«

Loki lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Befreiungskriege haben ihren Preis.«

»Sie kleiner Scheißer«, sagte Baird. »Wo waren Sie in der Nacht des siebzehnten Januar?«

»Ich habe geschlafen. Und wurde gestört. Wie die Mackenzies.«

»Hoffentlich haben Sie dafür einen Zeugen.«

Loki lächelte und zuckte mit den Schultern.

»Wer hofft denn hier?«

»Ich möchte Ihnen etwas vorlesen, Professor Laroue«, sagte Baird, der ein maschinengeschriebenes Blatt in der Hand hielt.

»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich dem Stil nicht gerecht werde: Jeder von uns akzeptiert Grenzen unserer Verpflichtung, dem Gesetz zu gehorchen. Nach dem Holocaust dürfen wir ferner feststellen, daß es Zeiten gibt, in denen wir gezwungen sind, gegen das Gesetz zu verstoßen, sogar die Grenzen dessen zu überschreiten, was wir normalerweise als akzeptables Verhalten betrachten. Ich sehe voraus, daß zukünftige Generationen uns nach unserem eigenen Holocaust fragen werden, dem Holocaust an Tieren, und danach, wie wir dabeistehen konnten, ohne etwas zu tun. Wir in Großbritannien leben jeden Tag mit Auschwitz.

Nur, daß es diesmal schlimmer ist, weil wir uns nicht auf Unwissenheit berufen können. Wir essen es zum Frühstück. Wir ziehen es an. Was werden wir unseren Kindern eines Tages sagen? Vielleicht werden die einzigen Menschen, die ihr Haupt noch erheben können, diejenigen sein, die etwas getan, die Widerstand geleistet haben.

Erkennen Sie das wieder, Professor?«

Frank Laroues Haar war so kurz geschnitten, daß es fast wie ein Gazefilm seinen Schädel bedeckte. Er hatte sehr blasse blaue Augen mit merkwürdig winzigen Pupillen, so daß er aussah, als habe Blitzlicht ihn geblendet. Er trug einen makellosen rehbraunen Anzug mit weißem Hemd und Leinenschuhen. In der Hand hielt er einen Stift, den er zwanghaft drehte und mit dem er manchmal auf den Tisch klopfte.

»Ja. Das ist der Teil einer Rede, die ich letztes Jahr bei einer öffentlichen Versammlung hielt. Nebenbei bemerkt ist sie nie veröffentlicht worden. Es würde mich interessieren, wie Sie an dieses Exemplar gekommen sind.«

»Oh, wir gehen abends gern aus. Was haben Sie mit dieser Passage gemeint?«

»Was soll das alles? Meine Ansichten über unsere Verantwortung den Tieren gegenüber sind allgemein bekannt.

Ich habe mich bereit erklärt herzukommen und Fragen zu beantworten, aber ich verstehe nicht, was Sie wollen.«

»Sie haben für Rabbit Punch geschrieben.«

»Nein, das habe ich nicht.« Mit einem halben Lächeln zeigte er, daß er erkannt hatte, wovon die Rede war. »Vielleicht sind Dinge, die ich geschrieben oder gesagt habe, dort wiedergegeben worden wie in anderen Zeitschriften auch. Das ist eine ganz andere Sache.«

»Sie lesen ihn also?«

»Ich kenne ihn. Ich habe ein Interesse an dieser Materie.«

Chris Angeloglou lehnte an der Wand. Baird zog sein Jackett aus und hängte es über den Stuhl, der Laroue gegenüber am Tisch stand. Dann setzte er sich hin.

»Ihre Rede ist eine klare Anstiftung zur Gewalt.«

Laroue schüttelte den Kopf.

»Ich bin Philosoph. Ich habe einen Vergleich gezogen.«

»Sie haben suggeriert, daß Menschen die Pflicht haben, zur Verteidigung der Tiere gewaltsame Aktionen durchzuführen.«

Eine kurze Pause trat ein. Dann, geduldig: »Es dreht sich nicht um etwas, was ich suggeriert habe. Ich glaube, daß Menschen objektiv die Pflicht zu handeln haben.«

» Sie auch?«

»Ja.« Er lächelte. »Das folgt daraus.«

» Rabbit Punch glaubt das gleiche, nicht wahr?«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Zeitschrift veröffentlicht die Namen und Adressen von Leuten, denen sie vorwirft, Tieren Schaden zuzufügen. Soll das ein Aufruf zu gewaltsamen Aktionen gegen diese Leute sein?«

»Oder vielleicht gegen deren Eigentum.«

»Das war eine Unterscheidung, die Sie in Ihrem Vortrag nicht gemacht haben.«

»Nein.«

Baird lehnte sich schwer über den Tisch.

»Glauben Sie, daß es falsch war, Leo Mackenzie und seine Familie zu töten?«

Tap, tap, tap.

»Objektiv gesprochen, nein, das glaube ich nicht«, sagte er.

»Könnte ich Tee oder Wasser oder irgend etwas bekommen?«

»Was ist mit den unschuldigen Opfern?«

»Unschuld ist ein schwer zu definierender Begriff.«

»Professor Laroue, wo waren Sie in der Nacht des siebzehnten Januar?«

»Ich war zu Hause, im Bett, mit meiner Frau.«

Baird wandte sich an Angeloglou.

»Würden Sie mir bitte die Akte geben? Danke.« Er öffnete sie und blätterte einige Seiten durch, bevor er fand, was er suchte.

»Ihre Frau ist Chantal Bernard Laroue, nicht wahr?«

»Ja.«

Baird fuhr mit dem Finger an der Seite entlang.

»Jagdsabotage, Jagdsabotage, Störung der öffentlichen Ordnung, Störung der öffentlichen Ordnung, Behinderung des Verkehrs, und hier ist sie sogar zu Körperverletzung geschritten.«

»Gut für sie.«

»Aber nicht unbedingt gut für Sie, Professor Laroue. Möchten Sie mit Ihrem Anwalt sprechen?«

»Nein, Officer.«

»Detective Inspector.«

»Detective Inspector.« Ein Lächeln breitete sich auf Laroues blassem, knochigem Gesicht aus, und er hob zum erstenmal den Blick, um Baird anzusehen. »Das ist alles Quatsch. Vorträge und wo ich in der Nacht des Ich-weiß-nicht-Wievielten war. Ich gehe jetzt. Wenn Sie wieder mit mir sprechen wollen, dann sorgen Sie dafür, daß Sie etwas haben, worüber Sie mit mir sprechen wollen. Würden Sie bitte die Tür öffnen, Officer?«

Angeloglou sah Baird an.

»Sie haben den Mistkerl gehört«, sagte Baird. »Machen Sie ihm die Tür auf.«

In der Tür drehte sich Laroue nach den beiden Detectives um:

»Wir werden siegen, glauben Sie mir.«

Paul Hardy sagte überhaupt nichts. Er saß in seinem langen Leinenmantel da, als wäre es bereits ein Zugeständnis, ihn auszuziehen. Ein- oder zweimal fuhr er sich mit der Hand durch das lockige braune Haar. Er sah durch seine Brille mit den Drahtbügeln abwechselnd Baird und Angeloglou an, aber die meiste Zeit starrte er einfach in die Luft. Er antwortete nicht auf Fragen und gab nicht einmal zu erkennen, daß er sie gehört hatte.

»Wissen Sie von den Mackenzie-Morden?«

»Wo waren Sie in der Nacht des siebzehnten?«

»Sie wissen, wenn Sie angeklagt werden, kann Ihr Schweigen als Beweis gegen Sie verwendet werden.«

Nichts. Nach mehreren vergeblichen Minuten klopfte jemand an die Tür. Angeloglou ging hin. Es war eine junge Polizistin.

»Hardys Anwältin ist da«, sagte sie.

»Führen Sie sie herein.«

Sian Spenser, eine Frau Anfang Vierzig mit energischem Kinn, war außer Atem und gereizt.

»Ich möchte fünf Minuten mit meinem Mandanten allein sprechen.«

»Man wirft ihm nichts vor.«

»Was zum Teufel soll er dann hier? Gehen Sie. Sofort.«

Baird atmete tief ein und verließ das Zimmer, gefolgt von Angeloglou. Als Spenser sie zurückholte, saß Hardy mit dem Rücken zur Tür.

»Mein Mandant hat nichts zu sagen.«

»Zwei Menschen sind ermordet worden«, sagte Baird mit erhobener Stimme. »Wir haben Hinweise darauf, daß Tierschutzaktivisten damit zu tun haben. Ihr Mandant ist wegen Verschwörung zu strafbarer Sachbeschädigung verurteilt worden. Er hat verdammtes Glück gehabt, daß er nicht mit dem Sprengstoff erwischt wurde. Wir wollen ihm ein paar Fragen stellen.«

»Meine Herren«, sagte Spenser, »ich möchte, daß mein Mandant innerhalb von fünf Minuten dieses Gebäude verlassen kann, oder ich werde Rechtsmittel einlegen.«

»DC Angeloglou.«

»Sir?«

»Nehmen Sie zu den Akten, daß Paul Michael Hardy jede Mitarbeit an diesen Ermittlungen verweigert hat.«

»Sind Sie fertig?« fragte Spenser mit fragender Miene, die fast amüsiert wirkte.

»Nein, aber Sie können Ihr Stück Dreck mitnehmen.«

Hardy stand auf und ging zur Tür. Vor Angeloglou blieb er stehen. Ihm schien etwas einzufallen.

»Wie geht es dem Mädchen?« fragte er und ging dann hinaus, ohne auf eine Antwort zu warten.

Eine Stunde später trafen sich Baird und Angeloglou zu einer Nachbesprechung in Bill Days Büro. Bill Day stand am Fenster und schaute hinaus in die Dunkelheit.

»Gibt’s irgend etwas?« fragte Day.

»Nichts Konkretes, Sir«, sagte Angeloglou vorsichtig.

»Das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet«, sagte Baird.

»Ich wollte bloß ein Gefühl für die Leute bekommen. Für das Atmosphärische.«

»Und?«

»Ich denke, es lohnt sich, diese Richtung weiterzuverfolgen.«

»Was haben wir?«

»Fast nichts. Den Hinweis in der Zeitschrift, die Schrift am Tatort.«

» Fast nichts?« fragte Day sarkastisch.

Baird schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht gut. Es gab ein paar Tage vorher diesen Riesenempfang. Haare und Fasern sind ein totales Desaster.

Vielleicht ist es im Zimmer des Mädchens besser.«

»Was ist mit dem Mädchen?« fragte Day. »Sind wir mit ihm weitergekommen?«

Baird schüttelte den Kopf.

»Was machen wir mit ihr?«

»Sie wird bald entlassen.«

»Ist das ein Problem?«

»Es wäre immerhin möglich, daß sie in einer gewissen Gefahr ist.«

»Durch diese Tierfritzen?«

»Durch wen auch immer.«

»Können Sie sie noch ein paar Tage im Krankenhaus festhalten?«

»Das kann Monate dauern, nicht Tage.«

»Wie ist ihr psychischer Zustand?«

»Sie ist durcheinander. Traumatischer Streß, so etwas in der Art.«

Day knurrte.

»Herrgott, wir haben zwei Weltkriege ohne verdammte Streßberater überstanden. Hören Sie, Rupert, ich bin nicht glücklich mit all dem, aber machen Sie weiter, und finden Sie für das Mädchen irgendeinen diskreten Platz. Sorgen Sie um Gottes willen dafür, daß die Presse sie nicht findet.«

»Wo?«

»Ich habe keine Ahnung. Fragen Sie Philip Kale, vielleicht kann er Ihnen ein paar Namen nennen.«

Baird und Angeloglou wandten sich zum Gehen.

»Ach, Rupert?«

»Ja?«

»Finden Sie irgendwelche verdammten Beweise. Ich werde allmählich nervös.«

6. KAPITEL

Innerhalb weniger Wochen war es mir gelungen, mir ein eigenes Leben einzurichten. Ich hatte ein Haus und einen Garten. Das Haus war alt, hatte große Fenster, eine solide quadratische Form und stand auf etwas, das vor langer Zeit ein Kai gewesen sein mußte. Jetzt schaute es verloren über Marschland hinweg aufs Meer, das eine halbe Meile entfernt war.

In den hektischen Tagen nach dem Kauf des Hauses im November hatte ich bei den Immobilienmaklern und im Laden, der ein paar Meilen die Straße hinauf in Lymne lag, herumgefragt und ein Kindermädchen gefunden. Linda war klein und schmächtig, hatte einen blassen Teint und wirkte älter als zwanzig. Sie wohnte in Lymne, und obwohl sie kein Diplom als Kinderpflegerin hatte, besaß sie die beiden Hauptqualifikationen, an denen ich interessiert war: einen Führerschein und eine ruhige Art. Als Elsie sie zum erstenmal traf, ging sie zu ihr und setzte sich ohne ein Wort auf ihren Schoß, und das reichte mir. Gleichzeitig sorgte ich dafür, daß Lindas beste Freundin, Sally, zwei- oder dreimal pro Woche kam, um das Haus zu putzen.

Die nächstgelegene Grundschule, St. Gervase, liegt in Brask, etwa fünfzig Kilometer auf der anderen Seite von Lymne. Ich fuhr hin und besichtigte sie durch den Zaun. Da gab es einen grünen Spielplatz, leuchtende Malereien an den Wänden, und ich entdeckte keine weinenden Kinder oder solche, die sich selbst überlassen waren. So war ich ins Büro gegangen, hatte das Formular ausgefüllt, und Elsie war sofort aufgenommen worden.

Das alles war fast beunruhigend einfach gewesen: ein erwachsenes Leben, das zu meinem bevorstehenden erwachsenen Job paßte. Ein paar Wochen später, im Januar, als England nach Weihnachten allmählich wieder in Gang kam und Danny schon seit fünf Tagen da war, ohne irgendwelche Anzeichen dafür zu zeigen, daß er wieder gehen wollte, als er mein Haus mit Bierdosen und mein Bett mit Wärme gefüllt hatte, fuhr ich ins Stamford General Hospital, um den stellvertretenden Leiter des Gremiums kennenzulernen, das das Krankenhaus verwaltete. Er hieß Geoffrey Marsh, ein Mann ungefähr in meinem Alter, und war so makellos gekleidet, als wollte er gleich ein Nachrichtenprogramm im Fernsehen moderieren. Und sein Büro war groß und elegant genug, um auch als Studio dienen zu können. Ich hatte sofort das Gefühl, nicht gut genug angezogen zu sein, was sicher mit zum Sinn dieser Inszenierung gehörte.

Geoffrey Marsh nahm mich bei der Hand – »nennen Sie mich Geoff, Sam« – und sagte mir, er sei vollkommen begeistert von mir und meiner Station. Er war überzeugt, wir würden damit ein neues Modell für den Umgang mit Patienten schaffen. Er führte mich Treppen hinauf und Gänge entlang, um mir den leeren Flügel des Gebäudes zu zeigen, den ich beziehen würde. Es gab fast nichts zu sehen, außer daß er groß war. Er lag im Erdgeschoß, was mir gefiel. Von einem Fenster blickte man auf ein Fleckchen Grün. Damit konnte ich etwas anfangen.

»Was war hier früher?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, als sei das ein unwichtiges Detail.

»Gehen wir zurück in mein Büro. Wir müssen ein paar Brainstorming-Konferenzen abhalten, Sam«, sagte er. Er sprach meinen Namen wie ein Mantra aus.

»Worüber?«

»Über die Station.«

»Haben Sie mein Exposé gelesen? Ich dachte, die Personalausstattung und die therapeutischen Vorgehensweisen, die ich darin dargelegt habe, wären klar genug.«

»Ich habe es gestern abend gelesen, Sam. Ein faszinierender Ausgangspunkt, und ich kann Ihnen versichern, ich bin fest überzeugt, daß diese Station und Sie das Stamford General weithin bekanntmachen werden; mir geht es darum, daß die Station so erstklassig wie möglich wird.«

»Ich werde natürlich mit den Sozialdiensten zusammenarbeiten müssen.«

»Ja«, sagte Marsh, als hätte er mich nicht gehört oder nicht hören wollen. »Zuerst möchte ich Sie mit meinem Personalmanager und dem Management bekannt machen, das unser laufendes Erweiterungsprogramm betreut.« Inzwischen waren wir wieder in seinem Büro. »Ich möchte Ihnen die Struktur des Energieflusses zeigen, die mir vorschwebt.« Er zeichnete ein Dreieck. »Also, hier an der Spitze …« Sein Telefon läutete; stirnrunzelnd nahm er den Hörer ab.

»Wirklich?« sagte er und sah mich an. »Es ist für Sie.

Dr. Scott.«

»Dr.

Scott?« fragte ich ungläubig und nahm den Hörer.

»Thelma, sind Sie das? … Wie in aller Welt haben Sie mich gefunden? … Ja, natürlich, wenn es wichtig ist. Möchten Sie mich in Stamford treffen? … Gut, wie Sie wollen. Dann können Sie gleich mal sehen, wie ich jetzt lebe.« Ich gab ihr meine Adresse und die ausgefeilte Wegbeschreibung, die ich bereits auswendig konnte, über die dritte Ausfahrt aus dem Kreisverkehr, über Bahnübergänge und Ententeiche ohne Enten.

Dann legte ich auf. Marsh telefonierte bereits auf dem anderen Apparat. »Ich fürchte, ich muß gehen. Es ist dringend.« Er nickte mir zu und winkte kurz, während er pantomimisch kundtat, wie beschäftigt er war. »Ich rufe Sie nächste Woche an«, sagte ich, und als Antwort nickte er, offensichtlich von etwas anderem in Anspruch genommen.

Ich fuhr direkt nach Hause. Dannys Lieferwagen stand noch in der Einfahrt, aber er war nicht im Haus, und seine Lederjacke hing nicht mehr am Haken. Ein paar Minuten später kam Thelma mit ihrem alten Morris Traveller angeknattert. Ich lächelte, als ich sie zum Weg hinübergehen sah. Ihr Blick wanderte herum und schätzte ab, wo ich gelandet war. Sie trug Jeans und einen langen Tweedmantel. Thelma konnte in allem unelegant aussehen. Ich fand sie jedoch nicht komisch. Keiner, bei dessen Forschungsprojekten Thelma die Leitung hatte, fand sie komisch. Ich öffnete die Tür und nahm sie herzlich in die Arme, was eine gewisse Geschicklichkeit erforderte, weil sie mehr als einen Kopf kleiner war als ich.

»Das Haus sehe ich«, sagte sie. »Und wo sind die Ulmen?«

»Ich kann Sie hinters Haus führen und Ihnen die Baumstümpfe zeigen. Dies ist der erste Ort, den die Käfer erreichten, als sie von der Fähre aus Holland kamen.«

»Ich bin erstaunt«, sagte sie. »Grüne Wiesen, Stille, ein Garten. Schlamm.«

»Schön, nicht?«

Sie zuckte zweifelnd mit den Schultern und ging an mir vorbei in die Küche.

»Kaffee?« fragte sie.

»Machen Sie es sich bequem.«

»Wie geht’s dem Buch?«

»Ausgezeichnet.«

»So schlecht? Ist Danny noch da?«

»Ja.«

Ohne zu fragen öffnete sie den Vorratsschrank und nahm ein Paket gemahlenen Kaffee und ein paar Kekse heraus. Sie gab mehrere Eßlöffel Kaffee in eine Kanne. Dann streute sie ein bißchen Salz darauf.

»Eine Prise Salz«, sagte sie. »Das ist mein Geheimnis für guten Kaffee.«

»Und was ist das Geheimnis Ihres Kommens?«

»Ich mache eine Untersuchung für das Innenministerium. Wir sehen uns die neurologische Pathologie kindlicher Erinnerung an. Es dreht sich um die Fähigkeit kleiner Kinder, bei Strafprozessen als Zeugen auszusagen.« Sie goß den Kaffee mit demonstrativer Konzentration in zwei Becher. »Einer der Vorteile, wenn man in den Club der ziemlich Großen und Guten aufgenommen wird, ist, daß man Karten für Sachen kriegt, für die man früher nie welche bekommen hat.«

»Hört sich schön an. Sind Sie hier, um mich in die Oper einzuladen?«

»Eine weitere Folge ist, daß Leute einen mit merkwürdigen Ansinnen anrufen. Gestern hat mich jemand nach posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen gefragt, über die ich so gut wie gar nichts weiß.«

Ich lachte.

»Glücklich die Ärztin, die weiß, daß sie nichts über posttraumatische Persönlichkeitsstörungen weiß!«

»Nicht nur das, es betraf ein Problem, das sich in Stamford ergeben hat. Mir fiel der bemerkenswerte Zufall ein, daß die beste Expertin, die ich auf diesem Gebiet kenne, ganz in die Nähe von Stamford gezogen ist, also bin ich hergekommen, um Sie zu sehen.«

»Ich bin geschmeichelt, Thelma. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Thelma biß in einen Keks und runzelte die Stirn.

»Sie sollten Kekse in einer Büchse aufbewahren, Sam«, sagte sie.

»Wenn man sie in der offenen Packung läßt, werden sie weich.

Wie dieser.« Aber sie aß ihn trotzdem auf.

»Nicht, wenn Sie das ganze Paket an einem Tag aufessen.«

»Wir haben ein neunzehnjähriges Mädchen, dessen Eltern ermordet worden sind. Man hat auch die Tochter zu ermorden versucht, aber sie hat überlebt.«

»Wenn ich meinen berühmten forensischen Spürsinn einsetze, kann ich wohl erraten, von welchem Fall Sie sprechen. Es geht um den Mord an diesem Arzneimittelmillionär und seiner Frau.«

»Ja. Haben Sie ihn gekannt?«

»Vielleicht habe ich gelegentlich sein Shampoo benutzt.«

»Sie kennen also die Details. Fiona Mackenzies Leben ist nicht in Gefahr. Aber sie spricht kaum. Sie will niemanden sehen, den sie kennt. Soviel ich weiß, hat sie sonst keine Verwandten in England, aber sie will auch keine Freunde der Familie sehen.«

»Überhaupt keinen, meinen Sie? Es geht mich ja nichts an, aber man sollte sie ermutigen, irgendwie Kontakt mit Menschen aufzunehmen.«

»Sie hat dem Hausarzt der Familie gestattet, sie zu besuchen.

Das ist alles, glaube ich.«

»Es ist ein Anfang.«

»Was würden Sie in einem Fall wie ihrem empfehlen?«

»Kommen Sie, Thelma, ich kann nicht glauben, daß Sie aus London hergekommen sind, um meinen Rat für eine Patientin einzuholen, von der ich nur in den Zeitungen gelesen habe. Was ist los?«

Thelma lächelte und füllte ihren Becher nach.

»Es gibt da ein Problem. Die Polizei meint, ihr drohe vielleicht noch Gefahr durch die Leute, die ihre Eltern ermordet und sie zu töten versucht haben. Sie muß einigermaßen sicher untergebracht werden, und ich wollte einen Rat von Ihnen, was am besten wäre für jemanden, der das durchgemacht hat, was ihr passiert ist.«

»Möchten Sie, daß ich sie mir ansehe?«

Thelma schüttelte den Kopf.

»Das ist alles inoffiziell. Ich wollte bloß wissen, was Ihnen als erstes zu dem Thema einfällt.«

»Wer behandelt sie? Colin Daun, nehme ich an.«

»Ja.«

»Er ist in Ordnung. Warum fragen Sie nicht ihn?«

»Ich frage Sie.«

»Sie wissen, was ich sagen werde, Thelma. Sie sollte in einer vertrauten Umgebung mit Angehörigen oder Freunden sein.«

»Es gibt keine Angehörigen. Die Möglichkeit, sie bei Freunden unterzubringen, ist erörtert worden, aber das ist akademisch, weil sie den Gedanken sofort von sich gewiesen hat.«

»Nun, ich glaube nicht, daß es ihr guttun wird, längere Zeit im Krankenhaus zu bleiben.«

»Das ist sowieso unpraktisch.« Thelma trank ihren Kaffee aus.

»Dies ist ein reizendes Haus, Sam. Groß, nicht? Und ruhig.«

»Nein, Thelma.«

»Ich habe nicht gesagt …«

»Nein.«

»Nun warten Sie einen Moment«, sagte Thelma, jetzt in hartnäckigerem Ton. »Es handelt sich um ein schwer gestörtes Mädchen. Lassen Sie sich berichten, was ich über sie weiß.

Dann können Sie nein sagen.«

Sie lehnte sich zurück und ordnete ihre Gedanken. »Fiona Mackenzie ist neunzehn Jahre alt. Sie ist recht intelligent, wenn auch nicht brillant, und offensichtlich war sie immer eifrig bestrebt zu gefallen und sich anzupassen. Mit anderen Worten, ein etwas ängstliches Mädchen. Ich nehme an, daß sie ziemlich von ihrem Vater dominiert wurde, der eine sehr starke Persönlichkeit war. Seit der Pubertät war sie immer etwas übergewichtig.« Ich erinnerte mich an das plumpe, lächelnde Gesicht des Mädchens in den Nachrichten. »Als sie siebzehn war, hatte sie einen Nervenzusammenbruch und wurde für fast sechs Monate in eine gräßliche Privatklinik oben in Schottland gesteckt. Dabei verlor sie fast die Hälfte ihres Körpergewichts, und aus ihrer Rundlichkeit wurde eine Anorexie, die sie fast umgebracht hätte.«

»Wie lange war sie schon wieder draußen?«

»Sie wurde im Sommer entlassen und hat das letzte Schultrimester und ihre erstklassigen Noten verpaßt; ich glaube, sie sollte dieses Jahr auf ein Paukinstitut gehen, um ihre Versäumnisse nachzuholen. Und dann verbrachte sie sofort ein paar Monate auf einer Rundreise durch Südamerika; ich glaube, ihre Eltern meinten, das wäre so etwas wie ein Neuanfang. Sie ist erst seit ein paar Wochen zurück, höchstens. Anscheinend haben die Leute, die diese Morde begangen haben, nicht damit gerechnet, daß sie im Haus sein würde. Das ist vielleicht die Schwachstelle bei diesem Verbrechen. Daher die Gefahr, in der sie schwebt, und die eventuelle Hilfe, die sie braucht. Fasziniert Sie das nicht?«

»Tut mir leid, Thelma, die Antwort ist nein. In den letzten achtzehn Monaten habe ich Elsie nur an den Wochenenden gesehen, und samstags und sonntags habe ich, sobald sie eingeschlafen war, bis zwei Uhr nachts irgendwelchen Papierkram erledigt. Hauptsächlich erinnere ich mich an Kopfschmerzen vor lauter Erschöpfung. Wenn Sie ernstlich gedacht haben, ich könnte eine traumatisierte junge Frau in mein Haus aufnehmen, in dem auch meine kleine Tochter lebt, und sie könnte hierbleiben, weil sie vielleicht in Gefahr ist, dann haben Sie sich getäuscht – nein, das geht nicht.«

Thelma nahm das mit einem Kopfnicken zur Kenntnis, aber ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie nicht überzeugt war.

»Wie geht’s der kleinen Elsie?«

»Sie ist unleidlich, aufsässig. Das Übliche. Sie hat gerade in einer neuen Schule angefangen.« Mich machte Thelmas interessierter, raubtierhafter Gesichtsausdruck besorgt, als ich Elsie und mein Zuhause erwähnte. Ich mußte von etwas anderem reden. »Ihre Untersuchung klingt interessant.«

»Mmm«, sagte sie und tunkte geschäftig ihren Keks in den Kaffee. So plump ließ sie sich nicht ablenken.

»Ich habe mich mit einigen Arbeiten über traumatisierte Kinder befaßt, die Sie vielleicht interessieren könnten«, fuhr ich unbeirrt fort.

»Sie wissen natürlich, daß Kinder in wiederholendem Spiel vergangene Traumata erneut durchleben. Ein Team unten in Kent versucht, die Auswirkungen abzuschätzen, die das auf ihre Erinnerung an das Geschehnis hat.«

»Das sind also nicht Ihre eigenen Forschungen?«

»Nein«, sagte ich mit einem Lachen. »Meine Forschungsarbeiten über das kindliche Gedächtnis beschränken sich auf ein mnemonisches Spiel, das Elsie und ich spielen.«

»Ein was?«

»Mnemonisch. Mit ›m‹. Nur zum Spaß, aber mich haben Systeme, mentale Prozesse zu organisieren, immer interessiert, und das ist eines der ältesten. Elsie und ich haben die Vorstellung eines Hauses erfunden, und im Kopf wissen wir, wie es aussieht; wir können uns an Dinge erinnern, indem wir sie an verschiedene Stellen im Haus legen, und sie dann zurückholen, wenn wir uns an sie erinnern wollen.«

Thelma schaute zweifelnd.

»Schafft sie das?«

»Erstaunlich gut. Wenn sie gute Laune hat, können wir etwas an die Tür hängen, auf die Fußmatte, in die Küche, auf die Treppe und so weiter legen, und normalerweise kann sie sich später daran erinnern.«

»Hört sich nach harter Arbeit für eine Fünfjährige an.«

»Ich würde das nicht machen, wenn es ihr nicht gefiele. Sie ist stolz, daß sie es kann.«

»Oder freut sich, von Ihnen Anerkennung zu bekommen«, sagte Thelma. Sie stand auf, eine pummelige, unordentlich aussehende Gestalt voller Kekskrümel. »Und jetzt muß ich gehen. Wenn Ihnen zu unserem Problem noch etwas einfällt, rufen Sie mich an.«

»In Ordnung.«

»Sie können sich eine Erinnerung daran an die Haustür von Elsies imaginärem Haus kleben.«

Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

»Wissen Sie, als ich Ärztin wurde, hatte ich die Vorstellung, die Welt zu einem gesünderen, rationaleren Ort machen zu können. Manchmal denke ich, als ich anfing, Trauma-Opfer zu behandeln, habe ich die Welt aufgegeben und bloß noch versucht, Menschen zu helfen, besser mit ihr fertig zu werden.«

»Das ist doch schon was«, sagte Thelma.

Ich begleitete sie zur Tür und sah ihr nach, als sie zu ihrem Wagen ging. Als sie abgefahren war, blieb ich noch ein paar Minuten an der Tür stehen. Es war lächerlich, es kam überhaupt nicht in Frage. Ich setzte mich aufs Sofa und dachte darüber nach.

7. KAPITEL

»Die Kruste ist ein bißchen zu weich.« Danny hielt einen biegsamen braunen Streifen hoch, der aussah, als sei er von der Sohle eines Schuhs abgezogen worden und nicht vom Rücken eines Schweins.

»Daran ist der Hersteller schuld. Oder die Mikrowelle. Ich habe bloß die Anweisungen auf der Packung befolgt.«

»Ich mag es zäh. Es ist wie Kaugummi.«

»Danke, Elsie, und nimm die Füße vom Tisch – bloß weil du einen Tag länger schulfrei hast, kannst du dich nicht benehmen wie Danny. Gib mir die Apfelsauce, Danny. Aus der Dose«, fügte ich hinzu.

»Hat deine Mutter dir jemals das Kochen beigebracht?«

»Nimm dir selbst vom Spinat. In der Verpackung in der Mikrowelle heißgemacht.«

Ich legte zwei Scheiben weißliches Fleisch auf meinen Teller.

»Mach einen Vogel«, sagte Elsie.

»Warte«, sagte Danny.

»Bloß einen kleinen Vogel.«

»In Ordnung.«

Danny riß eine Ecke von einem Zeitungsblatt und führte mit seinen großen, rauhen Fingern ein paar überraschend geschickte Bewegungen aus; nach ein paar Sekunden stand keck etwas auf dem Tisch, das zwei Beine und einen Hals hatte und mit etwas gutem Willen als Vogel durchgehen konnte. Elsie kreischte begeistert. Ich war beeindruckt wie immer.

»Wie kommt es, daß immer Männer diese Sachen können?«

fragte ich. »Ich habe Origami nie gelernt.«

»Das ist kein verdammtes Origami. Das ist bloß eine nervöse Angewohnheit, wenn ich nichts Besseres zu tun habe.«

Das stimmte allerdings. Winzige Geschöpfe aus Papier machten sich im Haus breit wie Motten. Elsie sammelte sie.

»Jetzt will ich einen jungen Hund«, sagte sie.

»Warte«, sagte Danny.

»Können wir nach dem Mittagessen malen? Ich bin sowieso fertig. Mir schmeckt das nicht. Kann ich statt Pudding Eis haben?«

»Iß noch zwei Bissen. Nach dem Mittagessen machen wir alle einen Spaziergang, und …«

»Ich will keinen Spaziergang machen!« Elsies Stimme wurde immer höher. »Ich mag keine Spaziergänge. Meine Beine sind müde. Ich habe Husten.« Sie hustete wenig überzeugend.

»Kein Spaziergang«, sagte Danny rasch. »Ein Abenteuer. Wir suchen Muscheln und machen eine …« Ihm fiel nichts ein.

»Eine Muschelschachtel«, sagte er lahm.

»Kann ich bei dem Abenteuer auf deinen Schultern reiten?«

»Wenn du das erste Stück gehst.«

»Danke, Danny«, sagte ich, als Elsie aus dem Zimmer marschierte, um eine Tüte für die Muscheln zu suchen. Er zuckte mit den Schultern und schaufelte eine Gabel voll Fleisch in seinen Mund. Wir hatten eine gute Nacht gehabt, und jetzt hatten wir einen vernünftigen Tag; kein Gezänk. Er hatte überhaupt nichts über seinen nächsten Job gesagt oder darüber, daß er nach London zurück mußte – er sprach immer über London, als sei es eine Verabredung und keine Stadt –, und ich hatte auch nicht gefragt. Wir kamen besser zurecht. Wir mußten reden, aber nicht gerade jetzt. Ich reckte mich, schob meinen Teller weg, müde, träge und behaglich.

»Es wird mir guttun, aus dem Haus zu kommen.«

Ich kam nie zu diesem Spaziergang, denn als ich Elsies rote Elefantenstiefel auf ihre ausgestreckten Füße schob und sie schrie, ich würde ihr weh tun, hörten wir draußen einen Wagen vorfahren. Ich richtete mich auf und spähte aus dem Fenster. Ein großer, kräftiger Mann mit rötlichem Gesicht, auf dem sich bereits ein Lächeln andeutete, kletterte aus dem Wagen. Vom Beifahrersitz stieg Thelma aus, die einen besonders unansehnlichen Trainingsanzug trug. Ich drehte mich zu Danny um.

»Vielleicht wäre es schön für dich und Elsie, wenn ihr euer Abenteuer allein bestehen würdet.«

Sein Ausdruck veränderte sich nicht, aber er nahm ihre Hand und führte Elsie, die nur einen einzigen Protestschrei ausstieß, durch die Küche und zur Hintertür hinaus.

»Nein.«

»Miss Laschen …«

»Doktor Laschen.«

»Verzeihung. Doktor Laschen, ich versichere Ihnen, daß ich Ihr Widerstreben verstehe, aber das wäre nur eine ganz kurzfristige Regelung. Sie braucht einen sicheren Ort, anonym und geschützt, bei jemandem, der ihre Lage versteht, nur für kurze Zeit.«

Detective Inspector Baird lächelte beruhigend. Er war so groß, daß er, als er in mein Wohnzimmer trat, den Kopf unter dem Türrahmen einziehen mußte; als er sich an den Kaminsims lehnte, wirkte das Haus auf einmal so zerbrechlich wie die auf Rahmen gespannte Leinwand einer Bühnenkulisse.

»Ich habe eine Tochter und einen zeitraubenden Beruf und …«

»Dr. Scott hat mir gesagt, daß Ihr Job im Stamford General erst in ein paar Monaten beginnt.«

Ich warf Thelma einen giftigen Blick zu; sie saß teilnahmslos auf dem Sofa, streichelte entschlossen Anatoly und hörte augenscheinlich überhaupt nicht zu, was gesprochen wurde. Sie blickte auf.

»Haben Sie zu dieser Tasse Tee auch irgend etwas anderes zu essen als diese muffigen Cremekekse?« fragte sie.

»Das ist nicht durchführbar«, sagte ich.

Inspector Baird trank Tee. Thelma nahm ihre Brille von der Nase, und ich konnte die tiefe rote Rille sehen, die sie dort hinterlassen hatte. Sie rieb sich die Augen. Keiner von beiden sagte etwas.

»Ich bin gerade erst hier eingezogen. Ich wollte ein paar Monate Zeit für mich haben.« Meine Stimme, vor Empörung zu laut, füllte den stillen Raum. Halt den Mund, sagte ich mir; halt einfach den Mund. Warum kamen Danny und Elsie nicht nach Hause? »Diese Zeit ist wichtig für mich. Das mit dem Mädchen tut mir leid, aber …«

»Ja«, sagte Thelma, »sie braucht Hilfe.« Sie schob einen ganzen Cremekeks in den Mund und kaute geräuschvoll.

»Ich wollte gerade sagen, daß es mir ihretwegen leid tut, aber ich glaube nicht, daß es …« Der Satz blieb in der Luft hängen, und ich wußte nicht mehr, wie ich ihn beenden wollte. »Wie lange, haben Sie gesagt?«

»Davon habe ich nichts gesagt. Und Sie müssen selbst entscheiden.«

»Ja, ja. Inspector Baird, wie lange?«

»Es wären nicht mehr als sechs Wochen, vermutlich viel weniger.«

Ich schwieg und dachte wütend nach.

»Wenn ich es in Erwägung ziehen würde, woher wüßte ich, daß ich meine Tochter nicht in Gefahr bringe? Falls ich beschließen würde, sie aufzunehmen.«

»Es würde diskret vor sich gehen«, sagte Baird. »Ganz diskret.

Keiner würde wissen, daß sie hier ist. Woher sollte es jemand erfahren? Es ist bloß eine Vorsichtsmaßnahme.«

»Thelma?«

»Ja.« Sie sah zu mir auf, ein Troll, der aus der Kälte kam.

»Was denken Sie?«

»Sie haben das richtige Fachgebiet, Sie wohnen in der Nähe.

Es lag auf der Hand, an Sie zu denken.«

»Falls sie käme«, sagte ich schwach, »wann würde sie dann kommen?«

Bairds Stirn runzelte sich, als versuche er, sich an die Abfahrtszeit eines Pendlerzugs zu erinnern.

»Ach«, sagte er beiläufig, »wir dachten, morgen früh wäre ein passender Zeitpunkt. Sagen wir halb zehn.«

»Passend? Halb zwölf wäre besser.«

»Gut, das bedeutet, daß ihr Arzt sie begleiten kann«, sagte Baird.

»Also ist alles geregelt.«

Thelma nahm meine Hand, als sie ging.

»Es tut mir leid«, sagte sie, aber es tat ihr nicht leid.

»Ich werde weg sein, bevor sie kommt.«

»Danny, du brauchst nicht zu gehen; ich glaube bloß, es wäre keine gute Idee, in der Nähe zu sein, wenn …«

»Red keinen Scheiß, Sam. Bin ich in deinen Überlegungen vorgekommen, als du über dieses Mädchen entschieden hast?«

Er starrte mich an. »Nein, oder? Du hättest wenigstens mit mir darüber reden können, bevor du ja gesagt hast, so tun können, als spiele es eine Rolle, was ich darüber denke. Ist die Zukunft dieses Mädchens dir wichtiger als unsere?«

Ich hätte sagen können, daß er recht hatte und es mir leid tat, nur wußte ich, daß ich meine Einwilligung, das Mädchen aufzunehmen, nicht widerrufen würde. Ich hätte bitten können.

Ich hätte auch wütend reagieren können. Statt dessen versuchte ich, unsere Meinungsverschiedenheiten auf die alte, vertraute Weise beizulegen. Ich schlang die Arme um ihn, strich sein Haar zurück, streichelte seine stoppelige Wange, küßte seine wütend verzogenen Mundwinkel und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Aber Danny stieß mich zornig zurück.

»Wir vögeln, und ich vergesse, was?«

Er zog seine Schuhe an und nahm die Jacke, die er über einen Stuhl gehängt hatte.

»Gehst du?«

»Sieht so aus, nicht?« In der Tür blieb er stehen.

»Wiedersehen, Sam, bis demnächst. Vielleicht.«

8. KAPITEL

Wenn man einen Gast erwartet – oder, wie in diesem Fall, einen Pseudogast –, ist die Konvention, daß man für ihn aufräumen muß, am unangenehmsten. Fiona Mackenzie sollte am späten Vormittag kommen. So hatte ich, nachdem ich Elsie zur Schule gebracht hatte, ein paar Stunden Zeit, um im Haus herumzupusseln. Ich mußte taktisch vorgehen. Das Haus gründlich aufzuräumen, war natürlich unmöglich. Eine prinzipielle Ordnung herzustellen, war eine noch vergeblichere Hoffnung, die eingehend mit Sally erörtert werden mußte. Aber Sally war sehr langsam, sie hatte ein kompliziertes Gefühlsleben, und jedes Gespräch mit ihr ging in dessen Labyrinthen unter. Für den Augenblick hatte ich Zeit, ein paar Sachen aus dem Weg zu räumen, so daß man Türen öffnen, durch Flure gehen und auf Stühlen sitzen konnte.

Die Platte des Küchentischs war fast nicht zu sehen, aber es waren nur der Transport von Elsies Becher und Teller ins Spülbecken, der Getreideflockenpackung in einen Schrank und der geöffneten Post einiger Tage in die Mülltonne erforderlich, und fast die Hälfte der Tischplatte stand wieder zum Gebrauch zur Verfügung. Ich schob das Fenster über der Spüle ein Stückchen nach oben und öffnete die Tür zum Garten. Das Haus würde wenigstens ein bißchen sauberer riechen. Ich wanderte herum und suchte nach sonstigen Dingen, die ich aufräumen konnte. Einer der Heizkörper leckte und ließ eine rostige Flüssigkeit auf den Boden tropfen, also stellte ich eine Tasse darunter. Ich schaute in die Toilette und dachte daran, sie sauberzumachen. Ich brauchte Bleichmittel oder eine dieser Flüssigkeiten mit Sprühdüse, die dazu bestimmt sind, unter den Beckenrand zu reichen. Ich begnügte mich damit abzuwaschen.

Das war genug für einen Tag.

Als ich aus einem Fenster im ersten Stock schaute, sah ich Sonnenlicht auf dem Rasen, und ein Vogel trillerte. Solche Dinge gehörten vermutlich zu den schöneren Seiten, wenn man in dieser gottverlassenen Gegend wohnte. War das eine Feldlerche? Eine Nachtigall? Oder sangen die bloß nachts? Ein Rotkehlchen? Eine Taube? Aber ich wußte, Tauben singen nicht, sie gurren. Dann gingen mir die Vögel aus. Ich sollte mir ein Buch über Vogelstimmen besorgen. Oder eine CD oder so.

Das war alles falsch. Ich war neugierig, aber vor allem war ich gereizt, weil ich mich auf eine Vereinbarung eingelassen hatte, die außerhalb meiner Kontrolle lag. Ich hatte ein schlechtes Gefühl Danny gegenüber; mehr als schlecht, unbehaglich. Ich wußte, ich sollte anrufen und zugeben, daß ich unrecht hatte, aber ich schob es immer wieder auf. Mir fällt es schwer, unrecht zu haben. Ich machte mir einen Pulverkaffee und stellte im Kopf eine Strichliste zusammen. Es war eine Ablenkung, vergeudete meine Zeit, war eine unprofessionelle Art, mit einem Menschen umzugehen, der Hilfe brauchte; es könnte sogar gefährlich sein; es würde Elsie nicht guttun; mir gefiel der Gedanke nicht, noch jemanden in meinem Haus zu haben; mir gefiel der Gedanke an unklare Verpflichtungen auf unbestimmte Zeit nicht. Ich fühlte mich ausgenutzt und war beleidigt. Ich nahm einen der alten Briefumschläge aus dem Mülleimer und machte eine richtige Liste.

Als es halb zwölf wurde, schlich ich in der Nähe des Fensters herum, von dem aus man sehen konnte, wer sich dem Haus näherte. Noch ein vergeudeter Vormittag. Ich versuchte mir einzureden, ich solle diese völlig unnützen Versuche, die Zeit totzuschlagen, genießen. Nach Jahren ohne eine freie Minute wanderte ich von Zimmer zu Zimmer, ohne auch nur den geringsten Antrieb zu verspüren. Endlich hörte ich einen Wagen vorfahren. Ich schaute aus dem Fenster, blieb aber weit genug dahinter, um nicht von jemandem gesehen zu werden, der am Haus hochschaute. Es war ein vollkommen anonymer, viertüriger Wagen, keilförmig wie ein Stück Käse im Supermarkt. Es gab weder blaue Lichter noch orangefarbene Streifen. Drei der Türen öffneten sich sofort. Baird und ein anderer Mann in einem Anzug stiegen vorne aus. Aus der rückwärtigen Tür kam ein Mann in einem langen, anthrazitgrauen Mantel. Er richtete sich offensichtlich erleichtert auf, denn er war groß. Er sah sich kurz um, und ich erhaschte einen Blick auf schwingendes, glattes, dunkelblondes Haar, ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht. Er beugte sich nieder und schaute in den Wagen hinein, und ich dachte daran, wie ich noch vor einem Jahr die Gurte von Elsies Kindersitz verflucht hatte, den unpraktischen Winkel, in dem ich sie aus dem alten Fiat heben mußte. Zuerst tauchte ein jeansbekleidetes Bein auf, und dann folgte die junge Frau, der es gehörte. Durch das körnige Glas des alten Fensters konnte ich sie nur undeutlich erkennen. Ich sah Jeans, eine marineblaue Jacke, dunkles Haar, blasse Haut, sonst nichts. Ich hörte ein Klopfen an der Tür und ging nach unten.

Baird trat mit onkelhaftem, besitzergreifendem Gehabe, das mich abstieß, in mein Haus. Ich hatte den Verdacht, daß all das nicht seine Idee war, daß zumindest ich nicht seine Idee war, daß er aber eine Schau daraus machte, die Sache nun durchzuziehen. Er trat zur Seite, um die anderen vorbeigehen zu lassen. Der Mann im langen Mantel führte das Mädchen am Arm, behutsam.

»Das ist DC Angeloglou«, sagte Baird. »Und das ist Dr. Daley.« Der Mann nickte mir kurz zu. Er war unrasiert, sah aber deswegen nicht schlechter aus. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er sich um. Er wirkte argwöhnisch, mit Recht.

»Und das ist Miss Fiona Mackenzie. Finn Mackenzie.«

Ich streckte ihr meine Hand hin, aber sie sah mich nicht an und merkte es daher nicht. Ich machte aus der Geste eine sinnlose, flatternde Bewegung. Ich bat alle in den Raum, in dem ein Sofa stand. Verlegen nahmen wir Platz. Ich bot ihnen Tee an. Baird sagte, Angeloglou würde ihn aufgießen. Angeloglou stand auf, er wirkte gereizt. Ich ging mit ihm hinaus und ließ die anderen schweigend zurück.

»Ist das wirklich eine gute Idee?« flüsterte ich, während ich einen Becher ausspülte.

Er zuckte mit den Schultern.

»Es könnte etwas nützen«, sagte er. »Alles andere hat nicht geklappt, aber erzählen Sie keinem, daß ich das gesagt habe.«

Als wir zurückkehrten, herrschte noch immer Schweigen.

Baird hatte eine alte Zeitschrift vom Boden aufgehoben und betrachtete sie abwesend. Dr.

Daley hatte seinen Mantel

ausgezogen; er trug ein ziemlich verblüffendes gelbes Hemd, das ebenso von einem teuren italienischen Designer wie aus einem Oxfam-Laden stammen konnte, und saß neben Finn auf dem Sofa. Ich reichte ihnen zwei Becher Tee. Daley nahm sie beide und stellte sie auf den Tisch. Er suchte in seinen Hosentaschen herum, als hätte er etwas verloren und wüßte nicht, was es war.

»Darf ich rauchen?« Daleys Stimme war fast unnatürlich tief und klang ein wenig träge gedehnt. Ich erinnerte mich von der medizinischen Fakultät her an seinen Typ. Soziale Selbstsicherheit, wie ich sie nie empfunden habe.

»Ich hole einen Aschenbecher«, sagte ich. »Oder etwas Ähnliches.«

Er sah nicht so aus, wie ich mir einen Landarzt vorstellte, und deswegen fühlte ich mich mit ihm sofort vertrauter als mit Baird oder Angeloglou. Er war groß, gut über einsachtzig; das Zigarettenpäckchen wirkte ein bißchen zu klein in seinen langfingrigen Händen. Er zündete sich sofort eine Zigarette an und schnippte die Asche bald in die Untertasse, die ich ihm gab.

Er mußte Mitte Vierzig sein, aber das war auf den ersten Blick schwer zu beurteilen, weil er müde und zerstreut aussah. Er hatte dunkle Ringe unter den grauen Augen, und seine glatte Mähne war ein wenig fettig. Sein Gesicht war eine seltsame Mischung aus wild wuchernden Augenbrauen, hohen Wangenknochen und einem breiten, höhnischen Mund. Finn wirkte neben ihm klein und zerbrechlich und ziemlich farblos.

Die Blässe ihres Gesichts wurde von dem dichten, dunklen Haar und ihrer dunklen Kleidung betont. Sie hatte offensichtlich tagelang nichts gegessen; sie war hager, und ihre Wangenknochen standen hervor. Sie war unnatürlich still, nur ihre Augen flackerten, blieben auf nichts haften. Ihr Hals war bandagiert, und die Finger ihrer rechten Hand fuhren dauernd an den Rand des Verbandes und zupften daran herum.

Man hätte vielleicht erwarten können, daß mir angesichts dieses grausam mißhandelten Geschöpfs das Herz aufging, aber dazu fühlte ich mich zu überrumpelt und verwirrt. Für eine Begegnung mit einer neuen Patientin war das ein absurder Rahmen, aber sie war ja auch nicht meine Patientin, oder? Doch was genau war sie dann? Was sollte ich sein? Ihre Ärztin?

Ältere Schwester? Beste Freundin? Ein Lockvogel? Eine Art Amateur-Gerichtspsychologin, die nach Indizien schnüffelte?

»Gefällt Ihnen das Leben auf dem Land, Dr. Laschen?« fragte Baird leichthin.

Ich ignorierte ihn.

»Dr. Daley«, sagte ich, »ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Sie und Finn sich das Zimmer ansehen würden, in dem Finn wohnen wird. Wenn Sie oben sind, ist es der Raum ganz links hinten mit Blick über den Garten. Sie können sich umschauen und mir sagen, ob ich vielleicht irgend etwas vergessen habe.«

Dr. Daley sah Baird fragend an.

»Ja, jetzt«, sagte ich.

Er führte Finn aus dem Zimmer, und ich hörte sie langsam die Treppe hinaufgehen. Ich wandte mich an Baird und Angeloglou.

»Sollen wir vielleicht ein bißchen in die freie Natur hinausgehen, die ich so sehr genießen soll? Sie können Ihren Tee mitnehmen.«

Baird schüttelte den Kopf, als er den Zustand meines Küchengartens sah.

»Ich weiß«, sagte ich und trat ein rosa Plastikding, das Elsie liegengelassen haben mußte, aus dem Weg. »Ich hatte diese Vision, mich aus dem eigenen Garten zu ernähren.«

»Nicht dieses Jahr«, sagte Angeloglou.

»Nein«, sagte ich. »Anscheinend habe ich anderes zu tun.

Schauen Sie, Inspector …«

»Nennen Sie mich Rupert.«

Ich lachte. Ich konnte nicht anders.

»Im Ernst? Also gut. Rupert. Bevor ich mit irgend etwas anfange, muß ich mit Ihnen über ein paar Dinge reden«

Ich zog den alten Briefumschlag aus der Tasche meiner Jeans.

»Ist das offiziell?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Es ist mir völlig egal, ob es offiziell ist oder nicht. Man hat Ihnen meinen Namen als Autorität für Traumata genannt.«

»Eine Autorität für Traumata mit einem einsam gelegenen Haus auf dem Land in der Nähe von Stamford.«

»Gut, schön, zunächst mal sollte ich sagen, und sei es nur zu Ihnen beiden, daß ich das hier in meiner beruflichen Eigenschaft als unprofessionell betrachte.«

»Es ist praktisch.«

»Ich weiß nicht, für wen das praktisch ist, aber Finn sollte sich in einer vertrauten Umgebung aufhalten, mit Menschen, die sie kennt und zu denen sie Vertrauen hat.«

»Die Menschen, die sie kennt und denen sie vertraut, sind tot.

Abgesehen davon hat sie sich absolut geweigert, irgend jemanden zu sehen, den sie kennt. Bis auf Dr. Daley natürlich.«

»Wie man Ihnen sicher gesagt hat, Rupert, ist das eine Reaktion auf das, was sie durchgemacht hat, und als solche keine Rechtfertigung dafür, sie in eine völlig neue Umgebung zu verpflanzen.«

»Und wir haben gewisse Gründe zu der Annahme, daß ihr Leben in Gefahr sein könnte.«

»Okay, darüber werden wir nicht diskutieren. Ich wollte Ihnen nur meine objektive medizinische Auffassung darlegen.« Ich schaute auf meinen Umschlag. »Zweitens: Betrachten Sie mich bloß nicht als eine Art inoffizieller Mitarbeiterin bei Ihren Ermittlungen, denn sollte das der Fall sein …«

»Keineswegs, Dr.

Laschen«, sagte Baird in einem

beruhigenden Ton, der mich wütend machte. »Ganz im Gegenteil. Wie Sie wissen, hat Miss Mackenzie über die Morde nichts gesagt. Aber es kann keine Rede davon sein, daß man von Ihnen erwartet herumzustochern, um vielleicht ein paar Erinnerungen zutage zu fördern und Indizien zu finden. Das würde mehr schaden als nutzen. Wie auch immer, ich habe verstanden, daß das nicht Ihr therapeutischer Stil ist.«

»Ganz recht.«

»Falls Miss Mackenzie eine Aussage machen möchte, wird sie nicht anders als jeder andere Bürger behandelt. Setzen Sie sich einfach mit mir in Verbindung, und wir werden uns gerne anhören, was sie zu sagen hat. Wir unsererseits werden sie vielleicht im Zuge unserer Ermittlungen gelegentlich hier besuchen.«

»Weshalb denken Sie, daß sie in Gefahr ist?«

Baird tat so, als würde er stutzen.

»Haben Sie ihren Hals gesehen?«

»Kehren Mörder normalerweise zurück, wenn sie beim erstenmal nicht zum Ziel kamen?«

»Dies ist ein ungewöhnlicher Fall. Sie wollten die ganze Familie umbringen.«

»Rupert, die Details Ihrer Ermittlungen interessieren mich nicht. Aber wenn Sie mir Finn anvertrauen, müssen Sie mir auch alle relevanten Informationen anvertrauen.«

»Das ist nur fair. Chris?«

Angeloglou, der gerade den Mund voll Tee hatte, hustete und spuckte.

»Verzeihung«, sagte er. »Es ist möglich, daß eine Verbindung zu den Tierschützern besteht. Das ist eine Richtung, in die unsere Ermittlungen gehen.«

»Warum sollten sie Finn umbringen wollen?«

»Um kleine Schweine davor zu bewahren, daß man Lotionen und Tinkturen auf Wunden in ihrem Fleisch aufträgt, die ihnen absichtlich zugefügt wurden. Finn ist sozusagen durch Sippenhaftung schuldig.«

Mir kam plötzlich ein Gedanke.

»Als ich auf der Universität war, gehörte ich zu einer Gruppe, die Jagden sabotierte. Eine Zeitlang. Ich wurde festgenommen und verwarnt.«

»Ja, das wissen wir.«

»Also, woher wollen Sie wissen, daß sie bei mir sicher ist?«

»Sie haben den hippokratischen Eid abgelegt, nicht wahr?«

»Ärzte legen nicht den hippokratischen Eid ab. Das ist ein Märchen.«

»Oh«, sagte Baird verwirrt. »Nun, bitte bringen Sie sie nicht um, Dr. Laschen. Die Ermittlungen sind so schon langwierig genug.«

Ich sah noch einmal auf meinen Umschlag.

»Ich habe Freunde, ein Kind, Leute, die ins Haus kommen.

Was soll ich ihnen erzählen? Danny – meinem, äh, Freund –

habe ich schon gesagt, wer sie ist.«

»Je einfacher, desto besser. Komplizierte Geschichten gehen leicht schief. Könnte sie nicht eine Art Studentin sein, die bei Ihnen wohnt? Wie wär’s damit?«

Ich schwieg lange Zeit. Damit konnte ich nichts anfangen.

»Ich bin nicht an all diesen Mantel-und-Degen-Spielen interessiert. Ich beherrsche sie nicht, und für Finn werden sie keine große Hilfe sein.«

»Deswegen machen wir es so einfach, wie es nur geht.

Dr. Laschen, ich weiß, es ist nicht ideal, aber andere Regelungen wären vermutlich schwieriger.«

»In Ordnung, ich nehme an, ich habe bereits eingewilligt.«

»Sie könnte Ihnen bei Ihrem Buch helfen.«

»Das wäre zu schön.«

»Und Sie brauchen ihren Namen nicht sehr zu verändern.

Nennen Sie sie Fiona Jones. Das können wir uns alle leicht merken.«

»Gut. Aber hören Sie, Rupert, ich behalte mir das Recht vor, dieses Arrangement jederzeit zu beenden. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, können Sie sie gleich wieder mitnehmen.

Wenn ich irgendwann das Gefühl habe, daß diese Scharade schlecht für mich ist, schlecht für meine Tochter oder, Gott bewahre, schlecht für Finn, dann ist sie zu Ende. Ist das klar?«

»Natürlich, Dr. Laschen. Aber es wird funktionieren. Wir setzen alle großes Vertrauen in Sie.«

»Wenn das so ist, sind Sie ziemlich vertrauensselig.«

Als wir wieder ins Haus kamen, bat ich Dr. Daley, mir zu helfen, die Becher in die Küche zurückzutragen. Ich wollte ihn allein sprechen. Daß Finn uns folgen würde, war nicht zu befürchten. Es schien überhaupt nichts zu geben, was dieses arme, schwer angeschlagene Mädchen aus eigenem Antrieb getan hätte.

»Tut mir leid, daß ich Sie in die Küche gelockt habe«, sagte ich. »Wir hätten ausführlich miteinander sprechen müssen, bevor Finn hierherkam, aber darauf scheine ich keinerlei Einfluß zu haben. Und das paßt mir gar nicht.«

Dr. Daley lächelte höflich. Ich trat einen Schritt näher und sah ihn an. »Wie geht es Ihnen? «

Er erwiderte meinen prüfenden Blick. Er hatte sehr tiefe, dunkle Augen. Das gefiel mir. Dann entspannte sich sein Gesicht, und er lächelte.

»Es ist keine gute Zeit«, sagte er.

»Können Sie schlafen?« fragte ich.

»Es geht mir gut«, sagte er.

»Mich brauchen Sie nicht zu beeindrucken. Das können Sie sich für Ihren Vorgesetzten aufsparen. Ich mag verwundbare Männer.«

Er lachte und schwieg dann einen Moment. Er zündete sich eine neue Zigarette an.

»Ich habe das Gefühl, ich hätte das besser handhaben können.

Und all das tut mir auch leid«, sagte er mit einer vage wohlwollenden Geste, als meine er die ganze Situation, in der wir uns befanden. »Ich befolge nur Anweisungen.«

Ich sagte nichts. Er begann zu reden, als könne er das Schweigen nicht ertragen.

»Übrigens habe ich mir eine Gelegenheit gewünscht, Ihnen zu sagen, daß ich Ihren Artikel im BMJ gelesen habe, ›Die Erfindung eines Syndroms‹ oder wie er hieß, den, der dieses ganze Theater ausgelöst hat. Er war fabelhaft.«

»Danke. Ich hatte nicht gedacht, daß Ärzte wie Sie ihn lesen würden.«

Er errötete ganz leicht, und seine Augen verengten sich.

»Sie meinen Allgemeinärzte draußen in der Provinz.«

»Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich meinte Ärzte außerhalb des Fachgebiets.«

Es war ein peinlicher Augenblick, aber dann lächelte Daley wieder.

»Ein bißchen davon weiß ich noch auswendig: ›Ein Dogma, basierend auf ungeprüften Prämissen und durch keinerlei Nachweis gestützt‹. Die psychologischen Berater müssen selbst einige Beratung nötig gehabt haben, nachdem sie das gelesen hatten.«

»Was glauben Sie, warum ich hier draußen auf dem Land meine eigene Station aufbaue? Wer sonst würde mich beschäftigen? Übrigens, mit ›auf dem Land‹ meine ich durchaus nichts Negatives.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Dr. Daley. Er krempelte seine Hemdsärmel auf und nahm die Becher. »Sie spülen, ich trockne ab.«

»Nein, Sie spülen und stellen sie dann aufs Abtropfbrett, wo sie allein trocknen können. Wie geht es Finn?«

»Nun ja, die oberflächlichen Schnittwunden …«

»Das meine ich nicht. Sie sind ihr Arzt, wie beurteilen Sie ihren Zustand?«

»Dr. Laschen …«

»Nennen Sie mich Sam.«

»Nennen Sie mich Michael. Wenn Sie ihre Stimmung meinen, den Grad ihres Schocks, dann rede ich über etwas, das meine Fachkompetenz übersteigt.«

»Andere lassen sich davon nicht abhalten. Was denken Sie?«

»Ich denke, sie ist durch das, was passiert ist, schwer traumatisiert. Verständlicherweise traumatisiert, würde ich sagen.«

»Was ist mit ihrer Sprache?«

»Durch die Verletzungen, meinen Sie? Sie ist beeinträchtigt.

Es besteht eine gewisse Kehlkopfparalyse. Vielleicht gab es auch geringfügige Läsionen der Stimmbänder.«

»Stridor oder Dysphonie?«

Daley hielt im Abspülen inne. »Ist das Ihr Fachgebiet?«

»Eher ein Hobby. Eine Stufe höher als Briefmarkensammeln.

Oder eine tiefer.«

»Vielleicht sollten Sie mit Dr. Daun am Stamford General reden«, sagte Daley und spülte weiter. »Jedenfalls gehört sie jetzt ganz Ihnen.«

»Nein, das tut sie nicht«, antwortete ich. »Sie ist Ihre Patientin.

Darauf bestehe ich. Das hier ist so schon ausgefallen genug. Ich bin nur inoffiziell und hoffentlich hilfreich beteiligt. Aber wie ich hörte, waren Sie seit Jahren ihr Hausarzt, und es ist absolut entscheidend, daß Sie in ihren Augen Ihre Stellung als ihr Arzt behalten. Können Sie das akzeptieren?«

»Sicher. Ich werde helfen, wo ich kann.«

»Dann hoffe ich, daß Sie sie regelmäßig besuchen werden; Sie sind ihre einzige Verbindung zu der Welt, aus der sie kommt.«

»So, fertig«, sagte er, nachdem er nicht nur die Becher abgewaschen hatte, sondern auch mein Frühstücksgeschirr und das vom gestrigen Abendessen. »Ich sollte wohl noch erwähnen, daß ich meine Zweifel an dieser Sache habe. Ich meine, an diesem Plan. Aber so, wie es gelaufen ist, glaube ich nicht, daß Finn in besseren Händen sein könnte.«

»Ich hoffe, alle werden auch dann noch zu mir stehen, wenn alles schiefgegangen ist.«

»Warum sollte es schiefgehen?« fragte Daley, aber er lachte dabei, und seine Augenbrauen verzogen sich zu einem dunklen, umgedrehten V. »Ich wollte bloß sagen, daß ich mir Sorgen mache, weil Finn so von ihrer normalen Umgebung abgeschnitten ist, von den Leuten, die sie kennt.«

»Ich empfinde genauso, das kann ich Ihnen versichern.«

»Sie wissen über solche Dinge Bescheid, aber wenn ich nur einen einzigen Vorschlag machen dürfte, dann würde er lauten, daß wir dafür sorgen sollten, daß sie Leute sieht. Falls sie das möchte und die Polizei zustimmt, natürlich.«

»Eine Zeitlang werden wir es langsam angehen, ja?«

» Sie sind die Ärztin«, sagte Daley. »Na ja, ich bin auch Arzt, aber ich meine, Sie sind die Ärztin.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, protestierte ich. »Ich bin Ärztin, und Sie sind Arzt. Und wir werden einfach versuchen, aus dieser dummen und tragischen Situation nach Kräften das Beste zu machen. Einstweilen hätte ich gern die Details der Medikation, Krankengeschichte und dergleichen und Ihre Telefonnummer. Ich möchte mich nicht jedesmal an Baird wenden müssen, wenn ich eine Information brauche.«

»Das ist alles in meiner Tasche im Auto.«

»Noch etwas. Die Situation ist lächerlich vage, also möchte ich eines klarstellen. Ich sage Ihnen, und ich werde es auch Baird sagen, daß ich eine klare zeitliche Begrenzung für all das wünsche.«

Daley sah erstaunt aus.

»Was meinen Sie damit?«

»Wenn die Sache läuft, besteht die Gefahr, daß wir zu einer Art Ersatzfamilie für Finn in ihrem neuen Leben werden. Das ist nicht gut. Welches Datum haben wir heute, den fünfundzwanzigsten Januar, nicht?«

»Den sechsundzwanzigsten.«

»Ich werde Finn ganz klar sagen, was immer auch passiert, wie immer die Dinge sich entwickeln, dieses Arrangement gilt bis Mitte März – sagen wir, bis zum fünfzehnten – und nicht länger. In Ordnung?«

»Gut«, sagte Daley. »Ich bin sicher, daß es sowieso nicht so lange dauert.«

»Gut. Also, gehen wir wieder zu den Damen?«

»Sie halten das wohl für einen Witz, Sam. Warten Sie, bis Sie von den Nachbarn zum Dinner eingeladen werden.«

»Ich freue mich darauf. Mein Make-up steht schon bereit.«

9. KAPITEL

Ich drehte mich zu dem Mädchen um. Bis jetzt hatte ich sie mir noch nicht richtig angesehen. Ihr blasses ovales Gesicht hinter dem Vorhang dunkelbrauner Haare wirkte vollkommen ausdruckslos. Die Augen unter den klar gezeichneten, dichten Augenbrauen waren blicklos. Sie war attraktiv, unter anderen Umständen mochte sie sogar sehr hübsch sein, aber ihr Gesicht schien jeden Ausdruck verloren zu haben.

»Komm, ich zeige dir das Haus«, sagte ich.

Sie stand auf und nahm den kleinen Koffer, der neben ihr stand, obwohl sie zu schwach und lustlos wirkte, um irgend etwas zu tragen.

»Gib mir das. Wir fangen mit deinem Schlafzimmer an, das du ja schon gesehen hast.« Sie zuckte zusammen, als meine Hand die ihre am Griff des Koffers berührte. »Du hast kalte Hände.

Ich stelle gleich die Heizung an. Komm hier entlang.«

Ich ging die Treppe hinauf, und Finn folgte mir gehorsam.

Bisher hatte sie noch kein Wort gesagt.

»So, da sind wir. Tut mir leid, daß hier all die Kartons stehen, aber wir können sie später auf den Speicher bringen.« Ich setzte ihren Koffer neben dem Bett ab, wo er stehenblieb, klein und verloren in dem Zimmer mit der hohen Decke. »Es ist alles ein bißchen kahl, fürchte ich.« Finn stand mitten im Zimmer, ohne sich umzusehen. Ihre Arme hingen seitlich herunter, die blassen Finger schlaff, als gehörten sie nicht zu ihr. Ich wies mit einer vagen Geste auf den Kleiderschrank und die kleine Kommode, die Danny in einem nahen Dorf für mich gefunden hatte. »Da kannst du deine Sachen unterbringen.«

Ich führte sie zurück auf den Korridor und sah etwas Kleines, Weißes, Rechteckiges auf dem Boden liegen. Ich bückte mich und hob es behutsam mit zwei Fingern auf.

»Und das, Finn, ist ein Papiervogel, den mein halb von mir getrennter Lebensgefährte Danny gemacht hat.« War er noch halb von mir getrennt, oder hatte er sich ganz gelöst? Ich schob den Gedanken für später beiseite. »Schau, ich kann ihn die Flügel bewegen lassen. Hübsch, findest du nicht? Wenn du ein paar Tage in diesem Haus wohnst, wirst du diese kleinen Kreationen überall finden: in deinen Kleidern, in deinem Haar, auf deiner Haut, in deinem Essen. Sie breiten sich einfach aus.

Männer, nicht?«

Ich redete weitgehend mit mir selbst.

»Das ist mein Zimmer. Und dies« – sie ging zwei Schritte hinter mir und blieb stehen, wenn ich stehenblieb – »ist das Zimmer meiner kleinen Tochter, Elsie.« Die Tür blieb in einem Durcheinander aus blondmähnigen Barbie-Puppen, Federmäppchen und Plastikponys stecken.

»Elsie ist die Abkürzung von Elsie.« Ich sah Finn an, aber sie lachte nicht – na ja, was ich gesagt hatte, war nicht besonders lustig –, nickte nur einmal kurz, was eher wie eine einzelne konvulsivische Zuckung aussah. Ich sah den Gipsverband um ihren Hals.

Unten zeigte ich Finn mein Arbeitszimmer (»Betreten verboten für jeden«), das Wohnzimmer, die Küche. Ich zog die Tür des Kühlschranks auf.

»Du kannst dir nehmen, was immer du willst. Ich koche nicht, aber ich kaufe ein.«

Ich zeigte ihr Tee und Kaffee und die Lücke, wo die Waschmaschine stehen würde, und ich erzählte ihr von Linda und Sally und unserer alltäglichen Routine. »Das wäre so ziemlich alles, bis auf den Garten natürlich« – ich deutete aus dem Fenster auf den schlammigen Boden, die Haufen welker Blätter, die nicht weggeräumt worden waren, die ausgefransten Kanten des kahl werdenden Rasens –, »in dem keiner gärtnert.«

Finn drehte den Kopf, aber ich wußte noch immer nicht, ob sie überhaupt irgend etwas sah. Ich schaute erneut in den Kühlschrank und nahm eine Packung Gemüsesuppe heraus.

»Ich werde uns etwas Suppe wärmen. Warum gehst du dich nicht oben im Bad frisch machen, und dann können wir zusammen zu Mittag essen.« Sie stand wie gestrandet in der Küche. »Oben«, sagte ich aufmunternd und zeigte in die Richtung, und dann sah ich zu, wie sie sich langsam umdrehte und die breiten, flachen Stufen hinaufging, eine nach der anderen, und auf jeder Stufe innehielt, so langsam wie eine sehr alte Frau.

Es gibt Trauma-Patienten, die wochenlang nicht sprechen; bei anderen stürzen die Worte heraus wie eine unaufhaltsame, schlammige Flut. Erst vor kurzem kam ein Mann in mittleren Jahren zu mir, nachdem er einen Eisenbahnunfall überlebt hatte.

Sein ganzes Leben lang war er zurückhaltend gewesen, zugeknöpft. Bei dem Unfall hatte er im Schock seinen Darm entleert (so hatte er sich ziemlich verlegen ausgedrückt), und das schien ihn ebenso tief getroffen zu haben wie all die Toten, die er gesehen hatte. Danach, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er verbal inkontinent. Er erzählte mir, wie er in einen Laden gegangen und vor seiner Haustür gestanden war, wie er an der Bushaltestelle gewartet und jedem, der in seine Nähe kam, berichtet hatte, was ihm zugestoßen war. Er spielte die Szene immer und immer wieder durch, doch das Erzählen verschaffte ihm keine Erleichterung. Es war, als kratzte er sich an einer unerträglich juckenden Stelle. Finn würde reden, wenn ihr danach zumute war; wenn sie sprach, würde ich dasein, um ihr zuzuhören, falls sie mit mir sprechen wollte. Inzwischen brauchte sie einen festen Rahmen, in dem sie sich sicher fühlen konnte.

Ich beobachtete sie, als sie mit ihrem Löffel sehr kleine Mengen Suppe vorsichtig zum Mund führte. Worüber würde sie sprechen, wenn sie in der Lage wäre zu reden?

»Elsie kommt um sechs zurück«, sagte ich. »An manchen Tagen vielleicht auch früher; oft hole ich sie selbst von der Schule ab. Sie ist ganz aufgeregt über dein Kommen. Ich hab ihr nur erzählt, was wir auch anderen Leuten sagen werden: daß du eine Studentin bist, die bei uns wohnt. Fiona Jones.«

Finn stand auf, und der Stuhl schabte geräuschvoll über die Fliesen der Küche, in der es viel zu still war; sie nahm ihren Suppenteller, noch halb voll, und trug ihn zum Spülbecken. Sie wusch ihn ab und stellte ihn auf das Abtropfbrett zwischen all das andere Geschirr. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch, mir gegenüber, ohne mich anzusehen. Sie legte ihre Hände um die Tasse Tee, die ich ihr hingestellt hatte, und zitterte. Dann hob sie den Blick und starrte mich an. Es war das erste Mal, daß sie das tat, und es erschreckte mich. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich in ihren Schädel hineinsehen.

»Du bist hier sicher, Finn«, sagte ich. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, wenn du nicht willst; und du brauchst auch nichts zu tun. Aber du bist sicher.«

Der Sekundenzeiger auf der Küchenuhr, die grün leuchtenden Digitalziffern meines Radioweckers, das tiefe monotone Ticken der großväterlichen Pendeluhr im Hausflur, sie alle pflichteten mir bei, daß es ein langer, gedehnter Nachmittag war. Die Zeit, die sonst durch meine Tage gerast war, zog sich schmerzhaft träge in die Länge.

Ich ließ Finn ein heißes Bad ein und gab mein Lieblingsöl ins Wasser. Sie ging ins Badezimmer, verschloß die Tür. Ich hörte, wie sie sich auszog und in die Wanne stieg. Aber in weniger als fünf Minuten war sie wieder draußen und trug die gleichen Kleider wie zuvor. Ich bat sie, mir bei der Auswahl von Vorhängen für ihr Zimmer zu helfen. Wir knieten vor den Stoffstapeln, die ich unter meinem Bett hervorzog, wo ich sie aufbewahrte. Sie sah zu, wie ich die gefalteten Bahnen hochhob, und schwieg. Also wählte ich für sie etwas Fröhliches in mattem Rot, Gelb und Blau, obwohl es viel zu lang war für das kleine, quadratische Fenster, und hängte es auf. Ich ließ sie in ihrem Schlafzimmer, damit sie auspacken und vielleicht ein Weilchen allein sein konnte. Ehe ich aus dem Zimmer ging, sah ich, wie sie in den offenen Koffer und auf Kleidungsstücke starrte, die sich alle noch in der Verpackung befanden. Ein paar Minuten später kam sie wieder nach unten und stand in der Tür meines Arbeitszimmers, wo ich Ordner einräumte. Ich ging mit ihr hinaus in den Garten und hoffte, daß die Blumenzwiebeln, die der Vorbesitzer angeblich eingepflanzt hatte, durch den vernachlässigten Boden sprossen; aber alles, was wir fanden, waren ein paar Schneeglöckchen in einem gesprungenen Blumentopf.

Wir gingen wieder hinein, und ich schürte ein Feuer an (das im wesentlichen aus Zündwürfeln und fest zusammengeknülltem Zeitungspapier bestand). Sie saß eine Weile in meinem einzigen Sessel und starrte in die unregelmäßig züngelnden Flammen. Ich hatte mich neben ihr auf dem Teppich niedergelassen und studierte Schachaufgaben, die ich aus den Zeitungen dieser Woche ausgeschnitten hatte. Anatoly kam klappernd durch die Katzentür ins Wohnzimmer und stieß ein paarmal mit seiner feuchten Schnauze gegen meine angezogenen Knie; dann legte er sich zwischen uns. Zwei Frauen und eine Katze am Kamin; es war beinahe gemütlich.

Dann sprach Finn. Ihre Stimme war leise und heiser.

»Ich blute.«

Ich sah entsetzt auf ihren Hals, aber das meinte sie natürlich nicht. Sie hatte die Augenbrauen verwirrt hochgezogen.

»Das ist okay.« Ich stand auf. »Ich habe im Badezimmer jede Menge Tampax und Binden und alles. Ich hätte daran denken sollen, es dir zu sagen. Komm.«

»Ich blute«, sagte sie wieder, diesmal fast flüsternd. Ich ergriff ihre dünne, kalte Hand und zog sie auf die Füße. Sie war ein ganzes Stück kleiner als ich und sah schrecklich jung aus. Zu jung, um zu bluten.

»Das«, sagte Elsie, »ist eine Schulter.« Sie tunkte ihr dünnes Rechteck aus Toast in das flüssige Eigelb und saugte geräuschvoll daran; es lief über ihr Kinn wie gelber Leim. »Hast du Schultern?« Sie wartete nicht auf eine Antwort; es war, als hätte Finns Schweigen ihre Zunge gelöst.

»Wir hatten heute Chicken-Nuggets, und Alexander Cassell« –

sie sprach es Ale-xxonder aus – »hat seine in die Tasche gesteckt, und sie pappten zusammen.« Sie quietschte begeistert und saugte wieder an ihrem Toast. »Fertig. Willst du mitkommen und meine Zeichnung ansehen?« Sie rutschte von ihrem Stuhl. »Hier entlang. Meine Mummy sagt, daß ich besser zeichnen kann als sie. Meine Lieblingsfarbe ist Rosa und Mummys Schwarz, aber ich hasse Schwarz, nur Anatoly nicht, und dabei ist er ganz schwarz wie ein Panther. Was ist deine Lieblingsfarbe?«

Elsie schien nicht zu merken, daß Finn nicht antwortete. Sie zeigte ihr das Bild ihres Hauses mit einer Tür, die bis zum Dach reichte, und zwei schiefen Fenstern. Sie zeigte ihr, wie sie Purzelbäume schlagen konnte, wobei sie gegen die Beine des Stuhls krachte. Und dann verlangte sie ein Video, und zusammen sahen sie sich den ganzen Film 101 Dalmatiner an, Finn im Sessel, Elsie auf dem Teppich. Sie starrten beide auf den Bildschirm voll junger Hunde, Finn mit leerem Blick, Elsie gierig, und als ich Elsie aufhob und mit nach oben ins Bad nahm (»Warum muß ich immer baden?«), blieb Finn zurück und hielt weiter ihren Blick auf den leeren Bildschirm gerichtet.

Die Abende würden am schlimmsten werden, dachte ich; über lange Zeitspannen nur wir beide, keine Struktur, Finn einfach dasitzend und wartend, aber auf was? Ich dachte daran, wie sie mich angesehen hatte. Ich kramte im Tiefkühlschrank herum: Steak and Kidney Pudding von Marks and Spencer, Chicken Kiev von Sainsbury’s, eine Packung Lasagne (zwei Portionen), Spinat- und Käseauflauf (eine Portion). Ich nahm die Lasagne heraus und stellte sie zum Auftauen in die Mikrowelle.

Vielleicht waren noch Tiefkühlerbsen da. Ich fragte mich, wo Danny war; ich fragte mich, ob er anderswo Trost und Vergnügen gefunden, seine Wut ihn in ein anderes Bett getrieben hatte. War er jetzt mit jemand anderem zusammen, während ich eine stumme Kranke versorgte? Legte er seine rauhen Hände auf den willigen Körper einer anderen? Bei dem Gedanken verschlug es mir ein paar Augenblicke lang den Atem. Ich nehme an, er hätte gesagt, daß ich ihm untreu war, auf meine Art. Finn, die passiv im Zimmer nebenan saß, repräsentierte eine Art Verrat. Ich wünschte mir, er wäre jetzt hier, und ich würde statt für sie für Danny Lasagne und Erbsen wärmen; dann hätten wir uns im Fernsehen einen Film ansehen und zusammen nach oben ins Bett gehen und dicht aneinandergekuschelt im Dunkeln liegen können. Ich wünschte, ich könnte Finn und meinen ganzen dummen und übereilten Entschluß, sie aufzunehmen, ungeschehen machen und zu der Vergangenheit von vor zwei Tagen zurückkehren.

»So, fertig.« Ich trug das Tablett ins Wohnzimmer, aber Finn war nicht dort. Ich rief nach oben, zuerst verhalten, dann etwas ungeduldiger. Keine Antwort. Schließlich klopfte ich an ihre Schlafzimmertür und öffnete sie dann. Sie lag, voll bekleidet, auf dem Bett und hatte den Daumen im Mund. Ich deckte sie zu, und dabei öffnete sie die Augen. Sie schaute mich an und drehte dann den Kopf zur Wand …

Und so endete Finns erster Tag. Nur, daß ich später, als ich selbst zu Bett gegangen und es draußen so dunkel geworden war, wie es nur auf dem Land sein konnte, aus Finns Zimmer einen dumpfen Schlag hörte. Dann noch einen, lauter. Ich zog meinen Morgenrock an und tappte durch den eisigen Korridor.

Sie schlief, beide Hände vor dem Gesicht wie jemand, der sich vor einer aufdringlichen Kamera versteckt. Ich ging zurück in mein warmes Bett und hörte bis zum Morgen nichts außer dem Schrei einer Eule, dem Seufzen des Windes, schrecklichen, unverfälschten Landgeräuschen.

10. KAPITEL

Finns Gegenwart im Haus verströmte eisige Kälte. Ich konnte sie aus dem Augenwinkel sehen: irgendwo herumlungernd, irgendwo herumschlurfend. In allen Debatten über Sicherheit und ihren Zustand war eines nicht diskutiert worden, nämlich, was sie eigentlich die ganze Zeit über in meinem Haus tun sollte. In den ersten paar Tagen wachte sie früh auf. Manchmal hörte ich das Tappen nackter Füße auf den blanken Dielen des Treppenabsatzes. Zur Frühstückszeit klopfte ich an ihre Zimmertür und fragte, ob ich ihr etwas bringen könne. Ich erhielt keine Antwort. Ich sah nichts von ihr, bis ich zurückkam, nachdem ich Elsie zur Schule gebracht hatte. Sie saß auf dem Sofa und sah sich das Morgenprogramm im Fernsehen an, Spielshows, Talk-Shows, Nachrichtensendungen, australische Seifenopern. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und bis auf das Gefummel am Gips um ihren Hals bewegte sie sich kaum.

Fummel, fummel, fummel. Ich brachte ihr Kaffee, schwarz und ohne Zucker, und sie nahm ihn und hielt ihre Hände um die Tasse, als wollte sie seine Wärme in sich aufnehmen. Das war für den ganzen Tag das, was menschlichem Kontakt am nächsten kam. Ich brachte ihr Toast, aber eine halbe Stunde später war er noch immer unangerührt.

Wenn ich Finn im Haus begegnete, redete ich beiläufig mit ihr, wie man mit einem Patienten redet, der im tiefen Koma liegt und bei dem man nicht weiß, ob er es vielleicht doch hört. Hier ist Kaffee. Gib auf deine Hände acht. Ein schöner Tag. Rück mal ein Stückchen. Was schaust du dir an? Die gelegentlichen Fragen entschlüpften mir versehentlich und provozierten peinliche Stille. Ich war verlegen und wütend auf mich selbst, weil ich verlegen war. Ich fühlte mich beruflich und persönlich verunsichert. Dies war eigentlich mein Fachgebiet, und mein Verhalten war absurd und auch ineffizient. Aber es war die Situation selbst, die verheerend war, nicht mein Benehmen in der Situation. Daß ich eine schwer traumatisierte Frau in mein Haus und sozusagen in den Kontext meiner eigenen Familie aufgenommen hatte, widersprach jeglichem normalen Verhalten.

Und ich vermißte Danny auf eine Art, die mich überraschte.

Als ich am Nachmittag des dritten Tages, an dem Finn nicht gesprochen hatte, zu Elsies Schule fuhr, ging ich im Kopf die Möglichkeiten durch. Ich betrat Elsies Klassenzimmer und fand sie mit einem Bild beschäftigt, das fast so groß war wie sie selbst. Sie schaute äußerst konzentriert und brachte mit einem schwarzen Stift energisch ein paar letzte Striche an. Ich kniete mich neben sie und schaute ihr über die Schulter. Ich konnte ihre weiche Haut riechen, ihr flaumiges Haar an meiner Wange spüren.

»Das ist ein schöner Elefant«, sagte ich.

»Das ist ein Pferd«, sagte sie entschieden.

»Es sieht aus wie ein Elefant«, protestierte ich. »Es hat einen Rüssel.«

»Es sieht aus wie ein Elefant«, sagte Elsie, »aber es ist ein Pferd.«

So leicht gab ich nicht nach.

»Ich sehe aus wie eine normale Frau. Könnte ich ein Pferd sein?«

Elsie sah mit neu erwachtem Interesse zu mir auf.

» Bist du eins?«

Ich spürte einen Anflug von Reue über das, was ich diesem störrischen, flachshaarigen kleinen Kobold zumutete. Ich sollte etwas für sie tun. Ich mußte etwas tun. Jetzt gleich. Ich sah mich um.

»Mit wem hast du gespielt, Elsie?«

»Mit niemand.«

»Nein, wirklich, mit wem?«

»Mungo.«

»Außer Mungo.«

»Niemand.«

»Sag mir jemanden, mit dem du gespielt hast.«

»Penelope.«

Ich ging zur Lehrerin, Miss Karlin, dem Traum einer Lehrerin, in langem, geblümtem Kleid, mit randloser Brille und achtlos aufgestecktem Haar, und bat sie, mir Penelope zu zeigen. Sie sagte mir, es gebe in der Klasse, ja in der ganzen Schule niemanden dieses Namens. Ob sie mir jemanden zeigen könne, mit dem Elsie gespielt oder neben dem sie länger als zwei Minuten gestanden habe. Miss Karlin zeigte auf ein Mädchen mit mausbraunem Haar namens Kirsty. Ich lungerte also wie ein Privatdetektiv an der Wand des Klassenzimmers herum, und als eine Frau sich Kirsty näherte und versuchte, sie in einen kleinen Dufflecoat zu stecken, sprach ich sie an.

»Hallo«, sagte ich rücksichtslos, »ich bin so froh, daß Elsie –

das ist meine kleine Tochter, da drüben auf dem Fußboden –

und Kirsty so gute Freundinnen geworden sind.«

»Ach ja? Ich wußte nicht …«

»Kirsty muß unbedingt zum Spielen zu uns kommen.«

»Na ja, vielleicht …«

»Wie wär’s mit morgen?«

»Ach, Kirsty ist eigentlich nicht gewöhnt …«

»Es wird nett werden, Miss Karlin hat mir erzählt, daß sie absolut unzertrennlich sind. Linda wird beide abholen, und ich fahre Kirsty dann nach Hause. Könnten Sie mir Ihre Adresse geben? Oder möchten Sie sie lieber selbst abholen?«

Damit war Elsies gesellschaftliches Leben geregelt. Der Rest des Tages war unbefriedigend. Nachdem wir zu Hause angekommen waren, hielt ich Elsie so weit wie möglich von Finn fern, aß allein mit ihr zu Abend und brachte sie dann nach oben in ihr Zimmer. Sie badete, und ich saß anschließend an ihrem Bett und las ihr vor.

»Ist Fing hier?«

»Finn.«

»Fing.«

»Finn.«

»Fing.«

»Fin-n-n-n-n.«

»Fing-ng-ng-ng-ng.«

Ich gab auf.

»Ja, ist sie.«

»Wo ist sie?«

»Ich glaube, sie schläft«, log ich.

»Warum?«

»Sie ist müde.«

»Hat sie viel Arbeit?«

»Nein. Sie braucht bloß Ruhe.«

Das brachte Elsie lange genug zum Schweigen, um das Thema zu wechseln.

Am folgenden Morgen machte ich einen kläglichen Versuch, mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Ich starrte auf den Computerbildschirm. Mit einem Doppelklicken rief ich das Schachprogramm auf. Ich konnte mir ebensogut eine schnelle Partie leisten. Ein Königsbauer eröffnete, und das Programm führte mich in eine komplizierte Version der sizilianischen Verteidigung. Ohne viel Nachdenken brachte ich die Bauern in eine günstige Stellung und vereinfachte das Spiel, indem ich einige Figuren abtauschte. Das Programm war in der Verliererposition, aber ich brauchte eine lange und komplizierte Serie von Manövern, um einen Bauern gegen eine Dame einzutauschen. Ich ließ mich auf das Spiel des Computers ein, und eine ganze Stunde verging. Verdammter Mist. Zeit zum Arbeiten.

Ich nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und kratzte damit durch die Öffnungen in meiner Tastatur. Es gelang mir, eine überraschende Menge Staub, Flusen und Haare herauszupulen, die sich darin festgesetzt hatten. Deshalb fing ich an, das Problem systematisch anzugehen. Ich führte die Karte in den Schlitz zwischen der Zahlenreihe und der Reihe mit den Buchstaben QWERT, dann zwischen diese und die Reihe mit ASDF, dann zwischen die ASDF-Reihe und die mit YXCV. Am Ende hatte ich ein kleines Häufchen Schmutz, ungefähr ausreichend, um das Kopfkissen einer Haselmaus zu füllen. Ich blies kräftig dagegen, und es verschwand hinter meinem Schreibtisch.

Der bloße Gedanke, irgendeine Arbeit zu erledigen, war mir zuwider. Ich hasse Spinnen. Ein lächerlicher Widerwille, weil ich weiß, wie interessant sie sind und all das, aber ich kann sie nicht ertragen. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Spinne im Zimmer entdeckt, und sie sei davongeflitzt. Ich wußte, daß sie irgendwo im Zimmer war, und konnte an nichts anderes denken.

Finn war im Haus, und es kam mir vor, als würde sie in meinem Gehirn herumkrabbeln. Ich sah mir die Visitenkarte an, deren Ecken jetzt schmutzig und geknickt waren. Es war die, die Michael Daley mir gegeben hatte. Ich wählte die Nummer seiner Praxis. Er war nicht da, und ich hinterließ meinen Namen. Nach weniger als einer Minute rief er zurück.

»Wie geht es ihr?« fragte er sofort.

Ich beschrieb Finns Verhalten und äußerte meine Zweifel an der ganzen Sache. Als ich fertig war, folgte ein langes Schweigen.

»Sind Sie noch da?«

»Ja.« Daley wollte etwas sagen und schwieg dann einen Moment.

»Ich weiß nicht genau, was ich sagen soll. Ich denke, daß man Sie in eine unmögliche Situation gebracht hat. Und über Finn mache ich mir auch Sorgen. Lassen Sie mich darüber nachdenken.«

»Um ehrlich zu sein, Michael, ich finde, das ist eine Farce. Ich glaube nicht, daß sie irgend jemandem irgend etwas nutzen wird.«

»Vermutlich haben Sie recht. Wir müssen reden.«

»Aber wir reden doch gerade.«

»Entschuldigung, ja. Kann ich kommen und sie sehen?«

»Wann?«

»Jetzt sofort.«

»Haben Sie nicht eine Praxis?«

»Jetzt ist sie geschlossen, und ich habe eine Stunde frei.«

»Gut. Herrgott, Michael, ein Arzt, der sich bereit erklärt, Hausbesuche zu machen. Wir sollten Sie ausstopfen lassen.«

Daley kam eine knappe Viertelstunde später. Er war fertig für die Sprechstunde gekleidet, trug einen dunklen Anzug, einen hellen Schlips und ein Jackett, hatte sich rasiert und das Haar gebürstet, wirkte aber trotzdem erfreulich lässig. Sein Ausdruck war besorgt, ja nervös.

»Kann ich sie sehen?«

»Sie sieht bestimmt fern. Lassen Sie sich soviel Zeit, wie Sie wollen. Möchten Sie Tee oder etwas anderes?«

»Später. Geben Sie mir fünf Minuten. Ich würde sie mir gern ansehen.«

Daley verschwand im Wohnzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Ich schnappte mir die Zeitung und wartete. Durch die Wand konnte ich nur die Geräusche des Fernsehers hören, sonst nichts. Nach einer Weile tauchte Daley wieder auf und sah genauso düster aus wie zuvor. Er kam zu mir in die Küche.

»Jetzt würde ich gern Tee trinken«, sagte er. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

Ich füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein.

»Nun?«

»Mit mir hat sie auch nicht gesprochen. Ich habe sie mir kurz angesehen. Körperlich geht es ihr gut, wie Sie bereits wissen.«

»Aber darum geht es nicht, oder?«

»Nein.«

Ich schob Becher herum, fand Teebeutel und verbeulte Löffel, während ich wartete, daß das Wasser kochte.

»Ein Wasserkocher, den man beobachtet, braucht etwa drei Minuten, bis das Wasser kocht«, sagte ich.

Michael antwortete nicht. Endlich stellte ich zwei Becher Tee vor ihn hin und setzte mich ihm gegenüber.

»Ich kann Ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit nicht lange widmen«, sagte ich. »Linda kommt gleich mit Elsie und Elsies neuer Freundin oder wenigstens Ersatzfreundin zurück.«

»Ich muß sowieso gehen«, sagte Michael. »Hören Sie, Sam, es tut mir leid, daß Sie all das am Hals haben. Es funktioniert nicht.

Und das ist nicht Ihre Schuld. Tun Sie gar nichts. Geben Sie mir einen Tag oder so. Ich werde Baird anrufen, und wir werden sie Ihnen vom Hals schaffen.«

»Das meine ich nicht«, sagte ich unbehaglich. »Es geht nicht darum, mir jemanden vom Hals zu schaffen.«

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich spreche als Finns Arzt. Ich glaube nicht, daß dies hier für sie angemessen ist. Und abgesehen davon, ist es auch nicht gut für Sie. Ich rufe Sie morgen nachmittag an und lasse Sie wissen, was wir tun werden.«

Er stützte den Kopf in eine Hand und lächelte mich an.

»Okay?«

»Es tut mir leid, Michael«, sagte ich. »Ich hasse das Gefühl, nichts tun zu können, aber dies …« Ich zuckte mit den Schultern.

»Natürlich«, sagte er.

Kirstys erstes Erscheinen war nicht vielversprechend. Elsie lief schnurstracks an mir vorbei. Linda kam herein, ein grimmig dreinblickendes Kind an der Hand.

»Hallo, Kirsty«, sagte ich.

»Ich will zu meiner Mummy«, jammerte sie.

»Möchtest du einen Apfel?«

»Nein.«

»Ich will nach Hause«, sagte Kirsty und begann zu weinen, richtig zu weinen. Dicke Tränen liefen ihr über die roten Wangen.

Ich hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer. Finn war nicht dort, Gott sei Dank. Ich hielt Kirsty im linken Arm, zog eine Schachtel mit Spielsachen hinter dem Sofa hervor und rief Linda zu, sie solle Elsie herunterbringen, notfalls mit Gewalt. Es gab Puppen ohne Kleider und Kleider ohne Puppen.

»Möchtest du die Puppen anziehen, Kirsty?« fragte ich.

»Nein«, sagte Kirsty.

Eine ebenso störrische Elsie wurde ins Zimmer geschleppt.

»Elsie, möchtest du Kirsty nicht helfen, die Puppen anzuziehen?«

»Nein.«

Im Flur läutete das Telefon.

»Gehen Sie ran, Linda. Du liebst doch die Puppen, nicht, Elsie? Warum zeigst du sie Kirsty nicht?«

»Keine Lust.«

»Verdammt, ihr sollt Freundinnen sein.«

Beide weinten, als Linda ins Wohnzimmer zurückkam.

»Es ist Thelma«, sagte sie.

»Herrgott, sagen Sie ihr … nein, ich nehme besser in meinem Arbeitszimmer ab. Lassen Sie keinen aus diesem Zimmer heraus.«

Thelma rief an, um sich zu erkundigen, wie es lief, und ich beschrieb die Situation, so knapp ich konnte. Trotzdem dauerte es mehr als zwanzig Minuten, bis ich das Gespräch beenden konnte, und als ich mein Arbeitszimmer verließ, war ich auf Schreie und Blut an den Wänden, auf eine Klage von Kirstys Mutter, die Intervention des Sozialdienstes von Essex und eine amtliche Untersuchung gefaßt, die in meiner Verurteilung kulminierte. Statt dessen war das erste Geräusch, das ich hörte, ein kurzes, glockenhelles Lachen. Linda muß Wunder gewirkt haben, dachte ich bei mir, aber als ich um die Ecke kam, sah ich Linda im Flur vor der halbgeöffneten Tür stehen.

»Was …?« begann ich, aber sie hielt einen Finger an die Lippen und winkte mich mit einem Lächeln heran.

Auf Zehenspitzen ging ich zu ihr und schaute durch den Türspalt. Ich hörte einen leisen Entzückensschrei, der dann in gurgelndem Gelächter endete.

»Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht.«

Wessen Stimme war das? Das konnte nicht sein.

»Doch, weißt du wohl, weißt du wohl«, beharrten zwei kleine Stimmen.

»Aber ich glaube, er könnte in Kirstys Ohr sein. Sollen wir nachsehen? Ja, da ist er.«

Weitere kleine Quietscher.

»Noch mal, Fing. Mach es noch mal.«

Elsie und Kirsty knieten auf dem Teppich. Ganz vorsichtig spähte ich um die Türkante herum. Finn saß vor ihnen und hielt einen kleinen gelben Ball aus der Spielkiste zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand.

»Ich glaube nicht, daß ich das kann«, sagte sie, rieb die Hände aneinander und nahm den Ball von der linken in die rechte Hand. »Aber vielleicht können wir’s versuchen.« Sie streckte die linke Hand aus.

»Könnt ihr pusten?«

Elsie und Kirsty bliesen mit gerunzelten Brauen und runden Backen.

»Und das Zauberwort sagen.«

»Abrakadabra.«

Finn öffnete die linke Faust. Der Ball war natürlich verschwunden. Es war ein furchtbar plumper Zaubertrick, aber die beiden kleinen Mädchen schnappten überrascht nach Luft und kreischten und lachten. Keine von ihnen bemerkte uns, und ich trat in den Flur zurück.

»Stören wir sie bloß nicht«, flüsterte ich, und wir entfernten uns auf Zehenspitzen.

»Ich bin erstaunt«, sagte Kirstys Mutter, als sie zwei Stunden später an der Tür stand und darauf wartete, ihre Tochter in Empfang zu nehmen.

»So war Kirsty noch nie bei anderen Leuten.«

»Oh«, antwortete ich bescheiden, »wir haben uns Mühe gegeben, damit sie sich wohl fühlt.«

»Ich weiß nicht, wie Sie das geschafft haben«, sagte Kirstys Mutter.

»Komm, Kirsty. Auf Wiedersehen, Elsie. Würdest du gern einmal zu uns nach Hause kommen und mit Kirsty spielen?«

»Ich will nicht gehen«, sagte Kirsty und hatte wieder Tränen in den Augen. »Ich will bei Fing bleiben.«

»Wer ist Fing?« fragte Kirstys Mutter. »Sind Sie das?«

»Nein«, gestand ich. »Es ist – Fiona – sie wohnt bei uns.«

»Ich will nicht gehen«, kreischte Kirsty.

Kirstys Mutter nahm sie auf den Arm und trug sie hinaus. Ich schloß die Tür hinter ihr. Die Schreie entfernten sich in der Dunkelheit und verstummten dann, als eine Autotür zugeschlagen wurde. Ich kniete mich zu Elsie nieder und drückte sie an mich.

»Hat es dir gefallen?« fragte ich leise in ihr Ohr.

Sie nickte. Irgendwie strahlte sie.

»Gut«, sagte ich. »Lauf nach oben und zieh dich aus. Ich komme in einer Minute nach und setze dich in die Wanne.«

»Kann Fing kommen? Kann sie mir eine Geschichte vorlesen?«

»Wir werden sehen. Und nun geh.«

Von hinten sah ich ihren kleinen, kräftigen Körper die Treppe hinaufstürmen. Ich drehte mich um und ging ins Wohnzimmer zurück. Der Fernseher war eingeschaltet. Finn saß davor. Ich setzte mich neben sie; sie gab nicht zu erkennen, ob sie mich bemerkte. Ich schaute auf den Bildschirm und versuchte herauszufinden, worum es gerade ging. Plötzlich spürte ich ihre Hand auf meiner. Ich wandte mich zur Seite und sah, daß sie mich anstarrte.

»Ich bin eine Last«, sagte sie.

»Das ist schon in Ordnung«, antwortete ich.

»Elsie hat mir ein Geschenk gemacht.«

Unwillkürlich mußte ich lachen.

»Und was könnte das sein?«

»Schauen Sie«, sagte Finn und streckte die Faust aus.

Langsam öffneten sich die Finger, und da, auf ihrer Handfläche hockte einer von Dannys Papiervögeln.

An diesem Abend rief ich Danny an. Ich versuchte es um zehn und um elf, dann um zwölf, und da meldete er sich mit belegter Stimme, als hätte ich ihn geweckt.

»Ich vermisse dich«, sagte ich.

Er grunzte.

»Ich denke die ganze Zeit an dich«, fuhr ich fort. »Und du hattest recht. Es tut mir leid.«

»Ach, Sammy, ich vermisse dich auch«, sagte er. »Ich kriege dich anscheinend nicht aus dem Kopf.«

»Wann kommst du?«

»Ich baue eine neue Küche für ein Paar, das anscheinend denkt, Schlaf sei ein Luxus und Wochenenden existierten nicht.

Gib mir eine Woche.«

»Kann ich es ertragen, noch eine Woche zu warten?« fragte ich.

»Aber dann müssen wir reden, Sam.«