»Oh!«

»Alles, woran Sie denken müssen ist, daß wir den Wind benutzen, um dahin zu gelangen, wo wir hinwollen. Manchmal wird er von der Seite kommen, dann liegen wir schräg, manchmal von hinten, dann segeln wir vor dem Wind, und manchmal fast von vorn, dann …«

»Dann kippen wir um, nehme ich an«, stöhnte ich.

Er grinste mich an.

»Sie brauchen bloß diese Leine zu halten« – er warf mir das Ende des Taus zu, an dem das kleinere Segel befestigt war –

»und zu kontrollieren. Je mehr wir in den Wind gehen, desto fester müssen Sie anziehen. Wenn wir Fahrt machen, lassen Sie locker. Wenn wir halsen, brauchen Sie nur loszulassen und auf der anderen Seite anzuziehen. Um alles andere kümmere ich mich. In Ordnung?«

»In Ordnung.«

»Im Bug liegen noch Handschuhe.«

Ich beugte mich vor, um sie zu holen, aber plötzlich neigte das Boot sich stark zur Seite.

»Lehnen Sie sich zurück; nein, Sam, zurück, damit wir das Boot aufrecht halten. Zurück, Sam!«

Ich lehnte mich zurück und hatte das Gefühl, über dem Wasser zu hängen, nur von meinen schwachen Zehen gehalten. Meine Hände kribbelten vor Kälte, mein durchgedrückter Rücken schmerzte, mein Hals war verdreht, so daß ich, wenn ich die Augen ein wenig rollte, das Wasser unter uns sehen konnte –

beunruhigend weit entfernt. Das Schwert kam aus dem Wasser; wenn ich nach vorn schaute, konnte ich sehen, daß auf der anderen Seite Wasser ins Boot schwappte. Ich schloß die Augen.

»So, Sam, wenn ich ›Wenden!‹ rufe, lassen Sie die Leine locker und das Segel flattern. Und dann rutschen Sie schnell auf die andere Seite, wenn das Boot sich dreht. Alles klar?«

»Nein. Wenn ich mich bewege, kippen wir um.«

»Kentern.«

»Verdammt, nennen Sie es, wie Sie wollen, ich sage umkippen.«

»Keine Sorge, Sam, wir kentern nicht; so windig ist es nicht.«

Ich mochte den herablassenden Ton in seiner Stimme nicht.

»Also los!« schrie ich und zog das Tau mit einem Ruck aus der Halterung. Das Segel flatterte wild, das Boot hüpfte, der Lärm war ohrenbetäubend. Ich rutschte in die Mitte des Bootes und stieß mich am Schwertkasten. Michael drückte das Ruder hinüber und setzte sich ganz ruhig auf die andere Seite, wobei er meinen Kopf nach unten hielt. Der Baum sauste knapp über mir vorbei. Michael zog erst sein Segel und dann meins an. Der Lärm hörte auf, das Flattern auch, und das Boot lag gerade auf dem grauen Wasser. Ich rutschte an seine Seite. Wenn meine Hände nicht vor Kälte steif gewesen wären, hätten sie gezittert.

»Beim nächstenmal warten Sie, bis ich ›Wenden‹ sage, ja?«

meinte er nachsichtig.

»Verzeihung.«

»Sie werden es schnell heraushaben. So ist es doch gut, oder?«

Das Boot lag jetzt ganz gerade, die Segel straff im Wind.

»Lehnen Sie sich zurück, und genießen Sie es. Sehen Sie, da ist ein Reiher. Die sehe ich oft, wenn ich segle. Dort drüben« – er wies auf eine Felsformation in dem dunklen Wasser – »ist Needle Point. Da treffen zwei Strömungen aufeinander.

Ziemlich schwieriges Gewässer, vor allem, wenn im Frühjahr Flut ist.«

»Aber da fahren wir jetzt nicht hin, oder?« fragte ich nervös.

»Ich denke«, antwortete er ernst und zog an seinem Segel,

»das heben wir uns für einen anderen Tag auf.«

Für ein paar Minuten, solange die Belladonna auf diesem Kurs blieb und ich nur stillsitzen und das Wasser vorbeirauschen lassen mußte und dabei Michaels ruhiges Profil im Wind sah, genoß ich die Fahrt beinahe. Die Wellen unter uns plätscherten in einem stetigen Rhythmus, und am bleiernen Himmel zeigte sich kurz die Sonne. Ein anderes Dinghi fuhr hinter uns vorbei, und die beiden Segler hoben grüßend die behandschuhten Hände; es gelang mir, das Winken zu erwidern und dabei halbwegs fröhlich zu lächeln. Einmal konnten wir sogar fast so etwas wie ein Gespräch führen.

»Sie hassen es, in jemandes Hand zu sein, nicht?«

»Es gibt nicht viele Leute, deren Hände ich traue«, antwortete ich.

»Ich hoffe, Sie trauen meinen.«

Flirtete er etwa? Dazu war jetzt wirklich nicht der Moment.

»Ich versuche es.«

»Es muß schwierig sein, mit Ihnen zu leben, Dr. Laschen.

Findet Danny Sie nicht schwierig?«

Ich gab keine Antwort; feuchter Wind stach mir in die Wangen, und das graue Meer rauschte vorbei.

»Obwohl er den Eindruck macht, daß er ganz gut auf sich selbst aufpassen kann und sich zu schützen weiß. Ein ziemlich weltgewandter Bursche, würde ich meinen.«

Wenn ich mich nicht so auf die ferne Uferlinie und die Lage des Bootes konzentriert hätte, hätte das Wort »Bursche« meinen Widerspruch herausgefordert. Doch so nickte ich bloß und fummelte an dem nassen Knoten in meinem Tau herum, das müßig in meinem Schoß lag.

Aber dann zog Michael das Ruder an sich, bis der Wind direkt von hinten kam, hob mit einer glatten Bewegung das Schwert an, ließ sein Segel aus, bis es sich öffnete wie eine üppige Blüte, und wies mich an, mein Segel anzuziehen, bis es sich von der anderen Seite mit Wind füllte.

»Ich denke, so geht es ganz gut«, sagte er. »Rutschen Sie rüber, wir müssen unser Gewicht gleichmäßig verteilen.«

Der Bug des Dinghis hob sich, und wir glitten durch die Wellen.

»Aufgepaßt, Sam. Wenn der Wind wechselt, müssen wir halsen.«

»Halsen? Nein, erklären Sie mir nichts, sagen Sie bloß, wie ich es verhindern kann.«

Michael konzentrierte sich, schaute zu dem Fähnchen hoch, um festzustellen, aus welcher Richtung der Wind kam, justierte ein wenig die Stellung der Segel. Das Boot hob und senkte sich so, daß mir ganz komisch im Magen wurde; wir stiegen und fielen mit einer gierenden Bewegung, die seltsame Dinge mit meinen Eingeweiden anstellte. Meine Zunge fühlte sich an, als lägen Kieselsteine darauf.

»Äh, Michael?«

»Mmm.«

»Könnten Sie einen Moment aufhören, das Boot so zu bewegen? Mir ist ein bißchen …«

»Der Wind wechselt, wir halsen. Lassen Sie Ihr Segel flattern.«

Es kann nur eine Sekunde gedauert haben. Für einen kurzen Augenblick schienen wir im Wasser stillzustehen, und die Segel hingen schlaff herunter. Dann sah ich entsetzt, wie der Baum aus seiner Position schwang und seitlich auf uns zukam. Das Boot kippte plötzlich zur Seite. Mein Magen hob sich, und ich stand auf, dachte nur daran, an den Rand zu kommen, bevor ich mich übergeben mußte.

»Kopf runter, Sam!« rief Michael.

Der Baum traf mich direkt über dem Ohr, und zwar mit solcher Wucht, daß die Welt für einen Augenblick schwarz wurde. Ich stürzte und rutschte durch das Boot, das sich schräg legte, und der Baum schwang zurück. Diesmal verfehlte er mich, traf dafür aber Michaels Kopf, als er aufstand, um mir zu helfen. Wie zwei große schwarze Käfer lagen wir auf dem nassen Boden des Bootes, beide Segel waren locker und flatterten wild im Wind. Ich fühlte mich viel sicherer, wenn ich nicht sehen konnte, was passierte.

»Halten Sie still!« befahl er.

»Aber …«

Er hob eine Hand und machte ganz sanft und vorsichtig einen Ohrring, der sich gelöst hatte, wieder an meinem Ohrläppchen fest.

»Wie kann man zum Segeln nur solche baumelnden Dinger tragen! Alles in Ordnung?«

Tatsächlich war ich auf einmal und ziemlich grundlos ganz ruhig. Die Übelkeit in meinem Magen verging; mein Herz raste nicht mehr.

Nur eine Schläfe fühlte sich schmerzhaft und geschwollen an.

Das Boot hüpfte noch immer auf und nieder, aber da die Segel jetzt schlaff waren, konnte der Wind ihm nichts mehr anhaben.

Michael neben mir hatte eine beruhigende Wirkung, weil er seiner selbst so sicher war. Ich konnte den dunklen Schatten seines Bartwuchses, seine geschwungene Oberlippe, die großen Pupillen seiner grauen Augen sehen.

»Ich würde Sie nicht in Gefahr bringen, Sam«, sagte er leise und starrte mich an.

Ich brachte ein Grinsen zustande.

»Michael, könnten wir vielleicht ins Kino gehen, wenn wir uns das nächste Mal treffen?«

20. KAPITEL

Auf dem Rückweg zum Haus saßen Michael und ich schweigend im Auto. Ich hatte das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben, und ich hasse es so sehr, jemanden zu enttäuschen, daß ich dann immer schlechte Laune bekomme. Ich fürchtete, ich würde schroff zu ihm sein, und ich wollte nichts sagen, was ich später vielleicht bereuen könnte. Deshalb schwieg ich lieber. Er legte eine Kassette mit klassisch klingender Musik ein, und ich tat so, als hörte ich zu. Die Dämmerung ging in Dunkelheit über, und während wir über die Straßen glitten, die der Küstenlinie folgten, sah ich gelegentlich das erleuchtete Innere von Häusern.

Die Dunkelheit verbarg die öde Landschaft und ließ die Gegend fast so beruhigend wirken, wie man es auf dem Land erwartet.

Als wir ankamen, spürte ich, daß der Vulkan in meiner Brust wieder erloschen war. Ich holte tief Luft.

»Ich glaube nicht, daß ich zum Segler geboren bin.«

»Sie haben sich ganz gut gehalten.«

»Ja, ich weiß. Und Admiral Nelson war jedesmal seekrank, wenn er aufs Meer hinaus mußte. Aber es war wirklich nett von Ihnen, mich mitzunehmen.« Michael sagte nichts, fast ein Lächeln auf dem Gesicht, und ich plapperte weiter, um die Leere zu füllen. »Wir können es ja ein andermal wieder versuchen. Ich bin sicher, daß ich meine Sache dann besser machen werde.«

Verdammter Mist. Worauf hatte ich mich da eingelassen?

Aber Michael schien zufrieden.

»Das würde ich sehr gern tun«, sagte er.

»Und bald werde ich dann das Halsen und Wenden und all das wie nichts beherrschen!«

Er lachte, und wir stiegen aus und gingen zum Haus. Dabei nahm er meinen Arm. Es war jetzt dunkel, und durch das Fenster konnte ich Bewegung im Haus sehen. Ich trat näher heran und schaute hinein. Ein Feuer brannte. Danny saß neben dem Kamin in einem Sessel. Er wandte mir den Rücken zu, und ich konnte nur seinen Hinterkopf und die Bierflasche sehen, die er mit der rechten Hand auf der Armlehne des Sessels hielt.

Aber ich wußte, welchen Gesichtsausdruck er hatte. Er starrte verträumt in die Flammen, Elsie war im Schlafanzug, das Haar gewaschen und ordentlich gekämmt. Ihr Gesicht war rot und fleckig vor Erregung und dem Widerschein der Flammen. Sie stapelte ihre hölzernen Bauklötze aufeinander. Ich konnte nichts hören, aber ich sah, daß sich ihre Lippen ständig bewegten. Sie sprach zu Finn, die neben ihr lag, ebenfalls mit dem Rücken zu mir. Ob Finn antwortete, konnte ich nicht sehen. Vermutlich lag sie einfach nur mit halbgeschlossenen Augen da. Ich argwöhnte, daß Elsie auf Finns Sinn für Ruhe und auf ihre Jugend reagierte.

Sie waren zwei Mädchen, die eine Art Gemeinschaft bildeten, zu der ich nie gehören würde. Es war eine hübsche Szene, so hübsch, daß ich mich fast ausgeschlossen fühlte. Oder fühlte ich mich schuldig, weil ich fort gewesen war?

Eine Hand auf meiner Schulter. Michael.

»Idyllische Familienszene«, sagte ich etwas ironisch.

Michael ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er schaute fasziniert durch das Fenster. Sein Kinn drückte Zufriedenheit aus.

»Das sind Sie, wissen Sie«, sagte er.

»Was meinen Sie?«

»Als ich zuerst mit der Polizei sprach und wir herumfragten, sagten alle, wie wunderbar Sie wären. Und das waren Sie auch.

Ich kann gar nicht glauben, was Sie bei Finn erreicht haben.«

Ich runzelte die Stirn und stieß Michael spielerisch zurück.

»Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln, Dr. Daley. Übrigens habe ich keinerlei Therapie gemacht. Alles, was Finn erreicht hat, hat sie allein erreicht.«

»Sie unterschätzen sich.«

»Ich habe mich noch nie in meinem Leben unterschätzt.«

»Sie irren sich, wissen Sie. Als Allgemeinarzt frage ich mich oft, wie unser Job vor hundert Jahren aussah, als es noch keine Antibiotika gab, kein Insulin, bloß Morphin, Digitalis und ein oder zwei andere Dinge. Ein Arzt hatte fast nichts in seiner Tasche, um den Verlauf einer Krankheit zu beeinflussen. Er war ein Heiler. Er saß bei seinem Patienten, und seine Gegenwart half dem Kranken, vielleicht nur, weil er ihm die Hand hielt.«

Michaels Gesicht war jetzt nur Zentimeter von meinem entfernt, und er sprach im Flüsterton. »Sie sind eine unmögliche Frau. Sie sind arrogant. Sie sind tüchtig. Sie können sehr hart zu uns anderen sein. Aber Sie haben sie, wissen Sie, diese menschliche Qualität.«

Ich sagte nichts. Michael hob die Hand und berührte mit einem Finger ganz leicht mein Haar. Würde er mich küssen, hier draußen, nur wenige Meter von Danny entfernt? Was würde ich dann tun? In weniger als einer Sekunde stellte ich mir vor, ein Verhältnis mit Michael zu haben, wir beide nackt zusammen, und dann all die Konflikte, Qualen, Betrügereien. Auf freundschaftliche, schwesterliche Art nahm ich seine Hand.

»Danke für das Kompliment, Michael, auch wenn Sie sich irren. Kommen Sie herein, und trinken Sie etwas. Grog oder was euch Seglern so schmeckt.«

Er lächelte und schüttelte den Kopf.

»Ich muß nach Hause und aus diesen Sachen raus. Gute Nacht, kluge Frau.«

Ich ging mit diesem warmen Gefühl ins Haus, das sich nur einstellt, wenn einem jemand sehr geschmeichelt hat. Als ich die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, wandten sich mir drei Köpfe, drei Gesichter zu. Danny mit einem leichten ironischen Lächeln.

Nahm er mir etwas übel? Elsies Gesicht glühte, als habe sie ein Feuer in sich. Finn räkelte sich ein wenig wie eine Katze, die sich an meinem Herdfeuer breitgemacht hatte und aus einem langen Schlaf erwachte. Ich spürte tief im Innern eine leise Unruhe.

»Schau doch, Mummy«, sagte Elsie, als sei ich die ganze Zeit dagewesen.

»Unglaublich. Was ist das?«

»Ein Geheimnis. Rate mal.«

»Ein Haus.«

»Nein.«

»Ein Boot.«

»Nein.«

»Ein Zoo.«

»Es ist kein Zoo. Es ist ein Geheimnis.«

»So, und wie war dein Tag?«

»Ich war mit Dan und Fing draußen.«

Erwartungsvoll sah ich die anderen an.

»Wir haben eine Sandburg gebaut«, sagte Finn. »Mit Steinen und Büchsen.«

»Danke, Finn«, sagte ich. Ich ging hinüber zu dem mürrischen Danny, setzte mich auf die Armlehne des Sessels und küßte ihn auf den Kopf. »Danke, Danny.«

»Ich fahre morgen in die Stadt«, sagte Danny.

»Arbeit?«

»Nein.«

Es war ein peinlicher Moment, da Finn und Elsie sich direkt neben uns befanden.

»Ist alles in Ordnung?« murmelte ich.

»Warum sollte es nicht?« antwortete Danny in einem Tonfall, den ich schwer deuten konnte.

»Nur so«, sagte ich.

Ein etwas peinliches Schweigen folgte, und ich sah, daß Finn und Elsie lächelnd Blicke tauschten.

»Was ist los?« fragte ich.

»Fragen Sie Elsie, was an der Tür hängt«, sagte Finn.

»Was hängt an der Tür von deinem sicheren Haus, Elsie?«

In ihrer Aufregung sah Elsie aus wie ein Ballon, den man zu fest aufgeblasen hat und der, wenn man ihn losläßt, unkontrolliert im Zimmer herumfliegt.

»An der Tür hängt ein Spaten«, sagte sie.

»Und fragen Sie Elsie, was auf der Fußmatte ist.«

»Was ist auf der Fußmatte, Elsie?«

»Eine Sandburg«, kreischte Elsie.

»Eine Sandburg auf der Fußmatte? Das ist ja komisch.«

»Und fragen Sie Elsie, was in Mummys Bett liegt.«

»Was liegt in Mummys Bett?«

»Ein dicker Kuß.« Elsie kam zu mir gerannt und schlang die Arme um mich. Der leichte Druck auf meinen Schultern brachte mich fast zum Weinen. Über Elsies Schulter hinweg hauchte ich Finn ein Danke zu.

Elsie wollte, daß Finn sie ins Bett brachte. Ich wollte mich nicht ausschließen lassen und bestand darauf mitzukommen.

Und dann wurde sie eigensinnig, und ich trug sie gegen ihren Willen die Treppe hinauf und versprach ihr, Finn würde kommen und ihr einen Gutenachtkuß geben und eine Geschichte erzählen. Nachdem ich mich aus dem nassen Anzug geschält und Jeans und T-Shirt angezogen hatte, ließ ich Elsie die Zähne putzen und las ihr dann ziemlich mürrisch aus einem Buch mit Zungenbrechern vor.

»Kann Fing jetzt kommen?«

»Gib mir erst einen Gutenachtkuß.«

Mit einem Seufzer spitzte sie die Lippen zum Kuß, und dann wurde ich nach unten entlassen, um Finn zu holen. Finn schlüpfte an mir vorbei, um ihre Verabredung mit der Missetäterin einzuhalten. Danny saß noch immer im Sessel, aber ich sah, daß er eine frische Flasche Bier vor sich stehen hatte.

Ich bemerkte drei leere Flaschen auf dem Boden neben dem Sessel.

»Gib mir einen Schluck«, sagte ich, und er reichte mir die Flasche.

»Was ist los?«

»Es ist Zeit, daß ich wieder nach London fahre, das ist alles.«

»In Ordnung.«

Ein Schweigen folgte, das nicht angenehm war. Ich saß auf dem Boden zu seinen Füßen, lehnte mich an ihn, fühlte seine Knie an meinen Schulterblättern. Ich trank aus der Flasche und gab sie ihm dann zurück.

»Was hältst du von Finn?« fragte ich.

»Was meinst du?«

»Wie kommt sie dir vor?«

»Ich bin kein Arzt, Frau Doktor.«

»Du bist ein menschliches Wesen.«

»Vielen Dank, Sam.«

»Du hast den Tag mit ihr verbracht, Danny. Sag mir, was du denkst.«

»Interessantes Mädchen.«

»Interessantes geschädigtes Mädchen«, sagte ich.

»Du bist die Ärztin.«

»Findest du sie attraktiv?«

Danny runzelte die Stirn.

»Wovon redest du, verdammt?«

»Als Michael mich abgesetzt hat, haben wir durchs Fenster geschaut. Ich habe Finn vor dem Feuer auf dem Boden liegen sehen und mir gedacht, wenn ich ein Mann wäre, könnte ich sie sehr attraktiv finden. Ein reizendes, verführerisches Geschöpf.«

»Du bist aber kein Mann.«

Schweigen. Ich lauschte auf Finns Schritte auf der Treppe.

Dann hörte ich Elsie in der Ferne kichern. Finn würde noch ein paar Minuten wegbleiben.

»Danny, hast du ein Problem damit?«

»Womit?«

»Mit Finn, mit der Situation, du weißt schon.«

Ich spürte Dannys Hand auf meinem Haar. Plötzlich zog er meinen Kopf nach hinten. Ich fühlte seine Lippen auf meinen, schmeckte seine Zunge. Seine linke Hand streichelte meinen Bauch. Ich empfand Verlangen nach ihm. Er hörte auf und lehnte sich zurück. Lächelte boshaft.

»Du weißt, daß ich dir nie sagen würde, wie du dein Leben zu führen hast, Sam, aber …«

»Pssst«, sagte ich.

Draußen hörte ich Schritte, und Finn kam herein und setzte sich in unserer Nähe auf den Teppich vor dem Feuer.

»Elsie schläft schon fast. Ich habe ein paar Salate gemacht«, sagte sie.

»Und Knoblauchbrot. Ich dachte nicht, daß Sie großen Hunger haben würden. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.«

»Du hattest ja wohl keine anderen kulinarischen Pläne oder, Sam?« fragte Danny spöttisch.

Finn kicherte.

»Hört sich gut an«, sagte ich.

Danny trank noch ein paar Flaschen Bier. Ich trank Wein, Finn Wasser. Die Salate waren knackig und bunt und zum Verwechseln ähnlich mit denen, die man in Plastikbechern bei Marks and Spencer kaufen konnte. Ich erzählte ein bißchen vom Segeln. Finn stellte ein paar Fragen. Danny sagte fast gar nichts.

Hinterher nahmen wir unsere Kaffeebecher mit ins Wohnzimmer, wo das Feuer heruntergebrannt war. Danny trank noch eine Flasche Bier. Ich legte kleine Scheite Holz nach und blies und blies, bis wieder Flammen aufloderten. Der Wind rüttelte an den Fensterrahmen und klatschte den Regen gegen die Scheiben.

»An solchen Abenden ist es wunderbar, wenn man am Feuer sitzt«, sagte ich.

»Hör mit dem Quatsch auf, Sam«, sagte Danny.

»Was meinst du?«

»Du redest wie eine verdammte Werbung für irgendwas.«

Er ging zum Fenster hinüber.

»Das bist nicht du, Sam. Was machst du hier? Da draußen sind bloß Bäume und Sumpf und Morast und Regen und dann das Meer. Wirkliche Menschen können hier nicht leben, bloß aufgeputzte Dummköpfe, die auf die Jagd gehen.«

»Hör auf, Danny«, sagte ich und bemerkte, daß Finn schockiert war.

»Warum? Was denkst du darüber, Finn? Gefällt es dir, hier draußen zu leben?«

Finn sah aus, als würde sie in Panik geraten.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich muß noch ein bißchen aufräumen. In der Küche.«

Sie eilte aus dem Zimmer, und ich wandte mich wütend Danny zu.

»Du verdammter Spaßvogel«, zischte ich. »Was spielst du hier eigentlich?«

Danny zuckte mit den Schultern.

»Ich finde das Landleben zum Kotzen. Ich finde die ganze Sache zum Kotzen.«

»Wie konntest du vor Finn so reden? Wie konntest du nur?

Was ist eigentlich los? Bist du sauer wegen Finn oder wegen Michael? Bist du eifersüchtig?«

Danny nahm die Flasche und leerte sie.

»Ich gehe ins Bett«, sagte er und verließ das Zimmer.

Ich blätterte ein paar Minuten in einer Zeitschrift, bis Finn wiederkam.

»Ich entschuldige mich«, sagte ich. »Danny kann manchmal komisch sein.«

»Schon in Ordnung«, sagte Finn. »Ich mag Danny. Ich mag die Art, wie er einfach alles sagen kann. Ich mag, daß er schwierig ist. So grimmige Männer haben mir immer gefallen.«

»Mir nicht.«

Finn lächelte und setzte sich neben mir auf den Teppich vor dem Feuer. Sie war sehr nah. Ich konnte ihre weiche, warme Haut riechen.

»Hast du einen Freund?« fragte ich.

»Wissen Sie, was ich an all dem hasse, was mir passiert ist?«

»Was denn?«

»Daß Leute denken, das Leid hätte mich zu einem zarten, heiligmäßigen Geschöpf gemacht, und ständig Angst haben, etwas Falsches zu sagen, wenn ich in Hörweite bin. Nein, ich habe keinen Freund. Als ich fett war, hat sich natürlich keiner für mich interessiert, und ich glaube, ich selbst war auch nicht interessiert. Oder ich hatte Angst. Vielleicht ist das teilweise der Grund, warum ich fett war. Nachdem ich so viel abgenommen hatte und trotzdem nicht aussah wie eine Bohnenstange, fühlte ich mich völlig anders, und ich hatte ein paarmal Sex mit Jungen. Vor allem in Südamerika; das gehörte zu diesem Abenteuer. Na ja« – sie stieß ein rauhes, gekünsteltes Kichern aus –, »Mummy hat immer gesagt, ich wäre noch zu jung, um flachgelegt zu werden Schockiert Sie das?«

Äh, ja.

»Nein, natürlich nicht. Ich fürchte, daß ich und all das« – ich wies auf unsere Umgebung – »dir ein bißchen bieder vorkommen müssen.«

»Aber nein, Sam.« Finn wandte mir das Gesicht zu. Sie streichelte meine Wange und küßte sie ganz leicht. Am liebsten wäre ich zurückgewichen, aber ich zwang mich, es nicht zu tun.

»Ich finde nicht, daß Sie bieder sind.« Sie setzte sich wieder hin.

»Früher war ich jemand – mein Gott, ich bin es noch –, der sehr impulsiv handelte. Als Danny vom Landleben sprach, war ich im großen und ganzen seiner Meinung. Aber gleichzeitig ist es für mich nicht langweilig. Ich habe diesen Gedanken im Kopf, der nicht verschwinden will. Da draußen im Dunkeln sind Menschen, die mir mit Klebeband das Gesicht verklebt und mir die Kehle durchtrennt haben, und wenn sie könnten, würden sie es wieder tun.«

»Nicht, Finn.«

»Aber es ist mehr als das, Sam. Ich habe da so ein Bild, das immer wieder in meinem Kopf auftaucht. Ich weiß nicht, ob das ein Traum ist. Ich stelle mir dieses Haus vor, mitten in der Nacht. Draußen Licht von Taschenlampen, ein Fenster wird aufgeschoben. Knarren auf der Treppe. Ich wache auf und habe Klebeband über dem Mund und ein Messer an der Kehle. Und dann gehen sie in Ihr Zimmer. Dann in Elsies …«

»Finn. Hör auf damit!« Ich schrie fast. »Du darfst das nicht sagen. Du hast kein Recht, das zu sagen.«

Ich hatte einen sauren Geschmack im Mund. Am liebsten hätte ich mich übergeben.

»Wessen Gefühle schützen Sie?« fragte Finn. »Meine oder Ihre?«

»Diesmal meine.«

»Dann wissen Sie mal, wie das ist.«

»Das wußte ich schon vorher, Finn. Ich wußte es. Es war falsch von dir, das über Elsie zu sagen. Zieh nicht meine Tochter da mit hinein.«

»Ich will unbedingt, daß sie gefaßt werden, Sam.« Die Szene hatte etwas Unheimliches, Theatralisches an sich.

»Das wollen wir alle.«

»Ich will dabei mithelfen. Ich denke immer wieder nach, versuche mich an etwas zu erinnern, irgendwas, was der Polizei einen Hinweis geben könnte. Ein Geruch vielleicht, ein Geräusch. Ich weiß nicht.«

Mein Gehirn war wie vernebelt, vom Wein, von der Wärme des Feuers, der späten Stunde. Ich gab mir Mühe, mich zu klarem Denken zu zwingen. Versuchte sie, mir etwas zu sagen?

»Finn, gibt es da etwas, das du verschweigst, das du der Polizei nicht gesagt hast?«

»Ich glaube nicht. Wenigstens …«

»Ist dir während des Überfalls sonst noch etwas passiert? Hast du der Polizei alles gesagt?«

»Warum sollte da etwas sein? Ich wünschte, es wäre so.

Vielleicht gibt es etwas, dem ich mich nicht stelle. Vielleicht bin ich feige. Sam, ich möchte helfen. Können Sie irgend etwas für mich tun?«

Sie legte die Arme um mich und hielt mich so fest, daß ich ihren Herzschlag spüren konnte. Verzweifelt klammerte sie sich an mich. Das war unheimlich, es war falsch, es war, als würde ich von jemandem verführt, der wußte, daß ich ihn nicht zurückweisen konnte. Ich legte die Arme um sie wie eine Mutter, die ein Kind tröstet, aber gleichzeitig beobachtete ich mich selbst dabei, fragte mich, was ich da tat. Ich zweifelte an meiner Rolle als Finns Ärztin, zweifelte an meiner Rolle als ihrer Freundin, und jetzt erwartete sie von mir, daß ich eine Art Psychodetektiv oder Seelenfreundin wurde.

»Sam, Sam«, stöhnte sie, »ich fühle mich so allein und hilflos.« Falls das eine Krise war, wünschte ich mir, sie ein bißchen besser unter Kontrolle zu haben, weniger manipuliert zu werden.

»Hör damit auf, beruhige dich. Hör auf!« Ich stieß sie zurück.

Ihre Augen waren verschwollen und naß, und sie atmete heftig.

»Hör mir zu. Wir sind hier, um dir zu helfen. Du bist sicher.

Niemand wird dir etwas tun. Klar? Zweitens, es ist gut möglich, daß du teilweise die Erinnerung verloren hast; das kommt bei emotionalen und physischen Traumata vor, und man kann etwas dagegen tun. Aber jetzt, spät in der Nacht, wo wir müde und erschöpft sind, ist nicht die richtige Zeit, um darüber zu reden.

Man kann etwas tun, aber ich bezweifle, daß ich die richtige Person dafür bin. Aus verschiedenen Gründen. Vor allem gibt es Arten therapeutischer Hilfe, die du von mir nicht bekommen kannst, die du in dieser Umgebung hier nicht bekommen kannst.

Darüber müssen wir nachdenken. Ich betrachte dich als … Das ist jetzt zu klinisch. Du bist eine liebe Freundin. Aber wir müssen über manches nachdenken. Doch nicht jetzt. Und morgen auch nicht. Jetzt geh ins Bett.«

»Ja, Sam«, sagte sie mit schwacher, demütiger Stimme.

»Jetzt gleich«, sagte ich.

Sie nickte, nahm einen letzten Schluck von ihrem Kaffee und verließ den Raum, ohne noch ein Wort zu sagen. Als sie fort war, entfuhr mir ein tiefer Seufzer. Was hatte ich mir da ins Haus geholt? Und Elsie betete Finn jetzt mehr an als irgend jemanden sonst auf der Welt. Was tat ich uns allen an?

Ich ging nach oben. Ich ließ meine Kleider fallen, schlüpfte im Dunkeln zwischen die Laken und spürte die Wärme von Dannys Körper. Ich berührte ihn mit den Händen, überall. Ich hatte ihn verzweifelt nötig. Er drehte sich um und drückte mich wild an sich. Er küßte mich leidenschaftlich, seine Zähne gruben sich in meine Lippen. Ich spürte seine Hände rauh auf meinem Körper.

Ich biß in seine Schulter, um nicht in einer Lust zu schreien, die fast Angst war. Mit einer Hand hielt er meine Hände über dem Kopf, die andere tastete über meinen Körper, als müßte er ihn neu entdecken. »Beweg dich nicht«, sagte er, als ich mich unter ihm wand. »Lieg ganz still.« Und als er in mich eindrang, spürte ich, daß er mich mit all der unterdrückten Leidenschaft, ja Wut des Abends vögelte. Er sprach meinen Namen nicht aus, sah mich aber unverwandt an, und ich schloß die Augen, um seinem Blick zu entgehen. Hinterher fühlte ich mich wie nach einer Schlacht – geschlagen und verwundet. Dannys Atem wurde langsam und regelmäßig, und ich dachte, er sei eingeschlafen.

Als er sprach, hatte seine Stimme den benommenen, verwischten Ton eines Menschen, der schon im Halbschlaf liegt und keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.

»Hast du dir Finn angesehen?« murmelte er. »Wirklich angesehen? Als die große Ärztin, die du bist?« Ich wollte antworten, aber er sprach weiter, als sei ich nicht vorhanden oder als denke er nur laut. »Oder dreht sich alles nur um Sam und Elsie und das Haus und das Landleben und eine neue beste Freundin?«

Das Bett knarrte, als er sich umdrehte, und ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. »Hast du sie dir angesehen, Sam? Wie heißt das noch bei dir? Objektiv? Wissenschaftlich?«

»Bist du von ihr besessen, Danny?« Ein schrecklicher Gedanke kam mir in den Sinn. »Ist es das? Hattest du Phantasien über Finn?«

Ich bekam keine Luft, mein Herz raste. Ich konnte in den Ohren fühlen, wie es klopfte.

»Du kapierst einfach nicht, oder?«

Ich spürte, wie er sich von mir wegdrehte.

»Nacht, Danny.«

»Nacht, Sam.«

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er fort.

21. KAPITEL

»Darf ich reinkommen?«

»Solange Sie nicht versuchen, sich einzumischen«, antwortete Finn.

»Keine Sorge.«

Meine Küche sah aus wie das Labor eines verrückten Wissenschaftlers, Dampf und Hitze und geheimnisvolles Klappern und Summen. Alles war in Benutzung. Auf der Herdplatte zischte eine Pfanne, und der Deckel eines Topfs klapperte, während Dampf darunter hervorquoll. Eine Schüssel mit Wasser enthielt etwas, das nach eingeweichten Blättern aussah. Die Hühnerbrüste schmorten im Ofen. Finn hackte sehr schnell etwas auf einem Brett, rat-a-tat-tat, wie Trommelwirbel.

»Was ich nicht verstehe«, sagte ich, »ist, wie du all das gleichzeitig tun kannst. Wenn ich zu kochen versuche, muß ich eins nach dem anderen machen und kriege es doch nicht richtig hin.«

Ein paar alte Freunde hielten sich in der Gegend auf und kamen zum Abendessen vorbei. Normalerweise hätte ich in einem Schnellimbiß etwas eingekauft oder verschiedene Fertiggerichte in die Mikrowelle geschoben, aber Finn bot mir an, alles ihr zu überlassen; sie würde etwas Einfaches zubereiten. Nachdem wir Elsie zur Schule gebracht hatten, waren wir dreißig Kilometer an der Küste entlang durch die Dörfer gefahren, vorbei an Antiquitätenläden und den Pferdekoppeln von Reitschulen, und dann in einen Supermarkt gegangen, der dem, in dem ich auf dem Heimweg von der Arbeit einkaufte, als ich noch in London wohnte, ähnlich sah. Ich kaufte Tiefkühlgerichte und Mülltüten und Spülmittel, und Finn machte sich auf die Suche nach richtigem Essen: Hühnerbrüste, die nicht in Zellophan verpackt waren, Pilze und Reis in teuren kleinen Packungen, Rosmarin, Knoblauch, Olivenöl, Gemüse, Rot- und Weißwein. Während sich der Einkaufswagen füllte, versuchte ich ihr das auszureden.

»Sarah und Clyde sind genau wie ich. Sie haben von Fertiggerichten aus Imbißbuden gelebt, seit sie berufstätig sind.

Ihre Geschmacksknospen sind degeneriert. Sie werden den Unterschied gar nicht bemerken.«

»Man soll genießen, solange man lebt«, antwortete Finn.

»Weil man noch sehr lange tot ist.« Ich hatte Mühe, nicht überrascht nach Luft zu schnappen.

»Deswegen habe ich mich nie darum gekümmert, was ich esse.«

»Schande über Sie, Sam. Sie sind Ärztin.«

Finn wurde beunruhigend herrisch und ich seltsam passiv, fast wie ein Gast in meinem eigenen Haus. Mir kam der Gedanke, den ich aber schnell wieder von mir schob, daß sie sich in den letzten Wochen erholt hatte und aufgeblüht war, während ich ein bißchen die Herrschaft über mein eigenes Leben verlor. Elsie schien beinahe in Finn verliebt zu sein, Danny hatte sich wieder aus dem Staub gemacht, und meine Trauma-Station war der kapitalistische Traum von jemand anderem geworden, mein Buch blieb ungeschrieben.

Am frühen Abend sah meine Küche aus wie eine Unfallstation.

Ich arbeitete ein wenig, spielte ein bißchen mit Elsie und brachte sie zu Bett. Als ich zwei Stunden später wiederkam, sah die Küche, ohne daß viel geschehen zu sein schien, ein wenig aufgeräumter aus: vielleicht wie eine Intensivstation. Es piepste und blubberte, doch Aktivitäten erfolgten nur gelegentlich, hier ein Umrühren, dort ein prüfendes Schnuppern.

Sarah und Clyde trafen kurz nach sieben ein, keuchend und ziemlich eindrucksvoll in ihren fluoreszierenden Radleranzügen.

Sie hatten den Zug nach Stamford genommen und waren von da aus mit den Rädern gefahren. Sie gingen nach oben, um zu duschen, und erschienen danach in Jeans und weiten Hemden.

Und nun passierte das eigentliche Wunder. Selbst wenn das Abendessen bloß aus Pizza in Pappschachteln, von einem Motorradfahrer ins Haus gebracht, und Sechserpackungen Bierdosen bestanden hätte, wäre ich in Panik herumgehetzt.

Doch an diesem Abend herrschte eine gelassene Atmosphäre.

Ein paar Flaschen Wein standen geöffnet auf dem Tisch, daneben Oliven und ein par kleine Snacks mit Salami und Käse, die Finn hergerichtet hatte. Der Tisch war gedeckt, und im ganzen Haus duftete es nach gutem Essen, aber ohne das Gefühl zu erwecken, daß irgend jemand wirklich etwas arbeitete. Finn hatte kein rotes Gesicht und rannte auch nicht alle zwei Sekunden in die Küche, um irgendeine Krise zu bewältigen. Sie war da, schenkte Wein ein und benahm sich unauffällig. Sie hatte eine helle Hose und ein weites schwarzes T-Shirt angezogen und ihr Haar zurückgebunden. Verdammt, ich war von ihr beeindruckt.

Vielleicht hatte ich mich nicht nur deshalb mit Sarah und Clyde angefreundet, weil wir zusammen studiert hatten, sondern auch, weil sie groß und langgliedrig waren wie ich. Sarahs glatte Haare waren jetzt grau, und sie hatte Falten um die Augen.

Clyde hatte noch immer den kantigen Superman-Look des Ruderers, der er an der Universität gewesen war, aber er war dünner geworden, und sein hervorstehender Adamsapfel wirkte noch größer.

Clyde und Sarah führten zusammen eine Allgemeinpraxis in Tower Hamlets. Wenn sie ein freies Wochenende hatten, stiegen sie mit ihren Fahrrädern in den Zug, fuhren von London hinaus aufs Land und legten bis Sonntagabend ein paar hundert Kilometer zurück, wobei sie immer wieder in den Häusern von Freunden Station machten. Ich war der erste Zwischenstopp auf der Route dieses Wochenendes.

»Und morgen übernachten wir bei Helen, du weißt schon, Helen Farlowe.«

»Wo wohnt sie?«

»Blakeney. Im Norden von Norfolk.«

»Großer Gott, da habt ihr euch aber euer Essen morgen abend wirklich verdient.«

»Das ist ja der Sinn der Sache.«

Wir nahmen unsere Drinks mit nach draußen und wanderten über das Anwesen, wie ich den vernachlässigten Garten sarkastisch nannte. Sarah erkannte Vögel am Gesang, und Clyde nannte mir die Namen von Pflanzen im Garten; wie sich herausstellte, hatte ich in einem Anfall von Tatendrang einige der hübschesten ausgejätet und auf den Komposthaufen geworfen. Finn rief uns herein und servierte uns kleine Schalen saftigen Reis mit Pilzen, gefolgt von Huhn, in Olivenöl, Knoblauch und Rosmarin gebraten, und dazu neue Kartoffeln und Frühlingsgemüse.

»Im Gegensatz zu mir«, erklärte ich Finn über den Tisch hinweg, »sind Sarah und Clyde in London geblieben und haben eine richtige Arbeit.«

»Sie sollten sich nicht so klein machen, Sam«, sagte Finn mit Inbrunst.

Sarah lachte.

»Keine Sorge, Fiona«, sagte sie. »Sam ist eigentlich nicht für ihre englische Bescheidenheit und Zurückhaltung bekannt.«

»Außerdem ist es keine Bescheidenheit«, sagte ich. »Man macht sich selbst herunter, damit andere widersprechen und einem sagen, wie toll man ist. So kann man auch Komplimente angeln.«

Finn schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf.

»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Ich glaube, daß die meisten Menschen nicht unabhängig genug sind, um sich anzusehen, was jemand tut, und sich dann selbst eine Meinung darüber zu bilden. Das ist viel zu anstrengend. Die Leute sehen einen so, wie man sich selbst darstellt. Wenn Sie sagen, daß Sie gut sind, glauben Ihnen das die meisten. Und wenn Sie bescheiden sind, werden die anderen auch so von Ihnen denken.«

Auf Finns mit Leidenschaft vorgetragene Feststellung folgte tiefes Schweigen, das Clyde endlich brach.

»Und was tun Sie? Wir erwarten nicht, daß Sie sich bescheiden dazu äußern.«

»Ich schreibe an einer Doktorarbeit«, sagte Finn.

»Worüber?«

»Es hat mit der Geschichte der Wissenschaft zu tun.«

»In welcher Weise?«

»Sie wollen doch nicht alles über meine Arbeit hören.«

»Doch, wir wollen«, beharrte Sarah. »Denken Sie daran, wir haben jetzt alle die Erlaubnis zu prahlen.«

Finn sah mich über den Tisch hinweg an. Ich versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, um die Katastrophe abzuwenden, aber alles, was mir in den Sinn kam, schien die Dinge nur noch schlimmer zu machen. Eine lange Pause trat ein, während Finn sich über den Tisch beugte, um die Weinflasche zu nehmen, ihr Glas füllte und dann einen Schluck trank.

»Wollen Sie wirklich etwas darüber hören?« fragte sie.

»Wir sind schon ganz gespannt«, sagte Clyde.

»Also gut, Sie haben es so gewollt. Ich schreibe eine Arbeit über die Taxonomie mentaler Störungen, wobei ich posttraumatischen Streß als Hauptthema behandle.«

»Und was bedeutet das, wenn Sie es einfach ausdrücken?«

Finn zwinkerte mir über den Tisch hinweg unmerklich zu, bevor sie antwortete.

»Die grundlegende Frage, die mich fasziniert hat, betrifft das Ausmaß, in dem eine bestimmte Pathologie existiert, bevor sie einen Namen bekommen hat. Ist sie entdeckt, identifiziert oder erfunden worden? Gebrochene Beine und Tumore hat es immer gegeben. Aber litten die Neandertaler unter posttraumatischem Streß, nachdem sie mit Steinmessern und Äxten miteinander gekämpft hatten?«

»Nach dem Ersten Weltkrieg gab es den Granatschock, nicht?« sagte Clyde.

»Ja. Aber wissen Sie, woher der Begriff stammt?«

»Nein.«

»Man dachte, die Explosion der Granaten führe zu Erschütterungen des Gehirns. Der Zustand fand zum erstenmal medizinische Beachtung, nachdem Überlebende eines viktorianischen Eisenbahnunglücks Schocksymptome aufwiesen, aber keine körperlichen Verletzungen.

Man nahm an, daß sie trotzdem physische Ursachen hatten, und bezeichnete das als ›Eisenbahnschock‹. Als ähnliche Symptome in Schützengräben auftraten, war man davon überzeugt, sie seien durch die Schockwellen der Granaten verursacht. Man wollte glauben, daß es sich da um eine andere Version der Dinge handelte, die man als Verletzung bezeichnete. Vielleicht zeigten die Soldaten bloß eine natürliche Reaktion auf den Wahnsinn in den Schützengräben. Aber dann nannten Leute mit Einfluß diese Verhaltensformen Symptome, erklärten sie zu einer Störung und behandelten sie medizinisch.«

»Und Sie glauben, daß das eine Erfindung ist?«

»Das ist es, was Sam untersucht.«

»Wie seid ihr beide zusammengekommen?«

»Jemand in meiner Fakultät wußte von Sams Forschungsarbeiten. Ich habe Kenntnisse in Statistik, und Sam hatte ein freies Zimmer, und es schien eine gute Idee, daß ich für eine Weile bei ihr bleibe. Ich denke, Sams Arbeit wird das Thema ganz neu definieren und zum erstenmal auf eine richtige, systematische Basis stellen. Ich habe einfach das Glück, daß ich für ein Weilchen hinter ihr herlaufen darf.«

Sarah schaute zu mir herüber.

»Bei Fiona klingt das faszinierend. Wie läuft die Arbeit?«

Schweigen.

»Sam?«

»Was?«

»Wie läuft die Forschungsarbeit?«

»Verzeihung. Ich war meilenweit weg. Gut. Sie läuft gut.«

»Und kochen kann sie auch.«

»Ja«, sagte ich schwach.

Ich wollte absolut nicht, daß Finn abwusch. Ich schickte sie mit Clyde ins Wohnzimmer, während ich spülte und Sarah abtrocknete.

»Wie läuft’s mit deinem Buch?«

»Gar nicht«, antwortete ich.

»Ach du liebe Güte – nun ja, wenn du es geschrieben hast und es willst, würde ich’s mir gern ansehen.«

»Das wäre toll, aber da wirst du vielleicht lange warten müssen.«

»Und wie geht es Danny?«

»Das weiß ich eigentlich nicht«, sagte ich, und zu meinem Entsetzen spürte ich, daß Tränen hinter meinen Augenlidern lauerten.

»Alles okay mit euch beiden?«

Ich zuckte mit den Schultern, da ich meiner Stimme nicht traute.

Sarah sah mich an, trocknete dann sorgfältig einen Löffel ab und legte ihn in die Schublade. »Fiona ist eine echte Entdeckung«, sagte sie.

»Ja«, antwortete ich etwas finster.

»Sie idealisiert dich, weißt du.«

»Oh, das glaube ich nicht.«

»Natürlich tut sie das. Ich habe sie während des Essens beobachtet. Sie schaut ständig zu dir. Sie ahmt deinen Gesichtsausdruck, deine Haltung nach. Nach allem, was sie sagte, schien sie sich jedesmal versichern zu wollen, ob du es billigst, bloß für den Bruchteil einer Sekunde, so als hätte sie es nötig, daß du bestätigend reagierst.«

»Das hört sich ja schaurig an.«

»So habe ich es nicht gemeint.«

»Wie auch immer, das gibt es doch oft, nicht, zwischen … äh, Schülern und Lehrern? Es ist so, wie wenn Patienten eine Bindung an ihren Arzt entwickeln. Das dauert nicht lange.«

Sarah zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Ich dachte, sie würde dir bei deinem Projekt helfen.«

»Im Moment tut sie das, aber es ist kein dauerhaftes Arrangement.«

»Ich wundere mich, daß du ohne sie auskommst.«

Sarah und Clyde wollten so ungefähr im Morgengrauen aufbrechen, und so gingen sie nach dem Kaffee und ein bißchen Geplauder zu Bett. Finn lag mit einem Buch auf dem Fußboden.

»Das war außerordentlich.«

»Was?«

»Ich habe fast einen Herzanfall gekriegt, als Clyde anfing, dich nach deiner Arbeit zu fragen.«

Finn legte das Buch beiseite und setzte sich auf, die Beine eng an die Brust gezogen.

»Es war mir schrecklich peinlich Ihretwegen«, sagte sie. »Ich habe bloß versucht, mir etwas auszudenken, was überzeugend klang. Ich hoffe, das war in Ordnung.«

»In Ordnung? Du hast mich neugierig gemacht auf deine Doktorarbeit. Ich kann es nicht fassen, wieviel du mitbekommen hast. Du bist ein erstaunliches Mädchen, Finn. Eine erstaunliche Frau.«

»Nein, nicht ich, sondern Sie, Sam. Ich interessiere mich bloß für Sie und Ihre Arbeit. Als Clyde mich gefragt hat, was ich mache, war ich eine Sekunde lang total in Panik. Und wissen Sie, was ich dann gemacht habe? Ich habe mir vorgestellt, ich wäre Sie, und versucht, zu sagen, was Sie sagen würden.«

Ich lachte.

»Ich wünschte, ich wäre genauso gut darin, ich zu sein, wie du«, sagte ich.

Ich wollte den Raum verlassen, aber Finn sprach weiter.

»Ich möchte, daß all das so weitergeht, wissen Sie.«

»Was meinst du?«

»Es gefällt mir. Lächeln Sie nicht. Es gefällt mir wirklich. Ich habe Sie gern, und ich bin gern mit Elsie zusammen und kümmere mich um sie. Ich finde Danny wunderbar. Und Michael … er hat mir eigentlich das Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich nichts. Ich weiß nicht, wie ich ihm das je danken soll.«

Sie schaute zu mir auf, beinahe flehend. »Ich möchte, daß es immer so weitergeht.«

Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte, und jetzt war ich erleichtert, weil er gekommen war. Ich kniete mich neben sie.

»Finn, das geht nicht. Du hast ein eigenes Leben. Du mußt dorthin zurückkehren, und zwar bald. Schau dich doch an, du kannst alles. Du schaffst es.«

Finns Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich fühle mich sicher hier, in diesem Haus«, sagte sie. »Vor draußen habe ich Angst.«

22. KAPITEL

Das erste Mal traf ich Danny auf einer Party, obwohl ich in der Regel auf Partys niemanden kennenlerne, sondern nur Leute treffe, die ich ohnehin schon kenne. Der Abend war bereits in das Stadium getreten, in dem die meisten Gäste schon fort sind und die Gastgeber Gläser in die Küche tragen oder überquellende Aschenbecher leeren, während die verbliebenen Gäste sich vollkommen ungezwungen fühlen und die Musik schmeichelnd und gefühlvoll ist. Der Leistungsdruck ist weg, und man braucht nicht mehr klug zu sein oder zu lächeln, man weiß, der Abend ist zu Ende, und auf einmal möchte man ihn noch ein bißchen in die Länge ziehen. Und Danny kam durch den Raum geschlendert, die Augen auf mich gerichtet. Ich weiß noch, daß ich hoffte, er möge Verstand haben, als könne jemand, der so gut aussah, nicht auch noch Intelligenz besitzen.

Bevor er überhaupt ein Wort mit mir wechselte, wußte ich, daß wir ein Verhältnis haben würden. Er nannte mir seinen Namen und fragte nach meinem; er sagte, er sei ein erfolgloser Schauspieler und ein ziemlich erfolgreicher Zimmermann, und ich entgegnete, daß ich Ärztin bin. Dann sagte er ganz einfach, er würde mich gern wiedersehen, und ich antwortete, das würde ich auch. Und dann, als ich in meine Wohnung zurückkam, nachdem ich den Babysitter bezahlt und meine Schuhe abgestreift und nach der schlafenden Elsie gesehen hatte, hatte ich mir die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter angehört, und da war seine Stimme. Er lud mich für den nächsten Tag zum Abendessen ein. Er mußte mich angerufen haben, kaum daß ich die Party verlassen hatte.

Die Sache ist die, daß Danny keine Spielchen spielt. Er kommt und er geht, und manchmal höre ich tagelang nichts von ihm und weiß nicht einmal, wo er steckt. Aber er war immer aufrichtig zu mir; wir streiten, und dann versöhnen wir uns, wir schreien, und dann entschuldigen wir uns. Er ist nicht hinterhältig. Er würde nicht wegbleiben, um mir eine Lektion zu erteilen. Er würde mich nicht mit Absicht nicht anrufen, nur damit ich auf ihn wartete und litt.

Ich wartete. Tagelang wartete ich darauf, daß Danny mich anrief. Ich hörte meinen Anrufbeantworter jedesmal ab, wenn ich nach Hause kam. Ich achtete darauf, daß Elsie den Hörer nicht von der Gabel stieß. Wenn das Telefon läutete, war ich so nervös wie ein Teenager; ich wartete auf das zweite und dritte Läuten, ehe ich abnahm, aber es war niemals Danny. Abends blieb ich, wenn Finn zu Bett gegangen war, noch lange auf, weil ich dachte, er würde einfach so zur Tür hereinkommen, als sei er niemals fort gewesen. Ich wachte im Dunkeln auf und dachte, er sei da, und mein Körper war angespannt vor Hoffnung. Ich hatte einen leichten Schlaf, wurde bei jedem Geräusch wach – ein Auto auf der fernen Straße, Wind in den Bäumen, die entnervenden Schreie einer Eule im Dunkeln. Ich bekam nie eine Antwort, wenn ich in seiner Wohnung anrief, und er schaltete auch seinen Anrufbeantworter nicht ein. Nach fast einer Woche rief ich seinen besten Freund an, Ronan, und fragte ihn, so beiläufig ich konnte, ob er Danny kürzlich gesehen habe.

»Schon wieder Krach gehabt, Sam?« sagte er fröhlich. Und dann:

»Nein, ich habe Dan nicht gesehen. Ich dachte, er wäre bei dir.«

Ich bedankte mich und wollte schon auflegen, als Ronan hinzufügte:

»Aber weil du gerade von Dan sprichst, ich hab mir in letzter Zeit Sorgen um ihn gemacht. Ist er okay?«

»Wieso? Was meinst du?«

»Es ist bloß, daß er ein bißchen, na ja, ein bißchen mürrisch war. Vergrübelt. Weißt du, was ich meine?«

»Mummy?«

»Ja, mein Schatz?«

»Wann kommt Danny wieder?«

»Ich weiß nicht genau, Elsie. Er hat zu tun. Warum, vermißt du ihn?«

»Er hat versprochen, daß er mit mir in ein Puppentheater geht, und ich will ihm zeigen, daß ich jetzt radschlagen kann.«

»Da wird er aber stolz auf dich sein. Komm her und gib mir einen Kuß, einen dicken Kuß.«

»Au, du tust mir weh, Mummy. Nicht so fest drücken. Ich bin doch noch klein.«

»Sam?«

»Mmm?«

»Kommt Danny bald wieder?«

»Ich weiß nicht. Um Gottes willen, Finn, fang du nicht auch noch von Danny an. Er wird schon kommen, wenn ihm danach ist.«

»Sind Sie okay?«

»Ja, natürlich. Ach, Scheiße, ich mache einen Spaziergang.«

»Möchten Sie, daß ich …«

»Allein.«

»Sam, dein Vater und ich haben überlegt, ob du und Elsie und Danny vielleicht am Sonntag für einen Tag rüberkommen wollt.

Wir dachten, nun ja, wir dachten, es wird Zeit, daß wir uns bemühen, deinen jungen Mann besser kennenzulernen.«

»Mum, das würden wir gern, das ist wirklich nett von euch, ich weiß das zu schätzen – aber können wir das verschieben? Im Augenblick ist dafür keine gute Zeit.«

»Ach so« – der vertraute, pikierte Tonfall von verletztem Stolz, bei dem mich ein fremdes und gar nicht willkommenes Heimwehgefühl überkam –, »wie du meinst, Liebes.«

Keine gute Zeit.

Ich raste durch den Supermarkt wie eine Furie: Mein Kopf schmerzte nach einem langen, deprimierenden Vormittag, an dem ich im Krankenhaus Sekretärinnen interviewt hatte.

Tiefkühlerbsen. Schaumbad mit einer Comicfigur, die ich auf der Flasche nicht erkannte. Fisch-Stäbchen. Nudeln in drei Farben. Teebeutel. Verdauungskekse und Marmeladenplätzchen.

Scheiß auf Danny. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Knoblauchbrot.

Sonnenblumenmargarine. Dunkles Brot in Scheiben.

Erdnußbutter. Ich wollte ihn zurückhaben, ich wollte ihn. Was sollte ich denn bloß machen? Knackige grüne Äpfel, aus Südafrika importiert, aber das war heutzutage okay. Drei Pakete Suppe, Linsen, Spinat und Pastinaken mit Curry, geeignet für die Mikrowelle. Vanilleeis. Pecankuchen, aus der Tiefkühltruhe direkt in den Backofen. Belgisches Bier. Ich hätte nie aufs Land ziehen sollen, und ich hätte nie Finn aufnehmen sollen.

Cheddarkäse, Mozzarella. Katzenfutter in den Geschmacksrichtungen Kaninchen, Huhn und Lachs mit der fetten Fratze eines schnurrenden Katzenviehs auf der Dose.

Crackers. Nüsse. Fertiggerichte für eine Person.

Die Tür war abgeschlossen, als ich nach Hause kam. Ich sperrte sie auf und rief nach Finn, aber es war niemand da. Also packte ich die ganzen Einkäufe aus, schob Gerichte in den bereits überfüllten Tiefkühlschrank, ließ Wasser in den Kessel laufen, schaltete das Radio ein, schaltete es wieder aus. Dann holte ich tief Luft und ging in mein Arbeitszimmer, um den Anrufbeantworter abzuhören. Das kleine grüne Lämpchen blinkte nicht: Es hatte überhaupt niemand angerufen.

Aber auf meinem Schreibtisch lag ein Umschlag mit meinem Namen darauf. Und – ich legte meine Hand einen Moment auf die Tischplatte – es war Dannys Handschrift. Er war hiergewesen, gekommen, als ich nicht zu Hause war, und hatte eine Nachricht hinterlassen, damit er es mir nicht mündlich sagen mußte. Ich nahm den Umschlag und drehte ihn um, hielt ihn einen Moment fest. Er enthielt zwei Bogen Papier. Der obere war von ihm. Das Papier war schmuddelig und verschmiert. Nur wenige Worte standen darauf, offensichtlich hastig und achtlos hingekritzelt, aber sie stammten unverkennbar von ihm.

Sam, leb wohl. Tut mir leid.

Danny

Das war alles. Anscheinend war ihm der Versuch, sich zu rechtfertigen, nicht geglückt, und er hatte sich nicht weiter damit aufgehalten. Heftig atmend hob und senkte sich meine Brust.

Der Schreibtisch unter meiner Hand fühlte sich rauh an. Ich legte Dannys Brief vorsichtig zurück. Meine Hände zitterten.

Dann schaute ich das Blatt Papier darunter an, einen Wald aus blauen Kringeln und Unterstreichungen.

»Liebste Sam« – wie intim sie auf einmal geworden war; vielleicht hatte sie jetzt fast schwesterliche Gefühle für mich, nachdem sie mit meinem Liebhaber durchgebrannt war –, »es ist Wahnsinn, ich weiß. Wir können ohne einander nicht leben.«

Wie rührend, dachte ich, Liebe, wie sie in den Zeitschriften beschrieben wird; Liebe als Erdrutsch, Schicksal, Wahnsinn.

»Tut mir leid, Sie zu verletzen, sehr leid. Alles Liebe, Finn.«

Ich faltete Dannys erbärmliches Gekritzel und Finns Brief wieder zusammen, steckte beides in den Umschlag und legte ihn dahin, wo er vorher gelegen hatte. Danny und Finn, Danny und Finn. Ich nahm das Foto von Danny, einen Schnappschuß, auf dem er der Kamera den Rücken zudrehte und überrascht das Gesicht umwandte, und legte es ordentlich in die Schublade meines Schreibtischs. Ich rannte in Finns Zimmer. Das Bett war gemacht, darauf lag ein sauber gefaltetes Handtuch. Ich polterte die Treppe hinunter. Eine von Finns Jacken, die marineblaue, fehlte. War das irgendein verrückter Witz, den ich nicht kapierte? Nein. Sie waren weg. Ich sagte es laut, als könne ich nur so begreifen, was passiert war. »Sie sind weggelaufen.

Finn.« Ich zwang mich, es auszusprechen. »Danny.« Ich sah auf meine Uhr. In zwei Stunden würde Elsie zurückkommen. Die Erinnerung an ihren kleinen Körper, der sich um Finns zarte Gestalt schlang, an das Radschlagen, das sie abends übte, um sich auf Dannys Rückkehr vorzubereiten, ließ mich für einen Moment reglos innehalten. Galle stieg in mir hoch. Ich ging zur Spüle in der Küche und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, trank zwei Gläser kaltes Wasser. Dann kehrte ich in mein Arbeitszimmer zurück, nahm den Telefonhörer ab und drückte dreimal auf den Knopf.

»Stamford Central 2243.« Eine Pause folgte. »Chief Inspector Frank Baird, bitte. Nun, dann holen Sie ihn.«

Baird kam nach weniger als einer halben Stunde; Angeloglou begleitete ihn. Beide sahen erregt und ernst aus. Sie konnten mir kaum in die Augen schauen. Plötzlich fiel mir der Kontrast zwischen ihnen auf. Baird war massig, hatte rote Haare auf einem großen Schädel, und sein Anzug spannte unter den Armen. Angeloglou sah ordentlicher aus, sein Krawattenknoten saß ganz oben am Kragen, er hatte volle, dunkle Locken. Wie bürstete er die? Beide schienen plötzlich vor mir auf der Hut zu sein. Ich war jetzt keine professionelle Ärztin mehr, sondern eine sitzengelassene Frau. Und obwohl sie es nicht sagten, dachten offensichtlich beide, Danny sei fast so etwas wie ein Krimineller, weil er mit Finn durchgebrannt war. Ich konnte ihnen nicht viel sagen, die Geschichte war einfach genug. Jeder Dummkopf konnte sie verstehen. Angeloglou schrieb einiges in sein Notizbuch, sie lasen die Briefe, die die beiden hinterlassen hatten, und zusammen gingen wir in Finns Zimmer und starrten in den Kleiderschrank. Zwischen all den leeren Bügeln baumelte eine Bluse; keine Unterwäsche, keine Schuhe, nichts. Sie hatte das Zimmer ordentlich hinterlassen, ein einziges zusammengeknülltes Papiertaschentuch lag im Abfallkorb, die Daunendecke war gefaltet. Ich fürchte, ich war ziemlich unfreundlich zu Baird, aber ich glaube, er verstand es. Ehe er ging, blieb er an der Tür stehen, drehte den schlichten Ehering an seinem dicken Finger, wurde rot vor Verlegenheit.

»Miss Laschen …«

»Doktor Laschen …«

»Doktor Laschen, ich …«

»Sagen Sie nichts«, sagte ich. »Aber trotzdem, danke.«

Mir blieben noch dreißig Minuten, bis Elsie kam. Ich räumte die Küche auf, wischte den Tisch sauber, öffnete das Fenster, weil draußen inzwischen ein milder Frühlingstag herrschte. Ich pflückte vier orangefarbene Tulpen aus meinem vernachlässigten Garten und stellte sie ins Wohnzimmer. Ich lief in Elsies Zimmer und machte ihr Bett, dann schlug ich das Laken zurück und legte ihren kahl werdenden Teddy auf das Kopfkissen. Danach kramte ich in den Küchenschränken nach einem Abendessen für sie. Nudeln in Igelform, die liebte sie.

Und ich hatte doch im Supermarkt dieses Eis gekauft. Ich putzte mir im Badezimmer die Zähne und starrte auf das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte. Ich lächelte ihm zu, und gehorsam lächelte es zurück.

Elsie aß ihre Nudeln und das Eis und nahm anschließend ein Schaumbad. Dann spielten wir ein ziemlich tristes Scharadenspiel, und ich las ihr drei Bücher vor. Dann sagte sie:

»Wo ist Fing?«

Was hatte ich mir vorgenommen zu antworten?

»Sie ist im Augenblick nicht da.« Nein, das war es nicht.

»Finn ist fortgegangen, mein Schatz. Sie sollte doch nur ein Weilchen bleiben. Sie muß ihr eigenes Leben führen.«

»Aber sie hat sich nicht verabschiedet.«

»Sie hat gesagt, ich soll dir von ihr auf Wiedersehen sagen«, log ich.

»Sie schickt dir einen Kuß.« Ich küßte Elsies Stirn und ihr weiches, glänzendes Haar. »Und eine Umarmung.« Ich umarmte Elsie und spürte, wie sich ihre Schultern unter meinen nervösen Händen versteiften.

»Aber wo ist sie hingegangen?«

»Nun ja, tatsächlich« – schreckliche Fröhlichkeit in meiner Stimme – »wird sie ein Weilchen bei Danny bleiben. Das ist doch schön, nicht?«

»Aber Danny gehört uns. «

»Ach, mein Schatz, wir gehören uns sowieso.«

»Mummy, nicht so fest drücken.«

Nachdem Elsie schlief, nahm ich ein ausgedehntes Bad. Als ich im heißen Wasser lag, dachte ich an Danny und Finn. Ich stellte sie mir vor. Ihr glatter junger Körper mit seinem starken verschlungen; der Pfeil aus dunklen Haaren auf seiner Brust; ihre zarten Brüste. Ich stellte mir ihre Beine vor, ihre bleich, seine behaart und muskulös, die auf meinem Bett ineinander verhakt waren; Dannys einfühlsame Füße, deren zweiter Zeh viel länger war als der große, unter ihre Wade gehakt. Hatte er sie mit dem gleichen Ernst betrachtet, mit dem er mich anzusehen pflegte? Natürlich hatte er. Sie liebten sich, oder, das hatte Finn doch geschrieben. Sie mußten es sich auch gesagt haben. Wie hatte mir das entgehen können? Selbst jetzt sah ich es noch nicht richtig; wenn ich rückblickend die Wochen betrachtete, war es, als wäre auf einmal Dunkelheit über die Abfolge der Tage gefallen. Hatten sie es in diesem Haus miteinander getrieben, ihr Stöhnen unterdrückt? Sie mußten es hier getan haben, in diesem Haus, an dem Ort, den ich ihnen durch mein Vertrauen bereitet hatte. Durch meine Blindheit. Wir waren zu dritt zusammengesessen, und ich hatte die ganze Zeit gedacht, ich wäre der Mittelpunkt, und dabei war ich die ganze Zeit draußen, während sie einander ansahen, elektrische Impulse zwischen ihnen hin- und hergingen, sie sich unter dem Tisch mit den Füßen berührten, zwischen den Zeilen sprachen. Hatte er gestöhnt, wenn er in ihr kam, diesen herzzerreißenden Klagelaut ausgestoßen? Vor meinem geistigen Auge sah ich sie vor mir, er auf ihr, Schweiß auf dem angespannten Rücken, und sie lächelte in sein stirnrunzelndes, angestrengtes Gesicht. Ich wusch mich energisch, massierte Shampoo in meine Kopfhaut, und obwohl ich mich erschöpft fühlte, war ich schrecklich wach. Als ich danach in den Spiegel sah, das gräßliche rote Haar am Kopf festgeklebt, berührte ich die leichten Tränensäcke unter meinen Augen, fuhr mir mit der Hand über die trockene Gesichtshaut.

Ich sah aus wie eine alternde Krähe.

Dann zog ich einen alten Trainingsanzug an und machte ein Feuer, knüllte Zeitungspapier zusammen, mischte leere Briefumschläge, die Reste von Klopapierrollen und leere Getreidepackungen unter die Scheite, bis helle Flammen aufloderten, die bald ersterben würden. Jemand klopfte an die Tür.

»Sam.«

Michael Daley stand auf der Schwelle, die Arme ausgebreitet: theatralisch, tragisch, lächerlich. Was erwartete er von mir? Daß ich mich hineinstürzte? Er sah so aus, wie ich mich fühlte. Blaß und schockiert.

»Ach, Michael, so eine Überraschung. Ich frage mich, was Sie zu mir führt«, sagte ich sarkastisch.

»Sam, seien Sie nicht so abweisend. Ich habe gerade eine Stunde mit diesem Polizisten verbracht, mit Baird. Es tut mir leid, ich kann es nicht glauben, aber es tut mir so leid. Und ich fühle mich verantwortlich. Ich möchte wissen, ob ich vielleicht irgend etwas tun kann. Ich bin unterwegs nach London, aber ich mußte vorbeikommen und Sie sehen.«

Zu meinem Entsetzen spürte ich Tränen in meinen Augen.

Wenn ich jetzt anfinge zu weinen, würde ich nicht mehr aufhören. O Gott, ich wollte nicht, daß Michael Daley mich weinen sah. Ich mußte mich zusammenreißen.

»Was machen Sie denn in London?«

»Nichts Wichtiges. Ich fliege zu einer Konferenz nach Belfast.

Fondsanteile. Ein Alptraum. Es tut mir leid …« Seine Stimme erstarb. Ich wandte mich halb um, um wieder ins Haus zu gehen, und spürte auf einmal seine Hände auf meinen Schultern, die mich festhielten. Er roch nach Zigaretten und Wein. Seine Pupillen waren geweitet.

»Bei mir brauchen Sie nicht tapfer zu sein, Sam«, sagte er.

»Doch«, versetzte ich und schüttelte ihn ab.

Aber er nahm mein Kinn in eine Hand und fuhr mit der anderen einer Träne nach. Wir starrten uns einen langen Moment an. Was wollte er von mir?

»Gute Nacht, Michael«, sagte ich und schloß die Tür.

23. KAPITEL

Ich werde nicht verlassen. Ich verlasse selbst. Man demütigt mich nicht. Das ist etwas für andere Leute. Als Heranwachsende war immer ich diejenige, die sich mit dem Jungen hinsetzte und ihm in die Augen sah – oder, wenn ich keine Zeit hatte, die ihn anrief – und sagte, es sei an der Zeit, Schluß zu machen und all das. Es waren meine Freunde, meine Exfreunde, die rot wurden und sich verletzt und zurückgewiesen fühlten. Und ich habe nie an Schlaflosigkeit gelitten. Selbst in den schlimmsten Zeiten, zumindest bis ich aufs Land zog, schlief ich ungestört. Aber in der Nacht danach, als Danny und Finn fort waren, wurde ich wach, meine Haut prickelte, in meinem Kopf summte es, als sei ein Elektromotor eingeschaltet, der nutzlos lief und lief und sich erschöpfte. Ich spürte einen vertrauten Druck am rechten Arm.

Nicht Danny, es war Elsie, die sanft atmete und fest schlief. Sie mußte in mein Bett gekommen sein, ohne daß ich es bemerkt hatte. Ich küßte ihr Haar und ihre Nase. Mit einer Ecke der Daunendecke wischte ich ihre Stirn ab, auf die eine heiße Träne gefallen war. Ich schaute zum Fenster hinüber. Kein Licht drang durch die Vorhänge. Ich konnte meine Uhr nicht sehen. Und das Zifferblatt des Radioweckers war auch nicht zu erkennen; wenn ich mich bewegte, würde ich Elsie wecken.

Ich hätte gern ein Skalpell gehabt und tausendmal in Dannys Körper geschnitten, langsam, ein Schnitt nach dem anderen. Ich konnte nicht glauben, daß er mir das angetan hatte. Ich wollte ihn finden, wo immer er war, um ihn zu fragen, ob ihm bewußt war, was er Elsie angetan hatte, die so sehr an ihm hing. War ihm klar, was er mir angetan hatte? Ich wollte ihn wiederhaben, verzweifelt wollte ich ihn wiederhaben, ich wollte ihn finden, um ihm zu sagen, wenn er zurückkäme, könnten wir alles in Ordnung bringen, würden wir alles regeln. Ich könnte wieder nach London ziehen, wir könnten heiraten, alles, nur, damit die Dinge wieder so wurden, wie sie gewesen waren.

Und Finn. Ich hätte gern ihr hübsches kleines Gesicht genommen und immer wieder hineingeschlagen. Nein. Darauf getreten. Es zerquetscht. Ich hatte sie in mein Haus gelassen, in die intimsten Ecken meines Lebens, hatte ihre Geheimnisse enthüllt, von denen kein anderer wußte, hatte ihr Elsie anvertraut. Ich war ihr näher gewesen als meiner eigenen Schwester. Dann erinnerte ich mich an die Details von Dr. Kales Autopsie ihrer Eltern und den Verband um ihren Hals, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte, ängstlich und still auf meinem Sofa. Sie war zerbrechlich wie Porzellan gewesen. Ich hatte gesehen, wie sie sich wieder den Menschen öffnete – und das war der Dank dafür. Oder war das bloß ein weiteres Symptom?

War es der Hilfeschrei eines traurigen, einsamen Mädchens?

Und war Dannys Flucht nichts weiter als das charakteristische Verhalten eines schwachen Mannes? War es nicht genau das, was Männer tun, wenn ihnen die Aufmerksamkeit eines schönen jungen Mädchens entgegengebracht wurde? Tränen liefen mir über die Wangen. Sogar meine Ohren waren naß.

Nach einer Stunde Schluchzen tauchte ich hinab in die kühle Stille. Ich konnte meine Reaktionen objektiv betrachten, zumindest glaubte ich das. Ich spürte den Schmerz schichtweise.

Der Kern war der Verrat Finns, war die Tatsache, daß Danny Elsie und mich im Stich gelassen hatte. Ich fühlte mich wie verbrannt, als könne nie wieder etwas anderes wichtig sein, aber die Empfindung stumpfte ab, und ich dachte an andere Dinge.

Da war das Gefühl, beruflich versagt zu haben. Ich hatte immer wieder gesagt, Finn sei nicht meine Patientin, ich hatte mich dem ganzen dummen Arrangement widersetzt. Aber auch wenn man all das mit einbezog, war es eine totale Katastrophe. Das traumatisierte Opfer eines Mordanschlags war in meiner Obhut gewesen, und die Angelegenheit hatte nicht mit Heilung geendet, sondern mit einer entsetzlichen Farce. Das Opfer war mit meinem Liebhaber durchgebrannt. Ich fühlte mich stolz in dem Bewußtsein, jemand zu sein, der allein auf die Jagd geht und sich nicht darum kümmert, was andere Leute von ihm denken, aber unwillkürlich mußte ich das jetzt doch tun. Die Gesichter von beruflichen Rivalen und Feinden tauchten vor mir auf. Ich dachte an Chris Madison oben in Newcastle und Paul Mastronarde in London, die das amüsant finden und den Leuten erzählen würden, es sei natürlich schrecklich, aber offen gestanden geschähe es mir ganz recht, weil ich immer so arrogant sei. Ich dachte an Thelma, deren Idee es gewesen war, Finn aufzunehmen. Ich dachte an Baird, der mich von Anfang skeptisch betrachtet hatte, und die ganze Bande auf dem Polizeirevier. Sie alle hatten jetzt guten Grund zu lachen.

Und dann – o Gott – fielen mir meine Eltern ein und Bobbie.

Ich wußte nicht, was schlimmer war: die Mischung aus Schock, Scham und Mißbilligung, die ich als erste Reaktion erwartete, oder das Mitgefühl, das darauf folgte, die für Samantha, die verlorene, verlassene Tochter, ausgebreiteten Arme. Für einen kurzen Augenblick verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, mich lieber wieder schlafen zu legen und nie mehr aufzuwachen, als mich der gräßlichen Wirklichkeit zu stellen, die das Tageslicht für mich bereithielt. Es würde so schrecklich und entnervend sein, daß ich nicht die Kraft hatte es durchzustehen.

Zu niedriger Blutzuckerspiegel, natürlich; der sich verlangsamende Stoffwechsel, typisch für den frühen Morgen.

Er wurde durch Aktivität und Nahrung wieder in Schwung gebracht. Jetzt schimmerte graues Licht durch die Vorhänge.

Elsie bewegte sich auf meinem Arm. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf, als habe sie eine Spiralfeder im Körper. Mein Arm war eingeschlafen, und ich massierte ihn wie wild.

Prickelnd erwachte er wieder zum Leben. Verdammte Welt. Ich würde es überleben, und ich würde mich nicht darum kümmern, was irgend jemand dachte. Keiner würde mich dabei ertappen, daß ich Schwäche zeigte. Ich faßte Elsie unter den Achseln, warf sie hoch und ließ sie wieder fallen. Sie kreischte vor Schreck und Vergnügen.

»Noch mal, Mummy. Noch mal.«

Aus unserem gemeinsamen Frühstück machte ich ein Erlebnis.

Schinken und Eier, Toast und Marmelade und eine Grapefruit, und Elsie aß ihre Hälfte und stibitzte dann begeistert noch Teile von meiner. Ich trank Kaffee. Um halb neun fuhr ich Elsie zur Schule.

»Wie sieht dieser Baum aus?«

»Wie ein Mann mit grünen Haaren und einem grünen Bart.

Wie sieht der Baum aus?«

»Baum habe ich schon gesagt.«

»Nein, ich, ich.«

»Also gut, Elsie. Er sieht aus … Bei diesem Wind sieht er aus wie eine grüne Wolke.«

»Nein, tut er nicht.«

»Tut er doch.«

»Tut er nicht.«

»Tut er doch.«

»Tut er nicht.«

Das Spiel endete in einem Crescendo von Lachen und gegenseitigem Widersprechen.

Auf dem Rückweg sah ich die Wolken deutlicher, und die Gebäude hoben sich klarer vom Himmel ab. Ich hatte ein Gefühl der Entschlossenheit. Ich würde mich um Elsie kümmern, und ich würde arbeiten. Alles andere war Zeitverschwendung. Ich machte mir frischen Kaffee und ging nach oben in mein Arbeitszimmer. Auf dem Computer löschte ich alles, was ich bisher geschrieben hatte. Es war Mist, das nutzlose Produkt halbherziger Aktivität. Ich sah mir eine Datei an, um mich an einige Zahlen zu erinnern, schloß sie dann wieder und begann zu schreiben. Ich hatte ohnehin alles im Kopf. Die Quellenangaben konnte ich hinterher prüfen. Ich schrieb fast zwei Stunden lang, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Es flutschte nur so, und ich wußte, daß die Sätze gut waren. Wie Gott bei der Erschaffung der Welt. Um kurz vor elf hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde. Sally. Es war ohnehin Zeit, meinen Becher mit Kaffee aufzufüllen. Bis das Wasser im Kessel kochte, gab ich ihr eine kurze, zensierte Zusammenfassung dessen, was passiert war. Meine Stimme war ruhig, meine Hände zitterten nicht, und ich wurde auch nicht rot. Sie interessierte sich nicht sonderlich dafür, und ich interessierte mich nicht dafür, was sie dachte. Sam Laschen hatte wieder die Kontrolle. Sally begann zu putzen, und ich ging wieder nach oben. Zur Mittagszeit kam ich für fünf Minuten herunter. Im Kühlschrank stand noch eine halbe Packung Lasagne. Ich aß sie kalt. Die Ära richtiger Ernährung war vorbei. Nach einer weiteren Stunde hatte ich ein Kapitel beendet. Ich klickte ein paarmal mit der Maus. Viereinhalbtausend Wörter. In diesem Tempo würde das Buch in ein paar Wochen fertig sein. Ich griff in meinen Aktenschrank und nahm zwei Ordner mit Datenmaterial heraus. Ich arbeitete sie sehr schnell durch, um meine Erinnerung aufzufrischen. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann standen sie wieder im Schrank. Ich legte eine neue Datei an: Kapitel zwei. Definitionen der Heilung.

Eine Bewegung fiel mir ins Auge. Draußen. Ein Auto. Baird und Angeloglou stiegen aus. Einen Moment lang nahm ein Teil von mir an, es müsse sich um eine Art Erinnerung oder Halluzination handeln. Das war gestern geschehen. Mußte ich diesen schrecklichen Alptraum noch einmal durchleben? Es klopfte an der Tür. Nur eine Routineangelegenheit, ein Formular, das ich unterschreiben mußte oder so.

Als ich die Tür öffnete, sahen sie sich gegenseitig vielsagend an.

»Ja?« sagte ich.

»Wir dachten, Sie hätten vielleicht etwas gehört«, sagte Baird.

»Danny hat nicht angerufen, und wenn er es tut, verdammt …«

Wieder sahen die beiden Polizisten sich an. Was war los?

»Das haben wir nicht gemeint. Können wir hereinkommen?«

sagte Baird und versuchte vergeblich, beiläufig zu klingen.

Keine Spur von dem üblichen Lächeln und Zwinkern. Baird sah aus wie ein Mann, der professionelles polizeiliches Verhalten imitiert. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, obwohl es kalt war.

»Was soll das?«

»Bitte, Sam.«

Ich führte sie hinein, und sie saßen wie Plisch und Plum nebeneinander auf meinem Sofa. Baird strich sich mit der rechten Hand über den behaarten Rücken der Linken. Ein Mann, der im Begriff stand, eine Rede zu halten. Angeloglou verhielt sich still und wich meinem Blick aus. Seine Wangenknochen traten hervor, so sehr mußte er sich beherrschen.

»Bitte, setzen Sie sich, Sam«, sagte Baird. »Ich habe schlechte Neuigkeiten für Sie.« Noch immer fingerte er an seiner Hand herum. Die Härchen darauf waren leuchtendrot, röter als die auf seinem Kopf. Ich konnte den Blick nicht davon abwenden.

»Gestern abend wurden wir zu einem ausgebrannten Auto gleich hinter der Bayle Street gerufen, ungefähr zwanzig Meilen die Küste entlang. Wir stellten schnell fest, daß es sich um einen Renault-Kombi handelte, der auf Daniel Rees zugelassen war.«

»Mein Gott«, sagte ich, »hatte er einen Unfall?«

»Im Wagen befanden sich zwei verbrannte menschliche Körper. Tot. Die Auswirkungen des Feuers waren sehr schwer, und die Leichen müssen noch identifiziert werden. Aber ich möchte Sie darauf vorbereiten, daß es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Leichen von Mr. Rees und Miss Mackenzie handelt.«

Ich versuchte, den Augenblick festzuhalten, den Schock und die Verwirrung zu begreifen, als handle es sich um einen kostbaren Gemütszustand. Schlimmer konnte es nicht mehr werden.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe, Dr. Laschen?«

Baird sprach leise, wie zu einem kleinen Kind, das auf seinem Schoß saß. Ich nickte. Nicht zu heftig. Keine Hysterie, kein Übereifer.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe, Dr. Laschen?«

»Ja, natürlich. Also, vielen Dank, daß Sie gekommen sind, um es mir zu sagen, Mr. Baird. Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Haben Sie irgendwelche Fragen? Möchten Sie uns etwas sagen?«

»Es tut mir leid«, sagte ich mit einem Blick auf meine Uhr.

»Das Problem ist, daß ich gleich weg muß, um … äh … mein Kind abzuholen.«

»Macht das nicht Linda?«

»Ja? Ich kann nicht …«

Als Baird gesprochen hatte, war mir vollkommen klar gewesen, was passiert war. Während ich der Information lauschte, hatte ich sogar mit professionellem Interesse verfolgt, in welcher Art er schmerzhafte Nachrichten überbrachte. Und ich hatte meine eigene Reaktion mit absoluter Klarheit beobachtet. Jetzt spürte ich Tränen über mein Gesicht rinnen und bemerkte, daß es mich vor Schluchzen schüttelte. Ich weinte und weinte, bis ich fast das Gefühl hatte, an Trauer und Schmerz zu ersticken. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter; dann wurde mir ein Becher Tee an die Lippen gedrückt, und ich war überrascht darüber, daß soviel Zeit vergangen war, um Wasser zu kochen und Tee aufzugießen. Ich nahm ein paar Schlucke Tee zu mir und verbrannte mir den Mund. Ich versuchte zu sprechen und konnte es nicht. Ich atmete ein paarmal tief durch und versuchte es erneut.

»Ein Unfall?« fragte ich.

Baird schüttelte den Kopf.

»Was dann?« Ich brachte kaum mehr als ein Krächzen heraus.

»Beim Wagen wurde ein Zettel gefunden.«

»Was bedeutet das?«

»Er war an Sie gerichtet.«

»An mich?« fragte ich.

»Die Nachricht wurde von Miss Mackenzie geschrieben. Sie schrieb, nachdem sie erkannt hätten, was sie getan, vor allem Ihnen angetan haben, hätten sie das Gefühl, nicht weiterleben zu können, und sich entschlossen, gemeinsam zu sterben.«

»Sie haben Selbstmord begangen?« fragte ich töricht.

»Das ist unsere Arbeitshypothese.«

»Das ist lächerlich.« Die beiden Männer schwiegen. »Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Es ist lächerlich und unmöglich. Danny hätte sich niemals das Leben genommen.

Unter keinen Umständen. Er … wie sind sie gestorben?«

Ich sah Baird an. In einer Hand hatte er ein Paar Handschuhe gehalten, und jetzt drehte er daran herum, als wollte er sie auswringen.

»Wollen Sie das wirklich wissen?«

»Ja.«

»Der Wagen wurde mit einem Lappen angezündet, der in den Tank gesteckt wurde. Es sieht so aus, als hätten sich die beiden mit je einem Kopfschuß getötet. Die Waffe wurde am Unfallort gefunden.«

»Die Waffe?« sagte ich. »Woher hatten sie eine Waffe?«

Rupert schluckte verlegen und veränderte seine Haltung.

»Die Waffe war auf Leopold Mackenzie zugelassen«, murmelte er leise.

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was ich da hörte, und als ich es begriff, wurde mir schwindlig vor Zorn.

»Wollen Sie damit sagen, daß Finn sich in den Besitz der Waffe ihres Vaters gebracht hatte?« Baird zuckte beschämt mit den Achseln. »Und daß sie sie in diesem Haus hatte? Wußten Sie nicht, daß Mackenzie eine Waffe besaß und diese nicht mehr auffindbar war?«

»Nein«, sagte Baird. »Das ist schwierig für uns, und ich weiß, daß es auch für Sie schwierig sein muß.«

»Seien Sie nicht so herablassend mit Ihrem psychologischen Jargon, Rupert.«

»Das meinte ich nicht, Sam«, sagte Baird leise. »Ich meinte, daß es für Sie schwierig sein muß.«

Ich fuhr zusammen.

»Was meinen Sie?«

»Ich meine, daß es wieder passiert ist, zum zweitenmal.«

Ich sank auf meinen Sessel zurück, elend und resigniert.

»Sie Mistkerl. Sie haben gründlich recherchiert, was?«

24. KAPITEL

»Ich kann bis hundert zählen!«

»Kann ich mir nicht vorstellen! Dann mach mal.«

»Eins, zwei, ein paar lasse ich aus, neunundneunzig, hundert.«

Ich kicherte anerkennend, die Hände am Steuer, den Blick auf die Straße gerichtet, eine Sonnenbrille vor den geröteten Augen.

»Und jetzt hör zu. Wie ruft Batmans Mutter ihn zum Abendessen?«

»Weiß ich nicht. Wie ruft Batmans Mutter ihren Sohn denn zum Abendessen?«

»Dinner-Dinner-Dinner-Dinner, Dinner-Dinner-Dinner-Dinner, Batman!«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Joshua, der liebt mich und küßt mich, wenn die Lehrerin nicht hinguckt, und wenn wir groß sind, heiraten wir. Und wie viele Ohren hat Davy Crocket?«

»Ich weiß nicht, wie viele Ohren Davy Crocket hat.«

»Drei. Ein linkes Ohr, ein rechtes Ohr und ein wildes Ohr. Den Witz verstehe ich nicht.«

»Na ja, es ist ein wildes Ohr vorne. Wer hat dir das erzählt?«

»Danny. Danny hat das mal gesungen, und dann hat er sehr gelacht.«

»Sieh mal«, sagte ich fröhlich, »da ist Kirstys Haus.«

Kirsty kam an die Tür, weiße Strümpfe bis an die rundlichen Knie hochgezogen, in einem blauen, gesmokten Kleid mit frischem weißen Kragen, einen roten Mantel hinter sich herziehend. Ihr glänzendes braunes Haar war mit einer Spange aus dem Gesicht gehalten.

»Kommt Fing nicht mit?« fragte sie, als sie mich und Elsie sah. Hinter ihr formte Mrs. Langley lautlos die Worte: »Ich habe es ihr noch nicht gesagt.«

»Fing ist …«, begann Elsie wichtig.

»Heute nicht, Kirsty, aber wir werden es uns schön machen.

Hast du deine Schwimmsachen? Komm, spring ins Auto. Du siehst aber heute hübsch aus. So, es geht los«, rasselte ich herunter, als könnte ich, wenn ich nur schnell genug sprach, die Frage wegschieben, sie durch den Gedanken an gechlortes Wasser oder die Dunkelheit in dem alten Kino, wo unter den abgewetzten Klappsesseln aus Samt Popcorn auf dem Boden liegt, wo man Zeichentrickfilme zeigte, in denen die Figuren verprügelt und zerquetscht und in kochendes Öl geworfen werden und hinterher doch weiterleben, vertreiben.

Mrs. Langley beugte sich durch mein Fenster, sah überaus mitfühlend aus und legte eine glatte Hand auf meine schwielige, die das Lenkrad umklammerte. Sie feilt ihre Nägel, dachte ich.

»Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann …«

»Danke. Ich bringe Kirsty am Nachmittag zurück.« Ich nahm meine Hand weg und drehte den Zündschlüssel. »Seid ihr beide angeschnallt, Kinder?«

»Ja«, antworteten sie im Chor vom Rücksitz aus, Seite an Seite, mit baumelnden Füßen in Lackschuhen und von Eifer geröteten Gesichtern.

»Okay, dann geht es los.«

Kirsty und Elsie planschten dekorativ in ihren Gummiringen und Schwimmflügeln herum, die so fest aufgeblasen waren, daß ihre Oberkörper kaum naß wurden. Ihre weißen Beine strampelten im Wasser, und ihre Gesichter waren ganz rot vor Stolz darüber, wie mutig sie waren.

»Sieh mich an«, sagte Kirsty. Für eine Nanosekunde tauchte sie Nase und Kinn ins Wasser und kam triumphierend wieder hoch. »Ich kann tauchen. Ich wette, das kannst du nicht.«

Elsie sah mich einen Moment an, meine ängstliche kleine Landratte. Ich dachte, sie würde gleich weinen. Dann tauchte sie den Kopf ebenfalls kurz ins Wasser.

»Ich hab’s getan!« krähte sie. »Ich hab’s getan! Hast du gesehen, Mummy?«

Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen.

»So, meine beiden kleinen Fische«, sagte ich. »Soll ich den Haifisch spielen?«

Unter Wasser war ich gewichtslos und halb blind, meine Augen blinzelten, und die Beine bewegten sich wie Seetang; meine Hände streckten sich nach undeutlich sichtbaren Knöcheln aus. Der Beckenrand war beruhigenderweise nur wenige Zentimeter von meinem untergetauchten Körper entfernt. Ich hörte die Mädchen quietschen und kichern, als ich unter ihnen vorbeischwamm. Ich bin kein Fisch. Ich mag nur festen Boden.

Im Umkleideraum stieß ein junges Mädchen seine Freundin an, als ich Hemden über nasse Köpfe streifte, störrische Füße in widerspenstige Schuhe zwängte, feste Schleifen band. Sie zeigte mit den Augen auf mich.

Chicken Nuggets und Pommes frites und leuchtend rosafarbene Lutscher zum Mittagessen. Popcorn, salzig und süß durcheinander, und Orangenlimonade in einem riesigen Pappbecher mit zwei gestreiften Strohhalmen darin. Sie sahen einen Zeichentrickfilm, der vor meinen Augen verschwamm, als ich den Blick in die Ferne richtete; sie saßen rechts und links von mir, und beide hielten meine Hand. Ihre Finger waren klebrig, ihre Köpfe an meine Schultern gelehnt. Die Luft war abgestanden. Ich versuchte im gleichen Rhythmus zu atmen wie die Kinder, aber ich konnte es nicht. Mein Atem ging stoßweise und schmerzte in den Lungen. Ich setzte die Sonnenbrille wieder auf, als wir das Foyer erreichten.

»Mummy?«

»Ja, mein Schatz?« Kirsty hatten wir sicher wieder bei ihrer Mutter abgeliefert, und wir fuhren durch milchige Dämmerung nach Hause.

»Kennst du das Video«, Elsie sprach es Vidjo aus, ein Überbleibsel ihrer Babysprache – wie das letzte schwache, braune Blatt an einem Baum –, »von dem Löwen und der Hexe?«

»Ja.«

»Wenn er von der bösen Hexe umgebracht wird und bei den Mäusen liegt?«

»Ja.«

»Und dann wird er wieder lebendig. Ja, das wird er. Also …«

»Nein. Danny und Finn kommen so nicht zurück. Wir werden sie vermissen, und wir werden uns an sie erinnern, und dann werden wir miteinander über sie sprechen; du kannst mit mir über sie reden, wann immer du willst, und hier sind sie dann nicht tot.« Ich legte eine Hand auf mein pochendes Herz. »Aber wiedersehen werden wir sie nicht.«

»Wo sind sie denn jetzt? Sind sie jetzt im Himmel?«

Verkohlte Fleischklumpen, grinsende Schädel mit ausgebrannten Augen, Gesichtszüge, die sich gräßlich verformen und dann auflösen, geschmolzene Glieder auf einem Metalltablett in einem Kühlschrank ein paar Kilometer von der Stelle entfernt, an der sie gefunden wurden.

»Ich weiß nicht, mein Schatz. Aber sie haben jetzt Frieden.«

»Mummy?«

»Ja.«

»War ich mutig, den Kopf unter Wasser zu halten?«

»Das war sehr mutig. Ich war stolz auf dich.«

»Mutig wie ein Löwe.«

»Mutiger.«

Als wir auf das Haus zufuhren, sah es aus, als fände dort eine Party statt. Helle, weiße Lichter schimmerten, eine Reihe von Autos stand davor. Wir hielten an, und ich berührte sanft mit dem Finger Elsies Nasenspitze.

»Piep«, sagte ich. »Wir werden jetzt an diesen vielen Männern mit ihren Kameras und Tonbandgeräten vorbeirennen. Leg den Kopf auf meine Schulter, und dann schauen wir mal, ob ich zur Haustür komme, bevor du bis hundert gezählt hast.«

»Eins, zwei, ein paar lasse ich aus …«

»Dein Vater und ich denken, du solltest für ein paar Tage zu uns kommen und hierbleiben, bis sich der ganze Trubel gelegt hat.«

»Mum, das ist …«, ich hielt inne und suchte nach Worten …,

»das ist nett von euch, aber es geht mir gut. Wir müssen hierbleiben.«

Meine Eltern waren gleich nach uns gekommen. Sie marschierten ins Haus wie zwei Wächter, rechts, links, rechts, links, Kopf hoch, Augen geradeaus. Ich war dankbar für ihre Unverwüstlichkeit. Ich wußte, wie sehr ihnen all das mißfallen mußte. Sie brachten einen Obstkuchen in einer großen braunen Blechdose, einen Blumenstrauß in Zellophan sowie Smarties und ein Malbuch für Elsie mit, die Malbücher haßt, Smarties aber liebt. Sie ging damit in die Küche, um sie gewissenhaft aufzuessen, eine Farbe nach der anderen, wobei sie die orangefarbenen bis zuletzt aufhob. Mein Vater zündete ein Feuer an. Er schichtete ordentlich dünne Stückchen über einen halben Zündwürfel und legte vier Scheite obenauf. Meine Mutter machte geschäftig Tee und stellte ein Stück Obstkuchen vor mich hin.

»Dann laß uns wenigstens hierbleiben.«

»Ich komme schon zurecht.«

»Du kannst nicht alles allein machen.«

Etwas im Ton meiner Mutter ließ mich zu ihr aufblicken.

Hinter ihren Brillengläsern sahen ihre Augen feucht aus; ihre Lippen waren vor Rührung zusammengekniffen. Wann hatte ich sie zuletzt weinen sehen? Ich beugte mich auf meinem Stuhl vor und berührte linkisch ihr Knie unter dem dicken Wollrock.

Wann hatte ich sie zuletzt berührt, abgesehen von den förmlichen Wangenküssen?

»Laß es gut sein, Joan. Siehst du nicht, daß Samantha erschüttert ist?«

»Nein! Nein, ich sehe nicht, daß sie erschüttert ist. Das ist es ja, Bill. Sie sollte erschüttert sein; sie sollte – sie sollte in tiefer Trauer sein. Ihre Freundin, ich habe ja immer vermutet, daß sie hinterhältig ist, und ich habe es dir an dem Tag gesagt, an dem wir sie kennengelernt haben, ihre Freundin und ihr Freund laufen zusammen weg und bringen sich im Auto um, es steht in allen Zeitungen. Und alles.« Vage wies sie auf das Fenster, auf die Welt dort draußen. »Und Samantha sitzt hier so ruhig wie nur etwas, und dabei will ich ihr doch nur helfen. « Sie machte eine Pause, und vielleicht hätte ich mich vorgebeugt und sie umarmt, aber ich sah, wie sie sich einen Ruck gab und das sagte, was sie sich vorgenommen haben mußte, nicht zu sagen. »Es ist ja nicht so, als ob Samantha das zum erstenmal passiert wäre.«

»Joan …«

»Ist schon gut, Dad«, sagte ich und meinte es ernst. Der Schmerz, daß meine Mutter so etwas zu mir sagte, war so intensiv, daß er fast wie eine perverse Lust wirkte.

»Elsie sollte überhaupt nicht hier sein«, sagte meine Mutter.

»Sie sollte mit zu uns kommen.«

Sie erhob sich halb, als wollte sie sich auf der Stelle mit meiner Tochter auf den Weg machen.

»Nein«, sagte ich. »Elsie bleibt hier.« Wie auf ein Stichwort erschien Elsie im Wohnzimmer, ihre letzten Smarties kauend.

Ich hob sie auf meinen Schoß und legte das Kinn auf ihren Kopf.

Es klopfte an der Tür.

»Wer ist da?« rief ich.

»Ich. Michael.«

Ich ließ ihn ein und machte schnell die Tür hinter ihm zu. Er zog seinen Mantel aus, und ich sah, daß er alte Jeans und ein verblichenes Baumwollhemd trug, aber sonst sah er entspannt aus, gelassen.

»Ich habe Räucherlachs und dunkles Brot und eine Flasche Sancerre mitgebracht, ich dachte, wir könnten … oh, hallo, Mrs. Laschen, Mr. Laschen.«

»Sie gehen gerade, Michael«, sagte ich.

»Aber Samantha, wir sind doch eben erst …«

Mein Vater nickte meiner Mutter heftig zu und nahm ihren Arm.

Schweigend half ich ihnen in die Mäntel und lotste sie zur Tür.

Meine Mutter drehte sich nach Michael und mir um. Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigte, ihre Verwirrung oder ihre Zustimmung.

An diesem Abend wartete Elsie in meinem Bett auf mich. Als ich unter die Decke schlüpfte, bewegte sie sich, schlang einen Arm wie einen Tentakel um meinen Hals, bettete ihr Gesicht an meine Schulter, seufzte. Und darin, mit der wunderbaren Leichtigkeit, die Kinder besitzen, machte sie die Augen zu und schlief wieder ein. Ich lag lange wach. Draußen herrschte mondlose Finsternis. Alle waren nach Hause gegangen; ich hörte nur den Wind in den Bäumen und ein- oder zweimal den schwachen Schrei eines Vogels draußen auf dem Meer. Ich legte eine Hand auf Elsies Brust und spürte ihren Herzschlag. Ab und zu murmelte sie etwas Unverständliches.

Michael war an diesem Abend nicht lange geblieben. Er hatte den Wein geöffnet und mir ein Glas eingeschenkt, das ich in mich hineinschüttete, ohne etwas zu schmecken, als wäre es Schnaps. Er hatte Butter, die er mitgebracht hatte, auf dunkle Brotscheiben gestrichen und mit Räucherlachs belegt, der mich schrecklich an rohes Menschenfleisch erinnerte, also knabberte ich nur ein bißchen an der Kruste herum. Wir redeten nicht viel.

Er erwähnte ein paar Einzelheiten von der Konferenz in Belfast, von denen er glaubte, sie könnten mich interessieren. Ich sagte nichts, sondern starrte in die sterbende Glut des Feuers, das mein Vater angezündet hatte. Anatoly strich mit seinem schwarzen Fell um unsere Beine und schnurrte laut.

»Es wirkt so irreal, so unglaublich, nicht?« sagte er. »Ich kannte Finn seit Jahren«, sagte er. »Seit Jahren.«

Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht einmal nicken.

»Ja, also.« Er stand auf und zog seinen Mantel an. »Ich gehe jetzt, Sam. Werden Sie schlafen können? Soll ich Ihnen etwas geben?«

Ich winkte ab. Als er fort war, ging ich nach oben. Ich hielt Elsie an mich gedrückt und starrte mit großen, trockenen Augen in die Dunkelheit.

25. KAPITEL

»Das ist eine schlimme Sache, diese Selbstmorde.«

»Ich werde damit fertig.«

»Schlimm für uns, meine ich.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Geoff Marsh fingerte an seinem Krawattenknoten herum, als könne er allein durch Berührung feststellen, ob er in der Mitte seines Halses saß. Dieses Treffen war vierzehn Tage zuvor vereinbart worden, um über mögliche neue Geldquellen, die sich eröffnet hatten, zu sprechen. Wir waren bei einer Tasse Kaffee zusammengesessen, und ich war schon aufgestanden, um zu gehen, als er mich wieder bat, Platz zu nehmen, und anfing, besorgt auszusehen.

»Das hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können«, sagte er.

Ich unterdrückte eine Erwiderung und schwieg.

»Sie hätten es uns sagen sollen, Sam.«

»Was hätte ich Ihnen sagen sollen, Geoff?«

Geoff griff nach einem Block und betrachtete mit demonstrativer bürokratischer Effizienz ein paar Notizen.

»Sie standen, technisch gesehen, in einem Angestelltenverhältnis zu uns, Sam«, sagte er nach einer Pause.

Und dann folgte das hilflose Schulterzucken, das ich inzwischen gut kannte. Es war ein Hinweis auf die Unerbittlichkeit des politischen und wirtschaftlichen Klimas, das ihn in eine grausame Zwangslage brachte. Er fuhr fort: »Ich bin natürlich der letzte, der Ihnen das zum Vorwurf machen würde, aber Sie hätten uns sagen sollen, daß Sie eine heikle Aufgabe übernommen haben, die unser Projekt beeinflussen würde.«

Da ich in Zukunft mit diesem Mann zusammenarbeiten mußte, fiel mir darauf nur schwer etwas ein, das ich mit Anstand sagen konnte. Ich holte tief Luft.

»Ich habe gedacht, daß ich wie eine gute Bürgerin handle. Die Polizei hat mich um Hilfe gebeten. Sie bestand auf Geheimhaltung. Ich habe es nicht einmal meiner eigenen Familie erzählt.«

Geoff legte seine beiden Hände behutsam auf die Kante seines viel zu großen Schreibtisches. Ich fühlte mich wie ein Schulmädchen im Büro des Direktors.

»Es wird in den Zeitungen stehen«, sagte er stirnrunzelnd.

»Es steht bereits in den verdammten Zeitungen«, gab ich zurück. »In meinem Vorgarten geht es zu wie auf einem Jahrmarkt.«

»Ja, ja, aber bislang wurde noch nichts geschrieben über, nun ja …«

Vage wies Geoff um sich. »Über uns, all das, die Station.«

»Warum sollten sie das erwähnen?«

Geoff stand auf und ging zum Fenster. Er starrte hinaus. Ich suchte nach einer Möglichkeit, wie ich dieses mühsame Gespräch beenden konnte. Nach einigen Minuten Schweigen hielt ich es nicht mehr aus.

»Geoff, wenn sonst nichts ansteht, ich habe noch zu tun.«

Geoff drehte sich plötzlich um, als hätte er vergessen, daß ich im Zimmer war.

»Sam, darf ich ganz offen reden?«

»Nur zu«, sagte ich trocken. »Schonen Sie meine Gefühle nicht.«

Gravitätisch faltete er die Hände.

»Das ganze Thema der posttraumatischen

Persönlichkeitsstörungen ist noch sehr umstritten. Das haben Sie mir oft genug gesagt. Wir richten hier ein neues Zentrum dafür ein, und gleichzeitig schließen wir andere Stationen – ich möchte Ihnen gar nicht erzählen, wie viele es in den letzten Monaten waren. Und der Linden-Report – Sie wissen schon, über dieses fotogene sechsjährige Mädchen, das in Birmingham gestorben ist, nachdem wir seine Aufnahme abgelehnt hatten –

kommt in ein paar Wochen heraus. Ich warte bloß darauf, daß irgendein findiger Medizinjournalist all das mit Ihrer Sache in Verbindung bringt …«

»Was meinen Sie mit meiner Sache?«

Geoffs Gesicht hatte sich gerötet und war angespannt.

»Da ich in den Abgrund schaue«, sagte er, »kann ich es Ihnen ja vielleicht sagen. Wir haben Sie gewählt, um das größte Projekt unter meiner Leitung zu betreuen … , unter meiner Oberherrschaft oder wie immer Sie das nennen wollen. Sir Reginald Lennox aus meinem Gremium sagt, daß posttraumatische Persönlichkeitsstörungen eine Entschuldigung für Schwächlinge und Tunten sind, um seinen Ausdruck zu gebrauchen. Aber wir haben die berühmte Dr.

Samantha

Laschen ins Spiel gebracht, um unsere Seite zu vertreten. Und etwa einen Monat vor Übernahme ihres Postens hat sie der Welt gezeigt, was sie leisten kann, indem sie in ihrem eigenen Haus eine traumatisierte Frau behandelt hat. Ein verantwortungsloser Journalist würde vielleicht darauf hinweisen, das Ergebnis von Dr. Laschens persönlicher Behandlung habe darin bestanden, daß die Patientin sich in Dr. Laschens Freund verliebte, daß beide durchbrannten und dann Selbstmord begingen.«

Geoff machte eine Pause. »Eine solche Zusammenfassung wäre natürlich höchst unfair. Aber wenn ein solches Argument vorgebracht würde, wäre es wirklich sehr schwierig zu behaupten, die Behandlung von Fiona Mackenzie sei einer Ihrer großen Erfolge gewesen.«

»Ich habe Fiona Mackenzie nicht behandelt. Sie war nicht meine Patientin. Es ging darum, ihr eine sichere – und vorübergehende – Zuflucht zu bieten. Und tatsächlich war ich selbst gegen diese Idee.«

Ich jammerte und machte Ausflüchte und verachtete mich selbst dafür. Geoff blieb unbeeindruckt.

»Das ist eine subtile Unterscheidung«, sagte er zweifelnd.

»Was soll das alles, Geoff? Wenn Sie irgend etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es einfach.«

»Ich versuche, Sie zu retten, Sam, und ich versuche, die Station zu retten.«

»Mich zu retten? Wovon reden Sie?«

»Sam, ich drücke hier keine persönliche Meinung aus. Ich trage nur ein paar diesbezügliche Tatsachen vor. Wenn dieses Gremium in einen öffentlichen Skandal in den Medien hineingezogen wird, dann wird die Sache für alle Beteiligten peinlich.«

»Ich möchte ja keinen Streit provozieren, aber drohen Sie mir vielleicht? Möchten Sie, daß ich verzichte?«

»Nein, absolut nicht, nicht im Augenblick. Das ist Ihr Projekt, Sam, und Sie werden es durchsetzen, mit unserer Unterstützung.«

»Und?«

»Vielleicht sollten wir uns eine Strategie zur Schadensbegrenzung überlegen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich hatte gehofft, daß wir darüber diskutieren könnten, aber dann kam mir die Idee, daß ein wohlüberlegtes Interview mit dem richtigen Journalisten vielleicht das Beste wäre, um Gerüchten zuvorzukommen.«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Sam, denken Sie darüber nach, sagen Sie nicht einfach nein.«

»Nein.«

»Denken Sie darüber nach.«

»Nein. Und jetzt muß ich gehen, Geoff. Ich muß mit Ärzten reden, damit wir nicht vergessen, daß der Sinn dieses Projekts darin besteht, eine medizinische Dienstleistung anzubieten.«

Geoff begleitete mich zur Tür.

»Ich beneide Sie, Sam.«

»Das ist schwer vorstellbar.«

»Die Menschen kommen mit ihren Symptomen zu Ihnen, Sie helfen Ihnen, und damit hat es sich. Ich streite mit Ärzten und dann mit Politikern und dann mit Bürokraten und dann wieder mit Ärzten.«

Ich drehte mich noch einmal um und betrachtete den mexikanischen Wandteppich, das Sofa, den Riesenschreibtisch, den Panoramablick über Sumpfland und Marsch oder was immer zwischen Stamford und dem Meer lag.

»Das hat auch seine guten Seiten«, sagte ich.

Wir gaben uns die Hände.

»Ich muß meinem Aufsichtsrat in die Augen sehen können, ohne allzu verlegen zu werden. Bitte, tun Sie nichts, was mich in Verlegenheit bringen könnte. Und wenn doch, dann sagen Sie es mir vorher.«

Als ich nach Hause kam, brauchte ich fünfzehn Minuten, um die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter abzuhören. Ich verlor den Überblick über die verschiedenen Zeitungen, deren Korrespondenten ihre Telefonnummern hinterlassen hatten, und die verschiedenen Euphemismen, die sie gebrauchten, die Angebote von Geschäften, Mitgefühl, Beratungshonoraren.

Mittendrin befanden sich Nachrichten von meiner Mutter, übertönt von dem Piepsen der vorhergehenden Botschaften, sowie von Michael Daley und Linda, die heute später kommen würde, und von Rupert Baird, der fragte, ob er mit mir über Finns Habseligkeiten sprechen könne.

Ihre Habseligkeiten. Die Idee irritierte mich und machte mich ganz traurig. Was sollte mit ihren wenigen Sachen geschehen?

Vermutlich hatten sie für die Ermittlungen keine Bedeutung. Sie bewiesen nichts, waren nur Zeugnis zweier vergeudeter Leben und einer emotionalen Ruinenlandschaft. Unsere Besitztümer sollen ja von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, aber mir fiel nicht einmal jemand ein, dem man Finns jämmerliche paar Sachen hätte überlassen können.

Trotzdem, wenn es nichts zu tun gab, würde ich es wenigstens sofort hinter mich bringen. Ich nahm aus der Küche einen Karton und rannte nach oben in das Zimmer, von dem ich mich ganz bewußt ferngehalten hatte, Finns Zimmer. Noch jetzt hatte ich das Gefühl, irgendwo einzudringen, als ich die Tür öffnete und eintrat. Das Zimmer war erbärmlich kahl, als sei es seit Monaten unbewohnt. Zum erstenmal wurde mir klar, daß Finn nichts von dem Ballast angesammelt hatte, mit dem die meisten von uns durchs Leben gehen. Abgesehen von ein paar Taschenbüchern in einem Regal war nicht ein einziger persönlicher Gegenstand zu sehen, nicht einmal ein Stift. Das Bett war sorgfältig gemacht, der Teppich lag gerade, alle Ablageflächen waren leer.

Ein muffiger Geruch hing in der Luft, und ich öffnete hastig das Fenster. Im Kleiderschrank gab es nur leere, klappernde Bügel. Ich sah mir die Bücher an: ein paar Krimis, Bleak House, The Woman in White, Gedichte von Anne Sexton, ein zerfledderter Reiseführer durch Südamerika. Ich nahm ihn und warf ihn aus der Tür auf den Treppenabsatz. Ich hatte Lust, nach Südamerika zu fliehen. Irgendwohin zu fliehen. Den Rest legte ich in den Karton, und dabei fiel ein Umschlag aus einem der Bücher auf den Fußboden.

Ich hob ihn auf und wollte ihn ebenfalls in den Karton legen, doch da sah ich, was da in kindlichen Großbuchstaben stand: MEIN TESTAMENT. Finn, die so ängstlich war, sich solche Sorgen um den Tod machte, hatte ein Testament geschrieben.

Plötzlich war ich der festen Überzeugung, daß sie aus einer Eingebung heraus alles mir hinterlassen hatte und das einen weiteren Skandal zur Folge hätte. Langsam drehte ich den Umschlag um. Er war nicht verschlossen. Sie hatte die Klappe nur eingeschoben, ohne sie zuzukleben, wie man es bei Glückwunschkarten macht. Ich wußte, daß das, was ich tat, falsch war, womöglich strafbar, aber ich öffnete ihn und faltete das Blatt auseinander, das er enthielt. Es war ein blaues Formblatt mit der Überschrift »Setzen Sie Ihr eigenes Testament auf«, und sie hatte es einfach ausgefüllt. In dem Kästchen mit der Überschrift »Testament« stand: Fiona Mackenzie, Wilkinson Crescent 3, Stamford, Essex. Unter »Als Testamentsvollstrecker bestimme ich« stand: Michael Daley, Alice Road 14, Cumberton, Essex. In dem Kästchen »Alles, was mir gehört, hinterlasse ich« stand: Michael Daley, Alice Road 14, Cumberton, Essex. Unterschrieben und datiert war das Testament vom Montag, dem 4. März 1996. Sie hatte angekreuzt, daß sie verbrannt werden wollte.

Unten gab es zwei Kästchen mit der Aufschrift

»Unterschrieben vom Verfasser des Testaments in unserer Gegenwart, dann von uns gegengezeichnet«. Mit anderer Handschrift stand darin: Linda Parris, Lam Road 22, Lymne.

Sally Cole, Primrose Villas 3b, Lymne.

Finn war vollkommen verrückt geworden. Finn war verrückt geworden, und dann hatten mein verdammtes Kindermädchen und meine verdammte Putzfrau sich unter meinem eigenen Dach an einer verrückten Verschwörung beteiligt. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich mußte mich einen Augenblick auf das Bett setzen. Was für eine Verschwörung denn überhaupt? Eine Verschwörung, das eigene Vermögen nach dem Tod auf eine verrückte Weise zu vermachen? Alte Damen hinterließen ihren Katzen Millionen, warum also nicht Michael Daley? Doch wenn ich daran dachte, wie er als Finns und auch Mrs. Ferrers Arzt versagt hatte, wurde ich wütend. Wer wußte von diesem Testament? Natürlich Linda und Sally, die Verräterinnen, aber sie konnten nicht wissen, ob Finn es nicht vernichtet hatte. Der Gedanke, daß der Reichtum der Familie Mackenzie an Michael Daley gehen sollte, kam mir auf einmal unerträglich vor. Warum sollte ich das Testament nicht vernichten, damit eine gewisse Gerechtigkeit herrschte? Wie auch immer, wenn die Person, die der Testamentsvollstrecker sein sollte, auch das ganze Geld bekam, konnte das kaum legal sein, also würde es vielleicht ohnehin ungültig sein. Während ich darüber nachdachte, sah ich, daß der Umschlag noch ein Stück Papier enthielt. Es war kaum größer als eine Visitenkarte. Darauf stand in Finns unverkennbarer Handschrift: »Es existiert eine Kopie dieses Testaments, die sich im Besitz des Vollstreckers Michael Daley befindet. Unterschrieben: Fiona Mackenzie.« Ich erschauerte und fühlte mich, als sei Finn ins Zimmer getreten und habe mich dabei ertappt, wie ich in ihren Sachen herumschnüffelte. Röte schoß mir ins Gesicht.

Sorgfältig legte ich die beiden Papiere wieder in den Umschlag und diesen in den Karton. Dann sagte ich, obwohl ich allein war, laut: »Was für ein verfluchtes Durcheinander.«

26. KAPITEL

Ich glaube nicht an Gott, ich glaube nicht, daß ich es jemals getan habe, obwohl ich eine vage und verdächtig unvollständige Erinnerung daran habe, neben meinem Bett zu knien und ein Vater-unser-der-Du-bist-im-Himmel-geheiligt-werde-Dein-Name herunterzurasseln. Und ich erinnere mich noch an den Schrecken, den ich als kleines Kind bei dem Gebet empfand, das so geht: »Und sollte ich sterben, bevor ich erwach, so nimm meine Seele in Dein Gemach.« Ich lag in meinem knielangen Nachthemd mit den Rüschen an den Handgelenken und den züchtig bis oben geschlossenen weißen Perlmuttknöpfen im Bett, blinzelte ängstlich in die Dunkelheit, hörte Bobbie im anderen Bett atmen und versuchte, mich nicht vom Schlaf überwältigen zu lassen. Und ich habe den Gedanken an die launische Gottheit immer gehaßt, die auf manche Hilferufe von Menschen reagiert, auf andere hingegen nicht.

Aber als ich im grauen Licht eines Märzmorgens erwachte, ganz am Rand des Bettes, in dem sich Elsie breitgemacht hatte, ertappte ich mich zu meiner Schande dabei, daß ich murmelte:

»Bitte, Gott, lieber Gott, laß es nicht wahr sein.« Aber der Morgen ist unerbittlich. Nicht so schlimm wie die Nächte natürlich, wenn die Zeit wie ein Fluß über die Ufer tritt und dann in flachen, stehenden Pfützen verweilt. Meine Patienten sprechen oft über ihre nächtlichen Ängste. Und sie berichten auch von dem Entsetzen, aus Träumen zu erwachen und sich dem Tag stellen zu müssen.

Ich lag ein paar Minuten still, bis die erste Panik sich legte und ich wieder ruhig atmen konnte. Elsie neben mir machte eine abrupte Bewegung, zog mir die Daunendecke weg und wickelte sich darin ein, als wollte sie Winterschlaf halten. Ich sah nur noch ihren Scheitel. Ich streichelte ihn, und er verschwand ebenfalls. Draußen konnte ich die Geräusche des Tages hören: einen bellenden Hund, einen krähenden Hahn, Autos, die an einer scharfen Biegung einen anderen Gang einlegten. Die Journalisten vor meinem Haus waren verschwunden, die Gazetten beschäftigten sich wieder mit anderen Themen, das Telefon klingelte nicht mehr so oft. Das war mein Leben.

Ich sprang also aus dem Bett und zog leise, um Elsie nicht aufzuwecken, ein kurzes Wollkleid, eine gerippte Strumpfhose und ein Paar knöchelhohe Stiefel an; methodisch fädelte ich die Schnürsenkel in die kleinen Öffnungen und stellte fest, daß meine Hände nicht mehr zitterten. Ich hängte baumelnde Ohrringe in meine Ohrläppchen und bürstete mein Haar. Ich ging nirgends hin, aber ich wußte, wenn ich in ausgeleierten Leggings herumgelaufen wäre, hätte ich mich noch niedergeschlagener gefühlt. Thelma hatte mir einmal gesagt, daß Gefühle oft dem Verhalten folgen und nicht umgekehrt: Benimm dich mutig, und du bekommst Mut; benimm dich großzügig, und du fängst an, deinen gemeinen Neid abzulegen.

Also wollte ich der Welt die Stirn bieten, als mache sie mich nicht krank vor Panik; vielleicht würde meine Übelkeit dann verschwinden.

Ich fütterte Anatoly, trank eine Tasse heißen Kaffee und machte eine Einkaufsliste, bevor Elsie aufwachte und in die Küche getrottet kam. Ich gab ihr einen Teller Honig- und Nußkringel, von dem ich den Rest aufaß, und dann eine Schale Müsli, wobei sie mit dem Löffel die Rosinen herausfischte und den nassen, bräunlichen Rest mir überließ.

»Ich möchte ein Insekt, das sticht, in einem Glas«, sagte sie.

»In Ordnung.« Das Heim eines stechenden Insekts zu reinigen, ging nicht über meine Kräfte.

Überrascht sah sie mich an. Vielleicht hatte sie zu bescheiden angefangen, ein schwerer Verhandlungsfehler.

»Ich möchte einen Hamster.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Ich will einen Hamster.«

»Das Problem mit Haustieren ist«, sagte ich, »daß man ihre Behausung saubermachen und sie füttern muß, und nach ein paar Tagen wird dir das langweilig. Rate mal, wer es dann machen muß? Und Haustiere sterben.« Ich bereute die Worte, sobald ich sie ausgesprochen hatte, aber Elsie blieb unbeeindruckt.

»Ich will zwei Hamster, damit, wenn einer stirbt, ich noch den anderen habe.«

»Elsie …«

»Oder einen einzigen Hund.«

Abrupt polterten Briefe durch den Briefschlitz auf den gefliesten Boden.

»Ich hole sie.«

Elsie stand vom Tisch auf und brachte einen Stapel Post, mehr als gewöhnlich. Die braunen Umschläge mit den Rechnungen legte ich beiseite. Die schmalen weißen, auf die förmlich mit der Maschine mein Name getippt war und die oben rechts frankiert waren, betrachtete ich argwöhnisch und legte sie auf die andere Seite. Sie waren höchstwahrscheinlich von Zeitungen oder Fernsehsendern. Die handgeschriebenen öffnete ich und sah sie mir rasch an: »Liebste Sam, wenn wir irgend etwas für Dich tun können …« – »Ich war so überrascht, als ich las …« – »Liebe Sam, wir haben in letzter Zeit nichts voneinander gehört, aber als ich las, daß …«

Und dann war da noch ein Umschlag. Ich wußte nicht, was ich damit machen sollte. Er war in ordentlichen Großbuchstaben mit blauem Kugelschreiber an Daniel Rees adressiert. Ich nahm an, ich sollte ihn an seine Eltern weiterschicken. Ich hielt den Umschlag gegen das Licht und starrte ihn an, als enthalte er den Schlüssel zu einem Geheimnis. Die gummierte Umschlagklappe hatte sich an einer Ecke gelöst. Ich schob den Finger darunter und öffnete sie noch ein bißchen weiter. Und dann ganz.

»Sehr geehrter Mr. Rees, wir danken Ihnen für Ihre heutige Anfrage bezüglich Wochenendreisen nach Italien. Wir bestätigen hiermit die Buchung von zwei Übernachtungen mit Halbpension in Rom für das Wochenende vom 18.-19. Mai. Die Flugtickets und weitere Einzelheiten senden wir Ihnen in Kürze zu. Bitte bestätigen Sie die Namen der Passagiere, Mr. D. Rees und Dr. S. Laschen.

Mit freundlichen Grüßen, Sarah Kelly, Globe Travel.«

Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. Rom mit Danny. Hand in Hand, in T-Shirts, verliebt.

Unter den gestärkten Laken in einem Hotelzimmer mit einem Ventilator an der Decke, der die Hitze verteilte. Pasta und Rotwein und riesige, antike Ruinen. Kühle Kirchen und Brunnen. Ich war noch nie in Rom gewesen.

»Von wem ist der Brief, Mummy?«

»Ach, von niemand.«

Warum hatte er es sich so plötzlich anders überlegt? Was hatte ich getan oder nicht getan, daß er Rom mit mir für den Tod in einem ausgebrannten Auto mit einem verstörten Mädchen aufgab? Ich zog den Brief noch einmal heraus. »Wir danken Ihnen für Ihre heutige Anfrage …« Er war vom 8. März 1996

datiert. Das war der Tag, an dem es passierte, an dem er mit Finn wegging. Schmerz schnürte mir die Kehle zu, und ich kämpfte mit den Tränen.

»Kommen wir wieder zu spät in die Schule, Mummy?«

»Was? Nein! Nein, natürlich kommen wir nicht zu spät in die Schule, wir kommen ganz früh. Komm schon.«

»Ich habe einfach da unterschrieben, wo sie gesagt hat.«

»Aber Sally, wie konnten Sie das tun, ohne hinzusehen? Es war ihr Testament, und sie war ein verzweifeltes junges Mädchen.«

»Tut mir leid.« Sally putzte weiter den Herd. Das war alles.

»Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen, Linda, bevor Elsie zurückkommt.«

»Sie hat gesagt, es wäre nichts.« Lindas Augen füllten sich mit Tränen. »Eine Formalität.«

»Haben Sie es nicht gelesen?«

Sie zuckte bloß mit den Achseln und schüttelte den Kopf.

Warum waren sie nicht so neugierig gewesen wie ich?

Michaels Haus war nicht groß, aber auf eine kühle und modische Weise hübsch. Das untere Geschoß war ein einziger offener Raum, und die Fenstertüren in der ordentlichen Küche gingen auf einen gepflasterten Hof mit einem kleinen, konischen Brunnen hinaus. Ich sah mich um: vollgestellte Bücherregale, farbenfrohe Teppiche auf strengem Fußboden, manierierte Schwarzweißzeichnungen an heiteren weißen Wänden, Topfpflanzen, die grün und fleischig aussahen, Fotos von Booten und Steilhängen ohne einen einzigen Menschen darauf.

Wie konnte ein Allgemeinarzt sich einen solchen Stil leisten?

Nun, zumindest wurde er dem Status gerecht, den er bald haben würde. Wir saßen an einem langen Refektoriumstisch und tranken richtigen Kaffee aus Tassen mit zarten Henkeln.

»Sie hatten Glück, mich zu erwischen. Ich habe Notdienst«, sagte er. Dann griff er über den Tisch und nahm meine Hand in seine beiden Hände. Mir fiel auf, daß seine Fingernägel lang und sauber waren.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Sam?«

Als wäre ich eine Patientin. Ich zog meine Hand weg.

»Bedeutet das, daß Sie nicht in Ordnung sind?« fragte er.

»Hören Sie, das ist eine schreckliche Sache, schrecklich für Sie und auch für mich. Wir sollten versuchen, uns gegenseitig da durchzuhelfen.«

»Ich habe Finns Testament gelesen.«

Er zog eine Augenbraue hoch.

»Hat sie es Ihnen gezeigt?« Ich schüttelte den Kopf, und er seufzte.

»Also, geht es darum?«

»Michael, wissen Sie, was in ihrem Testament steht? Sie haben eine Kopie davon.«

Er seufzte.

»Ich weiß, daß ich der Testamentsvollstrecker bin, was immer das bedeutet. Sie hat mich darum gebeten.«

»Meinen Sie damit, daß Sie keine Ahnung haben?«

Er schaute auf seine Uhr.

»Hat sie alles Ihnen hinterlassen?« fragte er mit einem Lächeln.

»Nein. Sie hat alles Ihnen vermacht.«

Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefror. Er stand auf und ging an die Glastür, wandte mir den Rücken zu.

»Nun?« fragte ich.

Er drehte sich um.

»Mir?« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Warum sollte sie das tun?«

»Aber darum geht es nicht, richtig?«

Michaels Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist alles so …«

»So unethisch«, sagte ich. »Zweifelhaft.«

»Was?« Michael blickte auf, als hätte er mich erst jetzt gehört.

»Warum hat sie das getan? Was wollte sie damit bezwecken?«

»Werden Sie es akzeptieren?«

»Was? Das kommt alles so plötzlich.«

Auf einmal hörten wir ein piepsendes Geräusch, und er steckte die Hand in die Jackentasche.

»Tut mir leid, ich muß sofort los«, sagte er. »Ich bin wie vor den Kopf geschlagen, Sam.« Dann lächelte er. »Samstag.« Ich schaute verwirrt.

»Segeln, erinnern Sie sich? Könnte uns guttun. Rückt die Dinge wieder in die richtige Perspektive. Und wir können in Ruhe miteinander reden.«

Das hatte ich vergessen. Segeln war genau das, was ich jetzt noch brauchte.

»Es wird mir guttun«, sagte ich tonlos.

Ich hielt Elsie wie ein kostbares Juwel. Ich hatte Angst, sie mit meiner Liebe zu erdrücken. Ich fühlte mich so stark, so lebendig, so euphorisch vor Trauer und Wut. Blut strömte durch meinen Körper, mein Herz schlug laut. Ich hatte einen völlig klaren Kopf.

»Hat Danny«, fragte ich vorsichtig, »mit dir jemals über Finn gesprochen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Was ist mit Finn?« Ich streichelte Elsies seidiges Haar und fragte mich, welche Geheimnisse wohl in ihrem hübschen Kopf verborgen waren. »Hat sie irgendwas über Danny gesagt?«

»Nein.« Sie rutschte auf meinem Schoß herum. »Danny hat mich oft nach Finn gefragt. «

»Ach.«

Elsie sah mich mit großen, neugierigen Augen an.

»Und Danny hat gesagt, du bist die beste Mummy auf der Welt.«

»Hat er das?«

» Bist du das?«

Nachdem Elsie schlief, wanderte ich durch das Haus, zog Vorhänge auf, zwang mich, unter Betten zu schauen und in Ecken herumzutasten. Am Ende hatte ich vor mir auf dem Küchentisch eine zerdrückte Menagerie aus sechs winzigen Papiertieren: drei kleinen Vögeln, zwei verschiedenen Hunden und etwas, das rätselhaft war. Ich sah sie an, und sie sahen mich an.

27. KAPITEL

Sie hatte seine dunklen Augen und die dichten Augenbrauen, die in der Mitte der Stirn fast aneinanderstießen. Das Haar selbst war heller in der Farbe und feiner, und ihre Haut war anders beschaffen und bereits von Sommersprossen übersät, obwohl es erst Frühling war. Dannys Haut war blaß, aber stets klar. Er nahm immer eine hübsche, karamelfarbene Sonnenbräune an.

Ich konnte mich an den Geruch und die leichte Feuchtigkeit erinnern, wenn er in der Sonne gewesen war.

Ich hatte nie jemanden von Dannys Familie kennengelernt. Er hatte mir gesagt, sie lebten im West Country, sein Vater sei Bauunternehmer, und er habe einen Bruder und eine Schwester.

Das war alles. Ich arbeitete an meinem Buch – es ging jetzt wirklich schnell, es würde in wenigen Wochen fertig sein –, als das Telefon läutete und der Anrufbeantworter sich einschaltete.

»Hallo, Dr. Laschen. Hier spricht … äh … mein Name ist Isabel Hyde, wir kennen uns nicht, aber ich bin Dannys Schwester, und …«

Mir lief ein Schauder über den Rücken. Was in aller Welt konnte sie von mir wollen? Ich nahm den Hörer ab.

»Hallo, hier ist Sam Laschen, ich habe mich hinter dem Anrufbeantworter versteckt.«

Wir tauschten ein paar verlegene Worte, da sie dachte, ich glaubte vielleicht, sie wolle bloß in den Besitz der Habseligkeiten von Danny, die bei mir geblieben waren, kommen, und ich nicht wußte, was sie wollte. Ich sagte, da sei nichts Wertvolles, aber sie könne selbstverständlich alles haben, und sie sagte, das meine sie nicht. Sie sei für ein paar Tage in London und frage sich, ob sie vielleicht mit dem Zug zu mir fahren und mich besuchen könne. Ich wußte nicht, warum –

irrationaler Instinkt vielleicht –, aber ich wollte nicht, daß sie in mein Haus kam. Ich hatte jedenfalls genug von Leuten, die sehen wollten, wo ich wohnte, und ich wußte nicht, welche makabren Motive eine Frau bewegen könnten, die Umgebung zu sehen, in der ihr toter Bruder mit einer Frau zusammengewesen war, die er verlassen hatte, und all das. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, was überhaupt vorging, und deshalb sagte ich, ich würde sie am nächsten Morgen in Stamford am Bahnhof abholen, und wir könnten in ein Lokal gehen.

»Wie erkennen wir uns?« fragte sie.

»Ich erkenne Sie vielleicht. Ich selbst bin groß und habe sehr kurze Haare, und keiner, der in dieser Gegend frei herumlaufen darf, sieht mir auch nur im entferntesten ähnlich.«

Ich weinte fast, als sie aus dem Zug stieg. Ich konnte nicht sprechen. Ich schüttelte ihr bloß die Hand und führte sie in ein Café, das dem Bahnhof gegenüberlag. Da saßen wir und spielten verlegen mit unseren Kaffeetassen.

»Wo kommen Sie her?«

»Im Augenblick wohnen wir in Bristol.«

»In welchem Teil?«

»Kennen Sie Bristol?«

»Eigentlich nicht«, gestand ich.

»Dann hat es nicht viel Sinn, auf Einzelheiten einzugehen, nicht?«

Ich konnte sehen, daß Dannys lockerer Charme eine Familieneigenschaft war.

»Ich habe nichts von Dannys Sachen mitgebracht«, sagte ich.

»Es gibt ein paar Hemden, ein paar Shorts, eine Zahnbürste, einen Rasierapparat, solche Sachen. Er schien nie viel Gepäck zu haben. Ich könnte sie Ihnen schicken, wenn Sie möchten.«

»Nein.«

Ein Schweigen folgte, das ich beenden mußte.

»Es ist interessant für mich, Sie kennenzulernen, Isobel. Und auch unheimlich. Sie sehen ihm so ähnlich. Aber Danny hat nie über seine Familie gesprochen. Vielleicht hat er gedacht, daß ich nicht die Art Frau bin, die man seiner Mutter vorstellt. Er ist auf schreckliche Weise fortgegangen. Und ich bin nicht sicher, was das alles für einen Sinn hatte, auch wenn mir das für Sie alle sehr leid tut.«

Wieder Schweigen; ich fing an, etwas unruhig zu werden. Was sollte ich mit dieser Frau anfangen, die mich mit Dannys Blick anstarrte?

»Ich weiß selbst auch nicht so recht«, sagte sie endlich.

»Vielleicht ist es dumm, aber ich wollte Sie kennenlernen, Sie sehen. Ich wollte das schon seit Ewigkeiten, und ich befürchtete, jetzt würden wir uns vielleicht nie begegnen.«

»Das ist verständlich, unter diesen Umständen. Ich meine, daß wir uns vielleicht nie getroffen hätten.«

»Die Familie ist in einer schrecklichen Verfassung.«

»Das überrascht mich nicht.«

Ich hatte mir nicht gestattet, an Dannys Eltern zu denken.

Isobel hatte in ihre Kaffeetasse gestarrt, aber jetzt hob sie die dunklen Augen mit den schweren Lidern und sah mich an. Ich spürte einen Schauer von Sinnlichkeit und biß mir so fest auf die Zähne, daß es schmerzte.

»Kommen Sie zur Beerdigung?«

»Nein.«

»Das haben wir uns gedacht.«

Mir kam ein schrecklicher Gedanke.

»Sind Sie vielleicht nur gekommen, um mich zu bitten, nicht zu erscheinen?«

»Nein, natürlich nicht. Das dürfen Sie nicht denken.«

Isobel wirkte, als nehme sie allen Mut für einen großen Sprung zusammen.

»Isobel«, sagte ich, »gibt es etwas, das Sie mir sagen möchten, denn falls nicht …«

»Ja, gibt es«, unterbrach sie mich. »Ich kann mich nicht so gut ausdrücken, aber ich wollte Ihnen sagen, wissen Sie, daß Danny vor Ihnen jede Menge Affären, jede Menge Frauen hatte.«

»Also, danke, Isobel, daß sie den ganzen Weg mit dem Zug hierhergekommen sind, um mir das zu sagen.«

»Das meine ich nicht. So war er eben, das wissen Sie, und er hatte immer Erfolg bei Frauen. Aber was ich sagen wollte, ist, daß es bei Ihnen anders war. Sie waren anders für ihn.«

Plötzlich merkte ich, daß ich in Gefahr war, die emotionale Kontrolle über mich zu verlieren.

»Das habe ich auch gedacht, Isobel. Aber so ist es nicht ausgegangen, nicht? Ich nahm das gleiche Ende wie die anderen, verlassen und vergessen.«

»Ja, ich weiß davon, und ich weiß nicht, was ich sagen soll, nur daß ich es nicht glauben konnte. Ich konnte es nicht glauben.

Ich glaube es nicht.«

Ich schob meine Kaffeetasse zur Seite. Ich wollte die Begegnung beenden.

»Nein, aber sehen Sie, es ist passiert, was immer Ihr Instinkt Ihnen sagt. Es war ein freundlicher Impuls zu kommen und es mir zu sagen, aber es nutzt nichts. Was soll ich mit dem anfangen, was Sie sagen? Um ehrlich zu sein, ich versuche gerade, alles hinter mich zu bringen und weiterzuleben.«

Isobel sah bestürzt aus.

»Ja, also, ich wollte Ihnen etwas geben, aber vielleicht möchten Sie es nicht.«

Sie kramte in ihrer Tasche und nahm einige fotokopierte Seiten heraus. Ich konnte sofort erkennen, daß die kühne Handschrift darauf von Danny stammte.

»Was ist das?«

»Danny hat mir ungefähr zweimal im Jahr geschrieben. Das ist eine Kopie seines letzten Briefes an mich. Ich weiß, daß der Bruch für Sie schrecklich gewesen sein muß. Und dann das Sterben. Ich nehme an, es war außerdem eine öffentliche Demütigung.«

»Ja.«

»Ich bin doch nicht taktlos, oder? Ich dachte bloß, dieser Brief könnte vielleicht eine Art Trost sein.«

Ich heuchelte Dankbarkeit, wußte aber eigentlich nicht recht, wie ich reagieren sollte, obwohl ich den Brief nahm, behutsam.

Dann stieg sie wieder in den Zug, und ich winkte kurz einer Frau zu, von der ich wußte, daß ich sie nie wiedersehen würde.

Ich war fast versucht, den fotokopierten Brief ungelesen wegzuwerfen.

Eine Stunde später war ich beim CID der Polizeizentrale von Stamford. Eine Polizistin brachte mir Tee und ließ mich an Chris Angeloglous Schreibtisch Platz nehmen. Ich schaute auf sein Jackett, das über der Rückenlehne seines Stuhls hing, auf das Foto von einer Frau und einem dicklichen Kind, spielte mit den Stiften, und dann erschien Angeloglou selbst. Er legte eine Hand auf meine Schulter, eine sorgfältig geprobte spontane Geste des Trostes.

»Alles in Ordnung, Sam?«

»Ja.«

»Ich fürchte, Rupert ist beschäftigt.«

»Wie gehen die Ermittlungen voran?«

»Nicht schlecht. Die Razzien letzte Woche sind ganz gut gelaufen. Wir haben ein paar interessante Sachen.«

»Über die Morde?«

»Das nicht gerade.«

Ich seufzte.

»Es wird also nicht bald Anklage erhoben. Schauen Sie sich diesen Brief an. Danny hat ihn ein paar Wochen vor seinem Tod an seine Schwester geschrieben.«

Chris nahm den Brief und zog ein Gesicht.

»Keine Sorge, Sie brauchen nur die beiden letzten Seiten zu lesen.«

Er lehnte sich an die Kante seines Schreibtisches und überflog sie.

»Und?« sagte er, als er fertig war.

»Ist das der Brief von jemandem, der im Begriff steht, mit einer anderen Frau durchzubrennen?«

Chris zuckte mit den Achseln.

»Sie haben es gelesen«, sagte ich. »›Ich habe noch nie jemanden wie sie gekannt, ich will keine andere mehr, ich möchte sie heiraten und den Rest meines Lebens mit ihr verbringen, ich liebe ihr Kind, meine einzige Sorge ist, ob sie mich haben will.‹«

»Ja«, sagte Chris unbehaglich.

»Und dann ist da noch etwas.«

Ich reichte ihm das Bestätigungsschreiben des Reisebüros. Mit einem halben Lächeln las er es.

»Brennen Sie mit jemandem durch, wenn Sie so etwas geplant haben?«

Chris lächelte nicht unfreundlich.

»Ich weiß nicht. Vielleicht ja. War Danny ein impulsiver Mensch?«

»Ja, vielleicht …«

»Die Art Mann, die einfach aufsteht und weggeht …«

»Ja, aber das hätte er nicht getan«, sagte ich lahm.

»Sonst noch etwas?« fragte Angeloglou sanft.

»Nein, bloß …« Ich war verzweifelt. »Bloß daß die ganze Sache … Haben Sie darüber nachgedacht?«

»Worüber?«

»Daß so ein junges Mädchen ein Testament schreibt …«

»Woher wissen Sie von dem Testament, Sam? Also gut, sagen Sie es mir nicht, ich will es nicht wissen.«

»Sie schreibt ein Testament, und gleich darauf ist sie tot. Ist das nicht eigenartig?«

Angeloglou dachte ein Weilchen schweigend nach.

»Hat Finn jemals über das Sterben gesprochen?«

»Ja, natürlich.«

»Hat sie je von Selbstmord gesprochen?«

Ich hielt einen Moment inne und schluckte schwer. »Ja.«

»Also«, sagte Chris. »Und überhaupt, woran dachten Sie denn?«

»Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, daß die beiden ermordet worden sein könnten?«

»Um Gottes willen, Sam, von wem?«

»Von jemandem, der durch Finns Tod in den Besitz einer phantastischen Summe kommen wird.«

»Ist das eine ernsthafte Anschuldigung?«

»Zumindest eine ernsthafte Überlegung.«

Chris lachte.

»In Ordnung«, sagte er. »Ich gebe nach. Kann ich diese Papiere behalten?« Ich nickte. »Nur aus Mitleid mit allen, Sie eingeschlossen, werde ich diese kleine Ermittlung so diskret wie möglich durchführen. Aber ich rufe Sie morgen an. Und jetzt, Doktor, gehen Sie nach Hause, nehmen Sie eine Tablette oder einen Drink, oder sehen Sie fern oder alles zusammen.«

Aber er rief nicht am nächsten Tag an. Chris Angeloglou rief mich noch am Abend desselben Tages um sieben Uhr an.

»Ich habe ein paar Nachforschungen über Ihren Verdächtigen angestellt.«

»Ja?«

»Damit das klar ist, Sam. Das noch brennende Auto wurde am neunten um sechs Uhr abends gefunden.«

»Ja.«

»Am achten flog Dr. Michael Daley nach Belfast zu einer Konferenz für Ärzte, die an einem Fonds beteiligt sind. Am neunten hielt er auf dieser Konferenz einen Vortrag und flog am späten Abend nach London zurück. Reicht das?«

»Ja. Das wußte ich eigentlich. Es tut mir leid, Chris. Dumm von mir und all das.«

»Das ist schon in Ordnung. Sam?«

»Ja?«

»Es tut uns leid, daß wir Sie da hineingezogen haben. Wir werden alles tun, was wir können, um Ihnen zu helfen.«

»Danke, Chris.«

»Sie sind die Trauma-Expertin, Sam, aber ich glaube, in Wirklichkeit müssen wir lernen, besser zu ermitteln, und Sie müssen lernen, besser zu trauern.«

»Ja, das stimmt wohl, Chris.«

28. KAPITEL

Vor sechs Jahren hatte sich mein Liebhaber, der Vater meines ungeborenen Kindes, umgebracht. Natürlich hatten mir alle gesagt, ich dürfe mir nicht die Schuld geben, nicht für eine Sekunde. Ich sagte es mir auch selbst, mit meiner Doktorstimme. Er war depressiv. Er hatte es früher schon versucht. Man denkt, man könnte andere retten, aber man kann nur sich selbst retten. Und so weiter.

Vor einer Woche hatte sich mein Liebhaber – der einzige andere Mann, den ich je wirklich geliebt hatte – umgebracht.

Die Ermahnungen der Leute, ich solle mir nicht die Schuld daran geben, klangen immer besorgter. Dannys Beerdigung fand am nächsten Tag statt, aber ich würde nicht daran teilnehmen.

Er war in den Armen einer anderen Frau gestorben, oder? Er hatte mich einfach verlassen. Bei dem Gedanken an Danny und Finn wurde mir ganz heiß. Ich fühlte mich benommen; eine Stimmung aus Erregung und Verzweiflung überkam mich.

Einen Moment lang war mir richtig schlecht vor Eifersucht und hoffnungslosem Verlangen.

»Also, ich gehe jetzt, Sally«, sagte ich ein paar Minuten später.

»Wenn ich wiederkomme, sind Sie schon weg, ich habe deshalb das Geld auf den Kaminsims gelegt. Danke, daß alles immer soviel besser aussieht, wenn Sie hier waren.«

»Gehen Sie nicht zur Arbeit?« Sally schaute auf meine ausgewaschene Bluejeans, die an einem Knie zerrissen war, und meine abgenutzte Lederjacke.

»Ich gehe segeln.«

Sie zog ein Gesicht. Mißbilligung?

»Schön«, sagte sie.

Die beiden Ärzte Finns, die eine, die sie eigentlich beschützen sollte, der andere, der einzige Begünstigte ihres Testaments, hatten einander auf der kurzen Fahrt zum Meer nicht viel zu sagen. Michael schien beunruhigt, und ich schaute aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Als der Wagen langsamer wurde, wandte Michael sich zu mir.

»Sie haben vergessen, Ihren Gummianzug anzuziehen«, sagte er.

Er lag in einer Tragetüte zwischen meinen Füßen.

»Sie haben vergessen, mir zu sagen, daß ich ihn anziehen soll.«

Schweigend fuhren wir weiter. Ich hielt nach dem Meer Ausschau. Der Tag war sehr grau. Der Wagen bog in einen schmalen Pfad zwischen hohen Hecken ein. Ich sah Michael fragend an.

»Ich habe das Boot näher zum Bootshaus gebracht.«

Ich hatte das Gefühl, durch einen Tunnel zu fahren, und war erleichtert, als wir wieder ins Freie kamen. Ich erkannte einige Boote. Als der Wagen hielt, hörte ich sie im Wind klappern. Es gab ein paar hölzerne Hütten mit abblätternder Farbe. Eine davon war verlassen und hatte kein Dach mehr. Weit und breit war niemand zu sehen.

»Sie können sich im Wagen umziehen«, sagte Michael forsch.

»Ich will eine Umkleidekabine«, sagte ich in schmollendem Ton und stieg aus. »Welche ist Ihre?«

»Ich möchte mich eigentlich nicht damit aufhalten, sie aufzusperren. Im Auto wäre es besser, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nein.«

Michael stieg linkisch aus dem Wagen. Er trug bereits seinen Gummianzug, groß und glatt und schwarz.

»Also gut«, sagte er ungnädig. »Dort drüben.«

Er führte mich zu einem verwitterten hölzernen Schuppen mit Doppeltüren aufs Meer und reichte mir seinen Schlüsselbund.

»Die Tür geht vielleicht ein bißchen schwer auf«, sagte er.

»Sie ist seit letztem Frühjahr nicht mehr geöffnet worden.« Er tappte durch das rauhe gelbe Gras und den steinigen Strand entlang zu seinem Boot.

»Bleiben Sie in der Nähe der Tür, sonst treten Sie noch auf etwas Spitzes, oder es fällt etwas auf Sie herunter.«

Ich schaute die Küste entlang. Kein Mensch zu sehen, was nicht verwunderlich war: Der Himmel wies alle Schattierungen von Grau auf, und unangenehme Böen peitschten über das Wasser. Die Wellen hatten weiße Schaumkämme. Ich konnte die Landspitze von da, wo ich stand, kaum sehen, und der Wind auf meinem Gesicht fühlte sich eisig an. Ich steckte den Schlüssel knirschend ins Schloß und konnte ihn nur unter Schwierigkeiten umdrehen; dann stieß ich eine der Türen einen Spaltbreit auf. Innen befand sich ein Durcheinander von Gegenständen. Gelbe und orangefarbene Schwimmwesten hingen an einem großen Haken links an der Wand, zwei Angelruten lehnten an der anderen Wandseite. Mehrere große Nylonsäcke enthielten, wie mein tastender Fuß feststellte, Segel.

Im Hintergrund der Hütte lag ein Surfbrett. Es gab Eimer, Schöpfeimer, Dosen mit Nägeln und Haken und kleine Werkzeuge, die ich nicht kannte, ein paar leere Bierflaschen, eine alte grüne Persenning, ein paar Dosen Farbe, Schmirgelpapier, einen Werkzeugkasten, eine Brechstange, einen Besen. Es roch durchdringend nach Öl, Salz, süßlicher Verwesung und Verfall. Vermutlich lag irgendwo eine tote Ratte.

Ich legte den Gummianzug auf eine rohe Holzbank und fing an, mich auszuziehen, wobei ich in der eisigen, stillen Luft schlotterte. Dann zwängte ich mich in das unangenehme Kleidungsstück. Gnadenlos legte es sich um meine Glieder.

Gott, was machte ich eigentlich hier?

Ich hatte auf dem Weg zur Bank meine Gummischuhe fallen lassen, und so tappte ich vorsichtig durch die Hütte, um sie aufzuheben, wobei ich zu vermeiden versuchte, mit den bloßen Füßen auf Holzsplitter oder Steinchen zu treten, und ging dann behutsam zurück. Als ich wieder auf der Bank saß, rieb ich mir den Schmutz von den Fußsohlen. Etwas – es fühlte sich an wie ein Strohhalm – steckte zwischen meinen Zehen. Ich spreizte sie und zog es heraus. Ein rosa Papierfetzen, gefaltet zu etwas mit vier Beinen, einer Art Kopf und einem komischen kleinen Schwanz. Ich drehte es in den Fingern. Es war ein kleiner Cousin der sechs Papiertierchen auf meinem Küchentisch.

Danny war hier gewesen. Konnte Michael das mitgebracht haben?

Hatte es vielleicht an seinen Kleidern gehangen? »Die Hütte ist seit letztem Frühjahr nicht benutzt worden.« Letztes Frühjahr hatten Danny und ich uns in London gestritten. Danny war hier gewesen. Ich glühte fiebrig. Ich wußte, daß ich klar denken mußte, aber die Gegenstände im Raum veränderten ihre Größe, mir war schwindlig. Mein Magen hob sich, ich spürte, wie sich unter dem Gummianzug jedes Härchen auf meiner Haut aufrichtete. Irgendwo am Rand meines Bewußtseins gab es einen Streifen Klarheit, und ich mußte versuchen, dorthin zu gelangen; aber alles, dessen ich sicher gewesen war, hatte jetzt seine Form verloren. Danny war hier gewesen.

»Denken Sie an Ihre Schwimmweste, Sam.«

Ich wandte mich zur Tür, wo Michaels Silhouette sich vom Grau abhob. Ich schloß die Faust um die kleine Papierfigur. Er kam auf mich zu.

»Lassen Sie mich helfen«, sagte er. Er zog den Reißverschluß an meinem Rücken so ruckartig zu, daß ich nach Luft schnappte.

Seine massive physische Präsenz war mir sehr bewußt. »Und jetzt die Stiefel.« Er kniete vor mir nieder. Ich setzte mich hin, und er nahm nacheinander meine Füße und schob sie sanft in die Stiefel. Mit einem Lächeln sah er auf. »Der Schuh paßt, Aschenputtel«, sagte er. Danny war hier gewesen. Er nahm eine gelbe Schwimmweste vom Haken und zog sie mir über die Schultern. »Und jetzt noch die Handschuhe.« Ich schaute auf meine geschlossene Faust nieder und nahm die Handschuhe in die linke Hand.

»Ich ziehe sie gleich an.«

»Fein«, sagte er. »Dann sind wir soweit.«

Einen Arm leicht auf meinen Rücken gelegt, führte er mich zum Boot hinunter, und wir kletterten hinein. Er sah mich an.

Da uns der Wind ins Gesicht blies, konnte ich seinen Ausdruck nicht erkennen.

»So, jetzt wollen wir uns ein bißchen amüsieren.«

Ich war schon einmal hier gewesen. Das nasse Tau rieb mir die Handfläche wund, als ich es strammzog; das Boot hob sich steil in den Wind, die Segel knatterten, eisgraues Wasser schwappte über die Seiten. Seevögel stießen eigenartige Schreie aus, als wir aufs offene Meer hinausrauschten. Bei den kurzen Kommandos

»Fertig-zum-Halsen« warf ich mich verzweifelt von einer Seite auf die andere. Dann folgten schweigende Minuten, in denen wir uns gegen das wilde Krängen des Rumpfes zurücklehnten.

Danny war in dem Bootshaus gewesen. Ich versuchte, mir eine harmlose Erklärung dafür auszudenken. Konnte Danny auf einem Spaziergang mit Michael dort gewesen sein? Die Tür war seit dem letzten Frühjahr nicht geöffnet worden. Das hatte Michael gesagt. Ich hielt die kleine Papierfigur noch immer in der eiskalten Faust.

Rasch entfernten wir uns vom Ufer, und Gischt flog mir ins Gesicht, so daß er nicht merken würde, ob ich weinte. Ich merkte es selbst nicht. Bilder gingen mir durch den Kopf: Finn bei der Ankunft in meinem Haus, so weiß und stumm. Danny, der sie über den Tisch anstarrte – und der Ausdruck damals, an den ich mich lebhaft erinnerte, war kein Verlangen, sondern Mißmut. Danny mit Elsie, die er auf seinen Schoß hob; wenn er den Kopf zu ihr senkte, vermischte sich sein schwarzes Haar mit ihren blonden Strähnen. Ich versuchte, Gedankenfetzen festzuhalten. Danny war dort gewesen. Danny war nicht mit Finn durchgebrannt. Danny hatte nicht Selbstmord begangen.

»Sie sind so still, Sam. Kommen Sie allmählich klar?«

»Vielleicht.«

In diesem Augenblick erfaßte uns ein Windstoß, und das Boot legte sich fast waagerecht. Ich verlagerte mein ganzes Gewicht nach außen.

»So, jetzt sind wir fast um die Landspitze herum.« Michael hörte sich vollkommen ruhig an. »Dann brauchen wir nicht mehr so hart am Wind zu segeln. Fertig zum …«

Und mit einer sauberen Bewegung des Baums und knatternden Segeln wendeten wir und waren auf dem offenen Meer. Der Wind kam jetzt stetig von einer Seite. Ich blickte zurück und konnte das Ufer nicht mehr sehen. Es war in dunstigem Grau verschwunden.

»Das war ganz gut.«

»Danke.«

»Fühlen Sie sich allmählich besser, Sam?«

Ich versuchte ein Achselzucken und murmelte etwas Unbestimmtes.

»Was war das?«

»Mir ist nicht übel«, sagte ich. Er sah mich genau an. Er wandte sich ab. Er hielt jetzt Pinne und Hauptsegel mit einer Hand und fummelte mit der anderen an etwas herum. Ich sah mich um. Dann war er dicht neben mir.

»Was haben Sie gefunden, Sam?«

Ich hatte ein kaltes, metallisches Gefühl in der Magengrube.

»Nichts«, sagte ich.

Sehr schnell, ehe ich mich bewegen konnte, packte er mein rechtes Handgelenk und öffnete meine Finger. Er war stark. Er nahm mir das kleine Papiertier ab.

»Vermutlich«, sagte er, »hat es irgendwo in Ihren Kleidern gehangen.«

»Ja«, sagte ich.

»Oder in meinen. «

»Ja«, sagte ich.

Mit einem unheimlichen kleinen Kichern schüttelte er den Kopf.

»Leider nicht«, sagte er. »Ziehen Sie Ihre Leine fester an, Sam, wir kreuzen jetzt ein bißchen.«

Der Wind wurde wieder stärker; er biß in meine linke Wange.

Michael zog die Pinne an, so daß sich das Boot aus dem Wind drehte, und ließ das Hauptsegel flattern. Wir hatten die Landspitze sicher umrundet und fuhren jetzt wieder auf die Küste zu, auf die scharfen, spitzen Felsnadeln, die er mir letztes Mal gezeigt hatte. Ich drehte mich um und betrachtete ihn aus der Nähe. Sein seltsames Gesicht sah in Wind und Gischt am besten aus. Der Nebel in meinem Kopf verzog sich langsam.

Finn war ermordet worden. Danny war ermordet worden, und ich würde ermordet werden. Ich mußte sprechen.

»Sie haben Finn getötet.«

Michael sah mich mit einem Lächeln an, sagte aber nichts.

Seine Pupillen waren geweitet: Hinter der gefaßten Fassade war er erregt. Was hatte er mir einmal über die Liebe zur Gefahr gesagt?

»Jetzt die Leine locker lassen, Sam.«

Gehorsam gab ich Seil nach, und das kleine Segel füllte sich mit Wind. Das Boot lag wieder gerade, der Bug hob sich; unter uns rauschte Wasser.

»Ist Danny zufällig dahintergekommen? War es das? Haben Sie Danny deshalb umgebracht und den Selbstmord vorgetäuscht? Und den Brief, diesen schrecklichen Brief.«

Michael zuckte knapp mit den Schultern.

»Leider war ein gewisser Zwang nötig, um ihn zustande zu bringen.«

Mit der rechten Hand bildete er die Form einer Pistole und legte den Finger an seine Schläfe. »Aber Sie sehen nicht das ganze Bild, Sam.«

»Und dann …« Mir war alles egal. Mein eigenes Leben war mir egal. Ich mußte es einfach wissen. »Ich nehme an, Sie und Finn haben zusammen Finns Eltern umgebracht.« Die Belladonna trug uns auf die gefährlichen Gegenströmungen zu; ich sah, wie er mit dem berechnenden Blick des Seglers die Entfernung abschätzte. Ich schaute ins Wasser. Tod durch Ertrinken.

»So ungefähr«, antwortete er beiläufig und lächelte wieder, als sei ihm ein Witz eingefallen. Seine Zähne und seine grauen Augen glänzten, sein Haar wurde von Wind und Gischt nach hinten gepeitscht. Er sah erregt, ziemlich schön und erschreckend aus.

Und dann dachte ich an Elsie. Ich erinnerte mich, wie ihr Körper sich an meinem anschmiegte. Ich konnte fast ihre kräftigen kleinen Arme um meinen Hals fühlen. Ich erinnerte mich, wie sie am Morgen ausgesehen hatte, als ich sie vor der Schule absetzte, mit ihren roten Strumpfhosen, dem Tupfenkleid, den kräftigen Beinen und den Sommersprossen.

Der Glanz auf ihrem Haar. Ihre Konzentration, die rosa Zungenspitze, die aus ihrem Mund lugte, wenn sie malte. Ich würde nicht hier draußen sterben und meine Tochter als Waise zurücklassen. Gelassen hielt ich das Seil zwischen den Fingern.

»Warum haben Sie Finn dann umgebracht?«

Da lachte er; er warf tatsächlich den Kopf zurück und lachte schallend, als hätte ich einen glänzenden Witz gemacht.

»Wegen des Geldes natürlich. Aber Sie sehen nicht, wie schön das Gesamtbild ist.«

Da richtete sich das Boot auf einmal wieder auf, als hätte der Wind plötzlich die Richtung gewechselt. Die Segel flatterten, und der Baum schwang hin und her. Ohne daß Michael etwas sagte, zog ich meine Leine straff, während er das Hauptsegel einholte und das Boot auf den wilden Strudel zuraste. Ich konnte ihn nun sehen: einen glänzenden Fleck, an dem das Wasser aussah, als werde es eingesogen. Die Felsen kamen jetzt näher, ich konnte die Spalten und Zacken klar erkennen. Der Wind wurde plötzlich heftiger, und ich konnte nur schreien.

»Needle Point?« fragte ich.

Er nickte.

»Sie werden mich umbringen.«

Aber ich sprach zu leise, er konnte mich nicht hören, und außerdem war er mit dem Segeln beschäftigt. Ich schaute auf den Boden des Bootes. Ein Schöpfeimer. Eine lange Metallstange. Ein nicht benutztes Segel war im Bug verstaut.

Eine Rolle Seil. Ein Paar Ruder. Das Boot war jetzt wie ein durchgehendes Pferd, tauchte die Nase wieder und wieder ins Meer. Plötzlich war Stille, und ich spürte ringsum überhaupt keinen Wind mehr, obwohl ich das aufgewühlte Wasser sehen konnte. Die Segel hingen schlaff herunter. Wir waren im Auge des Sturms. Ich schaute zu Michael hinüber, der mich ansah. Er schüttelte wie enttäuscht den Kopf.

»Es ist so entnervend und unnötig«, sagte er. »Wie die verdammte Putzfrau.«

»Wie Mrs. Ferrer? Sie …«

Michael wandte sich ab. Er schaute von einer Seite zur anderen, schätzte, woher der Wind kommen würde. Er sagte nichts, und wir saßen für einen stillen Moment nebeneinander –

ich und der Mann, der mich töten würde. Einen Augenblick schien Michael fast verlegen über die peinliche Unterbrechung.

Dann erfaßte der Wind uns voll von hinten, und das Boot tat einen Satz. Die Segel knatterten so laut wie eine abgefeuerte Kanone, und der Bug bäumte sich so hoch aus dem Wasser auf, daß ich zu Boden geschleudert wurde. Einen Moment lang dachte ich, das Boot würde nach hinten umkippen. Mit den Beinen strampelnd blickte ich auf und sah, daß Michaels Gesicht auf mich hinunterschaute. Hübsch und höflich zeichnete es sich vor dem grauen Himmel ab.

»Tut mir leid, Sam«, sagte er und neigte sich über mich, als wollte er sich verbeugen. Er hatte die Stange in der Hand.

Ich rappelte mich hoch, den Schöpfeimer in der Hand, und stürzte mich auf den Baum. Er flog auf Michael zu, aber der duckte sich. Ich warf ihm den Eimer an den Kopf und trat wild nach ihm. Er knurrte und ließ die Pinne, das Hauptsegel und die Stange los. Wasser strömte jetzt ins Boot, und der Baum krachte von einer Seite zur anderen. Michael stürzte sich auf mich, packte mich um die Taille und riß mich wieder auf den Boden des Bootes. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt; ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm über die Stirn. Unter Schweiß und Gischt sah ich eine Spur von Bartstoppeln. Ich zog das Knie unter seinen angespannten Rumpf und stieß es ihm kräftig zwischen die Beine. Dann, als er sich krampfhaft zusammenkrümmte, biß ich in das nächstliegende Stück Fleisch. Seine Nase. Er schrie und boxte gegen mein Kinn, meinen Hals, meine Brüste, den gewölbten Gummianzug über meinem Bauch. Er drückte mir einen Finger ins Auge, so daß ich einen Moment lang die Welt wie einen roten Ball aus Schmerz wahrnahm. Ich spürte seinen Atem, und ich spürte die Schläge, die auf meinen Körper, mein Kinn, meine Rippen niederprasselten.

Michael richtete sich ein wenig auf, die Knie auf meinen ausgestreckten Armen, und legte die Hände um meinen Hals.

Ich spuckte ihn an, spuckte mein Blut in sein verdammtes, grimassierendes Gesicht. So war das also. Ich sollte erwürgt und über Bord geworfen werden wie ein lebender Köder. Er begann zuzudrücken, langsam und konzentriert. Hinter seinem Kopf sah ich die riesige Felsformation von Needle Point über uns, die den Himmel verdeckte. Ich stemmte mich gegen Michaels Körper.

Ich mußte leben. Ich mußte dringend leben. Ich dachte, wenn ich laut Elsies Namen aussprechen könnte, würde ich leben. Ich öffnete den Mund und spürte, wie meine Zunge herausglitt, wie meine Augen rollten. Wenn ich Elsies Namen sagen konnte, würde ich trotzdem leben, obwohl meine Welt schwarz geworden war.

Der Bootsrumpf tat einen Satz, und ich hörte das krachende Geräusch von Holz auf Fels. Michael wurde von mir geschleudert. Schwarze Wellen; überall schwarze Felsen. Ich erhob mich auf die Knie, packte die Stange, und als Michael sich in dem auseinanderbrechenden Boot aufrichtete, stieß ich sie ihm mit aller Kraft in den Körper und sah ihn fallen. Das war noch nicht genug. Verzweifelt sah ich mich um. Die Pinne. Wie hatte Michael mich noch davor gewarnt? Ich riß sie mit einem Ruck an mich. Der lose Baum tat einen Satz und traf ihn mit voller Wucht. Sein Körper stürzte ins Meer.

»Elsie«, rief ich, »Elsie, ich komme nach Hause!« Dann krachte das Boot auf die Felsen, und das Wasser schlug über mir zusammen.

29. KAPITEL

Zuerst nahm ich unklar Bewegung wahr. Ich wußte, daß ich fort gewesen war, irgendwo in zeitloser Dunkelheit. Meine Augenlider flatterten. Ich sah ein Gesicht. Erleichtert sank ich wieder in die Schwärze zurück. Bei späteren Versuchen –

wieviel später, wußte ich nicht – konnte ich das Licht besser aushalten, und die Formen, die sich um mein Bett herum bewegten, wurden deutlicher, aber ich konnte noch immer nichts erkennen. Ich fing an, ihnen imaginäre Gesichter zu geben.

Danny, Finn, mein Vater, Michael. Das war alles zu anstrengend.

Eines Tages schien das Licht grauer und erträglicher. Ich hörte Schritte und spürte einen leichten Stoß an meinem Bett. Ich schlug die Augen auf, und plötzlich sah ich alles klar. Ich war zurück, und Geoff Marsh beugte sich mit fragendem Blick über mich.

»Verdammt«, sagte ich.

»Ja«, sagte er und schaute unbehaglich zur Tür. »Ihre Mutter ist nach unten in die Cafeteria gegangen. Ich habe gesagt, ich würde ein paar Minuten bleiben. Ich bin nur für einen Augenblick aus dem Büro herübergekommen. Vielleicht sollte ich einen Arzt holen. Wie geht es Ihnen, Sam?«

Ich murmelte etwas.

»Wie bitte?«

»Geht schon.«

Geoff zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.

Plötzlich lächelte er. Lachte fast. Verwirrt verzog ich das Gesicht. Selbst diese kleine Bewegung ließ mich vor Schmerz zusammenzucken.

»Ich dachte an unser letztes Treffen«, sagte er. »Erinnern Sie sich daran?«

Langsam und unter Schmerzen zuckte ich mit den Schultern.

»Sie waren einverstanden, die Sache diskret zu behandeln.

Publicity zu vermeiden.«

Sprechen erschien mir zu anstrengend.

»Wenigstens interessieren die Medien sich jetzt nicht mehr für posttraumatischen Streß«, fuhr Geoff jovial fort. »Bootsunfälle, wunderbare Rettungen. Ich denke, die Station ist jetzt sicher aus dem Rampenlicht heraus.«

Ich nahm alle Kraft zusammen und faßte Geoff am Ärmel.

»Michael.«

»Was?«

»Daley. Wo?« brachte ich hervor. »Wo ist Michael Daley?«

Plötzlich sah Geoff ängstlich und abwehrend aus. Ich packte seinen Ärmel fester.

»Ist er hier? Sie müssen es mir sagen.«

»Sie haben es Ihnen nicht gesagt? Sie waren noch nicht richtig bei Bewußtsein.«

»Was?«

»Ich glaube, Sie sollten mit einem Arzt sprechen.«

» Was? «

Jetzt schrie ich.

»Schon gut, Sam«, zischte Geoff. »Um Gottes willen, machen Sie keine Szene. Ich werde es Ihnen sagen. Daley ist tot. Er ist ertrunken. Sie haben seine Leiche erst gestern gefunden.

Erstaunlich, daß irgend jemand das überlebt hat. Ich weiß nicht, wie Sie an Land gekommen sind. Und dann hat es Stunden gedauert, bis Sie gefunden wurden. Nach dem Schock und der Unterkühlung können Sie von Glück sagen, daß Sie noch leben.« Er versuchte, sich mir zu entziehen. »Könnten Sie mich jetzt loslassen?«

»Baird. Holen Sie mir Baird.«

»Wer ist Baird?«

»Detective. Polizei. Stamford.«

»Ich glaube, ich sollte zuerst einen Arzt holen. Und Ihre Mutter ist seit Tagen hier.«

Ich war fast am Ende meiner Kräfte. Ich versuchte zu schreien, aber ich brachte nur ein flüsterndes Krächzen zustande.

»Baird. Sofort.«

Ich erwachte von einem Gemurmel. Ich öffnete die Augen.

Rupert Baird sprach zu einem Mann mittleren Alters in einem Nadelstreifenanzug. Als er merkte, daß ich wach war, kam der Mann zu mir und setzte sich auf den Bettrand. Er lächelte mich fast verschmitzt an.

»Hallo, ich bin Frank Greenberg. Ich hatte mich gefreut, Sie bei Ihrer Ankunft kennenzulernen. So hatte ich mir das allerdings nicht vorgestellt.«

Ich mußte fast lachen, und dabei merkte ich, daß ich jetzt ein wenig mehr Kraft hatte, beweglicher war.

»Tut mir leid, daß es so dramatisch ausgefallen ist«, sagte ich.

»Treten Sie neue Arbeitsstellen immer so an?«

»Ich wußte ja gar nicht, daß ich sie angetreten habe. «

»O ja, tatsächlich wird Ihre Trauma-Station gleich hier den Gang hinunter sein. Wir werden Sie in ein oder zwei Tagen hinfahren, damit Sie einen Blick darauf werfen können, wenn Sie weiterhin solche Fortschritte machen.«

»Ich glaube, es geht mir besser.«

»Gut. Es überrascht Sie vielleicht zu hören, daß Sie wirklich in einer sehr ernsten Verfassung waren, als Sie gebracht wurden.«

»Welche Symptome?«

»Blutdruck ganz unten. Offensichtliche Anzeichen von peripherer Vasokonstriktion. Es war eine Mixtur aus Unterkühlung und Schocksymptomen. Sie hatten sehr großes Glück. Wie Sie sehen, standen Sie am Rand eines akuten Kreislaufzusammenbruchs.«

»Wie bin ich gefunden worden?«

»Ein Mann ging mit seinem Hund und seinem Handy am Strand spazieren.«

Baird trat vor.

»Kann ich kurz mit ihr sprechen?« fragte er.

Dr. Greenberg wandte sich zu mir.

»In Ordnung?«

»Ja.«

»Nicht länger als fünf Minuten.«

Ich nickte. Dr. Greenberg streckte die Hand aus.

»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Dr. Laschen«, sagte er. »Ich sehe Sie morgen früh wieder.«

Baird kam näher und sah sich verlegen nach einer Sitzgelegenheit um. Der Plastikstuhl mit dem Schalensitz stand in der entfernten Ecke des Zimmers. Er überlegte, ob er sich auf den Bettrand setzen sollte, den Dr. Greenberg verlassen hatte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte ich, und er nahm unbequem auf der äußersten Kante Platz. Er sah elend aus.

»Ich bin froh, daß Sie in Ordnung sind, Sam. Das ist ein schlimmer Fall, nicht?« Er legte ungeschickt seine rechte Hand auf meine. »Irgendwann haben wir vielleicht eine oder zwei Routinefragen, aber jetzt brauchen wir nicht …«

»Es war Michael.«

»Was meinen Sie?«

»Ich war im Bootshaus, und auf dem Fußboden fand ich eines von diesen kleinen Papiertierchen, die Danny immer bastelte.«

Baird stieß einen resignierten Seufzer aus und versuchte, mitfühlend auszusehen.

»Ja, nun, das allein beweist nicht …«