»Das ist absolut unfair«, protestierte ich. »Sie wollte das alles gar nicht. Und sie ist krank.«

Der Mann schien mir gar nicht zuzuhören. Er hatte sich dem Fernseher zugewandt und starrte auf den Bildschirm.

»Ich habe gerade gesagt, dass ich das absolut unfair finde.«

»Ihre Freundin sollte aufpassen, von wem sie sich Geld leiht«, antwortete er.

»Sie hat es sich nicht geliehen. Sie ist zu einem Pokerspiel verleitet worden.«

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Nächste Woche sind es siebzehn, dann achtzehn. Aber …« Mit einem erneuten Achselzucken blickte er wieder auf seine Zeitschrift hinunter.

»Was ist, wenn sie nicht zahlen kann?«, fragte ich. »Wenn jemand nicht zahlen kann?«

Der fette Mann lächelte. Er hatte oben eine Zahnlücke. »Sie zahlen alle«, antwortete er.

Ich sah erst ihn an und dann den Alten, ließ den Blick über die Gegenstände in den Regalen schweifen. Alte Stereoanlagen, ein Schlagzeug, Schuhe, eine Teekanne mit passendem Milchkrug, ein Hometrainer, diverse Armbanduhren, ein Reisewecker, eine große, unhandliche schwarze Kamera.

»Heute ist Donnerstag«, sagte ich. »Ich bringe das Geld am Dienstagabend, um kurz vor sechs.«

»Am Dienstag sind es schon siebzehntausend.«

»Dann komme ich am Montag. Kann ich mit Scheck bezahlen?«

»Bei einem Scheck verlangen wir eine zusätzliche Gebühr«, antwortete er.

»Wie viel?«

»Dreißig Prozent.«

»Ich bezahle bar.«

Als ich den Laden verließ, ertönte wieder die Glocke.

31

Es waren fast elftausend Pfund auf meinem besonderen Sparkonto bei der Bank. Ich hatte sechs Jahre gebraucht, um so viel anzusammeln – mein Grundstock für ein Haus. Na ja, wahrscheinlich würde es vorerst nur für eine kleine Einzimmerwohnung am Stadtrand reichen, aber eines Tages würde ich in einem eigenen Haus mit Garten wohnen. Mit Kräutern und Blumen und einem schönen Obstbaum. Und vielleicht sogar einer Katze. Holly hatte sich ihr Haus nur leisten können, weil sie zu zweit waren und ihre Mutter ihr die Hälfte der Anzahlung geliehen hatte. Als wir mit unserer Firma anfingen, träumte ich davon, so viel zu verdienen, dass ich das Geld schneller zusammenbekommen würde, aber natürlich war es nicht so gelaufen.

Ich schob die Gedanken an mein Traumhaus und mein Traum-leben beiseite. Ich besaß elftausend, aber ich brauchte noch weitere fünf, und ich hatte keine Ahnung, wo ich die auftreiben sollte, noch dazu bis Montag. Ich hatte einen Dispokredit von fünfhundert Pfund, den konnte ich bestimmt in Anspruch nehmen. Aber fünftausend?

Am Spätnachmittag saß ich an meinem Schreibtisch und überlegte. Bei KS Associates hatten wir einen Dispokredit von dreißigtausend Pfund und waren im Moment erst bei neunzehn-tausendvierhundert angekommen. Das hieß, ich konnte mir das Geld morgen früh auszahlen lassen und hatte das Limit trotzdem noch nicht erreicht. Ich nahm unsere Firmenscheckkarte aus der Schublade und steckte sie in meine Tasche. Aber dann blickte ich mich im Büro um, betrachtete Lola und Trish und all die anderen, die mir vertrauten – die glaubten, bei mir so sicher zu sein wie in einem Haus –, und legte die Karte zurück in die Schublade. Ich wusste, dass ich sonst alles aufs Spiel gesetzt hätte, wofür wir so hart gearbeitet hatten.

»Du kommst doch Weihnachten mit zu meinen Eltern, oder?«

Es war keine wirkliche Frage, eher eine Feststellung, und er sagte es ganz beiläufig, während ich mir gerade eine Gabel voll Reis in den Mund schob. Ich war plötzlich erfüllt von einem Gefühl des Glücks über die Stabilität dieser Beziehung und die Herzlichkeit, auf der sie basierte. Ich legte meine Gabel weg.

»Sehr gerne«, antwortete ich und bemühte mich dabei, meine Rührung nicht allzu sehr zu zeigen. »Wenn du mich wirklich dabeihaben willst.«

»Natürlich will ich das«, antwortete er. »Außerdem möchten dich meine Eltern kennen lernen.«

»Wirklich?«, fragte ich strahlend. »Ich würde sie auch sehr gerne kennen lernen.«

Wir grinsten uns an, bevor wir uns wieder dem Essen zuwandten. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich mich wieder so richtig auf Weihnachten freute. Meistens war ich zusammen mit meinen Eltern zu meiner Schwester nach Devon gefahren. Sie war verheiratet, hatte mittlerweile zwei kleine Kinder und eine Katze und wohnte in einem kleinen Haus am Ende der Welt, umgeben von Wiesen, das Meer in Sichtweite. Ich fühlte mich dort immer ein bisschen wie eine Außenseiterin – die, die jedes Jahr als Letzte und allein eintraf – und spielte zwei Tage lang die brave Tochter und fröhliche Tante, ehe ich wieder nach London flüchtete. Letztes Jahr war ich bei Holly und Charlie gewesen und bis fünf Uhr morgens aufgeblieben, weil Holly, schon ziemlich betrunken, unbedingt noch Scharade spielen wollte. Ich sehe sie noch genau vor mir, wie sie mit ihren hohen Schuhen und ihrem schief sitzenden Papierhut auf einem Tisch stand und hilflos kicherte. Dieses Jahr aber war es anders. Todd und ich hatten gemeinsame Pläne. Wir wollten zusammen einen Weihnachtsbaum besorgen, an Neujahr wegfahren, vielleicht sogar gemeinsame Entscheidungen treffen. Ich blickte dem kommenden Jahr voller Zuversicht entgegen.

Dann musste ich wieder an Holly denken. Ihr Weihnachten würde dieses Jahr ziemlich seltsam ausfallen. Ich hatte mit Charlie darüber gesprochen, und er sagte mir, dass Hollys Mutter nach der Entlassung ihrer Tochter noch einige Zeit bleiben wolle, bis sie sich zu Hause wieder einigermaßen zurechtfand. Seine Mutter würde ebenfalls für ein paar Tage kommen. Naomi hatte angeboten, das Weihnachtsessen für sie zu kochen. Arme Holly, dachte ich. Während sie apathisch in ihrem Krankenbett lag, diskutierten rundherum alle über sie und schmiedeten über ihren Kopf hinweg Pläne.

Ich hatte Holly immer für sehr mutig gehalten, für die mutigste Person, die ich kannte, aber nun peinigte sie Angst. Ich fragte mich, ob sie sich mehr vor dem Chaos in ihrem Inneren fürchtete – all den seltsamen, quälenden Dämonen, die sie immer für einen Teil ihrer Persönlichkeit gehalten hatte, nun aber als hässliche Eindringlinge empfand – oder mehr vor der Realität, in die sie bald wieder zurückkehren musste. Wahrscheinlich hatte sie vor beidem Angst, dem Innen und dem Außen, denn sie konnte beiden Welten nicht entkommen. Sie fand selbst im Schlaf keine Ruhe, weil Alpträume sie quälten. Ich hatte noch nie für einen Menschen so viel Mitleid empfunden wie nun für Holly und mich auch noch nie für jemanden so verantwortlich gefühlt. Es kam mir vor, als hätten wir die Grenzen einer normalen Freundschaft überschritten, sodass sie für mich inzwischen eher so etwas wie eine Tochter, Schwester oder Mutter war, eigentlich alles in einer Person. Die Verantwortung für sie lastete so schwer auf mir, dass ich sogar an sie dachte und mir ihretwegen Sorgen machte, wenn ich mit Todd zusammen war. Und Pläne schmiedete. Pläne wie meinen heutigen, von dem ich nicht einmal Todd erzählte, weil ich wusste, dass er ihn dumm finden würde.

»Was ist los?«, fragte er. »Du schaust so sorgenvoll.«

»Wirklich? Ich weiß gar nicht, warum.«

»Woran hast du gerade gedacht?«

»Ach, nichts.«

»Meg, ich bin nicht blind. Sag es mir.«

»Ich glaube, ich sollte es dir lieber nicht erzählen, weil es sich dabei um eine Privatangelegenheit von Holly handelt.«

»Oh. Holly. Das hätte ich mir denken können.«

Der Rest des Abends verlief etwas kühl. Als wir schließlich nebeneinander im Bett lagen, berichtete ich ihm doch noch von Hollys Schulden, meinem Ausflug in den Golfklub und meinem Besuch bei den Cowden Brothers.

»Weißt du, was ich finde?«

»Du findest, dass ich ein unglaublicher Trottel bin.«

»Ich finde, dass du die liebste, loyalste und großzügigste Freundin bist, die die Welt je gesehen hat.«

»Oh.« Ich spürte, dass ich rot wurde, auch wenn man das im Dunkeln natürlich nicht sah.

»Hast du dir das wirklich gut überlegt?«

»Ich glaube schon.«

»Weiß Holly es überhaupt zu schätzen?«

»Ich werde ihr erst mal nichts davon sagen. Ich möchte einfach, dass sie keine Angst haben muss, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt.«

»Dann möchtest du also nicht einmal einen Dank dafür. Das ist definitiv nicht normal.«

»Diese Dinge spielen inzwischen keine Rolle mehr«, sagte ich und wusste in dem Moment, dass das stimmte. »Es ist eher eine Frage von Leben oder Tod, Wahnsinn oder Nicht-Wahnsinn. Ich habe das Gefühl, mir bleibt keine andere Wahl.«

Einen Moment lang schwiegen wir beide. Er streichelte mir geistesabwesend übers Haar.

»Was denkst du?«

»Ich denke, du hättest schon eher mit mir darüber reden sollen.«

»Das wollte ich, aber es war eigentlich Hollys Geheimnis, nicht meines.«

»Du hättest da nicht allein hinfahren dürfen.«

»Ich hatte Lola dabei.«

»Na großartig.« Er kannte Lola.

»Es gab ja zum Glück keine Probleme.«

»Und du willst das wirklich durchziehen?«

»Ja.«

»Ich könnte viertausend beisteuern. Das ist alles, was ich habe.

Sogar schon ein bisschen mehr, als ich habe.«

»Nein!«, sagte ich. »Nein, nein und noch mal nein. Das wäre nicht richtig. Du kennst Holly doch kaum. Ihr seid euch nur ein einziges Mal begegnet, und da war sie ziemlich grob und unhöflich zu dir. Wenn ich geahnt hätte, dass du mir Geld anbieten würdest, hätte ich dir nichts davon erzählt. Jetzt fühle ich mich ganz schrecklich.«

»Ich möchte dir aber helfen.«

»Nein.«

»Meg, ich möchte. Mein Entschluss steht fest.«

»Aber das geht nicht – ich kann kein Geld von dir annehmen.«

»Warum nicht?«

»Ich kann einfach nicht.«

»Dann betrachte es doch einfach als Kredit.«

»Aber …«

»Aber ohne den wöchentlichen Zins.«

»Todd.«

»Was?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Musst du unbedingt etwas sagen?«

Die restlichen tausend Pfund lieh ich mir von Trish und einer alten Schulfreundin, die in der City arbeitete, in Camden ein großes Haus besaß und für jedes Paar Schuhe, das sie erstand, fünfhundert Pfund ausgab. Ich erklärte ihnen, dass ich gerade ein kleines Liquiditätsproblem hätte und ihnen das Geld gleich nach Weihnachten zurückzahlen würde. Alle Beteiligten waren ein wenig verlegen.

*

Am Montagmorgen war mir vor Nervosität richtig flau im Magen. Ich versuchte, ganz normal meine Arbeit zu machen, konnte mich aber auf nichts konzentrieren. Ich brauchte eine Stunde, um ein paar routinemäßige E-Mails zu beantworten und sah dann im Schneckentempo die Post durch. In der Mittagspause ging ich zu meiner Bank und hob elftausendfünfhundert Pfund ab. Damit hatte ich mein normales Konto um vierhundert-sechs Pfund überzogen, und auf meinem Sparkonto verblieb mir noch eine Summe von 1,56 Pfund. Das Gefühl, das ich empfand, während ich die Banknotenbündel in eine Plastiktüte und dann in meine Schultertasche steckte, hatte fast etwas von einem kleinen Schwips: Es war eine Mischung aus heroischer Selbst-aufopferung, Traurigkeit, Wut und einer seltsamen Euphorie.

Ich war es nicht gewohnt, solche wilden, dramatischen Dinge zu tun. Es kam mir vor, als wäre ich in die Haut eines anderen Menschen geschlüpft.

Ich traf mich mit Todd vor seinem Büro. Er schlich wie ein Ganove zur Tür heraus und spähte erst einmal übertrieben nach rechts und links. Dabei hielt er eine abgewetzte Aktenmappe an die Brust gepresst, die ich noch nie gesehen hatte.

»Hallo«, begrüßte er mich fast flüsternd, musste dann aber über sich selbst grinsen.

»Hast du Hunger? Sollen wir erst irgendwo einen Happen essen?«

»Was? Mit diesem ganzen Bargeld in der Tasche? Lieber Himmel, Meg, lass uns die Sache ganz schnell hinter uns bringen, bevor wir das Geld verlieren oder überfallen werden.«

»Geht es dir nicht gut?«

»Ich fühle mich ein bisschen komisch. Als würden wir gleich eine Bank ausrauben oder so was Ähnliches.«

»Schön wär’s. In Wirklichkeit sind wir diejenigen, die ausge-raubt werden, oder hast du das vergessen?«

»Wo steht dein Auto?«

»Gleich um die Ecke.«

»Dann nichts wie los.«

»Todd.«

»Was?«

»Danke.«

»Bedank dich erst, wenn wir es geschafft haben. Jetzt aber los.«

Diesmal war nur der fette Mann da, aber im hinteren Teil des Ladens hörte man Geräusche. Er sperrte die Tür ab und drehte das Schild auf »Geschlossen«. Dann trat er wieder hinter die Ladentheke, und ich überreichte ihm meine Plastiktüte und die beiden Umschläge von Todd. Er befeuchtete mit der Zunge seinen Zeigefinger und begann routiniert die Banknoten durchzublättern. Wir sahen ihm beide fasziniert zu. Während seine zierlichen Hände das Geld zählten, leckte er sich ständig über die Lippen.

»Gut«, sagte er schließlich.

»Kann ich eine Quittung haben?«

Er riss ein Stück Papier von einem Block, kritzelte die Zahl darauf und reichte es mir.

»Das ist aber keine Quittung, die ich beim Finanzamt einrei-chen kann«, bemerkte ich.

»Und?«

»Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann? Was, wenn Sie einfach leugnen, das Geld erhalten zu haben? Was, wenn Sie Holly weiter belästigen?«

Der fette Mann wirkte beleidigt. »Das hier ist eine Firma«, erklärte er. »Glauben Sie, wir wollen unseren guten Ruf ruinieren? Sie haben bezahlt. Nun gehen Sie.«

32

Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich war ziemlich stolz auf mich. Ich hatte mich in das furchtbare Chaos gestürzt, das Holly hinterlassen hatte, und alles geregelt. Ich wusste nicht so recht, ob ich einen Drachen getötet oder nur ein bisschen Frühjahrsputz gemacht hatte, aber auf jeden Fall hatte ich Hollys Welt ein wenig von ihrem Schrecken genommen. Ich freute mich darauf, ihr diese Nachricht zu überbringen und ihr damit vielleicht ein Lächeln zu entlocken. Nun würde bestimmt alles besser werden. Aber dann verlief mein Besuch ganz anders als erwartet. Als ich an ihr Bett trat, lag sie mit dem Rücken zu mir.

Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl, weil sie sonst nie in dieser Haltung schlief. Ich ging auf die andere Seite, um ihr Gesicht sehen zu können. Sie war sehr blass. Zuerst dachte ich, sie würde schlafen, aber dann öffnete sie die Augen. Sie wirkten wie tot, wie die Augen eines Fisches.

»Holly«, sagte ich. »Wie geht es dir?«

Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich beugte mich über sie. Sie stammelte nur sinnloses Zeug, lauter einzelne, unzusammenhängende Silben. »Was ist los?«, fragte ich. »Was ist passiert?«

Voller Panik rannte ich hinaus auf den Gang, schnappte mir eine Krankenschwester und zerrte sie fast zu Hollys Bett.

»Irgendetwas stimmt nicht mit ihr! Sie braucht ganz schnell einen Arzt!«

Die Schwester runzelte die Stirn, beugte sich einen Moment über Holly und warf dann einen Blick auf das Krankenblatt am Fußende des Betts. »Miss Krauss braucht nur ein bisschen Ruhe«, erklärte sie. »Sie ist gerade von ihrer ersten Behandlung zurückgekommen.«

»Was für einer Behandlung?«

»Elektroschock.«

Ich kämpfte mich gegen den Widerstand von Dr. Thornes Sekretärin in sein Büro vor. Er telefonierte gerade und wirkte ziemlich verblüfft, als er mich sah. Ich blieb einfach vor ihm stehen, bis er den Hörer aufgelegt hatte.

»Ich bin die Freundin von Holly Krauss«, begann ich. »Wir haben kürzlich miteinander gesprochen.«

»Ja, Meg, ich weiß, wer Sie sind.«

»Was, zum Teufel, läuft da ab? Ich war gerade bei ihr. Sie bringt keinen zusammenhängenden Satz mehr heraus. Und eben habe ich erfahren, dass sie mit Elekroschocks behandelt worden ist.« Ich hielt einen Moment inne. Von ihm kam keine Reaktion.

»Nun?«

»Ich habe die Behandlung angeordnet«, erklärte er. »Mit dem Einverständnis von Miss Krauss und ihrem Ehemann.«

»Warum denn das, um Himmels willen?«

»Es tut mir Leid, aber ich kann mit Ihnen wirklich nicht über die Einzelheiten ihrer Behandlung sprechen.«

»Das ist ein Skandal! Ich werde mich beschweren.«

Nun wirkte Dr. Thorne doch ein wenig beunruhigt und erhob sich von seinem Schreibtisch. »Warten Sie«, sagte er. »Sie müssen das verstehen. Ich kann Ihnen keine Einzelheiten über Miss Krauss’ Fall erzählen. Am besten, Sie besprechen das mit ihr selbst.«

»Sie ist doch gar nicht in der Lage, irgendetwas zu besprechen.«

»Das kommt nur von der Narkose oder dem Muskelrelaxans.

Mit der Elektroschocktherapie hat das nicht das Geringste zu tun.«

»Ich kann einfach nicht fassen, dass Sie bei ihr diese extreme Therapie anwenden. Das ist doch mittelalterlich.«

»Es handelt sich keineswegs um eine extreme Therapie. Alles, was Sie darüber wissen, stammt wahrscheinlich aus irgendwelchen alten Filmen. Ich versichere Ihnen, dass es ganz und gar nicht so ist, wie Sie es sich vorstellen. Es handelt sich um ein ganz ungefährliches Verfahren. Wir behandeln damit sogar Schwangere, die keine starken Medikamente einnehmen dürfen.

Auch in der Geriatrie wird damit sehr viel gearbeitet.«

»Sie setzen ihr Gehirn unter Strom!«

Er lächelte über meine Worte. »So kann man das wirklich nicht ausdrücken.«

»Was hat das für Auswirkungen auf ihr Gehirn?«

»Manche Patienten berichten von einem gewissen Maß an Gedächtnisverlust«, antwortete er, »aber das gibt sich in der Regel wieder. Das Entscheidende ist, dass es sich um eine sehr wirksame Behandlungsmethode handelt. Und bei manchen Patienten ist sie einfach unerlässlich.«

»Sie meinen, bei schwer kranken Patienten?«

Er schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. »Ich meine beispielsweise bei Patienten, die als stark suizidgefährdet gelten.«

»Und Sie glauben, das ist bei Holly der Fall?«

Er machte eine hilflose Handbewegung. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Das darf ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Aber Sie sind doch ihre Freundin. Sie kennen Sie. Sie wissen, was sie durchgemacht hat.«

»Das ist doch verrückt«, entgegnete ich. »Lächerlich. Sie war doch gar nicht mehr so krank. Es ging ihr schon viel besser. Ich kann gar nicht fassen, wie das alles jetzt so plötzlich passiert ist.

Zu mir hat sie gesagt, sie wolle leben. Sie hatte nicht vor, es noch einmal zu versuchen, da bin ich ganz sicher.«

Dr. Thorne ließ sich nicht überzeugen. Er setzte sich wieder hin. Unser Gespräch war offensichtlich beendet.

Als ich zurückkam, saß Charlie neben Hollys Bett. Sie selbst war mittlerweile richtig wach. Als sie mich sah, lächelte sie matt.

»Wie geht es dir?«

»Mir ist noch ein bisschen schwummrig«, antwortete sie.

»Schwindlig. Duslig. Irgendwie fallen mir dazu nur Worte auf -

ig ein.«

Ich hatte das Gefühl, dass ich zumindest Holly gegenüber gute Miene zum bösen Spiel machen musste.

»Ich habe mit Dr. Thorne gesprochen«, sagte ich. »Er hat sich sehr positiv darüber geäußert.«

»Mir selbst war ein bisschen mulmig zumute … du weißt schon. Einer flog übers Kuckucksnest. Ich dachte, du würdest hereinkommen und mich mit einer großen Narbe an meinem rasierten Schädel vorfinden. Mir ein Kissen aufs Gesicht drücken.«

Sie schaffte es noch immer, mich zum Lachen zu bringen. Ich streichelte ihr übers Gesicht. »Du siehst gut aus.«

Wir unterhielten uns eine Weile, auch wenn es ein etwas zusammenhangloses Gespräch war. Charlie beteiligte sich nicht daran. Er besorgte Kaffee für uns, zupfte am Bett herum und ordnete Hollys Sachen. Er tat mir so Leid. Während des letzten Jahres hatte er ziemlich viel Zeit als Zuschauer der großen Holly-Show verbracht, und nun musste er auch noch ihren Krankenpfleger spielen. Ich fragte mich, ob ihn meine Anwesenheit nervte oder ob er froh darüber war. Ein Blick auf meine Uhr rief mir ins Gedächtnis, dass ich anderswo auch noch ein Leben hatte. Aber vorher wollte ich mit Charlie sprechen. Ich forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, mit mir hinauszu-kommen. Draußen auf dem Gang blieben wir stehen. Ich erklärte Charlie, wie überrascht ich gewesen sei. »Ich weiß«, antwortete er. »Es war eine schwierige Entscheidung. Aber Dr. Thorne sagte, es sei nur zu ihrem Besten.«

»Ich meine nicht nur das«, erwiderte ich. »Er war mir gegen-

über unglaublich diskret. Aber das wenige, was er mir erzählt hat, klang irgendwie so, als würde er Holly immer noch für selbstmordgefährdet halten.«

Einen Moment lang schwiegen wir.

»Ja?«, antwortete Charlie schließlich.

»Aber das ist sie nicht.«

»Wovon sprichst du überhaupt, Meg? Hast du denn keine Augen im Kopf? Warum glaubst du, dass sie hier ist? Sie ist in dem Krankenwagen gestorben. Es ist ein Wunder, dass sie es geschafft haben, sie zurückzuholen.«

»Ich weiß, ich weiß«, räumte ich ein. »Aber inzwischen ist das anders. Sie hat es mir selbst gesagt. Sie hat gesagt, sie habe erkannt, dass sie leben wolle.«

Charlie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so. Vielleicht spielt sie bei dir immer noch die fröhliche Holly. Mir gegenüber ist sie anders. Sie spricht nach wie vor von Selbstmord. Sie fängt immer wieder von dem Thema an. Dr. Thorne sagt, das sei ein ganz wichtiger Faktor, der darauf hindeute, dass sie noch suizidgefährdet sei.«

»Hat sie mit ihm darüber geredet?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Jedenfalls hat sie mit mir darüber gesprochen, und ich habe mit Dr. Thorne gesprochen.

Spielt das eine Rolle?«

»Ich hatte nur einen völlig anderen Eindruck von ihr.«

Er bedachte mich mit einem scharfen Blick. Ich befürchtete schon, ihn beleidigt zu haben. »Du kennst doch Holly. Sie zieht immer eine Show ab. Denk mal an die Geschichte vorhin mit dem Kissen.«

»Das war doch nur ein Scherz.«

»Wer, zum Teufel, bist du, dass du entscheiden kannst, ob das ein Scherz war oder nicht?«, fuhr er mich an.

»Entschuldige«, sagte ich, erschrocken über Charlies plötzlichen Wutausbruch. »Lass uns nicht streiten. Wir stehen beide auf derselben Seite.«

»Ich weiß. Das Ganze wird langsam zu viel für mich. Ich habe eine ziemlich anstrengende Zeit hinter mir.«

»Das glaube ich dir gern.«

»Weißt du, was, Meg? Früher hatte ich immer Angst, dass jemand Holly etwas antun könnte. Jetzt sieht es ganz danach aus, als wollte sie das selbst übernehmen. Manchmal denke ich, dass ich sie verloren habe. Ich glaube wirklich, sie möchte sterben. Wenn dem tatsächlich so ist, dann weiß ich nicht, was irgendjemand von uns tun könnte, um das zu verhindern.«

33

Am Tag bevor Holly nach Hause kam, wollte ich Charlie ein Begrüßungssträußchen für sie vorbeibringen, musste aber feststellen, dass schon überall im Haus Vasen voller Lilien und Rosen herumstanden, die mein kleines Anemonensträußchen ziemlich mickrig aussehen ließen. Im Haus wimmelte es nur so von Leuten. Charlies Mutter war gerade eingetroffen und saß, rundlich und entspannt, auf der Couch und rauchte eine Mentholzigarette, während Hollys Mutter in der Küche lautstark mit Töpfen und Pfannen hantierte. Charlie war damit beschäftigt, einen asymmetrischen Weihnachtsbaum zu schmücken, und Naomi strich gerade die letzte Wandseite von Charlies und Hollys Schlafzimmer in einem zarten Grünton. »Wir haben uns gedacht, wir überraschen sie«, erklärte sie und grinste von der Trittleiter herunter. Sie hatte einen Farbklecks auf der Wange.

Einen Moment lang empfand ich ein kindisches Gefühl von Eifersucht. »Du hättest mir Bescheid sagen sollen. Ich hätte dir helfen können.«

»Ich weiß doch, wie viel du zu tun hast. Und außerdem macht mir das Streichen Spaß«, entgegnete Naomi. Sie legte ihren Pinsel vorsichtig auf den Deckel der Farbdose. »Möchtest du eine Tasse Tee? Und ein Stück Kuchen? Ich habe Ingwerkuchen gebacken.«

»Nein, danke«, antwortete ich knapp. »Ich kann nicht bleiben.«

*

Am nächsten Tag schaute ich nicht bei Holly vorbei. Ich wollte ihr ein bisschen Zeit lassen, sich wieder einzugewöhnen, doch am Abend, auf meinem Weg nach Hause, klingelte mein Handy, und sie war dran. Sie berichtete mir, dass sich alle ganz reizend um sie kümmerten, und stieß dann ein verächtliches Schnauben aus, das ich als positives Zeichen wertete. »Es ist wirklich übel«, sagte sie. »Die beiden Mütter sprechen nicht miteinander, und Charlie gibt sich solche Mühe, es allen recht zu machen, dass er mir schon fast vorkommt wie ein Hund, der ständig zwischen seinen zwei Besitzern hin- und herläuft. Kannst du vorbeischau’n? Bitte!«

»Du meinst, jetzt gleich?«

»Sie würden dich nicht reinlassen. Angeblich brauche ich Ruhe. Es ist wirklich zum Verrücktwerden, aber verrückt bin ich ja sowieso schon. Komm morgen.«

»Ich weiß nicht, ob das –«

» Bitte. «

»Also gut. Wann?«

»Komm doch zum Mittagessen.«

»Ich bringe was mit.«

»Untersteh dich! Die Küche platzt bald vor lauter Essen. Jeder meint, er muss irgendeine dämliche Suppe kochen. Weißt du, was? Bring doch deinen Todd mit. Morgen ist schließlich Samstag.«

»Bist du sicher?«

»Nun fang nicht du auch noch an, mich wie eine Invalide zu behandeln. Ich möchte ihn kennen lernen, damit ich dir sagen kann, ob er gut genug für dich ist.«

»Aber bitte nimm –«

»Ja, ich nehme mich zusammen. Keine Sorge. Ich verspreche dir, dass ich nicht wieder so grob mit ihm umspringen werde wie beim letzten Mal. Das lassen meine Pillen gar nicht zu.«

Das hatte ich nicht gemeint. Eigentlich hatte ich sagen wollen:

»Aber bitte nimm ihn mir nicht weg.«

Wir trafen gegen zwölf bei ihnen ein. Charlie öffnete uns die Tür und umarmte mich. Dann begrüßte er Todd mit einem kräftigen Handschlag. Er trug eine Schürze und hatte die Ärmel hochgekrempelt. Mittlerweile waren es noch mehr Blumen geworden, überall standen Karten mit Genesungswünschen herum, und die Beleuchtung des Weihnachtsbaums war ange-schaltet. Das ganze Haus roch nach frischer Farbe.

Ich hatte damit gerechnet, Holly im Bett vorzufinden, aber sie saß auf der Couch. Sie trug eine alte Jeans und einen melierten Rollkragenpullover mit überlangen Ärmeln, hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten und war völlig ungeschminkt. Sie sah aus wie eine Zwölfjährige und wirkte so bleich und fragil, dass ich mir neben ihr groß und plump vorkam. Ich beugte mich zu ihr hinunter, um sie ganz vorsichtig auf die Wange zu küssen, aber sie schlang beide Arme um mich und drückte mich fest an sich.

»Keine Angst, ich zerbreche schon nicht«, lachte sie. »Ich bin ein zähes altes Huhn.«

Sie stand auf und streckte Todd die Hand hin. »Ich glaube, ich war beim letzten Mal ziemlich unhöflich«, sagte sie, »wurde aber inzwischen darüber aufgeklärt, dass es sich dabei um ein Symptom einer Geisteskrankheit handelte. Können wir noch einmal von vorn beginnen? Und vielleicht gleich du zueinander sagen?«

»Eine gute Idee«, antwortete Todd und gab ihr verlegen die Hand. »Es freut mich, dass es dir besser geht.«

»Inzwischen kommt mir das alles wie ein Traum vor. Hauptsächlich, weil es hier im Haus mit keinem Wort erwähnt wird.«

Sie senkte ihre Stimme zu einem melodramatischen Flüstern.

»Das Sterben, meine ich. Meinen Versuch zu sterben. Oder meinen manisch-depressiven Zustand. Sie sagen bloß: ›deine Krankheit‹ oder ›was dir passiert ist‹, lauter solches Zeug.

Deswegen wollte ich unbedingt, dass Meg vorbeikommt. Du kennst sie ja, sie ist so …«

Sie suchte nach dem richtigen Wort. Ich saß ihr mit mürrischer Miene gegenüber und wartete darauf, dass nun »solide« oder

»zuverlässig« folgen würde.

»So ehrlich« , sagte Holly schließlich. »Uns bleiben ungefähr zwanzig kostbare Minuten, bis Charlies Mutter vom Einkaufen zurückkommt und meine Mutter von wo auch immer sie gerade ihr Unwesen treibt. Mein Gott, ich wünschte, Weihnachten wäre schon vorbei. Sie hätten mich besser noch bis Neujahr im Krankenhaus lassen sollen. Meg, warum siehst du mich so an?«

»Ich suche krampfhaft nach einem Weg, dich zu fragen, wie es dir geht«, antwortete ich.

»Keine Sorge«, beruhigte mich Holly. »Ich habe nicht vor, einen weiteren Selbstmordversuch zu unternehmen. Außerdem möchte ich sowieso nicht über mich reden. Das Thema hängt mir zum Hals heraus. Erzähl mir vom Büro. Irgendwelche Klatschgeschichten. Egal, was.«

Ich hatte ihr eigentlich von Rees erzählen wollen und dass sie keine Spielschulden mehr hatte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Irgendwie konnte ich es nicht, während Charlie nebenan in der Küche werkelte, Todd mir so verlegen und bemüht gegenübersaß und Holly selbst vor sich hinquasselte wie ein aufgeregtes Kind. Ich fühlte mich plötzlich sehr erschöpft.

Wir sprachen über belanglose, unproblematische Themen. Dann bat sie mich, ihr zu helfen, ein Weihnachtsgeschenk für Charlie auszusuchen. »Obwohl ich keine Ahnung habe, was ich ihm schenken soll«, fügte sie hinzu. »Charlie ist der Typ Mann, der nichts braucht.« Plötzlich wirkte sie niedergeschlagen. Sie wandte sich an Todd. »Was würdest du ihm schenken?«

»Tja … keine Ahnung. Vielleicht etwas, das mit seiner Arbeit zu tun hat?«

»Ich glaube nicht, dass er noch arbeitet. Meiner Meinung nach macht er nichts mehr, seit ich offiziell für verrückt erklärt wurde. Und vorher war er auch schon nicht mehr so richtig aktiv. Er sagt, das sei im Moment nicht so wichtig, er müsse sich jetzt erst mal um andere Dinge kümmern.«

»Da hat er Recht«, sagte ich.

»Ich möchte nicht, dass er sich um mich kümmert. Das übernehme ich jetzt wieder selbst. Ich möchte, dass er arbeitet. Er ist sehr gut in dem, was er tut. Als ich ihn kennen lernte, war ich davon überzeugt, dass er es weit bringen würde. Das dachte ich allerdings von mir selbst auch mal. Jedenfalls können wir uns nicht einfach in unserem Haus einschließen und so tun, als gäbe es die Welt draußen nicht mehr. Wir können nicht den Rest unseres Lebens Suppe schlürfen und Naomis Ingwerkuchen essen, oder?«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, gab ich ihr Recht. Mir ging durch den Kopf, dass es jetzt vielleicht doch an der Zeit war, ihr von dem Geld zu erzählen.

»Wie wär’s mit einem Bademantel?«, fragte Todd.

Hollys Miene hellte sich auf. »Das ist eine gute Idee. Ich werde ihm einen Bademantel schenken. Todd, du bist genial!«

»Er ist nett! « , flüsterte sie, als Todd auf die Toilette ging.

»Gut«, sagte ich. »Ich meine, es freut mich, wenn du ihn magst, aber ich müsste unbedingt ein paar Sachen mit dir besprechen.«

»Lass uns später einen Spaziergang machen. Ich muss hier sowieso mal raus.«

Beim Mittagessen gab sich Holly plötzlich sehr schweigsam, und Charlie sprang ständig auf und machte völlig unnötige Dinge am Spülbecken, wobei er ziemlich laut mit irgendwelchen Töpfen klapperte. Wir anderen sprachen darüber, dass es wahrscheinlich bald schneien würde, und ritten anschließend viel zu lange auf dem Thema Winterwetter herum. Ich berichtete, dass es in der Arktis Orte gebe, wo man kochendes Wasser in die Luft hinaufschleudern und zusehen könne, wie es gefror, bevor es den Boden erreichte. Todd berichtete von einem Skiurlaub in Norwegen, wo es so kalt gewesen sei, dass seine Wimpern einfroren und sich in seinen Nasenlöchern kleine Eiszapfen bildeten. Ich warf einen ängstlichen Blick zu Holly hinüber, weil ich befürchtete, dass sie eine sarkastische Bemerkung machen könnte. Sie grinste mich an und hob dabei kaum merklich eine Augenbraue, sagte aber nichts.

Dann klingelte es an der Tür, und ich sah Holly zusammenzucken. Erst in dem Moment begriff ich, dass sie die ganze Zeit voller Anspannung mit dem Auftauchen unliebsamer Besucher rechnete. Sie entspannte sich erst wieder, als Charlie mit Naomi hereinkam, die neben Anthea Carter Platz nahm und alle begrüßte, als gehörte sie zur Familie. Die ganze Runde trank Kaffee. Anthea tunkte einen Schokoladenkeks nach dem anderen in ihre Tasse und verlor dabei immer wieder aufge-weichte Brocken, die sie dann mit dem Teelöffel herausfischte und laut in sich hineinschlürfte. Sie hatte zum Essen zwei Gläser Weizenbier getrunken und war ziemlich angeheitert.

Naomi gab einen großen Schuss Milch in ihren Kaffee und dann einen ganz kleinen in den von Charlie, nur ein paar Tropfen, genau wie er es mochte. Eigentlich eine Lappalie, aber die Vertrautheit dieser Geste versetzte mir einen Stich. Ich beobachtete, wie Charlie einen Seitenblick zu Naomi warf, den sie kurz erwiderte, ehe sie sich mit sittsamer Miene, aber strahlenden Augen wieder dem Rest der Runde zuwandte.

Sie haben etwas miteinander, schoss mir durch den Kopf.

Holly hatte Recht gehabt, nur die falsche Frau verdächtigt. Arme Holly, dachte ich. Aber ich bedauerte nicht nur sie, sondern auch Charlie, uns alle. Es kam mir plötzlich fast pervers vor, wie wir hier alle um diesen Tisch saßen, miteinander plauderten und uns lächelnd betrogen und belogen.

Holly stand auf und schob ihren Stuhl zurück. »Ich mache jetzt mit Meg und Todd einen Spaziergang«, verkündete sie.

»Bist du sicher, dass –«

»Ja, das bin ich.«

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Charlie.

»Nein, du bleibst hier. Du hast mich sowieso schon die ganze Zeit am Hals.«

»Aber zieh dich warm an.«

Er half ihr in den Mantel, knöpfte ihn für sie zu und band ihr einen bunten Schal um den Hals. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihm einen Kuss zu geben, aber er wich ihrem Mund aus und küsste sie nur ganz leicht auf die Wange.

Todd setzte uns am Park ab und verabschiedete sich dann taktvoll. Es ging ein eiskalter Wind, was Holly aber nichts auszumachen schien. Endlich hatte ich Gelegenheit, ihr zu sagen, dass ich bei Cowden Brothers gewesen sei und sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauche.

»Sie haben meine Schulden einfach gestrichen?«, fragte Holly zweifelnd.

»Sozusagen«, antwortete ich.

»Warum?«

»Ich hab Ihnen erklärt, dass du an dem Abend nicht ganz bei Sinnen warst und –«

»Meg, ich bin’s, deine alte Freundin Holly. Erinnerst du dich?

Ich bin noch nicht vollkommen plemplem, und außerdem merke ich ganz genau, wenn du nicht die Wahrheit sagst.

Du hast dann immer so eine drollige kleine Furche zwischen den Augenbrauen.«

»Jedenfalls brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen«, wiederholte ich. »Sie werden dich nicht mehr bedrohen. Du kannst dich auf das Gesundwerden konzentrieren.«

»Du hast das Geld bezahlt.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Du hast meine Schulden bezahlt, stimmt’s?«

»Sozusagen«, murmelte ich.

»Wie viel?«

»Was du eben schuldig warst.«

»Wie viel, Meg? Sag es mir!« Sie hielt mich am Arm fest, sodass ich stehen bleiben musste.

»Zwölftausend«, log ich.

Sie schloss die Augen. Ich sah, dass sie im Kopf irgendwelche Berechnungen anstellte. »Nein«, sagte sie. »Sag mir, wie viel es wirklich war.«

»Sechzehn.«

»Oh, mein Gott, Meg!«

»Die Uhr lief«, erklärte ich. »Inzwischen wäre es noch mehr, wenn –«

»Du hast alles bezahlt?«

»Ich hab nur getan, was du an meiner Stelle auch getan hättest.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Du brauchst mir nicht zu danken.«

»Ich werde dir auch nicht danken. Ich werde mit dir schimp-fen, du dummes Huhn! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

Sie riss die Hand hoch, als wollte sie mir ins Gesicht schlagen, brach stattdessen aber in Tränen aus.

Ich zögerte einen Moment, aber dann nahm ich sie einfach in den Arm. »Du hättest dasselbe auch für mich getan«, wiederholte ich.

»Wo hast du denn so viel Geld herbekommen?«, fragte sie schluchzend.

»Ach, von hier und da.«

»Du hast dein ganzes Erspartes geopfert, stimmt’s? Das Geld für dein Haus.«

»Das war genau der Notfall, für den ich es gespart hatte.«

Holly stieß ein Lachen aus, das eigentlich mehr nach einem Schluckauf klang. »Aber es war mein Notfall, nicht deiner. Meg, ich –«

»Es spielt keine Rolle«, schnitt ich ihr das Wort ab.

Wir hatten den Eingang von Golders Hill Park erreicht und schlenderten an den Emus vorbei auf die Ziegen zu. »Kein Mensch kann richtig unglücklich sein, wenn er einer Ziege zusieht«, sagte ich. Dann fügte ich im gleichen Ton hinzu:

»Wie geht es deinem Gehirn?«

»Das nenne ich eine direkte Frage«, antwortete Holly. Sie schob die Hände in die Manteltaschen.

Ein kleiner Junge stieß ein schrilles Blöken aus.

»Ich war entsetzt, als ich von der Elektroschockbehandlung hörte«, erklärte ich, »aber anscheinend geht es dir gut.«

»Zu dem Thema kann ich eigentlich nichts sagen«, entgegnete Holly. »Ich habe die ganze Prozedur einfach verschlafen. Sie haben mich abgeholt, und irgendwann bin ich dann völlig benebelt wieder aufgewacht.«

»Sie haben behauptet, es sei eine Notmaßnahme gewesen.

Angeblich warst du plötzlich wieder extrem depressiv.«

»Ja, das habe ich auch gehört«, meinte Holly.

»Das klingt, als würdest du über jemand anderen sprechen«, bemerkte ich. »Kannst du dich denn nicht erinnern?«

»Sie haben zu mir gesagt, es könnte mein Gedächtnis ein bisschen beeinträchtigen, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass dem so ist.« Sie lächelte bedauernd. »Aber vielleicht habe ich es tatsächlich vergessen.«

»Das Komische ist«, erklärte ich, »dass ich kurz vor der ersten Elektroschockbehandlung noch mit dir gesprochen habe und dabei eigentlich den Eindruck hatte, dass es dir schon viel besser ging. Du hast zu mir gesagt, dass du, nachdem du …« Es fiel mir schwer, es auszusprechen. »Dass du, nachdem du die Tabletten genommen hattest, plötzlich doch nicht mehr sterben wolltest.«

»Das stimmt.«

»Ich hatte eigentlich gehofft, du hättest das alles hinter dir.«

Holly zuckte mit den Achseln. »Ich bin in dieser Hinsicht nicht gerade eine verlässliche Zeugin, sondern bloß die Frau, die die Elektroden am Kopf hatte.«

»Ich war sehr überrascht.«

»Dr.

Thorne hat Charlie erklärt, welche Faktoren darauf hindeuten, dass ein Mensch suizidgefährdet ist. Ein ganz entscheidender Hinweis liegt vor, wenn man es schon einmal versucht hat, aber das ist ja sowieso klar. Ein weiteres wichtiges Indiz ist, wenn man sich dauernd mit dem Tod beschäftigt. Das hat gar nicht so viel damit zu tun, ob man depressiv ist oder nicht. Man kann hoffnungslos depressiv sein und trotzdem nicht selbstmordgefährdet. Andererseits gibt es aber auch den Fall, dass jemand überhaupt nicht depressiv ist und trotzdem selbstmordgefährdet. Man kann eine Art Obsession dafür entwickeln, fast wie bei einem Hobby. Wie es aussieht, war ich während der letzten Monate eine Mischung aus beiden Varianten, und anscheinend hatte ich wohl auch wieder angefangen, davon zu sprechen.«

»Und jetzt?«

»Und jetzt gibt es nichts, was mir ferner liegt.« Holly zog ihren Mantel enger um ihren Körper. »Diese Ziegen sind wunderbar«, sagte sie. »Ich bin, was ihre therapeutische Wirkung betrifft, völlig deiner Meinung. Aber meinst du nicht, dass es manchmal sogar noch effektiver ist, wenn man sich ein warmes, gemütliches Plätzchen sucht und eine Tasse Kaffee trinkt?«

Wir setzten uns also in ein Café und tranken Kaffee. Holly aß einen Muffin, und wir sprachen darüber, wann sie wieder zu arbeiten anfangen würde. Als ich zu ihr gefahren war, hatte ich mir nichts mehr gewünscht, als dass Holly von nun an ein glückliches Leben führen würde. Nun begriff ich, dass das nur möglich war, wenn sie ein pflichtbewusstes Leben führte. Die Zeit der Spiele, der wilden Abenteuer und Romanzen, der Träume und Phantasien war vorbei. Nun würde Holly erfahren, wie sich das Leben anfühlte, wenn man nüchtern war. Sie musste sich um ihre Karriere kümmern und ihre Ehe kitten. Es ging darum, Dinge zu organisieren, Termine einzuhalten, im Zeitplan zu bleiben.

Holly schien keine große Lust zu haben, sich zu diesen Themen schon konkret zu äußern. Sie wirkte fast ein wenig trotzig, als wäre ich eine nervende Mutter, die sie dazu anhielt, ihre Hausaufgaben zu machen und auf ihrem Musikinstrument zu üben. Sie erklärte, Dr. Thorne zufolge dürfe sie frühestens in ein paar Monaten wieder zu arbeiten beginnen. Er habe ihr eingeschärft, dass ihre Arbeit nun erst einmal darin bestehe, sich zu erholen. Ihre nächsten Ziele seien, gesund zu werden, ihre privaten Probleme zu regeln, ihr Haus in Ordnung zu bringen.

Vor allem aber habe sie bei Charlie einiges gutzumachen. »Und bei dir natürlich auch«, fügte sie hinzu.

Ich musste lachen. »Du hast bei mir doch nichts gutzumachen«, widersprach ich.

»O doch. Ich habe dir von dem Abschiedsbrief erzählt, den ich dir geschrieben habe, oder? Soweit ich mich in meinem Deliri-um und mit meinem Elektroschock-verkokelten Gehirn erinnern kann, hatte ich irgendwie das Gefühl, dir alles erklären zu müssen. Vielleicht muss ich das noch immer. Ich fürchte fast, ich werde niemals ganz normal sein.«

»Aber so, wie es war, darf es nicht mehr werden«, erwiderte ich. »So wie in den letzten Monaten kannst du nicht mehr weitermachen. Das würdest du nicht überleben, und wir anderen auch nicht. Ich jedenfalls nicht.«

»Wir werden sehen«, antwortete sie. »Meine wichtigste Aufgabe ist jetzt erst mal, gesund zu werden. Nein, das stimmt nicht. Meine wichtigste Aufgabe ist, Charlies Mutter aus dem Haus zu bekommen. Das mit dem Gesundwerden kann warten.«

Ich lachte.

»Ist sie wirklich so schlimm?«

»Findest du den Geruch von Mentholzigaretten nicht auch schrecklich?«, fragte sie. »Man sollte diese zwei Dinge nicht miteinander kombinieren. Das ist, als würde man ein Freudenfeuer mit Pfefferminztee löschen.«

»Aber jetzt mal im Ernst«, sagte ich. »Ich finde, du darfst erst wieder zu arbeiten anfangen, wenn …«

»Komm, wir teilen uns einen Obstkuchen.«

»Sie war ganz anders, als ich erwartet hatte. Jetzt verstehe ich, warum du sie liebst«, sagte Todd.

»Ich hab dir ja gesagt, dass du sie erst richtig kennen lernen musst. Mir war klar, dass du sie dann mögen würdest.«

»Irgendwie hat sie wirklich eine sehr starke Ausstrahlung.«

»Ja, ich weiß. Das finden alle. Sie gibt jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.«

Einen Moment lang schwiegen wir. Dann kam Todd zu mir und nahm mich in den Arm. »Was hast du?«

»Nichts.«

»Doch, ich merke es genau.«

»Ich habe wirklich nichts.« Aber dann musste ich es doch sagen: »Findest du sie sehr schön?«

»Ich weiß nicht, ob sie schön ist. Hübsch, das auf jeden Fall.«

»Die meisten Leute finden sie schön.«

»Meg.«

»Was?«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.«

»Du bist die Frau, in die ich verliebt bin. Du bist diejenige, die ich schön finde.«

»Ich bin nicht schön.«

»Für mich schon.«

»›Für mich‹ klingt nach Mitleid.«

»Nein, eher nach Lust.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Wie hat Holly dich genannt? Ehrlich.«

Wir umarmten uns, und ich presste meine Stirn an seine.

Unsere Beziehung besaß plötzlich eine neue Ebene der Ernsthaf-tigkeit, als wüssten wir beide, dass wir uns gerade auf etwas Großes und Großartiges einließen. Dass es nun kein schnelles Zurück mehr gab. Nach einer Weile sagte ich: »Charlie hat eine Affäre.«

»Charlie? Mit wem denn?«

»Naomi.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es einfach. Sie haben sich heute so angesehen.«

»Er hat eine schwere Zeit hinter sich«, meinte Todd. »Wahrscheinlich ist die Sache bald wieder vorbei.«

»Ja, das hoffe ich. Du meinst also nicht, dass ich deswegen etwas unternehmen sollte?«

»Was könntest du schon tun? Es ihr sagen? Bloß nicht! Du kannst nur hoffen, dass sie es nie erfährt.«

34

Ich sah Holly erst wieder am zweiten Januar, auch wenn wir in der Zwischenzeit ein paarmal telefonierten. Ich war zu sehr damit beschäftigt, glücklich zu sein, und obwohl ich sie nicht völlig vergaß, verdrängte ich sie doch für eine Weile aus meinen Gedanken. Verliebte sind egoistisch und blind.

Todd und ich verbrachten Silvester und Neujahr in einem abgelegenen Cottage in Dorset. Als wir wieder zurück waren, besuchte ich Holly. Charlie war an dem Tag nicht zu Hause.

Holly hatte am Telefon gesagt, dass sie versuche, das ganze Chaos zu ordnen, das sich während der letzten paar Monate angesammelt habe. Das sei das Mindeste, was sie tun könne, und außerdem brauche sie ja in den Wochen, die sie noch krankgeschrieben sei, irgendeine sinnvolle Beschäftigung.

»Ich möchte dir etwas zeigen«, verkündete sie schon an der Tür.

Sie trug eine violette Jogginghose und ein Sweatshirt, das ihr mehrere Nummern zu groß war. Sie hatte die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer.

Überall standen Umzugskisten herum, halb gefüllt mit Ordnern, alten Zeitungen und Heften.

»Ziehst du um?«

»Nein, ich miste bloß aus«, erklärte sie und blickte sich um.

»Das sind lauter alte Sachen. Essays und Referate, die ich nicht wegwerfen konnte, weil ich so lange daran gearbeitet hatte.

Aber jetzt werde ich wahrscheinlich ein Freudenfeuer damit entzünden. Und meine alten Mädchenbücher, aber die behalte ich vielleicht für, du weiß schon, nur für den Fall …«

»Das klingt gut«, sagte ich. »Sehr gut sogar. Was wolltest du mir zeigen?«

»Ich hab da etwas gefunden. Ich möchte wirklich nicht unloyal sein, und Charlie hat mit mir weiß Gott viel durchgemacht, aber ich muss trotzdem mit jemandem darüber reden.«

Sie führte mich in Charlies Arbeitszimmer und deutete auf einen Stapel Briefe auf seinem Schreibtisch. »Ich hab sie in der untersten Schublade gefunden«, erklärte sie. »Und sag jetzt bitte nicht, dass ich nicht in Charlies Sachen hätte herumschnüffeln dürfen. Ich weiß, dass das nicht richtig war, aber ich brauchte sämtliche Telefonrechnungen, um unsere Buchführung machen zu können. Ich dachte mir, wenn ich schon hier zu Hause rumhänge, könnte ich auch etwas Sinnvolles tun. Und die Rechnungen waren im ganzen Haus verteilt. Wie auch immer, lies die Briefe.«

Ich überflog sie einen nach dem anderen, auch wenn ich mir dabei ziemlich schäbig vorkam. In allen Briefen ging es um Aufträge, die er nicht termingerecht oder gar nicht abgeliefert hatte.

»Er hat einfach aufgehört«, sagte Holly. »Hat, glaube ich, schon seit Monaten keine einzige Illustration mehr gemacht.

Trotzdem kommt er jeden Tag in dieses Zimmer und behauptet zu arbeiten. Er sitzt stundenlang an seinem Schreibtisch.«

»Armer Charlie«, sagte ich lahm.

»Genau. Aber warum tut er mir gegenüber so, als würde er arbeiten? Warum spricht er nicht einfach mit mir darüber? Ich sag dir was, Meg, wir stecken finanziell bis zum Hals in der Scheiße. Ich hab mein Konto um siebentausend Pfund überzogen, und meine Bank gibt mir kein Geld mehr. Ich musste schon die Perlenkette meiner Großmutter verkaufen. Was allerdings nicht ganz so tragisch ist, weil ich sie sowieso nie getragen habe.

Keine Ahnung, wie sich Charlies Bank verhält. Wenn ich ihn danach frage, sagt er, das sei sein Problem, nicht meines.«

»Er will dich nur nicht aufregen.«

»Was, glaubt er, wird passieren? Irgendeine Art von Wunder?«

»Es war eine schwierige Zeit, für ihn genauso wie für dich. Er will nur, dass es dir wieder besser geht.« Meine Stimme klang falsch, und ich spürte, wie mir die Röte den Hals heraufkroch.

»Du hast wahrscheinlich Recht.« Sie rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Es ist so schwierig, alles wieder in Ordnung zu bringen. Es nimmt so viel Zeit in Anspruch, und anstrengend ist es auch. Ich wünschte, ich hätte eine Zauberpil-le.«

Sie stieß ein nervöses Kichern aus. »Na ja, eigentlich habe ich ja sogar ein paar davon.«

»Nimmst du sie regelmäßig?«

»Ja, regelmäßig. Und ganz gewissenhaft. Keine Sorge. Ich nehme sie sogar an den Tagen, an denen mich jede Faser meines Körpers anfleht, sie mir nicht einzuverleiben. Da lasse ich mich auf keine Diskussion mit meinem inneren Schweinehund ein.«

Sie schob die Brief zurück in die Schublade und hob eine am Boden liegende Telefonrechnung auf. Sie verzog das Gesicht.

»Lieber Himmel, verbringen wir wirklich so viel Zeit am Telefon? Schau mal, wie oft ich dich im letzten Vierteljahr angerufen habe.« Ich ließ den Blick über die Zahlenreihen wandern. Meine Nummer war tatsächlich sehr oft vertreten.

Dann blieb ich an einem Datum hängen. Ich nahm Holly die Rechnung aus der Hand und sah mir den Eintrag genauer an. An dem Tag, an dem Holly versucht hatte, sich umzubringen, war um fünfzehn Uhr siebzehn ein kurzes Gespräch aufgeführt. »Ich dachte, um die Zeit warst du schon … du weißt schon, bewusst-los«, sagte ich und deutete auf die Nummer.

Holly betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und bat mich dann um mein Handy. Ich reichte es ihr, und sie tippte die Nummer ein. »Hallo? Entschuldigung, wer ist da? Oh, tut mir Leid, eigentlich wollte ich gar nicht dich anrufen, sondern, ähm … Charlie. Entschuldige. Wir sehen uns ja bestimmt bald wieder. Ciao.« Verblüfft gab sie mir das Handy zurück.

»Naomi. Anscheinend habe ich bei ihr auch angerufen. Wahrscheinlich, um sie um Hilfe zu bitten. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern. Allerdings sind meine Erinnerungen an diesen Tag ziemlich wirr.«

Obwohl ich versuchte, gegen das Gefühl anzukämpfen, war ich irgendwie enttäuscht. Holly hatte mir erzählt, sie habe mich an dem Tag zu erreichen versucht. Ich sei diejenige gewesen, an die sie gedacht habe, als sie im Sterben lag. Aber an Naomi hatte sie offensichtlich auch gedacht, sie sogar angerufen. Den Beweis dafür hielt ich gerade in Händen. Meine Nummer tauchte an diesem Tag gar nicht auf. Vielleicht hatte sie die Geschichte von ihrem Anruf bei mir nur erfunden. Um mir eine Freude zu machen. Vielleicht war es ihr nur darum gegangen, mir das Gefühl zu vermitteln, geliebt zu werden.

»Du hast doch gesagt, die Leitung sei tot gewesen«, sagte ich in schärferem Ton als beabsichtigt.

»Das war sie auch, da bin ich mir ganz sicher. Andererseits war ich zu dem Zeitpunkt in keinem sehr guten Zustand, Meg.

Wer weiß, welche Zahlen ich gedrückt habe?«

»Um fünfzehn Uhr siebzehn hat es jedenfalls funktioniert.«

»Anscheinend.«

»Aber dann funktionierte es plötzlich nicht mehr.«

»Meg, ich lag im Sterben. Womöglich habe ich aus Versehen auf Wahlwiederholung gedrückt. Ich weiß es nicht.«

»Du stehst ihr wohl sehr nahe.« Beleidigt, wie ich war, wäre ich am liebsten mit der Wahrheit herausgeplatzt.

»Zumindest bin ich ihr nahe. Sie wohnt ja gleich nebenan.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal so recht, ob ich sie überhaupt mag – sie ist so … so … Mir fällt das richtige Wort nicht ein. So forsch. Du weißt schon, immer fröhlich und hilfsbereit. Das bringt mich manchmal ein bisschen auf die Palme. Aber vielleicht war das der Grund. Vielleicht habe ich mir einfach gedacht, sie könne mir helfen, weil sie gleich nebenan wohnt.«

»Du weißt ihre Nummer auswendig?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Das heißt also, du hast euer Adressbuch geholt und ihre Nummer nachgeschlagen, während du ins Koma gefallen bist?«

»Meg«, sagte Holly in ziemlich scharfem Ton, »ich habe nicht vor, weiter mit dir über diese Telefonrechnung zu diskutieren.

Wir sollten sie uns eigentlich gar nicht ansehen. Ich möchte sie einfach nur abheften und dann möglichst schnell wieder vergessen.«

»Du hast Recht. Du wolltest mir doch die Nummer des Reisebüros geben, von dem du mir erzählt hast«, wechselte ich so abrupt das Thema, dass sie lächeln musste. »Du weißt schon.

Das mit den besonders abgelegenen Urlaubszielen.«

»Ich würde dir gerne den Katalog mitgeben, aber Charlie möchte, dass wir ganz bald wegfahren. Wir müssen endlich anfangen, unsere Ehe zu kitten, und mal richtig über alles reden, was passiert ist. Im Moment beschränken wir uns noch darauf, jeden Tag möglichst problemlos hinter uns zu bringen. Wir fassen einander mit Samthandschuhen an, und jeder von uns versucht, möglichst nett mit dem anderen umzugehen. Das heißt, wenn ich nicht gerade mit einer Freundin sein Arbeitszimmer durchwühle.«

Sie wirkte plötzlich sehr müde und niedergeschlagen. Es strengte sie sichtlich an, zu dem Stapel aus Zeitschriften und Katalogen zu gehen und mir die Reisebroschüre zuzuwerfen.

»Das sieht wirklich alles sehr gut aus«, stellte ich fest, während ich die Seiten durchblätterte.

Ich griff nach irgendeinem Stück Papier, das unter Charlies Schreibtisch lag, notierte mir die Telefonnummer und E-Mail-Adresse und steckte den Zettel in meine Geldbörse.

»Wann soll’s denn losgehen?«

»Ich schätze, schon in den nächsten Tagen. Gott weiß, wovon wir das bezahlen sollen. Aber ich glaube, wir können es uns ebenso wenig leisten, nicht zu fahren. Zumindest hat Charlie es so ausgedrückt.«

Ich legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es wird schon alles gut werden«, sagte ich eine Spur zu fröhlich.

Eigentlich hatten wir vorgehabt, Rechnungen und Belege für ihre Steuererklärung zu sortieren, aber am Ende landeten wir vor Hollys Kleiderschrank. Sie erklärte, sie wolle alles hinauswer-fen, was sie nicht mehr tragen werde.

»Wie das hier«, sagte sie in bedauerndem Ton und hob ein kleines Schwarzes hoch, wobei die Betonung in diesem Fall auf

»klein« zu legen war.

»Das hast du auf der Party in der Royal Festival Hall getragen und damit alle Blicke auf dich gezogen. Irgendwie sah es ganz

…«, ich zögerte, »… es sah ganz besonders aus.«

»Besonders unmöglich, meinst du wohl. Ich weiß, dass ich mich oft danebenbenommen habe. Ich mag gar nicht mehr daran denken. Die Zeiten sind vorbei. Obwohl es auch Spaß gemacht hat, oder? Vielleicht behalte ich es zur Erinnerung. Was hältst du von diesem Shirt hier?«

»Sehr dramatisch.«

»Mülltonne oder behalten?«

»Die Entscheidung liegt bei dir.«

»Nachdem ich mir nicht sicher bin, behalte ich es lieber. Nur für den Fall, dass ich es doch mal wieder anziehen möchte.«

Am Ende warf sie nur einen Rock weg, bei dem der Reißverschluss kaputt war, und ein paar Strümpfe mit Laufmaschen.

Alles andere – all die bunten, schrillen Sachen, von denen sie sich als Zeichen ihrer neuen Mäßigung hatte trennen wollen –

wanderten zurück in ihre Schränke. Ich fühlte mich seltsam erleichtert.

Sie wollte, dass ich noch blieb, aber ich erklärte ihr, dass ich noch einiges zu erledigen hätte.

Holly begleitete mich hinaus. Nachdem wir uns zum Abschied umarmt hatten, schloss sie die Tür. Ich wartete noch ein paar Augenblicke und ging dann die wenigen Meter zum Nachbar-haus, in dem Naomi im obersten Stock wohnte. Sie hatte mir von ihrer Wohnung erzählt: ein kleines Schlafzimmer, eine Toilette und eine leckende Dusche, eine winzige Küche, ein Wohnzimmer, das ihr zugleich als Arbeitszimmer diente, eine eigene Telefonleitung.

Ich klingelte, wartete einen Moment und klingelte dann noch einmal. Schließlich hörte ich Schritte. Ein älterer Mann in einer weiten Jacke und Hausschuhen öffnete mir die Tür.

»Ist Naomi nicht da?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Sie sind weggefahren.«

»Oh«, sagte ich. Mir kam ein Gedanke. »Hat ihr Freund sie abgeholt?«

»Nein, nein, nichts dergleichen. Sie hat keinen Freund.«

Ich zwang mich zu einem unbefangenen Lachen. »Sie passen gut auf sie auf, oder?«

»Sie bäckt oft Kekse für mich«, antwortete er. »Manchmal sehen wir abends zusammen fern. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben, müssen Sie wissen. Soll ich ihr etwas ausrich-ten?«

»Mit wem ist sie denn weggefahren?«

»Sie sind ganz schön neugierig, junge Dame.« Er lachte.

»Ich wollte bloß –«

»Es war nur ein Nachbar.«

»Charlie?«

»Richtig. Es hat also alles seine Ordnung.«

Er lud mich ein, eine Tasse mit ihm zu trinken. Ich glaube, er war ein einsamer Mann, aber mir schwirrte derart der Kopf, dass ich gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich verabschiedete mich, sobald es der Anstand erlaubte.

»Es ist nicht schön, Meg, aber so etwas passiert nun mal«, meinte Todd. »Das Wichtigste ist natürlich, dass Hollys Genesung nicht darunter leidet.«

Ich runzelte die Stirn. »Du hast mich nicht richtig verstanden«, erklärte ich. »Es geht mir nicht um die Affäre, obwohl ich natürlich wünschte, es gäbe sie nicht. Holly hat an dem Tag versucht, mich anzurufen, und kam nicht durch. Laut ihrer Telefonrechnung ist an dem Tag tatsächlich von dem Apparat aus gesprochen worden, wobei sie sich allerdings nicht erinnern kann, die betreffende Nummer gewählt zu haben. Trotzdem muss das Telefon zu dem Zeitpunkt noch funktioniert haben.

Und als sie dann irgendwann versuchte, meine Nummer zu wählen, funktionierte das Telefon mit einem Mal nicht mehr.«

»Warum um alles in der Welt zerbrichst du dir über etwas so Unwichtiges den Kopf, wenn –«

»Mir ist da ein schrecklicher Gedanke gekommen, Todd. Ein ganz, ganz schrecklicher Gedanke.«

»Schieß los.«

Ich öffnete den Mund, brachte es aber nicht fertig, die Worte auszusprechen. Es war eine haarsträubende Idee, wie sie Holly in einem ihrer manischen Zustände hätte einfallen können.

»Vergiss es. Ich bin wahrscheinlich bloß paranoid.«

Wie sehr er auch versuchte, es mir zu entlocken, ich konnte nicht darüber sprechen. Mir waren meine eigenen Gedanken plötzlich höchst peinlich.

Trotzdem ging mir das Ganze nicht aus dem Kopf, und während Todd in dieser Nacht friedlich neben mir schlief, lag ich wach und zermarterte mir das Gehirn, was ich tun sollte. Ich musste die ganze Zeit an Hollys bleiches, vertrauensvolles Gesicht denken. War es das? War es das, was ich die ganze Zeit übersehen hatte?

35

»Ich bin in der Bar ein Stück die Straße runter.«

»Welche Straße meinst du?«

»Die, in der unser Büro liegt, Dummchen. Was glaubst du denn? Hast du kurz Zeit vorbeizuschauen?«

»Bin schon unterwegs – es ist doch nichts passiert, oder?«

»Wirst du jetzt den Rest deines Lebens jedes Mal befürchten, dass etwas passiert ist, wenn ich dich sehen möchte?«

»Nein, ich wollte nur –«

»Es ist alles in Ordnung. Ich würde dich nur gern sehen und dir etwas geben. Soll ich schon mal einen Tomatensaft für dich bestellen?«

»Ja, mit viel Selleriesalz und Worcestersauce –«

»– und schwarzem Pfeffer und einer Scheibe Zitrone, ich weiß. Dann bis gleich.«

Egal, was Holly am Telefon gesagt hatte, ich war trotzdem davon überzeugt, dass irgendetwas vorgefallen war, und stürmte aus dem Büro, wobei ich im Laufen meinen Mantel anzog und Trish zurief, dass ich so schnell wie möglich zurückkommen und den Rest der Buchhaltung durchsehen würde.

Holly saß an unserem alten Ecktisch. Sie hatte noch ihre Jacke an und ihren Schal umgebunden und ließ gedankenverloren das Wasser in ihrem Glas kreisen. Ihr Gesicht wirkte abgespannt und nachdenklich, aber als sie mich kommen sah, hellte sich ihre Miene auf.

»Hier«, sagte sie. »Tomatensaft. Und …« Mit einer schwungvollen Bewegung zog sie einen Umschlag aus ihrer Tasche.

»Hier.«

»Was ist das?«

»Es ist für dich.«

Nachdem ich einen Schluck von dem Saft genommen hatte, öffnete ich den Umschlag. Er enthielt einen auf mich ausgestell-ten Scheck über sechzehntausend Pfund.

»Holly! Nein!«

»Du hast nicht gedacht, dass ich es dir zurückzahlen würde, oder?«

»Ich wollte nicht, dass du es mir zurückzahlst. Es war ein Geschenk. Wie um alles in der Welt bist du an das Geld gekommen?«

»Es war ganz einfach – nun ja, relativ einfach –, die Hypothek auf das Haus um diese Summe zu erhöhen. Fairerweise sollte ich dich allerdings warnen. Löse diesen Scheck besser nicht vor nächster Woche ein.«

»Ich will das nicht. Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Ganz im Gegenteil, es ist der völlig falsche Zeitpunkt. Ich weiß, in welcher finanziellen Notlage du steckst, und würde mich schrecklich fühlen, diesen Scheck jetzt anzunehmen.«

»Meg, hör zu. Ich möchte darüber nicht diskutieren. Es ist dein Geld. Ich müsste mich selbst hassen, wenn ich es behalten würde. Ich weiß, dass du es mir gerne gegeben hast, und ich danke dir dafür und werde dir das nie im Leben vergessen. Nie.«

Ihr traten Tränen in die Augen, die sie aber ungeduldig wegblin-zelte. »Das ist ein Teil meines Gesundwerdens. Mein neues Ich.

Ich übernehme die Verantwortung für das, was ich angerichtet habe. Ich muss das tun, Meg. Ich muss. Steck es in deine Tasche. Wer weiß, was mir sonst wieder einfällt.«

Ich tat wie mir geheißen und legte dann meine Hand auf ihre.

Einen Moment lang saßen wir schweigend da. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. »Dann weiß Charlie jetzt Bescheid?«

»O ja«, antwortete sie in grimmigem Ton. »Jetzt weiß er definitiv Bescheid.«

»Du hättest es ihm sowieso irgendwann erzählen müssen.«

»Ja, wahrscheinlich.«

»War es schlimm?«

»Besonders gut ist es nicht gelaufen.«

»So schlimm?«

»Wer kann es ihm verdenken? Ausgerechnet jetzt, wo er sicher war, nicht mehr mit bösen Überraschungen rechnen zu müssen.«

»Was hat er gesagt?«

»Nicht viel.« Sie nahm einen Schluck Wasser. »Erst mal hat er überhaupt nichts gesagt und ist in sein Arbeitszimmer verschwunden. Beziehungsweise in das Zimmer, in dem er angeblich arbeitet.«

»Oh«, sagte ich lahm.

»Er kann nicht mehr. Während ich eben auf dich gewartet habe, ist mir etwas eingefallen. Damals, als ich auf der Straße durchdrehte und auf diese Leute losging und daraufhin ins Krankenhaus gebracht wurde, war ich einfach von zu Hause abgehauen. Er wusste nicht, wo ich war. Es hätte genauso gut sein können, dass ich mich unter einen Bus geworfen hatte. Die Polizei rief bei ihm an, und er fuhr ins Krankenhaus. Ich tobte wie eine Irre …« Sie stieß ein säuerliches Lachen aus. »Wieso sage ich eigentlich wie eine Irre? Aber als ich seinen Gesichtsausdruck sah, seine Wut und seine Verzweiflung, da spürte ich plötzlich auch noch einen gesunden Teil von mir, der sich schrecklich schuldig fühlte. Ich wusste, dass ich nie in der Lage sein würde, wieder gutzumachen, was ich da angerichtet hatte.

Er könnte mich tausendmal anschreien und hinausstürmen, und es wäre trotzdem nicht einmal ein Bruchteil von dem, was ich ihm angetan habe, Tag für Tag und Woche für Woche. Es wäre besser gewesen, er hätte mich nie kennen gelernt.«

»So etwas darfst du nicht sagen.«

»Ich mache alles kaputt.«

»Komm für eine Weile zu uns«, sagte ich unvermittelt in drängendem Ton, ohne selbst so recht zu wissen, warum. »Nur, bis sich die Lage ein bisschen entspannt hat. Geh nicht zurück nach Hause, Holly.«

Sie grinste mich an. »Du sagst doch ständig zu mir, dass jetzt wieder alles gut ist. Bist du auf einmal nicht mehr dieser Meinung?«

»Nur für eine Weile«, wiederholte ich.

»Trink deinen Tomatensaft aus, meine Liebe«, erwiderte sie in sanftem Ton, »und dann sieh zu, dass du wieder an deinen Schreibtisch kommst.«

36

Ich sagte mir, dass Charlie trotz allem ein ziemlich lieber Mann war: kein Held, aber auch kein Bösewicht. Er hatte etwas mit Naomi, aber wer konnte ihm das verdenken, nach allem, was er durchmachen musste? Natürlich war es ein schmerzhafter Gedanke für mich, dass Holly nach Kräften versuchte, ihre Ehe zu retten, während Charlie diese Affäre hatte – falls es wirklich nur eine Affäre war. Auf jeden Fall würde ich ihr nichts davon erzählen. Ich wollte ihre Genesung nicht aufs Spiel setzen.

Ich sah Holly mehrere Tage lang nicht, aber während ich an meinem Schreibtisch saß, versuchte ich mir vorzustellen, was sie sagen würde. Es war, als hätte ich neben meiner eigenen Stimme auch die ihre im Kopf. Ich rief sie an, um mich zu erkundigen, wie es bei ihr lief. Sie hörte sich gut an, sehr ruhig und entschlossen. Für Stuarts Prozess war ein Datum im Mai festgesetzt worden, und Holly meinte, sie habe wegen der ganzen Sache ein schlechtes Gefühl. »Irgendwie glaube ich immer noch, dass es meine Schuld war.«

»Holly, er ist in dein Haus eingebrochen und hat dich angegriffen.«

»Trotzdem.«

»Mit dieser Einstellung wirst du im Zeugenstand nicht von großem Nutzen sein.«

»Ich werde einfach sagen, was passiert ist. Nicht mehr und nicht weniger.«

Sie erzählte mir, dass sie jeden Tag laufen und schwimmen gehe. Dreimal die Woche sei sie zur Therapie bei einer Frau in Muswell Hill. »Ich führe im Moment ein ziemlich narzisstisches Leben«, erklärte sie. »Ich konzentriere mich nur darauf, dass mein Körper wieder in die Gänge kommt und mein Geist heilt.

Langweiliger geht’s nicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich danach sehne, wieder zu arbeiten – etwas zu machen, das nichts mit mir selbst zu tun hat. Ich bin mir sicher, dass es mir schon jetzt gut täte, ins Büro zu gehen.«

»Es dauert ja nicht mehr lange, bis du kommst«, meinte ich.

»Es sind nur noch ein paar Wochen.«

Ich fragte sie, wie es Charlie gehe, worauf sie antwortete, er sei inzwischen wieder »süß« zu ihr. »So etwas wie ein Liebesleben gibt es bei uns allerdings nicht mehr. Manchmal glaube ich, dass ich nie wieder Sex haben werde.«

»Liegt es an den Pillen?«, fragte ich und fühlte mich dabei wie eine Verräterin.

»Es liegt nicht an mir, sondern an ihm. Er hält mich für eine Invalide.«

»Es ist wahrscheinlich einfach noch zu früh«, versuchte ich sie zu beruhigen.

»Vielleicht kann ich ihn im Urlaub verführen. Ich werde über ihn herfallen und ein Nein einfach nicht gelten lassen.«

»Wann fahrt ihr denn? Und wo wollt ihr überhaupt hin?«

»Ich kann dir weder die eine noch die andere Frage beantworten. Charlie kümmert sich um alles. Er versucht, irgendein billiges Angebot zu ergattern.«

»Ich besuche dich Anfang der Woche wieder, falls ihr bis dahin nicht schon weg seid. Am Wochenende ist doch dieses Event mit den staatlich geprüften Gutachtern.«

»Ich wünschte, ich könnte dabei sein.«

Sie klang richtig wehmütig. Es wäre so leicht gewesen zu sagen: »Dann komm doch jetzt einfach in die Arbeit.« Oder:

»Setz die Medikamente ab, und sei wieder, wie du warst, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt.« Ich zwang mich zu einer vagen Antwort, bemühte mich dabei aber um einen möglichst fröhlichen Tonfall: »Ich fände es auch schön, wenn du dabei wärst. Ohne dich ist es nicht dasselbe. Es macht einfach keinen Spaß.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, verspürte ich plötzlich eine nagende Angst, die sich anfühlte wie eine juckende Stelle in meinem Gehirn, an die ich nicht herankam. Das Gefühl verließ mich den ganzen Vormittag nicht, obwohl ich mehrere Besprechungen und auch sonst jede Menge Arbeit hatte. Mittags holte ich mir ein Sandwich und ging zurück in das leere Büro, aber während ich auf meinen Bildschirm starrte, sah ich die ganze Zeit Hollys Gesicht vor mir.

Als das Telefon klingelte, fuhr ich erschrocken hoch. Es war unser Anwalt, der weitere Details über die Konditionen wissen wollte, zu denen Deborah bei uns angestellt gewesen war. Ich zog ein paar Schubladen auf, um die Informationen für ihn zusammenzusuchen, und stieß dabei auf den braunen Umschlag mit den Fotos von Holly. An dem Tag, als Rees ihn mir auf den Schreibtisch warf, hatte ich ihn wie ein schmutziges Geheimnis irgendwo versteckt, wo ich ihn nicht sehen musste. Doch nun zog ich aufgeregt den Stapel glänzender Fotos heraus. Ich war überrascht, aber auch entsetzt über die Menge.

Sie waren alle heimlich aufgenommen worden. Holly hatte geglaubt, allein und unbeobachtet zu sein, dabei war sie in Wirklichkeit die ganze Zeit bespitzelt und auf Film gebannt worden. Ich brachte es kaum übers Herz, sie mir anzusehen; irgendwie erschien es mir fast unanständig, aber am Ende konnte ich doch nicht anders, als eines nach dem anderen zu betrachten. Ich versuchte, jeweils aus Hollys Miene herauszule-sen, wie es ihr zu dem betreffenden Zeitpunkt gerade ging. Die Bilder waren ein chronologischer Abriss ihrer Krankheit, Dokumente ihrer Reise durch Euphorie und Depression bis in den Wahnsinn. So hätte sie eigentlich niemals jemand sehen sollen.

Das erste Foto, nach dem ich griff, war eine etwas unscharfe Nahaufnahme von Holly, die sie im Halbprofil zeigte. Sie trug ihre Wildlederjacke und hatte ihr Haar unter einer lustigen kleinen Baskenmütze versteckt. Das Gesicht, das sie auf dem Foto machte, hatte ich bei ihr nur ganz selten gesehen: Es war ein Ausdruck verträumter, zerstreuter Nachdenklichkeit. Ein anderes zeigte sie vor dem Büro, aber dieses Mal war sie weiter entfernt, und ich ging neben ihr. Ich hatte die Hände in den Manteltaschen und den Kopf gesenkt. Mit meiner sorgenvoll gerunzelten Stirn schien ich in eine ganz andere Welt zu gehören als Holly, die mitten in einer schwungvollen Bewegung festgehalten war und anscheinend gerade etwas sagte. Ihr offener Mantel wehte im Wind. Sie hatte in typischer Hollyma-nier die Hände hochgeworfen, ein paar Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, und ihr leuchtend rot geschminkter Mund war zu einem Grinsen verzogen. Sie wirkte so lebendig, gleichzeitig aber auch irgendwie hysterisch.

Auf dem nächsten Foto hatte sie sich bei einem Mann unter-gehakt, den ich als Stuart identifizierte, und trug unglaublich alberne Schuhe. Während Stuart wie gebannt auf sie hinunter-starrte, würdigte sie ihn keines Blickes. Sie hatte die Lippen geschürzt und sah stur geradeaus.

Ich ging die Fotos weiter durch. Holly von hinten, wie sie, mit mehreren Farbdosen beladen, in ein Taxi stieg. Ein Mann mit einem Leichengesicht beugte sich vor, um ihr hineinzuhelfen. In dem Taxi saß noch eine weitere Person, aber da das Foto nachts aufgenommen worden war, konnte man nicht erkennen, um wen es sich handelte. Auf einem anderen sah man Holly mit Charlie durch den Park gehen. Das Foto wirkte leicht gemasert, was wahrscheinlich bedeutete, dass es regnete. Charlie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während Holly wieder wild gestikulierte. Sogar auf Fotos sah man, dass sie sich selten stillhielt. Ein weiteres zeigte sie in einer unförmigen Jogginghose und mit fettigem Haar. Sie ging leicht gebeugt, wie eine alte Frau.

Das nächste Foto hätte ich vor Schreck fast fallen lassen, denn Holly sah darauf so schlimm aus, dass ich sie erst auf den zweiten Blick erkannte: Es war wie eine Zeichentrickversion, alles erkennbar, aber stark übertrieben. Sie trug ein Nachthemd, nicht zusammenpassende, hochhackige Schuhe und einen Schal, der ihr von einer Schulter bis auf den Gehsteig hing. Ihr Haar wirkte verfilzt, und ihr Mund war weit aufgerissen zu – was?

Einem Schrei des Entsetzens? Einem animalischen, schmerzer-füllten Heulen? Ich konnte die eindringliche, schreckliche Intimität dieser Aufnahme kaum ertragen. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich das, was Holly in den letzten Monaten oder sogar Jahren durchgemacht hatte, nur bis zu einem gewissen Grad in mein Bewusstsein hatte dringen lassen.

Mein Blick glitt über die Gesichter der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie starrten sie fast alle an, sodass man den Eindruck hatte, dass Holly den Mittelpunkt des Fotos bildete, obwohl sie sich in Wirklichkeit auf der linken Bildhälfte befand. Ein junger Mann lachte und deutete mit dem Finger auf sie. Ich errötete bis zu den Haarwurzeln und wurde dann ziemlich wütend. Niemand sollte je wieder dieses Foto zu sehen bekommen. Ich riss es in der Mitte auseinander und warf es in den Papierkorb unter meinem Tisch.

Dann erstarrte ich plötzlich, ohne recht zu wissen, warum. Ich hatte etwas gesehen und doch nicht gesehen. Irgendetwas war mir im Gedächtnis haften geblieben, aber ich wusste nicht, was.

Ich beugte mich hinunter und holte die zwei Hälften wieder aus dem Papierkorb. Betrachtete Holly, die Personen um sie herum

– vor und hinter ihr. Dann entdeckte ich, was ich schon vorhin wahrgenommen hatte, ohne es richtig zu registrieren. Was ich gewusst hatte, ohne dass es mir richtig bewusst geworden war.

Ich erkannte ihn. Ganz am Rand des Bildes, ein Stück hinter Holly. Er trug seine Lederjacke und betrachtete die völlig aufgelöste Frau mit ruhiger, prüfender Miene, ganz anders als die neugierigen, schadenfrohen oder mitleidigen Menschen rundherum.

Charlie.

Ich schloss die Augen und hörte wieder Hollys Stimme:

»Als ich auf der Straße durchdrehte und auf diese Leute losging und daraufhin ins Krankenhaus gebracht wurde, war ich einfach von zu Hause abgehauen. Er wusste nicht, wo ich war.

Es hätte genauso gut sein können, dass ich mich unter einen Bus geworfen hatte. Die Polizei rief bei ihm an, und er fuhr ins Krankenhaus. Ich tobte wie eine Irre …« Das hatte sie gesagt.

Das hatte Charlie ihr erzählt. In Wirklichkeit aber war er ihr die ganze Zeit gefolgt und hatte zugesehen, wie sie auf der Brücke zusammenbrach. Warum war er ihr nachgegangen? Was hatte er erwartet? Dass sie sich umbringen würde? Wieder starrte ich auf das Foto. Er wirkte sehr gefasst.

Ich zog das Telefon zu mir heran und wählte ihre Handynum-mer, aber nachdem es ein paarmal geläutet hatte, schaltete sich ihre Mailbox ein. »Holly«, sagte ich. »Holly, ich bin’s, Meg.

Wenn du das abhörst, dann ruf mich gleich zurück, ja? Sofort, hörst du? Ruf mich einfach an. Es ist dringend.«

Dann wählte ich ihre Festnetznummer und lauschte dem Klingelton, der immer wieder durch ein leeres Haus hallte.

37

Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und alles noch einmal genau zu durchdenken. Ich konnte richtig spüren, wie mein Gehirn auf Hochtouren zu arbeiten begann, fast als würde es zischend und knisternd Funken schlagen. Wenn ich in der Arbeit etwas vorzubereiten hatte, machte ich mir immer eine Liste, die ich dann Punkt für Punkt abhakte, um sicherzustellen, dass ich nichts vergessen hatte. Dasselbe tat ich jetzt, wenn auch nur im Geist: Als Charlie darüber gesprochen hatte, dass Holly immer noch an Selbstmord denke und er Angst habe, sie zu verlieren, hatte sich das angehört, als würde er sich auf etwas vorbereiten.

Er steckte ihretwegen in finanziellen Schwierigkeiten, die immer schlimmere Ausmaße annahmen. Außerdem war da noch Naomi. Und nun dieses Foto. Für sich allein genommen wäre wahrscheinlich nichts davon besonders verdächtig gewesen, aber alles zusammengenommen … Ergab das tatsächlich ein Muster, oder war das nur eine Ausgeburt meiner Phantasie?

Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Charlie war im Haus gewesen, als Holly sich umzubringen versuchte. Er, und nicht Holly, hatte Naomis Nummer gewählt, während seine Frau im Sterben lag. Wahrscheinlich war ihm plötzlich klar geworden, dass das Leben für ihn leichter wäre, wenn Holly sterben würde. Er hätte wieder der sorgenfreie, gut aussehende junge Mann sein können, der er gewesen war, bevor sie sich kennen lernten.

Ich rief mir ins Gedächtnis, dass der Mann, dem ich das alles unterstellte, Charlie war, der Mann, in den ich mich fast verliebt hätte. Den ich mochte, bewunderte, bemitleidete und meinen Freund nannte, meinen Seelenverwandten. Ich sah sein lächelndes Gesicht vor mir, die Krähenfüße um seine Augen, seine zerknitterte Kleidung. Ich musste daran denken, wie er die Stirn in Falten legte, wenn er etwas reparierte, dabei aber doch einen so zufriedenen Eindruck machte. Ich erinnerte mich, wie er jedes Mal lächelte, wenn er mich sah, und mir seine warme Hand auf die Schulter legte, und daran, wie er am Anfang gewesen war, als er sich unsterblich in Holly verliebte. Nein, es konnte einfach nicht stimmen. Meine Gedanken waren lächerlich, abstoßend, hysterisch, verrückt.

Aber während mir all die Gedanken durch den Kopf gingen, starrte ich wieder auf das Foto hinunter. Das war ein kühl beobachtender Mann, den ich nicht kannte, ein Mann, der von mir fremden, nicht vertrauten Emotionen geleitet wurde. Ich spürte, wie die Angst in mir hochkroch. Wieder tippte ich Hollys Nummer, obwohl ich wusste, dass sie nicht abheben würde.

»Komm schon«, sagte ich in mein Telefon hinein, »geh ran!«

Wo waren sie? Krampfhaft versuchte ich, mir mein letztes Gespräch mit Holly ins Gedächtnis zu rufen. Hatte sie irgendetwas gesagt, das mir einen Anhaltspunkt geben konnte? Sie hatte über ihren Last-Minute-Urlaub gesprochen, aber es hatte noch nichts festgestanden, und außerdem war es Charlie, der das Ganze plante, und nicht sie. Wer konnte etwas wissen? Ich rief ein paar ihrer Freunde an. Alle erklärten, Holly habe sich schon längere Zeit nicht mehr bei ihnen gemeldet. Als Nächstes versuchte ich es bei Hollys Mutter. Es ging niemand ran.

Allmählich wurde mir vor Angst ganz übel, aber ich zwang mich zur Ruhe. Es konnte doch nicht so schwer sein, die beiden aufzuspüren. Bestimmt gab es eine ganz einfache Lösung. Da fiel mir die Telefonnummer des Reiseveranstalters ein, die ich mir bei Holly notiert hatte. Ich wühlte in meiner Tasche herum, bis ich den zusammengefalteten Papierfetzen fand. Ich bemerkte an der Außenseite Hollys Schrift, noch ein bisschen krakeliger als sonst, und bevor ich den Zettel auseinander faltete, um die Nummer zu wählen, las ich, was Holly geschrieben hatte.

»Meine liebe und treue Meg«, stand da. Sonst nichts. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, spürte aber, wie sich mein Herz erneut vor Angst um Holly zusammenkrampfte. Ich war ihre liebe und treue Freundin und musste ihr helfen. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer.

Eine Frau meldete sich. Ich erklärte ihr, Freunde von mir hätten bei ihnen einen Urlaub gebucht, und ich müsse mich möglichst schnell wegen eines privaten Notfalls mit ihnen in Verbindung setzen. Ich hielt das für eine gute Begründung, weil sie einerseits dringend klang, andererseits aber auch keine Zeit für unnötige Fragen ließ. Trotzdem erklärte die Frau widerstre-bend, sie dürfe keine Informationen über ihre Kunden herausgeben. Ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, was in meinem Fall aber keineswegs bedeutet, dass ich ausraste.

Ganz im Gegenteil, ich werde dann sehr kühl und ruhig.

»Sie sind ein Reiseveranstalter und keine Arztpraxis«, sagte ich. »Es handelt sich um einen Notfall. Ich muss mich mit den beiden in Verbindung setzen, um ihnen etwas mitzuteilen, das sehr wichtig für sie ist. Wenn Sie damit ein Problem haben, dann verbinden Sie mich doch bitte mit Ihrem Vorgesetzten.«

Sie bat mich, einen Moment zu warten. Ich hörte Gemurmel.

Offenbar sprach sie mit jemandem.

»Ich werde mal nachsehen, ob ich die Buchung finden kann«, sagte sie schließlich.

Ich wartete eine Weile.

»Es tut mir Leid«, erklärte sie, als sie wieder an den Apparat kam. »Ich kann nichts finden.«

»Das ist unmöglich«, widersprach ich. »Haben Sie unter beiden Namen nachgesehen?«

Sie hatte. Ohne Erfolg. Ich wäre vor Frustration und Wut fast in Tränen ausgebrochen. Da kam mir der rettende Gedanke: Naomi. Wenn jemand etwas wusste, dann sie. Aber das konnte ich nicht übers Telefon erledigen. Es war zu wichtig. Ich musste sie persönlich aufsuchen und dabei taktisch klug vorgehen.

Trish war inzwischen aus der Mittagspause wieder da. Ich informierte sie, dass ich wegmüsse und nicht genau wisse, wann ich zurückkäme. Ich versprach, sie von unterwegs aus anzurufen. Ich nahm mir ein Taxi und überlegte während der ganzen Fahrt, wie ich die Sache anpacken solle. Nachdem ich mein Ziel erreicht hatte, klingelte ich vorsichtshalber erst einmal bei Charlie und Holly. Nichts. Also versuchte ich es eine Tür weiter.

Als ich auf Naomis Klingel drückte, fiel mir ein, dass sie möglicherweise nicht zu Hause war und ich mit dieser Aktion kostbare Zeit verlor, aber gleich darauf öffnete sie mir die Tür.

»Meg?«, begrüßte sie mich überrascht.

Obwohl sie mich noch nicht hereingebeten hatte, betrat ich die Diele.

»Ich, ähm«, begann ich, weil ich meinen Text vergessen hatte,

»ich wollte Holly etwas sagen. Etwas Wichtiges. Kann ich kurz mit hochkommen?«

»Ich …«, sagte sie, aber ich stieg bereits die schmale Treppe zu ihrer Einzimmerwohnung hinauf.

»Es dauert nur eine Minute oder so.«

»Ich glaube, sie sind für ein paar Tage weggefahren«, erklärte sie, während sie die Tür aufmachte. Ihr Zimmer wirkte blitzsau-ber, aber ein wenig trist: ein beiges Sofa, an der Wand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, in der Ecke ein Gummibaum, der das Licht schluckte.

»Ich muss Holly etwas sagen«, wiederholte ich. »Es geht um etwas Berufliches. Die beiden haben nicht zufällig eine Telefonnummer hinterlassen, oder?«

Sie wartete einen Moment zu lange, ehe sie mit einem aufge-setzten Lächeln antwortete: »Nein. Jedenfalls nicht bei mir.

Warum sollten sie auch?«

»Charlie hat ein Handy, oder?«

»Ja«, antwortete sie. Dann fügte sie rasch hinzu: »Ich hab die Nummer aber nicht.«

»Es ist wichtig«, sagte ich.

»Ich habe die Nummer nicht«, wiederholte sie.

»Naomi«, drängte ich, doch als ich ihre angespannte Miene und ihren misstrauischen Blick sah, sparte ich mir den Rest. Es hatte keinen Sinn, sie würde die Nummer nicht herausrücken.

Einen Moment lang konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, wusste nicht, was ich tun sollte. Dann entdeckte ich auf dem niedrigen Tisch neben dem Sofa einen Terminplaner.

Konnte es sein, dass die Nummer darin zu finden war? Und wie kam ich an sie heran? Ich durfte auf keinen Fall wieder gehen.

Noch nicht.

»Tja«, sagte ich, »was glaubst du, wie die Dinge stehen? Mit Holly, meine ich.«

»Nicht gut«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Charlie glaubt

…«

»Ich weiß – er glaubt, sie wird es wieder versuchen. Bist du auch dieser Meinung?«

»Ich habe manchmal große Angst, dass …«

»Hättest du vielleicht eine Tasse Kaffee für mich?«

»Bitte?«

»Kaffee. Hast du zufällig welchen da?«

»Ich bin ein bisschen in Eile«, antwortete sie.

»Dann Instant.«

»Instant habe ich nicht.«

»Oder eine schnelle Tasse Tee.«

»Meinetwegen«, sagte sie.

Wir blickten uns an. Mir war klar, dass sie mich in dem Moment genauso hasste wie ich sie.

Nachdem sie den Raum verlassen hatte, wartete ich einen Augenblick. Dann rief ich: »Kann ich dir was helfen?«

»Komm doch rüber!« antwortete sie. Durch die dünnen Wände klang sie unheimlich nah.

Ich griff nach dem Terminplaner und blätterte rasch zur aktu-ellen Woche. Da stand etwas. Ich hatte auf eine Adresse gehofft, aber es war nur eine Telefonnummer, eine lange Vorwahl, keine Londoner Nummer. Natürlich konnte es sich auch um die Nummer ihrer Mutter oder von sonst wem handeln. Oh, bitte, lieber Gott, dachte ich, bitte, bitte, ich werde mich auch mein Leben lang bemühen, ein guter Mensch zu sein. Die Nummer war so lang, dass ich sie mir unmöglich auswendig merken konnte. Ich fand auf dem Kaminsims einen Stift und notierte sie mir auf dem Handrücken. Als ich Schritte hörte, klappte ich den Planer rasch zu und kritzelte die letzten paar Zahlen. »Was machst du da?«

Ich fuhr erschrocken herum. Sie war hinter mir in den Raum getreten. »Ideen«, antwortete ich lahm.

»Was?«

»Wenn ich irgendwelche Ideen habe, muss ich sie mir sofort aufschreiben, weil ich sie sonst gleich wieder vergesse, und deswegen notiere ich sie auf alles, was ich gerade zur Hand habe. Notfalls auch eine Hand. Mir ist gerade eine Idee für eine Präsentation gekommen.« Zum Beweis streckte ich ihr meine Hand hin, wenn auch nur ganz kurz, damit sie nicht sehen konnte, dass es sich nur um Zahlen handelte. »Aber bestimmt möchtest du das gar nicht so genau wissen.«

»Ich wollte dich fragen, ob du deinen Tee mit Milch trinkst«, sagte Naomi.

»Es tut mir Leid«, antwortete ich. »Ich muss weg. Es ist mir gerade wieder eingefallen. Eine Besprechung. Ich werde sowieso schon zu spät kommen. Sie hat schon angefangen. Ich fühle mich ganz schrecklich. Wir müssen das bald mal wiederholen. Das ist jetzt wirklich sehr unhöflich von mir. Es tut mir Leid, ich muss –«

Ich rannte regelrecht aus dem Haus und hielt draußen nach einem Taxi Ausschau, aber es handelte sich um eine Wohnge-gend. Es gab keine Taxis. Ich warf einen Blick auf meinen Handrücken. Eine Telefonnummer. Was half mir das? Auf jeden Fall konnte ich dort anrufen. Ich wählte die Nummer auf meinem Handy. Es läutete ewig, aber es ging niemand ran. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Vielleicht machten sie gerade einen Spaziergang. Oder das Telefon war ausgestöpselt. Was sollte ich tun? Man kann eine Telefonnummer ja nicht einfach in einem Telefonbuch nachschlagen. Da fiel mir Trish ein. Sie kannte sich mit solchen Sachen aus. Ich rief sie an.

»Trish«, sagte ich, »wenn ich eine Telefonnummer habe und die dazugehörige Adresse wissen möchte, gibt es da eine Möglichkeit, sie herauszufinden? Kann ich eine CD-Rom kaufen oder jemanden anrufen, oder gibt es da eine Liste im Internet oder –«

»Wie lautet denn die Nummer?«, fragte sie.

Ich las sie ihr vor.

»Moment«, sagte sie. Ich hörte ein Tippgeräusch. »Ash Tree House, Corresham, Suffolk. Willst du die Postleitzahl auch?«

»Ja.«

Sie nannte sie mir, und ich erklärte ihr, dass ich den ganzen Tag wegbleiben würde.

»Und das Wochenend-Event?«

»Morgen bin ich wieder da.«

»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«, fragte sie.

»Du wirst es erfahren«, antwortete ich. »So oder so.«

Ich beendete das Gespräch und starrte dann auf mein Handy, als könnte es mir weiterhelfen. Mir fiel nur eine Person ein. Ich tippte ein paar Zahlen.

»Todd?« Ich konnte ihm jetzt unmöglich die ganze chaotische Geschichte erzählen. »Erinnerst du dich an den Tag, als ich dich um einen Gefallen bat, und du einfach Ja gesagt hast, ohne zu fragen, worum es dabei überhaupt ging? … Ja? Ich muss dich nämlich schon wieder um einen Gefallen bitten.«

38

»Todd«, sagte ich, während wir London verließen und auf der A12 in Richtung Osten fuhren. Es herrschte dichter Spätnach-mittagsverkehr. »Danke.«

Obwohl er nur eine Art Grunzen ausstieß, hatte ich nicht das Gefühl, dass er sauer war. Wahrscheinlich wollte er mich mit seiner schweigsamen Art einfach nur beruhigen. Allein schon seine gleichmäßige Fahrweise tat meinen angespannten Nerven gut. Ich saß leicht vorgebeugt neben ihm, als könnte ich uns durch diese Haltung zusätzlichen Schwung geben.

Wir sprachen nicht viel. Bei jedem Stau kaute ich hektisch auf meinem Daumen herum, und jedes Mal, wenn wir gezwungen waren abzubremsen, weil es wieder nur im Schritttempo voranging, stöhnte ich entnervt auf. Immer wieder starrte ich auf die Straßenkarte hinunter, als könnte ich einen geheimen Pfad durch die Autoschlangen finden, oder sah auf die Uhr, um auszurechnen, wie lange wir noch brauchen würden, bis wir unser Ziel erreichten. Einmal mussten wir anhalten, um zu tanken. Ich fand, dass es unerträglich viel Zeit in Anspruch nahm: jede Minute, jede Sekunde zählte.

Inzwischen war es fast dunkel, und es hatte zu nieseln begonnen. Ich fragte mich, wo Holly sich wohl gerade befand und was sie machte. Zum hundertsten Mal drückte ich auf die Wahlwie-derholungstaste meines Handys. Zum hundertsten Mal hörte ich es klingeln, ohne dass jemand ranging. »Glaubst du, ich bin verrückt?«, fragte ich Todd, nicht zum ersten Mal.

»Verrückt?«, fragte er. »Vor zwei Wochen habe ich alles, was ich an Geld flüssig machen konnte, einem Kriminellen in die Hand gedrückt. Jetzt chauffiere ich dich Hunderte von Kilome-tern, damit du deine beste Freundin, die mit ihrem geduldigen Ehemann einen lang verdienten Urlaub macht, zu Tode erschrecken kannst. Ich glaube nicht, dass es mir zusteht, einen anderen Menschen für verrückt zu erklären.«

»Oh, Todd, das ist lieb von dir.«

»Und natürlich besteht auch noch die Möglichkeit, dass die Telefonnummer gar nichts mit Charlie und Holly zu tun hat und wir bei irgendwelchen wildfremden Menschen landen.«

»Das kann nicht sein«, antwortete ich. »Das darf nicht sein.«

»Wenn das so ist«, sagte er, »dann hast du sicher Recht.«

Ich beugte mich schweigend vor. In mir nagte die Angst.

Obwohl ich nie an Gott geglaubt hatte, verspürte ich den Wunsch zu beten. Mach, dass es ihr gut geht, bitte mach, dass ihr nichts passiert, bitte, bitte, bitte. Es regnete immer noch.

Langsam ließ der Verkehr nach, und Todd konnte Gas geben.

Es war eine dunkle, mondlose Nacht. Am Horizont sahen wir den orangefarbenen Schein irgendwelcher Ortschaften. Schließ-

lich bogen wir von der Hauptstraße in eine kleinere, von regennassen Bäumen gesäumte Straße ein. Nun waren nur noch wenige Autos unterwegs. Unsere Scheinwerfer beleuchteten ausgedehnte, gepflügte Felder, kleine Wäldchen und alte, irgendwo in der Landschaft stehende Kirchen mit gedrungenen Glockentürmen und kegelförmigen Turmspitzen. Ich studierte die Karte, um den schnellsten Weg nach Corresham ausfindig zu machen, das sich zusammen mit mehreren anderen Dörfern in einem von drei größeren Straßen gebildeten Dreieck drängte und nicht weit von der Küste entfernt war.

Anfangs war es ganz einfach. Wir bogen nach links in eine weitere kleine Straße ein, die auf der Karte gelb markiert war, passierten ein paar Dörfer und bogen dann ein weiteres Mal ab.

»Nun haben wir es fast geschafft«, erklärte ich. »Es sind nur noch ein paar Kilometer. Wir müssen gleich an eine Kreuzung kommen.«

Kurz darauf sagte ich: »Inzwischen müssten wir längst da sein.

Moment. Das ist Foxgrove, da wollen wir gar nicht hin.«

»Was soll ich machen?«

»Bieg da vorne links ab. Nein, da geht es nach Lengham. Ich versteh das nicht. O Gott. Fahr einfach geradeaus weiter. Oder nein, vielleicht sollten wir lieber umdrehen und zurückfahren.«

Am liebsten hätte ich laut losgeheult.

Todd hielt an und warf selbst einen Blick auf die Karte. »Das ist wirklich verwirrend«, sagte er. »Lass uns zu dem Pub da vorn fahren und fragen.«

»Dann nichts wie hin.«

Ich sprang schon aus dem Wagen, während er noch rollte, und rannte auf das Pub zu. Inzwischen hatte es mehr oder weniger zu regnen aufgehört. Ich stieß die Tür auf, lief an ein paar Männern vorbei zur Bar und fragte die Frau hinter der Theke.

»Können Sie mir sagen, wie ich nach Corresham komme?«

»Corresham? Lassen Sie mich mal überlegen.« Sie nahm mit einer Metallzange einen Eiswürfel aus einem Behältnis und ließ ihn in ein Glas fallen.

»Es ist dringend«, sagte ich. »Ein Notfall.«

»Am besten, sie fährt die Stone Street entlang«, meinte einer der Männer. »Das ist eine Abkürzung.«

»Wo ist die Stone Street?«

Während ich schon wieder auf die Tür zusteuerte, beschrieb er mir den Weg auf unnötig komplizierte Weise.

»Links, rechts, rechts, links«, wiederholte ich das Wesentliche.

Auf dem Rückweg zum Wagen trat ich in eine tiefe Pfütze, sodass ich klatschnasse Füße hatte, als ich wieder zu Todd ins Auto stieg. »Links, rechts, rechts, links. Los!«

Kurz darauf erreichten wir Corresham, das eigentlich nur aus ein paar an der Straße entlang errichteten Häusern bestand.

»Gott sei Dank. Mal sehen, Mill House, The Nuttings, Pond Far … Wo, zum Teufel, ist Ash Tree House? Ich kann es nicht erkennen.«

»Vielleicht das da?«

»Es scheint keinen Namen zu haben. Soll ich schnell raus-springen und nachsehen? Es brennt ein Licht, also ist jemand da.«

Ich sprintete den Weg entlang und hämmerte mit der Faust an die Tür. Vielleicht würde mir Holly öffnen. Oder Charlie. Aber als die Tür schließlich ein Stück aufging, musste ich erst einmal meine Blickhöhe ändern, denn vor mir stand ein kleines Mädchen. Sie hatte Zöpfe und trug ein gelbes Nachthemd. »Ist deine Mutter auch da?«, fragte ich.

»Meine Mutter ist gestorben«, antwortete sie mit ernster Miene.

»Oh, das tut mir Leid. Dann vielleicht dein Vater?«

»Daddy!«, rief sie mit hoher, piepsiger Stimme. »Daddy, da ist eine Dame, die dich sehen möchte.«

»Frag sie bitte, wer sie ist, ja?«

»Es handelt sich um einen Notfall!«, rief ich ins Haus und schob die Tür ganz auf. »Wo ist bitte Ash Tree House?«

Er kam die Treppe herunter. »Ash Tree House? Ich glaube, das ist das Haus unten im Tal. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.

Liz!«, rief er nach oben. »Welches Haus ist Ash Tree House? Ist es das mit dem Bach am Ende des Gartens, das auf dem Weg zum Rose and Crown liegt?«

»Ja, warum?«

»Da ist eine Dame, die –«

»Bitte beschreiben Sie mir einfach den Weg«, unterbrach ich ihn. »Es ist dringend.«

»Dort entlang und dann die erste rechts, den Hügel hinunter.

Es ist eher ein Weg als eine Straße«, erklärte er.

Ash Tree House war auch eher ein Cottage als ein richtiges Haus. Weiß gestrichen, stand es ganz allein in einem kleinen Tal. Dahinter lag ein Wäldchen. Es brannte kein Licht, und es kam auch kein Rauch aus dem Kamin. Das kleine Haus wirkte kalt und verlassen.

Nachdem ich wieder ausgestiegen war, um für den Wagen das Tor zu öffnen, stieg ich gar nicht mehr ein, sondern lief die paar Meter zum Haus hinunter. Ich trat unter das kleine Vordach und betätigte den Klopfer. Keine Reaktion. Ich kniete mich auf den Boden und schob die Metallklappe des Briefschlitzes auf, sah aber nichts. Verzweifelt presste ich mein Gesicht an die Fenster-scheibe, konnte in der Finsternis, die lediglich durch die Scheinwerfer des Wagens erhellt wurde, jedoch nur schemenhafte Formen erkennen.

»Holly!«, rief ich. Während ich frustriert am Türgriff rüttelte, versuchte ich es noch einmal lauter: »Holly, bist du da?«

Als ich Todd über den Kies auf mich zukommen hörte, drehte ich mich um. »Es ist keiner da!«, sagte ich, fast schluchzend.

Todd ließ den Blick an dem dunklen Haus nach oben wandern.

Dann beugte er sich hinunter, hob einen Stein auf und warf ihn durchs Fenster. Das Glas ging mit einem überraschend lauten Krachen zu Bruch. Wir sahen uns an. Ich war mir ziemlich sicher, dass er so etwas, ähnlich wie ich, noch nie getan hatte.

Wir waren beide vernünftige Leute, die sich an Gesetze hielten und Regeln respektierten. Todd schlug die Glasreste weg, entriegelte dann von innen das Fenster und schob es hoch. Ein klarer Fall von Einbruch. Er stieg in das dunkle Haus ein. Ich hörte seine Schritte, und kurz darauf machte er mir die Haustür auf. Ich blickte mich nach Zeichen von Leben um. Zusammen liefen wir durch sämtliche Räume, machten alle Lichter an und riefen Hollys Namen. Ich trat in einen Raum und hatte plötzlich das Gefühl, als hätte jemand die ganze Luft aus mir herausgepresst. Auf dem Boden lag ein Koffer, aus dem Hollys Sachen quollen, die Sachen, die ich erst kürzlich zusammen mit ihr durchsortiert hatte. Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Todd griff nach dem Kabel.

»Ausgestöpselt«, stellte er fest.

»Wo sind sie?«

»Unterwegs«, antwortete Todd.

»Ja, wahrscheinlich.«

»Weit können sie allerdings nicht sein«, bemerkte Todd, der gerade einen Blick durch das Fenster an der Rückseite des Hauses warf. »Sie haben den Wagen dagelassen.«

»Wo?«

»Hinter dem alten Schuppen dort.«

»Ja, das ist Charlies Wagen.«

»Sollen wir ihn uns mal ansehen?«, fragte Todd, und plötzlich starrten wir uns mit offenem Mund an.

Wir stürmten die Treppe hinunter und dann durch die offene Tür nach draußen. Der unebene Boden ließ uns immer wieder stolpern, und dornige Zweige blieben an unseren Kleidern hängen, während wir auf den Wagen zueilten. Ich spürte mein Herz wie wild schlagen und hörte mich keuchen. Als wir näher kamen, hörten wir ein leises Motorengeräusch und sahen, dass sich etwas vom Auspuff zur Beifahrertür schlängelte. Todd entfernte die Papiertaschentücher, die den Schlauch fixierten, und zog diesen heraus. Ich rüttelte verzweifelt an der Tür, doch sie war abgeschlossen.

»Holly!«, schrie ich, denn ich konnte durch den Abgasnebel hinter der Scheibe ihr bleiches Gesicht erkennen. »Holly, wir sind da!«

»Moment«, sagte Todd, der auf der Suche nach etwas Scharf-kantigem oder Schwerem hektisch in der Erde herumwühlte und schließlich auf einen halb verrotteten Ziegelstein stieß.

»Nicht durch die Windschutzscheibe!«, keuchte ich. »Sonst schneidest du sie in Stücke.«

Er knallte den Stein gegen das kleine Seitenfenster, was beim ersten Mal noch nicht viel brachte, sodass er gleich noch ein zweites Mal zuschlug. Nun war das Loch bereits etwas größer, und sofort rochen wir das Gas, das uns in dicken Schwaden entgegenschlug. Todd streckte vorsichtig eine Hand zwischen den Glaszacken hindurch und entriegelte die Tür. Ich riss sie auf.

»Pass auf, dass du dich nicht schneidest«, warnte mich Todd, aber dafür war es schon zu spät. Ich tauchte in das von giftigem Gas erfüllte Wageninnere und zerrte die leblose Gestalt auf den kalten Boden heraus.

»Holly!«, rief ich. »Holly!«

Ich zog ihren kalten Körper an mich. Todd kauerte sich neben uns und nahm ihr schmales Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie lebt noch, Meg«, erklärte er. Während er mit mir sprach, tippte er auf seinem Handy die 999 ein.

»Sie lebt noch … Wir brauchen einen Krankenwagen!«, sagte er in das Telefon. »Jemand hat versucht, sich mit Autoabgasen das Leben zu nehmen. Ash Tree House, gleich außerhalb von Corresham, an der Straße zum Rose and Crown. Bitte beeilen Sie sich. Und die Polizei brauchen wir auch«, fügte er hinzu.

»Frag sie, was wir tun sollen«, sagte ich.

Aber sie erteilten ihm bereits Anweisungen, die er an mich weitergab. Ich hielt Hollys Nasenlöcher mit den Fingern zu und blies ihr Luft in den Mund. Ihre Lippen fühlten sich gummiartig an, und ihre Haut war kalt, aber ich spürte, dass ihr Herz schwach schlug. Todd und ich wechselten uns mit der Mund-zu-Mund-Beatmung ab, während der eisige Wind in Böen durch die Bäume fegte und immer wieder dicke Wassertropfen auf uns herabregnen ließ. Ich weiß nicht, wie lange das so ging. Minuten. Stunden. Wir sagten die ganze Zeit kein Wort.

Dann passierten zwei Dinge gleichzeitig. Über dem Hügel tauchten Scheinwerfer auf. Und während die Ambulanz und der Polizeiwagen in Sicht kamen, öffnete Holly blinzelnd die Augen. Den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns an, und ich hatte das Gefühl, dass sie sogar ein wenig lächelte.

Dann war plötzlich alles hell erleuchtet und laut, und es herrschte hektische Betriebsamkeit. Leute beugten sich über sie und gaben schnelle Anweisungen. Ein Mann sprach in ein Funkgerät. Holly wurde auf eine Trage gehoben, warm zuge-deckt und in einen Krankenwagen geschoben. Dann fuhren sie los. Das Blaulicht blitzte gespenstisch über den Wald hinweg.

Zurück blieben nur der Polizeiwagen und zwei Männer. Andere kümmerten sich jetzt um alles, und ich ging auf wackeligen Beinen zu Todd, schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest an mich.

Meine Wangen waren nass, aber ich konnte nicht sagen, ob es sich um meine Tränen handelte oder seine oder ob es einfach wieder zu regnen angefangen hatte.

Dann sah ich über seine Schulter hinweg die Silhouette eines Mannes am Tor auftauchen. Einen Moment lang blieb er stehen, dann machte er ein paar Schritte auf uns zu und verfiel gleich darauf in einen ungleichmäßigen Laufschritt.

»Meg«, sagte Charlie, als er uns erreicht hatte. »Was ist los?«

Er wandte sich an die Polizisten. »Wo ist meine Frau?«

Dann brach er in Tränen aus.

39

Ich betrachtete Charlie, der seine Tränen hinunterschluckte und noch einmal fragte: »Was ist los?« Im Licht des Streifenwagens wirkte sein Gesicht hager und geisterhaft bleich, und seine blutunterlaufenen Augen funkelten. Er zupfte nervös an seiner Jacke herum. Man sah ihm an, dass er Qualen litt, und trotz meiner Wut, meines Kummers und Entsetzens empfand ich plötzlich gegen meinen Willen Mitleid mit ihm. Außerdem fühlte ich mich so erschöpft, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

»Es ist alles in Ordnung, Sir«, begann einer der Polizisten, aber ich schnitt ihm das Wort ab.

»Sie haben sie mit dem Krankenwagen weggebracht, Charlie«, sagte ich, so ruhig ich konnte. »Und du weißt genau, was los ist.«

»Was?«, fragte er verwirrt. »Was?«

»Sie lebt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du verstehst sehr gut«, entgegnete ich und ging zu den beiden sich unterhaltenden Polizeibeamten hinüber. »Das ist der Ehemann. Sie müssen mit ihm sprechen. Es war kein Selbstmordversuch. Er wollte sie umbringen.«

Die beiden Männer musterten mich verlegen. Ich weiß nicht, wer ihnen verdächtiger vorkam, Charlie oder ich. Charlie machte eine ruckartige Bewegung und murmelte, dass er es nicht ertragen könne, wenn es Holly nicht gut gehe, oder so etwas in der Art.

»Entschuldigen Sie«, sagte einer der beiden Beamten. »Miss, ähm …?«

»Ich bin Meg Summers, Hollys beste Freundin«, antwortete ich. »Mein Freund und ich sind aus London herausgekommen, weil ich wusste, dass sie in Gefahr war. Wir haben es gerade noch rechtzeitig geschafft.«

»Ich möchte meine Frau sehen«, sagte Charlie. »Ich möchte Holly sehen. Können Sie mich hinbringen? Alles andere kann warten.«

»Wie konntest du das tun?«, fragte ich. »Wie? Ich weiß, was du durchgemacht hast. Ich weiß auch das mit Naomi. Ich weiß alles. Du hättest sie doch auch verlassen können. Warum bist du nicht einfach gegangen? Wie konntest du das nur tun?«

»Miss Summers«, meinte einer der Beamten. »Bitte beruhigen Sie sich.«

»Ich bin ruhig. Oder schreie ich? Weine ich? Ich bin ruhig, absolut ruhig.«

»Meg, Liebes«, sagte Todd und nahm meine Hand.

Charlie wandte sich an die Polizisten. »Meine Frau leidet schon seit längerem an schweren Depressionen«, erklärte er.

»Sie hat schon einmal versucht, sich umzubringen. Sie wurde mit Elektroschocks behandelt. Und sie hat seit Wochen von Selbstmord gesprochen.«

»Das stimmt nicht.«

»Es war nicht ihr erster Versuch?«, fragte einer der Beamten Charlie.

»Nein. Sie hat vor ein paar Wochen eine massive Überdosis Tabletten genommen. Sie ist manisch-depressiv. Es war für alle Beteiligten die Hölle. Aber darüber können wir später sprechen.

Ich muss jetzt zu ihr.«

»Du hast geglaubt, weil sie manisch-depressiv ist und bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat, könntest du sie töten und ungestraft davonkommen. Das perfekte Alibi. Es rechnen sowieso alle damit, dass sie es wieder tut, also wer sollte dahinter einen Mord vermuten?«

»Meg«, sagte Charlie leise. »Hör auf. Bitte.«

»Du hast sie doch mal so geliebt. Wie konnte es so weit kommen?«

»Nicht.« Er legte doch tatsächlich die Hände über die Ohren.

»Ich kann mir das nicht anhören.«

»Wir fahren Sie dann gleich ins Krankenhaus, Sir«, sagte einer der Beamten zu Charlie. »Aber vielleicht kommen Sie besser noch einen Moment mit hinein.«

Der andere Beamte klopfte ihm sogar auf die Schulter. »Ich bin sicher, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Sir«, sagte er. »Da liegt bestimmt ein Missverständnis vor.«

Die beiden – Charlie und der kräftiger gebaute Polizist –

gingen zusammen in Richtung Haus. Todd und ich blieben mit dem anderen Polizisten zurück, der weder misstrauisch noch zornig, noch sonst irgendwie betroffen wirkte. Er machte nur einen leicht verlegenen Eindruck, als hätte ich etwas verkompli-ziert, was ansonsten eine ganz eindeutige Situation gewesen wäre.

»Es ist kalt hier draußen«, stellte er fest. Er war mittleren Alters und hatte ein hochrotes Gesicht, wahrscheinlich von dem bitterkalten Nordwind, der mittlerweile so heftig über die Felder pfiff, dass sich die Bäume bogen. »Wir würden alle gern wieder in die Wärme, nicht wahr? Aber vielleicht möchten Sie in Ihrem Wagen warten, während wir uns noch kurz umsehen?«

»Sie glauben mir kein Wort, stimmt’s? Wie erklären Sie sich dann, dass ich wusste, dass sie in Gefahr war, und mit meinem Freund hier herausgerast bin, um sie zu retten? Wie erklären Sie sich das? Zufall?«

Er schwieg.

»Lass uns im Wagen warten«, meinte Todd. »Du musst nicht alles auf der Stelle beweisen. Du hast ihr das Leben gerettet. Das ist das Wichtigste, Meg. Sie wäre inzwischen tot, aber dank dir lebt sie noch. Sie ist im Krankenhaus. In Sicherheit.«

Er hielt mir die Tür auf, und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, ließ die Tür aber trotz der Kälte offen. Während ich so dasaß und dem Wind in den Bäumen lauschte, massierte Todd mit seinen kräftigen Fingern meinen Nacken. Ein paar Meter von uns entfernt inspizierte der Beamte den Wagen, in dem Holly fast gestorben wäre. Wir sahen den Strahl seiner Taschen-lampe durch das Wageninnere wandern. Schließlich verließ der Beamte den Wagen und ging langsam zurück zum Haus, wobei er seine Lampe auf den Weg gerichtet hielt. Ich sah, dass er weiße Handschuhe trug und etwas Flatterndes in der Hand hatte, das ich nicht genau erkennen konnte, vielleicht einen Lappen oder ein kleines Stück Stoff.

»Eines Tages«, sagte ich zu Todd, »werden wir auf diesen Tag zurückblicken wie auf einen Traum, und es wird uns vorkom-men, als wäre das alles jemand anderem passiert.«

Wir sahen den Polizisten wieder aus dem Haus treten und auf uns zugehen.

»Bitte, kommen Sie doch kurz mit hinein«, erklärte er, als er uns erreicht hatte. »Mr. Carter möchte, dass Sie sich etwas ansehen, bevor wir ihn ins Krankenhaus fahren.«

»Ich will auch mit ins Krankenhaus«, erklärte ich.

»Bitte, kommen Sie.«

Wir folgten ihm zum Haus. Er führte uns ins Wohnzimmer, wo noch immer die Scherben des eingeworfenen Fensters auf dem Boden lagen. Charlie saß breitbeinig in einem Sessel und hielt den Kopf in einem ganz seltsamen Winkel. Er wirkte völlig erschöpft, und als sein Blick auf mich fiel, blieb seine Miene unverändert.

»Wo ist nun das, was wir uns ansehen sollen?«, fragte ich.

»Ihre Freundin hat einen Abschiedsbrief hinterlassen«, erklärte der ältere Beamte. Dabei schaute er mich freundlich an.

»Was?«, fragte ich.

»Wir haben den Wagen untersucht. Auf dem Sitz lag ein kurzer Brief, in dem sie ihre Absicht, sich umzubringen, eindeutig ankündigt.«

»Das kann nicht sein«, entgegnete ich. »Der Brief ist bestimmt nicht echt. Ich möchte ihn sehen.«

»Zeigen Sie ihn ihr«, sagte Charlie.

Der Beamte trat vor, nahm ein Stück Papier aus einer Klarsichthülle und legte es auf den Tisch. Ich erkannte Hollys auffallende Handschrift sofort. Wir machten oft Scherze darüber. Sie war Linkshänderin und hielt die Hand beim Schreiben so, als versuchte sie zu verstecken, was sie gerade schrieb. Es war immer hoffnungslos unleserlich. Nach Jahren der Übung war ich eine der wenigen, die ihr Gekrakel entziffern konnten, und musste oft als Übersetzerin fungieren.

»Wir konnten die Schrift kaum lesen«, bemerkte der Beamte.

»Ich kann es«, antwortete ich seufzend. Ich beugte mich darüber. Es war ein sehr kurzer Brief, nur ein paar Zeilen lang.

Das Papier sah aus, als wäre ein Stück abgerissen worden, und Holly hatte sehr weit oben zu schreiben begonnen, als hätte sie vorgehabt, einen langen Text zu verfassen, und dann einfach aufgehört, weil es nichts mehr zu sagen gab. »Es tut mir so Leid.

Wirklich sehr, sehr Leid. Ich möchte nur, dass das alles aufhört.

Vergib mir, mein bester und einzig wahrer Freund. In Liebe, Holly.«

»Nein«, sagte ich. »Das kann nicht sein. Da stimmt etwas nicht.«

Ich spürte Todds beruhigende Hand auf meiner Schulter.

»Da stimmt etwas nicht«, wiederholte ich. »Da ist irgendetwas faul. Ich verstehe das nicht.«

»Du hast das Richtige getan«, meinte Todd. »Du hast Holly das Leben gerettet.« Er sah zu Charlie und wiederholte in ein wenig ungehaltenem Ton: »Sie hat ihr das Leben gerettet, stimmt’s?«

Charlies Gesicht wirkte starr wie eine Maske. An die Polizeibeamten gewandt, sagte er: »Ich wäre auch noch rechtzeitig gekommen. Ich hätte sie noch retten können.«

»Du bist ein Lügner und ein Mörder.«

»Bitte bringen Sie Ihre Freundin nach Hause«, forderte einer der Beamten Todd auf. »Sie ist durcheinander.«

Ohne etwas zu sagen, führte Todd mich hinaus, und wir stiegen in den Wagen. Er schob den Schlüssel ins Zündschloss.

Bevor er ihn umdrehte, beugte er sich zu mir und küsste mich.

»Können wir?«, fragte er sanft.

»Warte«, antwortete ich.

»Warum?«

»Da ist noch irgendetwas«, antwortete ich. »Etwas … ich kann es nicht … es ist …«

»Meg –«

»Sei still. Entschuldige. Aber sei einen Moment still.«

Ich drückte die Finger fest an die Schläfen. Irgendetwas war da im Kommen. Ich wusste, dass es kam, auch wenn ich mir nicht ganz im Klaren war, worum es sich handelte. Ich musste daran denken, wie es war, wenn man in der Londoner U-Bahn auf dem Bahnsteig stand und ein Zug einfuhr. Erst hört man noch gar nichts, man spürt es nur. Obwohl der Zug noch fast einen Kilometer weg ist, weht einem aus dem Tunnel warme Luft entgegen, und ein paar Papierfetzen werden hochgewirbelt.

In meinem Kopf wirbelte auch etwas herum, aber ich kriegte es noch nicht zu fassen. Dann hatte ich es plötzlich. Ja. Ja.

Ich schob die Hände in die Taschen meiner Jacke. Dieselbe Jacke hatte ich auch schon die vergangenen Tage getragen. Ja, da war es. Ich brauchte gar keinen Blick darauf zu werfen, ich wusste es auch so. »Ich muss noch mal rein«, erklärte ich.

»Nein, Meg, sei nicht albern.«

»Ich muss.«

Todd lief tatsächlich hinter mir her. Ich glaube, er war der Meinung, dass ich nun endgültig durchgedreht war, und versuchte sogar, mich zurückzuhalten, aber ich schüttelte ihn ab.

Als der Beamte die Tür öffnete, ließ seine Miene keinen Zweifel daran, dass er nicht im Mindesten erfreut war, mich zu sehen.

Sie waren gerade am Aufbrechen. Charlie trug noch immer seinen Mantel und spielte den betrübten Ehemann, der sich auf den Weg machte, seinen Platz am Bett seiner Frau einzunehmen.

Die Nachricht lag noch auf dem Küchentisch.

»Miss Summers, haben Sie etwas vergessen?«

»Nein, ganz im Gegenteil«, antwortete ich. »Mir ist etwas eingefallen.« Ich sah den Polizeibeamten an. »Haben Sie die Nachricht gefunden?«

»Es tut mir Leid«, erwiderte er. »Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

»Haben Sie die Nachricht gefunden?«

Er stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Ja.«

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Auf dem Fahrersitz«, antwortete er leicht gereizt.

»Und das war ihr Abschiedsbrief?«

»Ja.«

»Aber nicht für diesen Selbstmord.«

Der Beamte starrte mich einen Moment irritiert an.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er dann.

Ich zog den abgerissenen Papierfetzen aus meiner Tasche.

Den, den ich unter Charlies Schreibtisch gefunden und als Schmierzettel verwendet hatte, um mir die Nummer des Reisebüros zu notieren. Ich fügte ihn mit dem Brief auf dem Tisch zusammen. Er passte perfekt.

»›Meine liebe und treue Freundin Meg‹«, las ich vor. »Dieser Brief war für mich bestimmt.«

»Was, zum Teufel, ist das?«, fragte Charlie. »Das ist doch Blödsinn!«

»Nein, ist es nicht«, entgegnete ich. »Holly hat mir nach ihrem Selbstmordversuch erzählt, sie habe mir einen Abschiedsbrief geschrieben, der aber nicht gefunden worden sei. Ich nahm an, dass er in dem ganzen Chaos verloren gegangen war. Aber das stimmte nicht. Charlie hatte ihn genommen. Du hast ihn genommen«, sagte ich und sah ihn dabei direkt an. »Das war dein Freibrief für einen ungestraften Mord, stimmt’s? Sobald du es geschafft hattest, Hollys zweiten Selbstmord zu inszenieren, brauchtest du nur noch die oberste Zeile abzureißen und ein paar Buchstaben auszuradieren beziehungsweise hinzuzufügen, und schon würde kein Mensch Fragen stellen. Aber jetzt beweist dieser Brief das Gegenteil. Er beweist, dass du es warst.«

Nun folgte eine lange Pause. Vorsichtig verfrachtete der Beamte erst den Brief und dann meinen Abschnitt in die Klarsichthülle, wobei er beides nur ganz außen am Rand anfasste.

»Hasst du sie wirklich so sehr, Charlie?«, fragte ich.

Charlie blickte hoch. »Ob ich sie hasse?« Das klang fast, als würde er mit sich selbst sprechen. »Ich habe ein Jahr lang hinter ihr hergeräumt. Ich war nüchtern, wenn sie betrunken war. Ich musste mich mit den Typen herumschlagen, mit denen sie Stress gehabt hatte. Oder Sex. Sie hat mal versprochen, alles für mich zu tun, und damals hat sie es auch so gemeint. Aber was hat sie wirklich getan? Sie hat unser ganzes Geld ausgegeben, und dann auch noch Geld, das wir gar nicht besaßen. Und dann hat sie nur so zum Spaß noch eine ganze Menge verspielt. Jeden Tag hat sie Sachen gemacht, die ich mir nie hätte erlauben können. Jedenfalls weiß ich nicht, wie man über so etwas hinwegkommen soll.

Sie hat mir Dinge angetan, die mir mein schlimmster Feind nicht hätte antun können. Als ich sie kennen lernte, war ich jemand, aber sie hat alles zerstört, was ich war, alles kaputtgemacht, worin ich gut zu sein glaubte. Hass? Liebe? Ich kenne den Unterschied nicht mehr, Meg. Es sind sowieso nur Worte. Ich wollte nur noch, dass das alles ein Ende hat. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich wollte wieder frei sein, ich selbst sein können.«

Ich spürte, wie mein Mitleid sich verflüchtigte und an seine Stelle Abscheu trat: Charlie empfand schon genug Mitleid für sich selbst.

»Mr. Carter«, sagte der kräftig gebaute Polizeibeamte.

»An diesem Punkt muss ich Sie darauf hinweisen, dass alles, was Sie –«

»Ich möchte sie sehen«, unterbrach ihn Charlie.

Ich drehte mich zu Todd um. »Lass uns gehen.«

Hand in Hand verließen wir den Raum.

40

Ich hörte eine Stimme, eine Stimme, die ich kannte, und einen Moment lang stand ich ganz still und gab mich den Erinnerungen an jene Zeit hin.

»Ich nehme die weißen Rosen dort.« Mehr sagte sie nicht, aber ich wusste sofort, wer diese Worte sprach.

Es war ein Freitagnachmittag im September, einer jener herrlich frischen, blauen Herbsttage, an denen es in der Sonne noch schön warm ist und im Schatten schon richtig kalt. Einer jener Tage, an denen sich Sommer und Herbst begegnen. Ich kaufte in Soho für das Fest ein und ließ mir dabei Zeit, die Gerüche und Geräusche auf mich wirken zu lassen. Ich war vor dem Blumen-stand stehen geblieben und konnte mich nicht entscheiden, ob ich die bronzefarbenen Chrysanthemen oder die Freesien nehmen sollte. Meine Gedanken waren noch mit einer Menge anderer Dinge beschäftigt – dem Käsestand, dem Obststand, den Leuten, die bisher nicht auf die Einladungen reagiert hatten, der Frage, was wir abends essen sollten –, aber nachdem die Frauenstimme diese sechs Worte ausgesprochen hatte, trat alles andere in den Hintergrund, und ich befand mich wieder in der Geschichte, von der ich geglaubt hatte, sie wäre endgültig vorbei. Fast widerwillig drehte ich mich um.

Ich erkannte sie kaum wieder. Sie trug einen dicken rosafarbe-nen Tweedmantel und spitze schwarze Wildlederstiefel mit dünnen hohen Absätzen. Ihr Haar war länger und glatter, ihre Haut makellos. Alles an ihr wirkte auf eine teure und selbstbewusste Art schick. Sie sah nicht mehr aus wie eine Krankenschwester mit einem überzogenen Konto. Ihre eigenar-tigen, hellbraunen Augen aber waren unverkennbar. Sie starrte mich über die Blumen hinweg an. Für einen kurzen Moment sah ich in ihrem Blick so etwas wie Angst oder Feindseligkeit aufflackern, aber dann zwang sie sich zu einem Lächeln.

»Meg, oder? Meg Summers.«

»Naomi«, sagte ich. »Wie geht es dir?«

»Gut. Besser gesagt, den Umständen entsprechend. Man kommt über so etwas nicht so schnell hinweg, aber ich habe mir gesagt, dass ich stark sein und mein Leben weiterleben muss und mich nicht auch noch zu seinem Opfer machen lassen darf.

Es war schrecklich, nicht?«

Nun wirkte ihr Blick ernst und traurig.

»Ich habe versucht, mich mit dir in Verbindung zu setzen«, sagte ich. »Hinterher.«

»Wirklich? Wenn ich das gewusst hätte! Aber ich konnte nicht dort bleiben. Das verstehst du sicher. Ich musste mir etwas Neues suchen.«

»Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?«

»Grundsätzlich gern, Meg, vielleicht ein andermal, dann können wir uns alles erzählen, was seitdem passiert ist, aber heute bin ich so in Eile, und –«

»Es dauert nicht lange«, sagte ich entschieden. Ich schob meine Hand unter ihren Ellbogen und dirigierte sie fast mit Gewalt von der belebten Straße in das nächste Café, wo ich für mich einen Kaffee und für sie einen Kräutertee bestellte. Wir saßen an einem Tisch in der Nähe des großen Fensters. Da die Sonne hereinschien, wurde es mir schnell zu warm, sodass ich meinen Mantel auszog. Naomi öffnete bei dem ihren nicht mal einen Knopf.

»Wie geht es Holly?«, fragte sie. »Ich hätte sie damals gerne besucht, dachte mir aber, dass es zu schmerzhaft für sie wäre.

Ich habe gehört, dass es ihr besser geht und sie wieder arbeitet.«

Ich würde ihr nicht die geringste Information über Holly geben. »Hast du etwas von Charlie gehört?«, fragte ich sie stattdessen.

»Charlie? Nein. Am Anfang hat er mir Briefe aus dem Ge-fängnis geschrieben, aber ich habe sie nicht geöffnet.« Sie schauderte. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich noch etwas mit ihm zu tun haben möchte? Nach allem, was er Holly und mir angetan hat?«

»Wieso, was hat er dir denn angetan?«

»Er hat mich benutzt. Mich hintergangen. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich davon erfuhr? Der Mann, den ich liebte und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte.«

Ich gab ihr keine Antwort, sodass ein langes, peinliches Schweigen entstand.

»Ich weiß, was du der Polizei über mich erzählt hast«, sagte sie schließlich. »Das war verständlich. Du warst sehr aufge-bracht. Ich weiß, wie sehr du Holly immer vergöttert hast. Sie war deine große Heldin. Es tut mir Leid, Meg. Meine Beziehung mit Charlie war vielleicht nicht … Tatsache ist, dass er mir Leid getan hat. Er war damals völlig am Ende. Ich hatte das Gefühl, dass er Hilfe brauchte. Und dann habe ich mich in ihn verliebt.«

»Charlie hat sieben Jahre bekommen«, erklärte ich. »Das heißt, dass er wahrscheinlich in vier Jahren wieder draußen ist.

Wäre ich fünf Minuten später eingetroffen, dann hätte er bestimmt fünfzehn Jahre gekriegt. Als ich von London da hinauffuhr und Holly aus dem Wagen zog, habe ich nicht nur ihr das Leben gerettet, sondern gleichzeitig auch Charlie vor weiteren acht Jahren Gefängnis bewahrt. Und als ich dich damals fragte, ob du wüsstest, wo Charlie und Holly sich aufhielten, hast du mir ins Gesicht gesehen und Nein gesagt.

Weil du wusstest, was Charlie vorhatte und dass er dazu Zeit benötigte.«

»Das stimmt nicht.« Naomi nahm ein Paar Handschuhe aus ihrer Tasche und zog sie langsam an.

»Eines würde mich noch interessieren«, sagte ich. »Wachst du nachts manchmal auf und denkst an das Ganze?«

»Ich schlafe gut, danke der Nachfrage.«

Sie war im Begriff zu gehen, aber dann fiel ihr noch etwas ein.

»Hast du es schon mal so betrachtet?«, fragte sie. »Allen ging es gut, bis Holly des Weges kam. Charlie ging es gut. Er war ein lieber, freundlicher, talentierter Mann und zufrieden mit seinem Leben, bis er sie kennen lernte. Jetzt sitzt er wegen versuchten Mordes im Gefängnis. Diese Deborah war eine erfolgreiche Karrierefrau. Durch Holly hat sie nicht nur ihren Job und ihre Wohnung verloren, sondern auch einen Großteil ihres Verstandes, wenn ich richtig informiert bin. Ich habe in der Zeitung vom Prozess ihres Freundes Stuart gelesen, und dass Holly als Zeugin aufgetreten ist und mit ihrem Charme alle bezaubert hat.

Immer noch die gute alte Holly, was? Stuart hat nur eine Bewährungsstrafe bekommen, aber er wird ihretwegen sein Leben lang vorbestraft sein.«

»Bestimmt nicht allein ihretwegen.«

»Diese Menschen hatten nie etwas Böses getan, bevor sie Holly über den Weg liefen. Niemand von ihnen war gewalttätig oder bösartig. Sie waren alle ganz normale Leute, die einfach nur ihr Leben führen wollten. Sie hatten lediglich das Pech, Holly zu treffen. So, wie andere Menschen das Pech haben, in einen Tornado zu geraten. Und ich hatte auch Pech.«

»Offenbar geht es dir inzwischen aber wieder recht gut«, stellte ich fest.

Sie betrachtete den Ring an meinem Finger. »Dir auch, wie ich sehe«, sagte sie. »Glückwunsch. Und bingo!«

Sie hielt die linke Hand hoch, an dem ebenfalls ein goldener Ring glänzte.

41

Todd überließ die Planung der Hochzeitsfeier ganz mir. »Ich möchte, was du möchtest«, sagte er.

Ich war nicht ganz sicher, ob ich darüber glücklich oder irritiert sein sollte, aber ich entschied mich für Ersteres. Ich wusste ziemlich genau, was ich wollte. Auf jeden Fall sollte unser Fest keinerlei Ähnlichkeit mit einem Event im Stil von KS Associates haben. Es würde weder wie ein Jahrmarkt noch wie der Karneval in Rio, noch wie das Glastonbury Festival werden, sondern einfach nur eine Gelegenheit für unsere Freunde und Familien, aus allen Winkeln der Erde zusammenzukommen und gemeinsam mit uns zu essen, zu trinken und uns Glück zu wünschen.

Es gab durchaus Augenblicke, in denen ich mir über Hollys Rolle bei dem Ganzen Sorgen machte. Sie war bei der standes-amtlichen Trauung meine Trauzeugin gewesen – wie hätte ich dafür eine andere auswählen können? –, und auch da hatte ich leichte Bedenken gehabt. Völlig zu Unrecht, wie sich herausstellte. Holly benahm sich vorbildlich. Sie fiel weder mit dem Fallschirm vom Himmel, noch war sie wie ein Harlekin geklei-det. Sie trug ein kurzes blaues Kleid und einen Pillbox-Hut mit einem Schleier und wirkte schüchtern und beinahe so glücklich wie ich. Wir waren nur eine kleine Gruppe – Todds und meine Familie sowie sein bester Freund Francis. Holly hatte darauf bestanden, das an die Zeremonie anschließende Essen für uns zu organisieren. Es war perfekt, sie hatte ein spanisches Restaurant in einer Seitenstraße gleich um die Ecke ausgewählt, wo Fisch und Steaks über einem offenen Feuer gebraten und Krüge mit viel Wein serviert wurden. Als irgendwann während des Essens mein Blick auf sie fiel und ich sie mit einem meiner Cousins plaudern sah, dachte ich mir: Warum eigentlich nicht?

Natürlich hatte sie eine Menge Ideen für mein Fest. Sie kannte ein paar spektakuläre Örtlichkeiten. Einen der Türme der Tower Bridge. Einen riesigen Raum mit einer Glasfront, von dem aus man die ganze Oxford Street überblicken konnte. Eine alte Weberei in Spitalfields. Ein Kanal-Lastschiff. Eine nicht mehr genutzte U-Bahn-Station. Die größte Hüpfburg der Welt. Sie kannte auch eine Menge Leute: einen Clown, einen Zauberer, einen Jongleur, einen Leierkastenmann, einen Puppenspieler.

Das klang alles toll, sie war toll, aber ich sagte trotzdem: »Nein, das ist mein Tag, und ich will mir keinerlei Gedanken wegen irgendeines Programms machen müssen. Es werden auch keine Reden gehalten. Das musste ich Todd versprechen. Es wird ein Fest für Erwachsene werden. Die Leute können trinken und tanzen, und es soll absolut nichts schief gehen.«

»Was ist mit dem Essen?«, fragte sie und berichtete sofort von einem ihr bekannten Koch, dessen Spezialität es sei, ein Essen zuzubereiten, bei dem er jedes einzelne Teil eines Schweins verwende.

»Um das Essen kümmern sich Todds Eltern«, erklärte ich.

»Sie haben darauf bestanden.«

»Ich möchte auch helfen«, sagte sie.

»Aber du fragst mich vorher, ja?«, antwortete ich. »Ich meine, bevor du hilfst.«

Ich hatte schon Angst, sie beleidigt zu haben, aber sie lachte nur und nahm mich in den Arm.

Einer von Todds Freunden besaß in Hackney ein Haus mit einem großen Garten, an den sich hinter einem Tor, das man öffnen konnte, ein noch größerer Garten anschloss. Und dort feierten wir unser Fest. Die Mädchen aus dem Büro schmückten ihn einen ganzen Tag lang, und als ich dann eintraf, hätte ich vor Rührung fast geweint. Von den Ästen der Bäume hingen Blumengirlanden, Windspiele klimperten leise, und überall brannten Kerzen, deren sanftes Licht in der Dämmerung immer stärker zu leuchten begann.

Es gibt über das Fest noch so viel anderes zu erzählen. Zum Beispiel, dass ich anfangs Angst hatte, niemand würde kommen, während ich später eher befürchtete, dass die Getränke nicht reichten, und mich am Ende fragte, ob die Gäste jemals wieder gehen würden. Oder dass in diesem von Mauern umgebenen Garten mein ganzes bisheriges Leben präsent war: Leute, die ich schon seit der Grundschule kannte, ebenso wie solche, die mir jeden Tag am Kaffeeautomaten begegneten, alte Großtanten ebenso wie Exfreunde. Natürlich traf ich dort auch auf einen Querschnitt von Todds Leben: Menschen, die ich im Lauf der Zeit noch besser kennen lernen und allein schon deswegen mögen würde, weil er sie mochte. Als Todd mir seine Exfreundin vorstellte, war ich zuerst ein bisschen irritiert, weil sie fast eins achtzig groß war und sich dann auch noch als ziemlich nett entpuppte, aber zum Glück wurde mein angekratztes Ego dadurch entschädigt, dass ihr neuer Freund definitiv weniger attraktiv war als Todd. Aber das sind die Geschichten anderer Leute, und das hier ist immer noch die von Holly.

Ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als hätte ich mir ihretwegen ständig Sorgen machen müssen, denn das war nicht der Fall. Ihr Wiedereinstieg in das Berufsleben hatte großen Mut erfordert. Sie musste wieder ganz unten in der Talsohle beginnen und den Berg diesmal mit Betonstiefeln erklimmen. Der Schaden, den sie angerichtet hatte, war doch recht beträchtlich gewesen. Einige Kunden kamen zurück, andere jedoch nicht, sodass wir gezwungen waren, uns neue zu suchen. Aber selbst unter diesen gab es einige, denen seltsame Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Jedenfalls hatte sie es tatsächlich geschafft. Hatte die Ärmel hochgekrempelt und sich an die schrecklich mühselige Arbeit gemacht, KS Associates wieder auf Vordermann zu bringen.

Die zweite Runde verlief zwangsläufig etwas anders als die erste. Die Atmosphäre der Improvisation gab es nicht mehr, ebenso wenig wie die Sechsunddreißig-Stunden-Partys. Natürlich hatten wir auch nicht mehr dieses prickelnde Gefühl, ohne Netz auf einem Hochseil zu balancieren. Vieles davon war verloren gegangen, aber das war wohl auch nötig gewesen. Das macht den Unterschied aus zwischen betrunken und nüchtern, zwischen manisch und normal, zwischen jungen, unerfahrenen Frauen und etwas älteren, die ihre Lektion gelernt hatten.

Trotzdem hatte ich manchmal ein ungutes Gefühl, wenn ich an Holly und unser Fest dachte, und sei es auch nur, weil die letzte Hochzeitsfeier, die ich mit ihr zusammen erlebt hatte, ihre eigene gewesen war. Sobald ich sie sah, ging es mir besser. Die alte Regel, dass man die Braut nicht in den Schatten stellen durfte, galt anscheinend nicht mehr, sobald die eigentliche Trauungszeremonie vorüber war. Holly trug ihr Haar jetzt offen, sodass es ihr bis über die Schultern reichte, und hatte ein freches scharlachrotes Kleid an. Sie wankte mit einer riesigen, aufwändig verpackten und mit Schleifen geschmückten Schachtel herein. Ich bestand darauf, sie auf der Stelle auszupacken. Sie enthielt einen Globus. »Damit ihr euch schon mal überlegen könnt, wo ihr überall hinreisen wollt«, erklärte Holly.

Todd nahm sie in den Arm. »Ich liebe diese Dinger«, sagte er und drehte den Globus wie ein kleiner Junge. »Sieh mal, Meg.

Hast du gewusst, dass New York auf demselben Breitengrad liegt wie Rom?«

»Nein, das ist mir neu«, antwortete ich glücklich.

»Es kann nicht schaden, wenn man von Zeit zu Zeit daran erinnert wird, dass die Erde eine Kugel ist«, meinte Holly.

Todd verschwand mit dem Globus, um einen Ehrenplatz für ihn zu suchen. Holly umarmte mich und sah mich dann lächelnd an. »Ich glaube, ich hab’s geschafft«, sagte sie. »Und das habe ich zu neunundneunzig Prozent dir zu verdanken.«

»Neun Prozent trifft es wohl eher.«

»Über die Einzelheiten können wir noch verhandeln«, lachte sie.

»Dafür sind Freunde doch da.«

Holly schüttelte den Kopf. »Ich glaube, die meisten Leute sehen das nicht so.« Sie drückte meine Hand. »Ach übrigens, Charlie lässt dich herzlich grüßen.«

»Das ist nicht dein Ernst!«, sagte ich.

»Er schreibt mir«, antwortete Holly. »Ich werfe einen kurzen Blick auf seine Briefe, bevor ich sie an meinen Anwalt weiter-gebe.«

»Wieso lassen sie das zu?«

»Ich überlege immer noch, ob das alles nicht meine Schuld war, und in gewisser Weise war es das natürlich auch. Ich glaube, ich habe mich in eine Phantasiegestalt verliebt und Charlie dann weiß Gott die Hölle auf Erden bereitet. Er muss das Gefühl gehabt haben, in einen Alptraum geraten zu sein. Ich habe sein Leben zerstört. Hätte er mich nicht kennen gelernt, wäre er immer noch ein freier, anständiger Mann. Ich habe ihn so weit gebracht, dass er am Ende sogar zu einem Mord fähig war.« Sie blickte sich um. Gerade trafen weitere Gäste ein. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, meinte sie. »Aber eines muss ich dir noch schnell erzählen, etwas, das mir mein Anwalt gesagt hat. Du erinnerst dich doch an Charlies Plan? Er bringt mich um, es sieht wie ein Selbstmord aus, mit der einen Lebensversicherung zahlt er die Hypothek ab, eine weitere verhilft ihm zu einem dicken Scheck. Aber er hat das Kleingedruckte nicht gelesen. Es hätte nicht funktioniert. Im Fall eines Selbstmords –

das ist ja eigentlich klar – zahlen die Versicherungen nicht. Der arme Charlie. Er hat sogar noch als Mörder versagt.« Sie drückte wieder meine Hand und überließ mich dann den neu eingetroffenen Gästen.

Von da an erhaschte ich nur gelegentlich einen Blick auf sie.

Immer befand sie sich in einem anderen Teil des Gartens und unterhielt sich mit allen möglichen Leuten. Dann sah ich sie eine Zeit lang gar nicht. Ich schaute mich um, konnte sie aber nirgendwo entdecken und fragte mich, ob sie womöglich schon nach Hause gegangen war. Dann dachte ich wieder an andere Dinge, wurde in andere Gespräche verwickelt und vergaß sie für eine Weile.

Ich stand gerade in der Küche und schwelgte mit einer alten Schulfreundin in Erinnerungen, als plötzlich jemand von hinten die Arme um mich schlang. »Na, geht es dir gut?«, fragte Todd.

»Wundervoll.«

»Ich erfahre schön langsam, was für aufregende und interessante Dinge du schon erlebt hast«, erklärte er.

»Um Gottes willen, mit wem hast du denn gesprochen?«, fragte ich leicht beunruhigt.

»Mit allen«, antwortete er grinsend. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Weißt du eigentlich, wie spät es schon ist?«

»Nein.«

»Gleich Mitternacht. Ich wollte –«

Er kam nicht mehr dazu zu sagen, was er wollte, weil es in dem Moment eine höchst seltsame Explosion gab und das ganze Haus wackelte. In einem Anfall von Panik fragte ich mich, ob es sich womöglich um einen Terroranschlag handelte. Dann sah ich, dass durch die offen stehende Terrassentür Rauch herein-wehte. Todd und ich rannten nach draußen. Die Leute im Garten unterhielten sich aufgeregt und deuteten zum Haus hinauf. Wir drehten uns um und blickten nach oben. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk quoll Rauch, der wie schaumiges braunes Wasser am Haus entlang nach unten strömte. Dann tauchten zwei Gesichter auf, rußgeschwärzt wie die von Schornsteinfe-gern.

»Was zum …?«

Hier sind sie nun also. Die Menschen, die mich geliebt und gehasst haben. Diejenigen, die wollten, dass ich lebe, und diejenigen, die sich meinen Tod wünschten. Die, die mich zu retten versuchten und die, die mich losließen. Sie machen alle einen glücklichen Eindruck. Hand in Hand stehen sie da und blicken einander in die Augen. Ein paar von ihnen küssen sich.

Ich sehe ihnen an, dass sie sich gerade versprechen, das vor ihnen liegende Leben gemeinsam zu meistern. Jene große Reise.

Nur einer fehlt.

Manchmal kommt es mir vor, als hätte Charlie nie existiert, als wäre er nur ein Traum, aus dem ich aufgewacht bin, eine Gestalt, die in meinem wirren Kopf langsam zu einem Nichts verblasst. In gewisser Hinsicht trifft das tatsächlich zu. Es ist so, wie ich vor ein paar Minuten zu Meg gesagt habe: Der Charlie, in den ich mich verliebt habe, war eine Phantasiegestalt – und ihm ging es mit mir wohl ähnlich. Er war der Mann, der mich vor mir selbst retten sollte. Wie meine Therapeutin in jeder unserer dämlichen Sitzungen mindestens dreimal sagt: » Sie sind der einzige Mensch, der Ihnen helfen kann, Holly. « Sie verwendet meinen Namen in jedem Satz – » Wie denken Sie darüber, Holly? « , » Wie erklären Sie sich das, Holly? « Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ich auch in dem Kurs war, in dem man den richtigen Umgang mit Menschen lernt. Wie sehr es mich inzwischen langweilt, dass wir immer nur ein Thema haben: mich, mich, mich. Es ist ja schön und gut, ständig nach innen zu blicken und die dunklen und geheimnisvollen Labyrinthe im eigenen Kopf zu erforschen, aber was ist mit der wundervollen Welt draußen? Was ist mit der Dichtung, der Musik, der Leidenschaft, dem grünen Meer? Aber dann denke ich an meine Freunde, meine Familie. Ich denke an die liebe Meg, die selbst heute, am Tag ihrer Hochzeitsfeier, immer mal wieder einen Blick in meine Richtung wirft, um zu sehen, ob es mir gut geht.

Deswegen mache ich weiter. Ich nehme weiter meine Tabletten, gehe zum Sport und in meine Gesprächstherapie. Ich möchte kein drittes Mal sterben. Jedenfalls noch nicht jetzt. Ich spare mir den Tod für später auf.

Meg fragt mich manchmal, ob mir meine schwankenden Stimmungen fehlen. Ihr Gesicht wirkt dann so angespannt und ängstlich, dass ich meist ganz schnell das Thema wechsle. Die Wahrheit ist natürlich, dass sie mir sehr wohl fehlen. Sie fehlen mir, wie einem ein Geliebter fehlt. Mein wildes, hin und her schwingendes Ich. Die pechschwarze Dunkelheit, in der Dämonen lauerten, und das herrliche Licht. Das Fallen und das Fliegen. Natürlich schlug ich oft hart auf dem Boden auf, aber dann schwang ich mich wieder hoch hinauf, bis ich so glücklich und frei war, dass ich am liebsten vor Freude gestorben wäre.

Die Welt gehörte mir und ich ihr.

Aber es wird besser, das alles fehlt mir nicht mehr ganz so sehr. Am Anfang legte ich mir derart enge Fesseln an, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Ich stand immer zur gleichen Zeit auf, ging zur gleichen Zeit in die Arbeit, kam zur genau gleichen Zeit nach Hause. Ich ernährte mich gesund und ging früh ins Bett. Ich ließ meine Lieblingssachen im Schrank, flirtete nicht, tanzte nicht, trank keinen Alkohol, kicherte nicht, schrie nicht, streunte nicht herum. Nun habe ich angefangen, mich ganz langsam, Stück für Stück, von der Leine zu lassen.

Heute fühle ich mich gut, ich fühle mich großartig, fast wie in den alten Tagen, als eine herrliche, unbezwingbare Energie durch meinen Körper pulsierte, sodass ich ständig das Gefühl hatte, gleich vom Boden abzuheben. Mein Blick fällt auf Megs liebes, hübsches Gesicht. Sie ist glücklich. Kein Mensch hat dieses Glück mehr verdient als Meg, bei der immer das Glück anderer Leute an erster Stelle steht. Ich hoffe, Todd vergisst nie, was für ein Glückspilz er ist. Ebenso hoffe ich, dass ich selbst nie vergesse, was für ein Glückspilz ich bin.

Ich war immer der Meinung, letztendlich ganz auf mich allein gestellt zu sein – genau wie jeder andere auf dieser Welt. Das ist ein Teil unseres Menschseins. Unser ganzes Leben lang sind wir auf der Suche nach Liebe und Nähe, nach bedingungsloser Treue und Anerkennung. Wir suchen das alles bei unseren Eltern, Freunden, Partnern. Wir machen einander Verspre-chungen und glauben daran oder tun zumindest so, als würden wir daran glauben. Wir klammern uns an die Hoffnung, dass wir nicht allein sind. Und doch ist in Krisen und Momenten der Verzweiflung der einzige Mensch, der einen retten kann, man selbst. Kein anderer kann einem das abnehmen. Zumindest war ich immer dieser Meinung, und in gewisser Weise bin ich es noch, aber als ich hilflos dalag und mich selbst aufgegeben hatte, war wie durch ein Wunder plötzlich Meg da. Sie glaubte an mich, als ich den Glauben an mich längst verloren hatte, und half mir weiterzuleben, als ich bereit war zu sterben. Wenn ich meine Dämonen auf die eine Seite der Waage lege und Meg auf die andere, hat Meg viel mehr Gewicht als sie alle zusammen.

Das meine ich, wenn ich sage, dass ich ein Glückspilz bin.

Das Fest neigt sich seinem Ende zu. Die Leute sprechen schon darüber, allmählich aufzubrechen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und sehe, dass es Mitternacht ist, also fast an der Zeit. Ich schiebe mich zwischen den Leuten hindurch und gehe ins Haus, um das Päckchen zu holen, das ich im Gästezimmer unter den Mänteln versteckt habe.

In meinen Hals beginnt ein Gefühl von Freude hochzublub-bern. Ich kenne dieses Gefühl. Mir ist klar, dass ich im Begriff bin, etwas Dummes zu tun.

Sie haben mich fast zweihundert Pfund gekostet. Der Mann, bei dem ich sie gekauft habe, war ein bisschen überrascht und riet mir, die Gebrauchsanweisung aufmerksam zu lesen, und eine Frau, die gerade ein paar Wunderkerzen kaufte, regte sich richtig auf. Sie fragte mich, wie ich so viel Geld für etwas ausgeben könne, das vorbei sei, ehe man bis zehn gezählt und von dem man überhaupt nichts Bleibendes habe. Aber begriff sie denn nicht, dass genau das der Punkt war? Tage oder gar Wochen zu arbeiten und es dann in einem einzigen, überwälti-genden Moment in die Luft zu schießen.

Ich schleiche mich wieder in den Garten hinaus. In der Küche lehnt sich Meg gerade an Todd, und er flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie bemerken mich nicht. Auf der Verpackung steht, dass sich in einem Umkreis von achtzig Metern keine Leute aufhalten sollten. Lächerlich. Achtzig Meter, da müsste ich ja noch durch das nächste Haus und über die Straße. Ich gehe bis ans hintere Ende des Gartens, das muss reichen. Es wird schon klappen.

Hoffe ich.

Bei der ersten klappt es noch nicht so richtig. Der Stock, an dem sie befestigt ist, kippt im letzten Moment zur Seite, sodass sie in einem falschen Winkel in Richtung Haus davonschießt. Ich habe das ungute Gefühl, dass sie durch ein Fenster geflogen ist.

Ich höre hinter mir Rufe und Schreie, sehe Rauch. Aber ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern, denn ein Funke hat bereits die nächste Zündschnur zum Brennen gebracht. Ich sehe zu, wie das kleine Licht zur Rakete hinaufwandert und sich dann in ihren unteren Teil hineinfrisst. Einen Moment lang sieht es aus, als wäre die Flamme erloschen, aber dann ist ein kurzes, lautes Zischen zu hören, und die Rakete saust sagenhaft schnell nach oben, hinauf in den dunklen Himmel, wo sie sich plötzlich in Sonnen und Sterne und explodierende Farbe verwandelt. Mein Geschenk für meine Freundin.

Die Zeit steht still. In dem Garten blicken alle nach oben und bewundern die dort erblühende Blume aus wunderschön funkelndem Licht. Ihre Blütenblätter aus sanftem Feuer rieseln lautlos auf uns herab.

Zweimal bin ich gestorben. Jetzt lebe ich.

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