Nicci French

Der Feind in dei-

ner Nähe

scanned 02-2006/V1.0

Holly Kraus ist eine erfolgreiche Frau. Und in ihrer überschäumenden Art schlägt sie gerne über die Stränge. Doch damit macht sie sich nicht überall beliebt. Übertreibt sie es nicht etwas? Kann es sein, dass sie damit sogar Mordgelüste weckt? Denn plötzlich findet sie sich in einem tödlichen Albtraum wieder …

ISBN: 978-3-570-00753-2

Original: Catch Me When I Fall

Deutsch von Birgit Moosmüller

Verlag: C. Bertelsmann

Erscheinungsjahr: 2006

Umschlaggestaltung: R-M-E

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Als Holly Kraus erwacht, findet sie sich in einer verkommenen Wohnung wieder. Neben ihr ein Mann, den sie nicht kennt.

Holly sucht mühsam ihre Kleider zusammen und macht sich auf den Weg nach Hause. Im Spiegel sieht sie eine Frau, die ihr fremd ist. Mühsam kehrt die Erinnerung zurück: Der Barbesuch nach Geschäftsschluss ist zu einem exzessiven Trink- und Sextripp ausgeufert. Wieder einmal hat sie die Kontrolle über sich verloren. Immer häufiger kann Holly ihr überschäumendes Temperament nicht mehr zügeln. Nach jedem emotionalen Höhenflug fällt sie tiefer. Sie kann nicht schlafen, verstrickt sich in finanzielle Abenteuer und wird von einem Liebhaber erpresst.

Der exzessive Lebensstil, ihr rücksichtsloser Umgang mit Freunden und Mitarbeitern irritieren nicht nur ihre Freundin Meg, mit der sie ein erfolgreiches Unternehmen führt, sondern auch ihren Ehemann Charlie. Nach einem Zusammenbruch findet sie nur langsam wieder Boden unter den Füßen. Doch sie erkennt sich nicht mehr wieder und sieht sich der faszinierenden Facetten ihrer Persönlichkeit beraubt. Sie will kein Leben im Mittelmaß. Charlie versucht nicht mehr, Holly in ein normales Leben zurückzuholen. Zu tief sind die Wunden, die sie ihm mit ihrer Gier, ihrer Blindheit gegenüber seinen Gefühlen, ihrer Selbstsucht zugefügt hat. Und dann, als Holly seine Hilfe braucht, um zu überleben, schlägt Charlies Stunde.

Autor

Hinter dem Namen Nicci French verbirgt sich ein Ehepaar: Die Journalistin Nicci Gerrard und der Schriftsteller Sean French. Seit Jahren schreiben sie zusammen höchst erfolgreich Psychothriller. Mit Höhenangst, Der Sommermörder und Der falsche Freund haben sie auch in Deutschland die Bestsellerlis-ten erobert.. Sie leben mit ihren Kindern zurückgezogen im Süden von London.

FÜR JACKIE UND TOMAS

Ich bin zweimal gestorben.

Das erste Mal sehnte ich mich danach, tot zu sein. Ich dachte an den Tod als einen Ort, an dem der Schmerz aufhören würde und ich endlich keine Angst mehr zu haben brauchte.

Das zweite Mal wollte ich nicht sterben. Trotz des Schmerzes und der Angst war ich zu dem Schluss gekommen, dass der Ort, an den ich gehörte, das Leben war: das chaotische, beängstigende, ermüdende, wunderbare, schmerzhafte Leben mit all seinem Scheitern und seiner Traurigkeit, all seinen plötzlichen und unerwarteten kleinen Freuden, die einen die Augen schlie-

ßen und denken lassen: Halte das gut fest, bewahre es in deinem Gedächtnis. Schöne Erinnerungen können einen retten. Eine durchtanzte Nacht, ein Sonnenaufgang, ein Spaziergang durch die Stadt, verloren in einer Menschenmenge, ein Blick in deine lächelnden Augen. Du hast mich gerettet, als ich mich nicht mehr selbst retten konnte. Du hast mich gefunden, als ich verloren war.

Ich wollte nicht sterben, aber andere wünschten sich meinen Tod. Sie gaben sich die größte Mühe, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich bin anscheinend ein Mensch, den die Leute entweder lieben oder hassen. Manchmal war beides schwer voneinander zu unterscheiden. Selbst jetzt, da alles vorbei ist und ich darauf zurückblicken kann wie auf eine Landschaft, die ich durchwan-dert und hinter mir gelassen habe, sind mir gewisse Dinge immer noch ein Rätsel – Geheimnisse, die ich nicht ergründen kann.

Wenn man stirbt, gelangt man an einen anderen Ort. Ganz allein überschreitet man eine Grenze, und niemand kann einem dorthin folgen. Als mein Vater starb, war ich sechzehn Jahre alt.

Ich erinnere mich an den Frühlingsnachmittag, an dem er beerdigt wurde. Meine Mutter versuchte mich dazu zu bringen, Trauerkleidung zu tragen, aber mein Vater hatte Schwarz immer gehasst, und deswegen zog ich mein rosa Kleid an, legte meinen knalligsten Lippenstift auf und schlüpfte in hochhackige Schuhe, deren Absätze in der weichen Erde versanken. Ich wollte aussehen wie eine Schlampe. Wie eine Nutte. Ich schmierte mir blauen Lidschatten auf die Augenlider. Und ich erinnere mich noch an die Worte des Pfarrers – » Asche zu Asche, Staub zu Staub« – und daran, dass die Leute weinten und sich gegenseitig festhielten. Ich wusste, dass sie sich auch von mir Tränen gewünscht hätten, denn dann hätten sie einen Arm um mich legen und mich trösten können, aber meinem Vater waren weinende Menschen zuwider gewesen. Er wollte immer, dass wir der Welt ein glückliches Gesicht zeigten. Also lächelte ich während der ganzen Beisetzung, ich glaube, ein paarmal lachte ich sogar ein bisschen, weil alle mich so komisch ansahen. Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wurde, legte meine Mutter, wie es üblich ist, eine einzelne weiße Rose darauf. Ich nahm meine Armbänder ab und warf sie ins Grab, sodass das Ganze ein paar Sekunden lang mehr von einem heidnischen Begräbnis als von einer respektablen englischen Beisetzung hatte. Eines der Armbänder riss, und seine bunten Plastikperlen kullerten wie wild auf dem billigen Holzdeckel herum. Rat-a-tat-tatt, direkt über dem Gesicht meines Vaters.

Eine Weile glaubte ich, vor Einsamkeit und Zorn wahnsinnig zu werden, auch wenn ich das nie jemandem erzählte, weil mir die Worte fehlten. Zehn Jahre lang versuchte ich zu ihm zurück-zufinden. Voller Verzweiflung. Voller Liebe. Voller Empörung, voller Ausgelassenheit, voller Abscheu und Rachsucht.

Ich bin zweimal gestorben. Nur zweimal. Aber dank meiner rasenden Bemühungen hätte ich es durchaus ein bisschen öfter schaffen können.

Hier sind sie nun also. Die Menschen, die mich geliebt und gehasst haben. Diejenigen, die wollten, dass ich lebe, und diejenigen, die sich meinen Tod wünschten. Die mich zu retten versuchten und die mich losließen. Sie machen alle einen glücklichen Eindruck. Hand in Hand stehen sie da und blicken einander in die Augen. Ein paar von ihnen küssen sich. Ich sehe ihnen an, dass sie sich gerade versprechen, das vor ihnen liegende Leben gemeinsam zu meistern. Jene große und geheimnisvolle Reise. Nur einer fehlt.

MEIN ERSTES STERBEN

1

»Gefahr zieht mich magisch an«, sagte er. »Schon seit jeher.

Was darf ich euch beiden bringen?«

Ich überlegte einen Moment. Es war bereits eine Stunde her, seit Meg und ich das Büro verlassen hatten, aber ich fühlte mich immer noch ganz aufgedreht. Überdreht. Ich musste an einen früheren Freund denken, einen Schauspieler. Er hatte mir erzählt, dass er nach der Vorstellung immer Stunden brauchte, bis er wieder zur Ruhe kam, was ein kleines Problem darstellte, wenn der Vorhang um halb elf fiel und man den Ehrgeiz hatte, so zu leben wie der Rest der Welt. Am Ende musste er feststellen, dass er hauptsächlich so lebte wie andere Schauspieler, denn das waren die einzigen Leute, die erst um elf zum Abendessen aufbrachen und jeden Tag bis Mittag schliefen.

Eine Collegefreundin ist Langstreckenläuferin. Ihre Leistun-gen sind so beeindruckend, dass sie fast einmal an olympischen Spielen teilgenommen hätte. Sie rennt unglaublich schnell und weit, um ihren Körper überhaupt in Schwung zu bringen.

Anschließend läuft sie eine richtig lange Strecke und quält sich extreme Steigungen hinauf. Danach hat sie Schwierigkeiten, ihren Körper auf einen normalen Level zurückzufahren, weswegen sie einfach weiterläuft. Hinterher kühlt sie ihre Muskeln und Gelenke mit Eis. Das könnte mir auch nicht schaden. Manchmal würde ich am liebsten meinen ganzen Kopf in eine klirrend kalte Tonne voll Eis stecken.

»Das ist doch keine so schwierige Entscheidung«, sagte er.

»Meg hat schon einen Weißwein in Auftrag gegeben.«

»Was?«, fragte ich.

Für einen Moment hatte ich vergessen, wo ich mich befand.

Ich musste mich erst umsehen, um es mir wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es war wundervoll. Obwohl wir schon Herbst hatten, war es ein heißer Abend, und die Gäste der Bar in Soho standen bis hinaus zur Straße. Man hatte das Gefühl, als würde der Sommer nie enden, der Winter niemals kommen, nie wieder Regen fallen. Draußen auf dem Land brauchten die Felder dringend Wasser, Flüsse waren ausgetrocknet, und die Ernte verdorrte allmählich, aber mitten in London kam man sich vor wie am Mittelmeer.

»Was möchten Sie trinken?«

Ich bat um einen Weißwein und ein Glas Wasser. Dann legte ich einen Arm um Megs Schultern und murmelte ihr ins Ohr:

»Hast du mit Deborah gesprochen?«

Ihr Blick wirkte leicht gequält. Demnach also nicht.

»Noch nicht«, sagte sie.

»Wir müssen drüber reden. Morgen, ja?«

»Mit oder ohne Kohlensäure?«, fragte der Mann.

»Leitungswasser«, antwortete ich. »Gleich in der Früh, Meg, vor allem anderen.«

»In Ordnung«, sagte sie. »Dann also um neun.«

Ich sah sie an, während ihr Blick dem Mann folgte, der zur Bar schlenderte. Er hatte ein nettes, offenes Gesicht. Wie hieß er gleich noch mal? Ach ja, Todd. Wir waren alle zusammen nach einem harten Tag aus dem Büro herübergekommen. Inzwischen hatte sich die Gruppe jedoch aufgelöst und in der Menge verteilt. Überall entdeckte ich vertraute Gesichter. Todd, einer unserer Kunden, hatte vorbeigeschaut, um sich über unser Angebot zu informieren, und war anschließend mit in die Kneipe gegangen. Nun versuchte er gerade, an der belagerten Bar unsere Getränke zu bestellen. Dabei gab’s Probleme, weil eine der Barfrauen gerade von einem unhöflichen Gast ange-schrien wurde. Sie war Ausländerin – Indonesierin oder so was Ähnliches –, und der ungehobelte Gast brüllte, sie habe ihm den falschen Drink gegeben. Sie hatte ihn offensichtlich nicht verstanden. »Sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede!«, rief er.

Todd kam mit unseren Getränken zurück. »Sie wollten mir kein Leitungswasser geben«, erklärte er. »Es ist aus der Flasche.«

Ich nahm einen Schluck.

»So so, Sie begeben sich also gern in Gefahr«, sagte ich.

»Das hört sich an, als fänden Sie es albern, aber ja, irgendwie schon.«

Todd begann uns voller Stolz von einer Urlaubsreise in das südliche Afrika zu erzählen, wo er mit ein paar Freunden eine Reihe gefährlicher Sportarten ausprobiert hatte: in Sambia Wildwasser-Rafting, in Botswana eine Kanufahrt vorbei an Flusspferden, dann Bungeejumping aus einer Seilbahn, die den Tafelberg hinauffuhr, und zum Schluss Sporttauchen zwischen großen weißen Haien.

»Klingt beeindruckend«, meinte Meg. »Ich glaube nicht, dass ich mich das trauen würde.«

»Es war sehr aufregend«, sagte er. »Aber auch beängstigend.

Ich glaube, so richtig gefallen hat es mir erst im Nachhinein.«

»Ist jemand gefressen worden?«, fragte ich.

»Man wird in Käfigen hinuntergelassen«, erklärte er, »und wir haben keine zu Gesicht bekommen.«

»In Käfigen?« Ich verzog das Gesicht. »Ich dachte, Sie mögen die Gefahr. «

Er wirkte leicht irritiert. »Soll das ein Witz sein?«, antwortete er. »Ich möchte Sie mal sehen, wenn Sie, nur mit einem Gum-miband gesichert, Hunderte von Metern aus einer Seilbahn springen.«

Ich lachte, wenn auch hoffentlich nicht allzu spöttisch. »Kennen Sie unseren Prospekt nicht?«, fragte ich. »Wir haben selbst schon solche Bungeejumping-Events veranstaltet. Haben eine Risikobeurteilung gemacht und die nötigen Versicherungen organisiert. Glauben Sie mir, es ist weniger gefährlich, als die Straße zu überqueren.«

»Trotzdem bekommt man dabei einen ganz schönen Adrena-linstoß«, meinte Todd.

»Adrenalin kann man auch im Supermarkt kaufen«, gab ich zurück. Würde er jetzt beleidigt reagieren oder lächeln?

Er zuckte selbstironisch mit den Schultern und lächelte.

»Was verstehen denn Sie dann unter Gefahr?«

Ich überlegte einen Moment. »Echte Herausforderungen. An Orten, wo es wirklich um etwas geht. Nach Minen zu suchen und sie zu entschärfen. Im Bergbau zu arbeiten – aber nicht hier in Großbritannien. Ich meine, in Russland oder der Dritten Welt.«

»Was macht Ihnen am meisten Angst?«

»Viele Dinge. Fahrstühle, Stiere, große Höhen, schlimme Träume. Fast alles, was mit meinem Beruf zu tun hat. Zu versagen. Vor Publikum zu sprechen.«

Todd lachte. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Ihre Präsentation heute war gut.«

»Ich bin vorher immer schrecklich aufgeregt.«

»Dann sind wir ja doch einer Meinung. Sie mögen Herausforderungen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ihr Bungeespringen und Kanufahren vorbei an Flusspferden, das war doch alles aus dem Katalog. Sie wussten, wie es ausgehen würde.« Hinter mir wurde es laut, und ich drehte mich um. Der unhöfliche Mann schimpfte wieder mit der Barfrau, diesmal noch heftiger als zuvor. Sie versuchte ihm etwas zu erklären und war den Tränen nahe.

»Und Sie?«, wandte sich Todd an Meg. Sie lächelte ihn schüchtern an und war im Begriff zu antworten, aber ich kam ihr zuvor.

»Sie sagen also, Sie mögen die Gefahr?«, fragte ich.

»Ja.«

»Adrenalin?«

»Ich denke schon.«

»Wollen Sie es mir beweisen?«

»Holly!«, mischte Meg sich nervös ein.

Todds Blick wanderte rasch von einer Seite zur anderen. Ich entdeckte darin eine Spur von Faszination, aber auch Nervosität.

Was würde jetzt kommen?

»Wie meinen Sie das?«

»Sehen Sie den Mann drüben an der Bar, der gerade mit dem Mädchen schimpft?«

»Ja.«

»Finden Sie ihn rüpelhaft?«

»Ich glaube schon. Ja.«

»Dann gehen Sie doch rüber, und sagen Sie ihm, dass er aufhören und sich für sein Verhalten entschuldigen soll.«

Todd wollte etwas antworten, begann aber stattdessen zu husten. »Seien Sie nicht albern!«, stieß er schließlich hervor.

»Befürchten Sie, dass er Ihnen eine verpasst?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie mögen die Gefahr.«

Todds Miene wurde hart. Das war nicht mehr lustig. Er hatte soeben aufgehört, mich nett zu finden. »Das ist doch bloß was für Angeber«, sagte er.

»Sie haben Angst davor.«

»Natürlich habe ich Angst.«

»Wenn Sie Angst davor haben, dann können Sie dieses Gefühl nur loswerden, indem Sie es tun. Das ist wie Sporttauchen zwischen Haien. Aber ohne den Käfig.«

»Nein.«

Ich stellte meine beiden Gläser auf einem Tisch ab. »Na gut«, sagte ich. »Dann mache ich es eben.«

»Nein, Holly, nicht …«, widersprachen Meg und Todd gleichzeitig.

Das war genau die Ermutigung, die ich noch gebraucht hatte.

Ich ging zu dem Mann an der Bar. Er trug einen Anzug. Alle Männer im Raum trugen Anzüge. Er war etwa Mitte dreißig, und sein Haar begann sich bereits zu lichten. Sein Gesicht sah rot aus. Erst jetzt erkannte ich, wie groß er war. Sein Jackett spannte über seinen breiten Schultern. Außerdem befand er sich in Begleitung zweier anderer Männer. Gerade sagte er wieder etwas mehr oder weniger Unverständliches zu der Frau.

»Was läuft hier ab?«, fragte ich.

Überrascht drehte er sich um. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«

Seine Stimme klang wütend.

»Sie sollten sich bei dieser Frau entschuldigen«, erklärte ich.

»Was?«

»So redet man nicht mit einem anderen Menschen. Sie sollten sich entschuldigen.«

»Verpissen Sie sich.«

Er sagte das mit besonderer Betonung auf dem P, sodass zwischen den ersten beiden Silben eine kleine Pause entstand.

Bildete er sich ein, dass ich wieder gehen würde? Dass ich in Tränen ausbrechen würde? Ich griff nach seinem Glas auf dem Tresen. Es war ein Whiskyglas. Ich schwang es in seine Richtung und hielt erst ganz knapp vor seinem Kinn inne. Ich hätte jetzt gerne gesagt, dass der ganze Raum verstummte wie in einem alten Western, aber nur in unserer unmittelbaren Nähe erregte das Ganze ein wenig Aufmerksamkeit. Der Mann starrte auf das Glas hinunter, als versuchte er den Knoten seiner etwas gelockerten Krawatte in Augenschein zu nehmen. Man sah ihm an, dass er rasch überlegte: Ist diese Frau verrückt? Wird sie mir wirklich ein Glas ins Gesicht knallen? Wegen dieser Lappalie?

Und mir selbst hätte eigentlich etwas ganz Ähnliches durch den Kopf gehen müssen: Wenn er fähig war, eine x-beliebige Barfrau zu beleidigen und anzuschreien, weil sie ihm das falsche Getränk serviert hatte, was würde er dann mit mir machen, nachdem ich ihn physisch bedroht hatte? Außerdem hätte mir der Gedanke kommen können, der Todd wahrscheinlich nervös gemacht hatte: dass dieser Mann womöglich gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war. Dass er vielleicht einen Hang zur Gewalttätigkeit hatte. Unter Umständen machte es ihm besonderen Spaß, auf Frauen loszugehen. Aber das alles kam mir gar nicht in den Sinn. Ich starrte ihn einfach nur an. Spürte das Blut in meinem Hals pulsieren. Empfand das schwindelerre-gende Gefühl, nicht zu wissen, was in den nächsten fünf Minuten geschehen würde.

Plötzlich entspannte sich das Gesicht des Mannes, und er lächelte. »Meinetwegen«, sagte er. Vorsichtig nahm er mir das Glas aus der Hand, als könnte es explodieren. Er leerte es in einem Zug. »Unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Ich darf Sie auf einen Drink einladen.«

Mein erster Impuls war, Nein zu sagen, aber als ich mich nach Todd und Meg umsah, stellte ich fest, dass sie verschwunden waren. Hatten sie Angst vor dem gehabt, was vielleicht passieren würde? Oder waren sie erst gegangen, nachdem sie gesehen hatten, was tatsächlich passierte? Ich zuckte mit den Achseln.

»Nur zu«, sagte ich.

Er machte jetzt richtig auf Gentleman. Nachdem er die nervöse Barfrau herbeigewinkt hatte, nickte er in meine Richtung.

»Diese Frau – wie heißen Sie?«

»Holly Krauss«, antwortete ich.

»Miss Holly Krauss hat mich darauf hingewiesen, dass ich grob zu Ihnen war und mich entschuldigen sollte. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie Recht hat. Ich bitte also vielmals um Entschuldigung.« Der Blick der Frau wanderte erst zu mir und dann wieder zu ihm.

Ich glaube nicht, dass sie wirklich begriff, was vor sich ging.

Der Mann, der Jim hieß, bestellte mir einen doppelten Gin Tonic und einen weiteren für sich selbst.

»Cheers«, sagte er. »Ach, und übrigens ist sie wirklich eine beschissene Barfrau.«

Ich kippte meinen Drink hinunter, woraufhin er mir noch einen bestellte. Von da an lief der Abend in immer schnellerem Tempo ab. Es war, als wäre ich den ganzen Tag lang auf dem Rücken eines großen Vogels zu einem Berggipfel hinaufgeflo-gen und genau in dem Moment, als ich Jim das Glas unters Kinn hielt, am höchsten Punkt angekommen, wo sich der Vogel für einen Moment ausruhte und dann im Sturzflug talwärts sauste.

In der Kneipe kam ich mir allmählich vor wie auf einer Party, wo ich ziemlich viele Leute kannte oder kennen lernen wollte oder sie mich kennen lernen wollten. Ich plauderte mit Jim und seinen Freunden, die die Geschichte mit dem Glas sehr lustig fanden.

Später unterhielt ich mich mit einem Mann, der in dem Büro uns gegenüber arbeitete. Als er dann mit ein paar Freunden aufbrach, um in einem privaten Klub zu Abend zu essen, fragte er mich, ob ich Lust hätte mitzukommen, und ich sagte Ja. Ab da geschahen die Dinge in schneller Abfolge, wie eine Serie von Schnappschüssen, als würden einzelne Momente von einem blitzenden Stroboskop beleuchtet. Der Klub befand sich in einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert, wo alles aus abgewetzter Holzvertäfelung und nackten Dielen bestand. Es war ein Abend, an dem alles ganz einfach schien, alles machbar und möglich. Einer der Männer am Tisch, an dem wir aßen, war der Direktor des Klubs, was zur Folge hatte, dass er ständig mit dem Ober scherzte und uns besondere Köstlichkeiten servieren ließ. Ich führte ein langes, intensives Gespräch mit einer Frau, die für eine ganz tolle Firma arbeitete, eine Film- oder Fotoge-sellschaft oder Zeitschrift, auch wenn ich mich später an kein einziges Wort unserer Unterhaltung erinnern konnte. Das Einzige, was mir im Gedächtnis haften blieb, war die Tatsache, dass sie mich, als sie aufstand und ging, mitten auf den Mund küsste, sodass ich ihren Lippenstift schmecken konnte.

Jemand schlug vor, tanzen zu gehen. Ganz in der Nähe habe etwas Neues aufgemacht, wo es jetzt wahrscheinlich gerade losgehe. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass es bereits nach Mitternacht und ich schon seit halb sechs Uhr morgens auf den Beinen war. Aber das spielte keine Rolle.

Wir, eine Gruppe von etwa zehn Leuten, die bis vor etwa einer Stunde noch Fremde gewesen waren, marschierten gemeinsam dorthin. Ein Mann legte unterwegs den Arm um mich und begann auf Spanisch oder Portugiesisch zu singen. Er hatte eine sehr schöne, sonore Stimme. Als ich hochblickte, sah ich, dass am Himmel die Sterne funkelten. Sie leuchteten so hell und nah, dass ich fast das Gefühl hatte, sie berühren zu können, wenn ich den Arm ausstreckte. Ich begann ebenfalls zu singen. Was, weiß ich nicht mehr, aber alle stimmten ein. Lachend hielten wir einander fest. Unsere Zigaretten glühten in der Dunkelheit.

Am Ende landeten wir wieder ganz in der Nähe des Büros. Ich weiß noch, dass mir durch den Kopf ging, wie sich der Kreis doch manchmal schloss und ich jetzt weniger müde war als zu Beginn des Abends. Ich tanzte mit dem Mann, der auf Spanisch gesungen hatte, dann mit einem anderen, der mir sagte, er heiße Jay, und plötzlich befand ich mich auf der Damentoilette, wo mir jemand eine Linie Koks spendierte. Der Klub war klein und gerammelt voll. Ein Schwarzer mit sanften Augen streichelte mein Haar und flüsterte, ich sei wundervoll. Eine Frau – ich glaube, sie hieß Julia – tauchte neben mir auf und erklärte, sie fahre jetzt nach Hause, und vielleicht sollte ich das auch tun, bevor etwas passiere. Sie schlug vor, mit mir zusammen ein Taxi zu nehmen, aber ich lehnte ab. Ich wollte ja, dass etwas passierte. Dass alles Mögliche passierte. Ich wollte nicht, dass der Abend schon endete. Ich wollte das Licht noch nicht ausschalten. Also tanzte ich weiter und fühlte mich dabei so leicht, als würde ich fliegen. Ich tanzte, bis mir der Schweiß übers Gesicht lief und in meinen Augen brannte, mein Haar feucht war und mir die Bluse am Körper klebte.

Dann gingen wir. Jay war dabei, glaube ich, und vielleicht auch der Sänger, und eine Frau mit wundervollem schwarzem Haar, die nach Patschuli roch, und andere Leute, die ich nur als Silhouetten vor dem Nachthimmel in Erinnerung habe. Es war so schön kühl draußen. Ich sog die Luft in meine Lungen und spürte, wie der Schweiß auf meiner Haut trocknete. Wir setzten uns an den Fluss, der schwarz und tief aussah. Man konnte die Wellen leise ans Ufer klatschen hören. Am liebsten wäre ich ins Wasser gesprungen und hätte mich von seiner Strömung bis zum Meer spülen lassen, an einen Ort, wohin mir niemand folgen konnte. Ich warf eine Hand voll Münzen, von denen aber nur ein paar ins Wasser fielen, und forderte die anderen auf, sich etwas zu wünschen.

»Und was wünschst du dir, Holly?«

»Dass es immer so ist wie heute«, antwortete ich.

Ich schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen, und einer der Männer beugte sich zu mir herüber, um mir Feuer zu geben, wobei er die freie Hand schützend um das Feuerzeug legte. Ein anderer nahm mir die Zigarette wieder aus dem Mund und küsste mich. Ich zog ihn zu mir heran und erwiderte seinen Kuss, die Hände in seinem Haar. Dann küsste mich plötzlich noch einer, ich spürte seine Lippen an meinem Hals. Ich legte den Kopf zurück und ließ ihn gewähren. Alle liebten mich, und ich liebte alle. Sie hatten alle zärtliche, glänzende Augen. Ich verkündete, dass die Welt ein magischerer Ort sei, als wir meinten. Dann stand ich auf und lief über die Brücke.

Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, vielleicht nie wieder auf dem Boden aufzukommen, hörte aber gleichzeitig das Geräusch meiner Schritte wie ein Echo um mich herum, und dann das Geräusch anderer Schritte, die mir folgten, mich aber nicht einholen konnten. Stimmen riefen meinen Namen. Sie klangen wie Eulenrufe. »Holly, Holly!« Ich lachte in mich hinein. Ein Wagen brauste vorüber, hielt mich einen Moment im Licht seiner Scheinwerfer fest.

In der Nähe einer Arkade mit Geschäften blieb ich schließlich stehen, um Luft zu holen, und dort fanden sie mich. Zwei von ihnen, glaube ich. Vielleicht waren es auch drei. Einer packte mich an den Schultern, drückte mich gegen eine Wand und sagte, endlich habe er mich, und nun werde er mich nicht mehr loslassen. Er sagte, ich sei wild, aber er könne auch wild sein. Er griff nach einem Stein. Sein Arm schwang nach hinten, und gleich darauf sah ich den Stein durch die Luft segeln. Es krachte laut, in der Bleiglasscheibe vor uns breitete sich ein gezackter Stern aus, und in einem Regal stürzte eine Pyramide aus Blechdosen in sich zusammen. Eine Sekunde lang war es, als würden wir gleich durch den Stern in eine andere Welt treten, wo ich ein völlig neuer Mensch sein konnte. Neu und frisch und heil.

Dann ging der Alarm los, ein hohes Kreischen, das aus jeder Richtung zu kommen schien, und der Mann packte mich am Handgelenk. »Los!«

Gemeinsam begannen wir zu rennen. Ich glaube, wir waren zu dem Zeitpunkt noch zu dritt, vielleicht aber auch nur noch zu zweit. Unsere Füße schienen sich synchron zu bewegen. Ich weiß nicht, warum wir zu laufen aufhörten, aber ich weiß, dass wir irgendwann in einem Taxi saßen und durch leere Straßen fuhren, vorbei an Läden mit Metalljalousien und dunklen Häusern. Ein Fuchs verharrte mitten in der Bewegung, als er das Taxi kommen sah. Still stand er einen Moment unter den Straßenlampen, ehe er in einen Garten glitt und in der Dunkelheit verschwand.

Danach geschahen ein paar Dinge, an die ich mich gleichzeitig erinnern und nicht erinnern kann, als wäre das alles einer anderen passiert, in einem Film oder Traum, von dem man weiß, dass man ihn hat, aus dem man aber nicht erwachen kann. Oder als wäre es mir passiert, während ich eine andere war: ich und doch nicht ich selbst. Ich war eine Frau, die lachend vor dem Mann die Treppe hinaufging und oben in einen Raum trat, der von einem schwachen Licht erhellt wurde. Auf einem alten Sofa türmte sich ein Berg Kissen, und von der Decke hing ein Käfig mit einem türkisfarbenen Wellensittich. Zwitscherte da wirklich ein Vogel vor sich hin und blickte mit seinen wissenden Augen auf die Frau hinunter, oder war das eine seltsame Halluzination?

Jedenfalls schaute diese Frau aus dem Fenster auf Dächer und nächtliche Gärten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.

»Wo, zum Teufel, bin ich?«, fragte sie, während sie ihre Jacke zu Boden gleiten ließ. Dabei wollte sie die Antwort gar nicht wirklich hören. »Wer, zum Teufel, bist du?«, fragte sie als Nächstes, aber auch das wollte sie gar nicht wissen. Es spielte überhaupt keine Rolle. Außerdem lachte er sowieso nur.

Nachdem er die Vorhänge zugezogen hatte, zündete er sich eine Zigarette an und reichte sie an sie weiter, oder vielleicht war es auch ein Joint. Während sie sich zurück in die Kissen sinken ließ, ihre Schuhe in eine Ecke schleuderte und die Beine unter den Körper zog, stieg ein wildes Verlangen in ihr auf.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie, aber natürlich wusste sie, was sie jetzt machen würden. Sie begann ihre Bluse aufzuknöpfen, und er beobachtete sie dabei. Auch der Wellensittich sah ihr zu. Aus seinem Schnabel drangen freche, hohe Trillerlaute. Sie trank etwas Klares, Feuriges und spürte die Hitze des Alkohols durch ihren Körper schießen, bis sie in ihrem Innersten geschmolzen war. Sie hörte Musik, aber es fühlte sich an, als käme sie aus ihrem Kopf. Sie konnte nicht unterscheiden zwischen dem Rhythmus ihrer Gefühle und den Tönen des Songs. Alles hatte sich mit allem anderen verbunden.

Eine Weile war sie mit der Musik allein im Raum, aber dann war sie es plötzlich nicht mehr. Ich war nicht mehr allein.

Während ich mich zurücklehnte und mir von ihm den Rock ausziehen ließ, fühlte ich mich sanft und weich wie der Fluss, an dem wir gesessen hatten. Erst lagen wir auf dem Sofa, dann auf dem Boden. Finger machten sich an Knöpfen zu schaffen. Wenn ich die Augen schloss, blitzten hinter meinen Lidern Lichter auf, und es war, als befände sich dort eine ganz eigene, seltsame Welt, über die ich keine Kontrolle hatte und die gleich in meinem Gehirn explodieren würde. Deswegen hielt ich die Augen offen und versuchte mich auf die reale Welt zu konzentrieren, aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Risse in der Decke, das Bein eines Stuhls, eine Wand, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt war, ein Gesicht, das sich auf das meine senkte, die Kontur eines Mundes. Ich schmeckte Blut und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Mein Blut: gut. Der raue Teppich schürfte meine Haut auf: gut. Harte Finger bewegten sich über meine Arme, meinen Körper, gruben sich in mich. Mich und doch nicht mich. Mich und diese andere Frau, die gerade ihre Bluse auszog. Abgerissene Knöpfe landeten auf dem Boden, während sich die Frau auf ein Bett fallen ließ, das Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Hände streckten sich ihr entgegen und zogen ihr den BH aus. Ein Gewicht legte sich auf sie. Als sie schließlich doch die Augen schloss, fand sie sich in einer hell erleuchteten Welt wieder, einer Welt voller explodierender Farben und rauschender Dunkelheit.

»Das ist so seltsam«, sagte sie. Sagte ich. »Hör nicht auf.«

2

Irgendetwas krabbelte mir über die Wange. Eine Fliege, unterwegs zu meinem Mundwinkel. Ohne die Augen aufzuschlagen, fegte ich sie mit der Hand weg. Träge brummte sie davon. Auch ohne sie zu sehen, wusste ich, dass es sich um eine jener fetten Spätsommerfliegen handelte, die voll gesogen waren mit Blut und Verfall. Hätte ich sie erschlagen, wäre ein rötlich-brauner Fleck zurückgeblieben.

Obwohl ich weiter reglos dalag, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Als ich es schließlich schaffte, ein Auge einen Spalt weit zu öffnen, bahnte sich sofort ein stechender Schmerz den Weg in mein Gehirn. Vorsichtig fuhr ich mir mit meiner ausgetrockneten Zunge über die Lippen. Sie fühlten sich geschwollen und rissig an. Außerdem hatte ich einen schrecklichen Geschmack im Mund: nach Schmutz und Fett und kaltem Rauch.

Die leuchtenden Farben waren inzwischen verschwunden. Ich starrte durch einen düsteren Raum auf eine Tür, an der ein schmuddelig grauer Bademantel hing. Ich wandte den Blick nach links, wo durch die dünnen Vorhänge das schwache Dämmerlicht des frühen Morgens hereindrang. Ich hielt die Luft an und blieb reglos liegen. Hinter mir hörte ich ein gleichmäßiges Atemgeräusch. Ich schloss die Augen wieder und wartete, bis sich meine Träume vollends aufgelöst hatten und ich mich schließlich mit diesem Tag und dieser Person, die ich war, auseinander setzen musste. Ich berührte mein Gesicht, das sich taub und gummiartig anfühlte, fast wie eine Maske. Lautlos zählte ich bis fünfzig, dann öffnete ich beide Augen und wandte vorsichtig den Kopf. Ich spürte, wie sich hinter meiner Stirn ein dumpfer Schmerz ausbreitete und in meine Schläfen flutete.

Erst nach einer Weile begann ich meine Umgebung richtig wahrzunehmen. Ich lag auf der linken Seite eines Doppelbetts unter einer verdrehten hellen Bettdecke, deren Bezug in der Mitte einen großen, L-förmigen Riss aufwies. Im Raum gab es nur ein einziges, ziemlich hoch liegendes Fenster. Darunter stand ein Heimtrainer, über den eine Jeans und ein BH drapiert waren. Neben der Tür lag eine Sporttasche aus Nylon, darauf ein Squashschläger. Ein Schrank stand halb offen, ein paar auf Bügeln hängende Hemden waren zu sehen. In der Ecke türmte sich ein Zeitschriftenstapel, an dem eine Weinflasche lehnte.

Unter dem Bett ragte die Spitze eines Sportschuhs heraus, flankiert von einem zusammengeknüllten Papiertaschentuch.

Nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt stand ein überquellender Aschenbecher, ein Teil der Asche war auf gestreiften Boxershorts gelandet. Ein Digitalwecker mit scheuß-

lich grünen Leuchtziffern zeigte 4:46. Während ich mich langsam in eine sitzende Position manövrierte, entdeckte ich auf dem Laken ein paar Blutflecken, die aussahen, als wären sie mit zarten Pinselstrichen aufgemalt worden. Den Blick starr geradeaus gerichtet, schwang ich vorsichtig die Beine aus dem Bett. Als ich aufstand, schien der Boden unter mir zu schwanken. Ich befahl mir, mich nicht umzudrehen, aber es war, als würde mein Kopf an einem unsichtbaren Draht hängen, sodass ich einfach nicht anders konnte, als einen kurzen Blick auf die Gestalt im Bett zu werfen. Ich sah haarige Beine, die unter der Bettdecke herausragten, einen dunklen Haarschopf, einen Arm über den Augen, einen leicht offen stehenden Mund. Das war alles. Rasch wandte ich mich wieder ab. Ich wusste nicht, wer er war, wollte es auch gar nicht wissen. Durfte es nicht wissen. Da ich dringend pinkeln musste, schlich ich zur Tür und zog sie vorsichtig auf. Trotzdem gab sie ein leises Ächzen von sich, das mich erschrocken zusammenzucken ließ. Über sandige Holzdie-len huschte ich auf eine weitere Tür zu, die direkt gegenüberlag, doch als ich sie aufschob, musste ich feststellen, dass sie nicht wie erwartet ins Badezimmer führte. In dem Raum gab es einen Teppich, ein Bett und eine Gestalt, die sich umdrehte, den Kopf hob und schlaftrunken irgendetwas murmelte. Erschrocken zog ich die Tür wieder zu.

Mir war plötzlich kalt und übel.

Als ich die winzige Toilette endlich gefunden hatte, ließ ich mich zitternd auf der Klobrille nieder. Mein klammer, klebriger Körper fühlte sich an, als würde er mir gar nicht gehören, und es kostete mich gewaltige Anstrengung, wieder aufzustehen und mich ins Wohnzimmer zu schleppen. Dort schlug mir ein penetranter Geruch entgegen: Es stank nach Schweiß wie im Umkleideraum einer Turnhalle und gleichzeitig nach Rauch und Bier wie spätabends in einem Pub. Überall lagen Klamotten herum – seine und meine. Der Tisch war umgekippt, daneben lag eine zerbrochene Tasse. Zwischen verstreuten Kippen stand ein weiterer Aschenbecher. Meine Füße stießen gegen eingedrückte Bierdosen, unter denen ich eine umgefallene Schnapsflasche entdeckte. Ein grellbuntes Bild hing völlig schief an der Wand, und daneben prangte ein rötlicher, verschmierter Fleck. Auf dem Boden bemerkte ich außerdem einen seltsamen Kreis, der aus so etwas wie braunem Reis zu bestehen schien. Plötzlich fiel mir der Wellensittich wieder ein. Ich blickte hoch und sah seinen Käfig über den heruntergefallenen Samenkörnern hängen. Der Vogel schlief.

Leise zog ich meinen Rock hinter dem Sofa hervor. Meine Bluse fand ich völlig verknittert in einer Ecke des Raums. Sie hatte nur noch einen einzigen Knopf und war unter dem Arm aufgerissen. Einer meiner Schuhe lag unter dem Tisch. Als ich ihn aufhob, stellte ich fest, dass der Absatz wackelte. Nach ein paar Minuten hektischen Suchens entdeckte ich den zweiten draußen auf dem Gang vor dem Badezimmer. Mit angehaltenem Atem schlich ich zurück ins Schlafzimmer und zog meinen BH

vom Trimmrad. Er roch stark nach Alkohol – wahrscheinlich Schnaps. Plötzlich spürte ich unter der Fußsohle etwas Klebriges und schaute nach unten. Ich stand auf einem benutzten Kondom.

Vorsichtig zog ich es von meiner Haut und ließ es zurück auf den Boden fallen.

Ich konnte meinen Slip nicht finden. Entnervt ging ich in die Knie und spähte unters Bett, aber da war er auch nicht. Ich kehrte ein weiteres Mal auf den Gang zurück, wo meine Suche ebenfalls erfolglos blieb. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als ohne zu gehen. Auf jeden Fall musste ich hier raus, bevor der Mann oder die Person im anderen Raum – oder gar der Vogel – aufwachte und mich entdeckte. Rasch schlüpfte ich in Rock und BH, streifte die dünne, zerrissene Bluse über, die ich mangels Knöpfen vorne zu einem Knoten zusammenband, und zwängte meine wunden Füße in die wackeligen Schuhe.

Oben drüber kam die Jacke, aber leider handelte es sich um so ein dämliches Kleidungsstück, das nur einen einzigen dekorativen Knopf besaß und deswegen die Bescherung darunter kaum verhüllte. Ich sehnte mich danach, in einem warmen Flanellpy-jama unter einer sauberen Bettdecke zu liegen, frisch geduscht, den Pfefferminzgeschmack von Zahnpasta im Mund … meine Tasche, wo war meine Tasche? Ich fand sie gleich neben der Eingangstür. Nachdem ich ihren halb herausgefallenen Inhalt wieder hineingestopft hatte, verließ ich rasch die Wohnung, zog die Tür leise hinter mir zu und eilte die Treppe hinunter. Erst als ich draußen auf der Straße stand, wurde mir bewusst, wie müde und erschöpft ich war. Einen Moment lang musste ich mich vornüberbeugen, um wieder zu Atem zu kommen.

Wo war ich? Ich ging bis zu dem Schild am Ende der Straße.

Northingley Avenue, SE7. Wo war das? In welche Richtung musste ich mich wenden, um möglichst schnell von hier wegzukommen? Laut meiner Uhr – die sich wie durch ein Wunder noch an meinem Handgelenk befand – war es inzwischen zehn nach fünf. Ich ließ den Blick die Straße entlangschweifen, als bestünde die Hoffnung, dass plötzlich ein Taxi auftauchen würde. Dann holte ich tief Luft und marschierte aufs Geratewohl los. Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Alles schien noch genauso weit entfernt zu sein wie vorher. Es war kalt und noch nicht ganz hell. Ich kroch wie eine Schnecke an den unbeleuchteten Häusern vorbei.

Schließlich erreichte ich eine Straße, in der es ein paar Geschäfte gab, und eines davon, ein Zeitungsladen, öffnete gerade.

Ich tauchte unter dem halb hochgezogenen Gitter hindurch und trat auf die Ladentheke zu, hinter der ein Mann damit beschäftigt war, Zeitungen zu stapeln. Als er von seiner Arbeit hochblickte, riss er erschrocken die Augen auf.

»Was …?«, stotterte er. »Sind Sie überfallen …?«

»Können Sie mir bitte sagen, wie ich zur nächsten U-Bahn-Station komme?«, fiel ich ihm ins Wort.

Aus seinem Blick sprach plötzlich so etwas wie Ekel. Ich versuchte meine Jacke weiter zuzuziehen und dabei möglichst lässig dreinzublicken.

»Sie brauchen nur in diese Richtung weiterzugehen. Etwa siebenhundert Meter.«

Ich erstand eine Flasche Wasser und ein Päckchen Taschentü-

cher.

»Danke«, sagte ich, nachdem ich das Geld aus der Tasche gefischt hatte. Der Mann starrte mich bloß an. Ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir nicht. Es war, als wäre mein Mund zu verkrampft, um sich zu bewegen.

Am frühen Morgen fahren seltsame Leute mit der U-Bahn.

Diejenigen, die nach einer langen Nacht nach Hause wanken, treffen mit jenen zusammen, die bereits – wenn auch noch etwas schlaftrunken – in den neuen Tag starten.

Während ich am Bahnhof auf den ersten Zug wartete, ließ sich neben mir ein Typ mit wundervollen langen Dreadlocks nieder und begann auf seiner Mundharmonika zu spielen. Ich wollte ihm ein bisschen Kleingeld geben, aber er erklärte mir, er sei kein Bettler, sondern ein wandernder Musikant, und ich sei ganz offensichtlich eine Dame in Not. So überließ ich ihm meine Zigaretten, wofür er sich mit einem Handkuss bedankte. Meine Fingerknöchel waren aufgeschürft, meine Nägel dreckig.

Als ich schließlich im Zug saß, schüttete ich ein wenig Wasser auf ein paar Papiertaschentücher und tupfte damit in meinem Gesicht herum. Wimperntusche, Blut. Ich versuchte im Fenster einen Blick auf mein Spiegelbild zu erhaschen, sah aber nur einen blassen, verschwommenen Fleck. Ich kämmte mich noch rasch und stieg dann in die Northern Line um.

Um zehn vor sechs traf ich vor meiner dunkelgrünen Haustür ein. Ich fühlte mich, als wäre ich einen hohen Berg hinaufge-stiegen und anschließend noch einen Marathon gelaufen, um an mein Ziel zu gelangen. Zitternd schloss ich auf, trat in die Diele und ließ meine Tasche neben der Metallstaffelei und den noch ungeöffneten Farbdosen fallen. Nachdem ich meine Schuhe in eine Ecke gekickt hatte, ging ich in die Küche und trank dort gierig zwei Gläser Wasser. Dann zog ich meine Bluse aus und stopfte sie so tief in den Abfalleimer, dass sie vollständig von Blechdosen und Kaffeesatz bedeckt war.

Die Treppe kam mir an diesem Tag so steil vor, dass ich sie auf allen vieren hinaufkriechen musste. Im Badezimmer angekommen, entledigte ich mich meiner restlichen Klamotten, die ich unter die anderen Sachen im Wäschekorb schob. Als ich schließlich einen Blick in den Spiegel warf, musste ich an mich halten, um nicht vor Schreck laut aufzuschreien: Mir starrte eine erschöpfte, schmuddelige, blutverschmierte Frau mit geschwollenen Lippen, roten Augen und verfilztem Haar entgegen. Ich sah aus wie ein Stück Müll.

Ich drehte die Dusche so heiß auf, dass ich es gerade noch ertragen konnte, und wusch mir die Haare, bis meine Kopfhaut brannte. Dann seifte ich mich von oben bis unten ein und schrubbte meine Haut, als könnte ich eine ganze Schicht wegrubbeln und als völlig neuer, reiner Mensch aus dieser Prozedur hervorgehen. Ich putzte mir die Zähne, bis mein Gaumen blutete, gurgelte hinterher noch mehrfach mit Mund-wasser, massierte mir Creme ins Gesicht, rieb mich mit Körperlotion ein und verteilte Deo unter den Achseln.

Als ich schließlich ins Schlafzimmer ging, zeigte der Wecker sechs Uhr elf. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass er wie üblich auf sieben Uhr zehn gestellt war, glitt ich unter die Bettdecke und schlang die Arme um die Knie.

»Holly?«, murmelte Charlie. »Wie spät ist es?«

»Schhh. Schlaf weiter. Es ist alles in Ordnung.«

Während ich einschlief, ging mir durch den Kopf, dass ich vergessen hatte, meinen Ehering wieder anzustecken.

3

»Holly. Holly, ich hab dir Kaffee gebracht. Es ist zwanzig nach sieben.«

Einen Moment lang blieb ich mit einem Arm über den Augen liegen, weil mir vor dem grellen Morgenlicht graute. Meine Gliedmaßen fühlten sich an wie Blei, mein Mund war ausgetrocknet, in meinem Kopf pochte es, und mein Hals schmerzte.

Ich konnte dem Tag nicht ins Gesicht blicken. Ich konnte Charlie nicht ins Gesicht blicken.

»Holly«, wiederholte er.

Schließlich schaffte ich es doch, den Arm wegzunehmen, die Augen zu öffnen und in sein nettes Gesicht zu sehen, seine braunen Augen, in denen ich keine Spur von Abscheu oder Überraschung entdecken konnte. »Guten Morgen, Charlie. Du bist heute aber schon früh auf.«

Auf eine lässige, gemütliche Art strahlte er Wärme und Verlässlichkeit aus. Er arbeitete zu Hause, deswegen brauchte er keinen Anzug anzuziehen und keine öffentliche Maske aufzusetzen, wie ich es jeden Tag tue, wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe und mich schminke. Lächeln, Holly, immer schön lächeln. Charlie hingegen trug einfach seine alte graue Cordhose und ein langärmeliges senffarbenes Hemd, bei dem der Kragen schon ein wenig ausfranste.

Ich stützte mich auf einen Ellbogen und nahm einen Schluck von dem Kaffee. Er war stark, heiß und schwarz.

»Spät geworden gestern?«, fragte er.

»Irgendwie nahm es mal wieder kein Ende.«

»Ich hab dich gar nicht kommen gehört.«

»Du hast geschlafen wie ein Murmeltier. Mein Gott, ist es wirklich schon so spät? Anscheinend habe ich das Läuten des Weckers nicht gehört. Ich komme gleich runter.«

Während ich noch einmal die Augen schloss, hörte ich ihn den Raum verlassen. Ich hatte gerade mal eine gute Stunde geschlafen, und nun blieben mir noch ungefähr drei Minuten, ehe ich wieder ein Mensch werden musste, um zu all den anderen zu passen, die ebenfalls so taten, als wären sie Menschen. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf und zwang mich, über die Ereignisse des Vorabends nachzudenken. Allerdings fühlte es sich nicht wirklich wie Nachdenken an, sondern eher wie die Schläge eines Boxers, der seine Fäuste gezielt in die weichen Stellen meines Körpers platzierte, wo sie keine Spuren hinterlassen würden. Das Atmen fiel mir schwer. Ich keuchte und hustete, als wäre ich gerade von einer großen Welle an den Strand gespült worden. Ich musste daran denken, wie die Frau –

ich – letzte Nacht gelacht und geflirtet hatte. Leichtsinnig jeder Versuchung nachgebend. Nein, nicht nachgebend, eher schon nachjagend. Die Königin der Party. Nun schien sie nur noch eine abgewrackte Langweilerin zu sein. Ich stellte mir vor, wie ich in jenem Raum gelegen hatte, jenem anderen Bett, mit dem fremden Mann – wer auch immer er gewesen sein mochte.

Das ist das Problem mit Liebe und Sex: Die Leute schreiben Lieder und Gedichte oder machen Filme darüber, und wir alle schwärmen und träumen davon, wollen es genauso erleben oder wenigstens besser, als wir es gewöhnt sind. Wenn es dann aber so weit ist – wenn wir den Klub verlassen und unsere Klamotten ausgezogen haben –, läuft es am Ende doch nur auf einen pickeligen Rücken und ein fleckiges Laken hinaus, eine schreckliche Wohnung irgendwo in einem miesen Stadtteil von London, wo man noch nie gewesen ist, und ein glitschiges Kondom auf dem Teppich, bei dessen Anblick man am liebsten kotzen würde. Ich dachte daran, in die Küche hinunterzugehen, mich zu Charlie zu setzen und ihm zu sagen, was in der Nacht zuvor geschehen war, während er friedlich in unserem Bett geschlafen hatte. Wie dumm und widerlich das gewesen war. Wie überflüssig. Ich stellte mir vor, wie sein Gesichtsausdruck sich verändern würde, während ich es ihm erzählte. Voller Scham verkroch ich mich noch tiefer unter meine Bettdecke und stöhnte laut. Was ich getan hatte, erfüllte mich selbst mit Ekel. Ach, könnte ich doch nur die Uhr zurückdrehen und gemeinsam mit Meg aus der Kneipe verschwinden … Den Lärm, das Licht und das Lachen hinter mir lassen und zu meinem Mann heimfahren, um unter einer sauberen Bettdecke neben ihm einzuschlafen und an diesem Morgen mit reinem Gewissen aufzuwachen … Ach, könnte ich doch nur, ach, könnte ich doch nur …

Ein Teil von mir wusste nur allzu gut, dass sich dadurch mein Leben verändert hatte. Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir ständig zu: »Du hast Ehebruch begangen.«

Ich konnte mich an den Religionsunterricht in der Schule erinnern, an Bruchstücke aus der Bibel, in denen es darum ging, dass man Ehebruch auch im Herzen begehen konnte, indem man jemanden einfach nur lustvoll ansah. Ich aber hatte den Ehebruch weder in meinem Herzen noch in meinem Kopf begangen, sondern mit meinem Körper. Charlie durfte nichts davon erfahren. Es würde ihn zu sehr verletzen und außerdem wie ein großer, sich ausbreitender Fleck alles in unserem Leben be-schmutzen.

Ich bin eine gute Lügnerin, schon immer gewesen. Seit jenem wundervoll stürmischen, viel versprechenden Herbsttag, an dem ich ihn aufs Standesamt schleifte, gefolgt von den zwei verblüff-ten, leicht verlegenen Trauzeugen, die wir uns einfach von der Straße schnappten, ist es mehrfach vorgekommen, dass ich ihm gegenüber nicht ganz ehrlich war, ihn irgendwie beschummelte oder hinterging, aber niemals so wie letzte Nacht. Das war das erste Mal.

Ich hörte unten Geschirr klappern und die Post durch den Briefschlitz auf den blanken Holzboden in der Diele fallen.

Langsam zog ich die Bettdecke von meinem Gesicht und blinzelte ins Licht. Meine Beine schmerzten, meine Augen brannten, und die Drüsen an meinem Hals waren geschwollen.

Vielleicht bekam ich ja die Grippe, dachte ich voller Hoffnung.

Dann hätte ich wenigstens einen Grund, mich noch ein wenig länger vor der Welt zu verstecken. Aber ich wusste, dass es keine Grippe war, sondern nur ein Kater und ein schlechtes Gewissen.

»Raus aus den Federn, Holly!«, befahl ich mir selbst, und wie ein Roboter, der jede Anweisung seines Meisters befolgt, setzte ich mich trotz des Schmerzes, der in meinem Kopf zu pochen begann, auf und schwang die Füße auf den Boden. Ich wartete, bis der Raum zu schwanken aufhörte, und schlurfte dann ins Bad, wo ich mir mit kaltem Wasser das Gesicht wusch.

Benommen betrachtete ich mich im Spiegel: das dunkelblonde Haar, von dem Charlie immer sagte, es sehe aus wie eine Löwenmähne, die grauen Augen, die mir unter dichten Brauen offen entgegenblickten, den breiten Mund, der mich so strahlend anlächelte. Wie konnte es sein, dass mein Geist von einer dicken schwarzen Schmutzschicht überzogen war, während mein Gesicht so frisch und fröhlich wirkte?

»Mir kannst du nichts vormachen!«, zischte ich mein Spiegelbild an und verzog dabei das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen. »Ich kenne dich, Holly Krauss. Mich kannst du nicht zum Narren halten!«

*

»Fängst du heute um die übliche Zeit an?« Charlie öffnete einen Brief, warf einen Blick darauf und knüllte ihn dann zusammen.

»Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich habe um neun einen Termin mit Meg. Und vorher muss ich noch jemandem auf die Finger schauen.«

Charlie drehte sich zu mir um. »Das klingt aber nicht gut.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Und dann werden wir schuften wie verrückt, alles für kommendes Wochenende vorbereiten.

Das wird ein Alptraum. Von wem war denn der Brief?«

»Kommendes Wochenende? Davon weiß ich ja gar nichts.

Worum geht’s?«

»Das hab ich dir doch erzählt. Zwölf Manager, die auf einem Floß einen Teich überqueren. Damit sie mehr Zusammengehö-

rigkeitsgefühl entwickeln. Was liegt bei dir denn heute an?«

»Ach, alles Mögliche. Möchtest du was zum Frühstück?«

»Mal sehen«, antwortete ich unentschlossen.

Beim Aufwachen war ich sicher gewesen, mein ganzes Leben lang niemals wieder etwas zu mir nehmen zu können, außer vielleicht Kaffee, aber nun überfiel mich schlagartig ein solcher Heißhunger, dass ich ganz zittrig davon wurde und schon befürchtete, vor Schwäche in Ohnmacht zu fallen. Hatte ich gestern überhaupt etwas gegessen? Ich ließ den Abend vor meinem geistigen Augen Revue passieren, als würde ich ein Video abspulen. Wir hatten viel geredet, getrunken und ge-raucht. Hin und wieder tauchte in meinem internen Video auch etwas Essbares auf, aber ich hatte es hauptsächlich auf meinem Teller herumgeschoben. Ich ging den Tag noch ein Stück weiter zurück. Das Mittagessen hatte ich ausfallen lassen und das Frühstück aller Wahrscheinlichkeit nach auch, obwohl ich schon um halb sechs aufgestanden war. Hatte ich mich womöglich in irgendeine neue Spezies Mensch verwandelt, die weder Schlaf noch Nahrung brauchte?

Ich stöberte im Kühlschrank herum, fand ein Stück Schweine-pastete, an dem ich ein wenig herumknabberte, und öffnete anschließend einen Joghurt. Es schmeckte alles wie Kreide, und die Kombination von zwei so unterschiedlichen Speisen machte es nur noch schlimmer. Was für eine seltsame Angewohnheit, dachte ich, Dinge aus der uns umgebenden Welt in den Mund zu nehmen, dort zu zerkauen und dann hinunterzuschlucken, um uns auf diese Weise zu erhalten. Allein schon der Gedanke hätte mir den Appetit verderben müssen, wäre da nicht dieses unbändige Verlangen in meinem Magen gewesen. Dabei handelte es sich eigentlich gar nicht so sehr um Appetit, sondern eher so etwas wie das Signal eines Roboters, das dieser aussen-det, wenn sein Akku aufgeladen werden muss.

Charlie musterte mich prüfend. »Hier, trink noch eine Tasse Kaffee. Ich kann dir auch was Anständiges machen, wenn du möchtest.«

»Kaffee ist schon in Ordnung.«

»Eier und Speck, ein Omelett, ein paar Würstchen, ach nein, Würstchen haben wir keine, und Speck auch nicht, wenn ich’s mir recht überlege, und was die Eier betrifft, bin ich mir auch nicht so sicher. Aber Brot ist da.«

»Nein, nein, schon gut«, sagte ich lachend – oder versuchte zumindest zu lachen. Es war, als würde ich gleichzeitig im Publikum sitzen und auf der Bühne stehen, mich selbst bei dem Versuch beobachten, eine normale Frau zu spielen.

»Was sind denn deine Pläne für gestern Abend?«

Charlie starrte mich verblüfft an. »Hast du gerade gestern Abend gesagt?«, fragte er.

»Nein. Oder etwa doch?«

»Gestern Abend war ich zu Hause. Heute Abend weiß ich noch nicht. Und du, hast du schon was vor?«

»Wir könnten was zusammen unternehmen oder es uns einfach gemütlich machen. Das wäre schön.« Ich ging zu ihm, fuhr mit den Händen in sein dichtes Haar und beugte mich hinunter, um seine angenehme morgendliche Frische zu riechen und einen Kuss auf seine Wange zu drücken. »Charlie?«

»Mmmm?«

»Ach, nichts.«

Ich wollte nach meiner Kaffeetasse greifen, stellte mich dabei aber so ungeschickt an, dass sie auf dem Boden landete und der Kaffee sich vor meinen Füßen ergoss.

»Lass nur«, sagte Charlie. »Ich mache das schon.« Er kauerte sich auf den Boden, sammelte die Bruchstücke ein und wischte den verschütteten Kaffee mit einer Küchenrolle auf.

»Ausgerechnet die Tasse, die wir in der Töpferei bei Brighton zusammen gekauft haben!« Ich war den Tränen nahe.

»Das kann ich reparieren.«

»Nein, kannst du nicht. Es tut mir so Leid!«

»Es ist doch nur der Griff, Holly. Schau. Wenn ich es geklebt habe, wirst du gar nicht mehr sehen, wo es gebrochen war. Lass mich nur machen.«

Ich starrte ihn an und dachte: Jetzt. Sag es ihm jetzt sofort.

Hetze nicht los in die Arbeit. Nimm stattdessen seine Hand und sieh ihm ins Gesicht. Rede ein einziges Mal in deinem dämlichen Leben offen und ehrlich mit ihm. Aber in dem Moment klopfte es laut an der Tür.

»Ich gehe schon«, sagte ich.

Es war Naomi von nebenan. Sie war Anfang des Jahres eingezogen und unsere einzige Freundin in der Straße. Sie sah ungekämmt aus. Ihre dunklen Locken standen wild vom Kopf ab, und sie trug Hausschuhe. »Ich komme zum Schnorren«, erklärte sie, während sie in die Diele trat. »Mir ist der Kaffee ausgegangen.«

»Wir haben jede Menge, und in der Kanne ist auch noch welcher. Trink doch gleich hier eine Tasse.«

Ihr Blick wanderte nervös zwischen mir und Charlie hin und her. »Wenn ihr wirklich meint …«

»Ich bin gerade am Gehen, aber Charlie bleibt da.«

Ich ließ die beiden in der Küche zurück und trat erleichtert auf die Straße hinaus, wo mich niemand kannte.

Eigentlich mag ich unrealisierbare Projekte, weil die Leute dann dankbar sind, wenn man überhaupt etwas zustande bringt. Bei einer solchen Gelegenheit sind Meg und ich uns vor knapp fünf Jahren begegnet, auch wenn es mir manchmal vorkommt, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Wir hatten damals beide unseren ersten Job, und zwar als Mädchen für alles in einer schrecklich chaotischen Firma. Eines Tages erschien eine Frau, um sich nach dem genauen Programm für den nächsten Tag zu erkundigen, aber wie sich herausstellte, hatte unser Chef Derek den Auftrag völlig vergessen. Und als wäre das nicht schon genug, verzog er sich auch noch in sein Büro. Nach etwa einer Stunde ging ich, ohne anzuklopfen, hinein und fand ihn weinend vor. Noch heute kann ich mich genau an sein unglückliches, verquollenes Gesicht und seine roten Augen erinnern. Er machte einen derart verzweifelten Eindruck, dass ich zu ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, wir würden das schon irgendwie regeln. Daraufhin nahm er meine Hand und eröffnete mir, seine Frau sei mit ihrem Raumausstatter durchgebrannt.

Meg und ich hatten nichts zu verlieren. Wir waren erst zwei-undzwanzig, und alles schien möglich. Als Erstes riefen wir die Frau an und ließen uns von ihr ein paar Einzelheiten über die Firma erzählen. Dann suchten wir uns ein geeignetes Hotel und dachten uns anhand von Anregungen, die wir uns bei verschiedenen Leuten im Büro holten, ein paar Aktivitäten aus. Wir blieben die ganze Nacht auf und bereiteten Kärtchen und kleine Ansprachen vor. Was am nächsten Tag dabei herauskam, war zwar nicht gerade der tollste Betriebsausflug aller Zeiten, aber Meg und ich hatten das Fiasko abgewendet. Meg ist die Gerad-linige in unserem Zweierteam, und Flirten ist nicht ihre Sache.

Wenn ihr ein Mann gefällt, wird sie linkisch und hektisch, lacht an den falschen Stellen und errötet ständig. Außerdem gibt sie niemals an. Das ist bei mir ganz anders, und wenn ich es tue, mustert sie mich immer mit einem seltsamen Blick, einer Mischung aus Nachsicht und leichter Nervosität.

Jedenfalls standen wir den ganzen Tag unter Strom, und am Abend ging es in einer Bar weiter. Kurz nach Mitternacht erschien die Frau, von der wir den Auftrag hatten, und umarmte uns. Sie bedankte sich überschwänglich und meinte, ohne uns hätte sie ihren Job verloren. Am nächsten Tag war Derek so gerührt, dass er wieder in Tränen ausbrach. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage saß ich ihm gegenüber, sprach beruhigend auf ihn ein und musterte ihn dabei verstohlen. Ich weiß noch, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Wir befanden uns beide auf einem Hochseil und taten, als wäre alles ganz einfach. Dabei reichte womöglich ein einziger Blick nach unten

– die Erkenntnis, dass es kein Sicherheitsnetz gab –, um das Gleichgewicht zu verlieren und zu fallen.

Und trotzdem war das Ganze zugleich der absolute Höhepunkt meines bisherigen Lebens. Ich habe schon öfter Leute sagen hören, sie würden träumen, auf einer Bühne zu stehen und plötzlich ihren Text nicht mehr zu können. Seit jenem Tag weiß ich, dass das keineswegs mein größter Alptraum ist. Ganz im Gegenteil: Ich suche mir solche Situationen bewusst aus. Mein Alptraum beginnt erst, wenn die Show vorüber ist.

Ein paar Monate später beschlossen Meg und ich, den Allein-gang zu wagen. Ich hatte noch nie einen Menschen kennen gelernt, den ich so mochte wie sie. Ich glaube, sie war mehr oder weniger die erste Person in meinem Erwachsenenleben, bei der ich nicht das Gefühl hatte, eine Rolle spielen zu müssen. Meg brauchte ich nichts vorzumachen, und ich musste sie auch nicht beeindrucken. Mir war von Anfang an klar, dass sie ein gutes Herz besaß, und auf eine ganz merkwürdige Art fühlte ich mich in ihrer Gegenwart immer wie ein besserer Mensch – oder zumindest ein nicht ganz so schlechter.

Wir hätten unserer Firma irgendeinen schönen New-Age-Namen geben können, zum Beispiel Swish oder Enthrall oder Aspire, aber am Ende blieben wir bei KS Associates, genial abgeleitet von Krauss, meinem Nachnamen, und Summers, dem von Meg. Wir bezahlten einem alten Kunstschulfreund von Meg fünftausend Pfund, damit er ein Logo für uns entwarf. Sie müssen sich vorstellen, dass das seitliche V, aus dem der Buchstabe K besteht, zugleich den oberen Teil des S bildet, das sich nach unten fortsetzt und dann zurück nach oben schwingt, wo es den geraden Teil des K unten fast wieder berührt. Es ist ziemlich schwer, sich das Ganze vorzustellen, wenn man die Buchstaben nicht vor sich hat. Wir selbst fanden es recht edel, bis uns auf der Party, die wir anlässlich unserer Firmengründung in unserem Büro feierten, jemand darauf hinwies, dass es wie das Rollstuhlzeichen an den öffentlichen Toiletten für Behinder-te aussah. Doch da war es schon zu spät, um noch etwas daran zu ändern, und außerdem fanden Meg und ich, dass einem diese Ähnlichkeit sowieso nur in extrem betrunkenem Zustand auffiel.

Wie gesagt, ich mag Aufgaben, die unmöglich zu schaffen sind, aber sogar das Unmögliche hat seine Grenzen. In der Vorwoche war eine unserer Angestellten in Mutterschutz gegangen, eine weitere hatte überraschend gekündigt, und uns stand die Organisation zweier Betriebsausflüge bevor, was mir in diesem Moment wie eine schier unüberwindliche Hürde erschien. Während ich zum zweiten Mal an diesem Morgen mit brummendem Schädel und schmerzendem Hals auf dem Bahnsteig der U-Bahn stand und das Gefühl hatte, als schwebte ein drohendes Unheil über mir, begann ich die Aufgaben der beiden fehlenden Frauen neu zu verteilen und einen groben Zeitplan für die kommenden zweiundsiebzig Stunden zu erstellen. Als der Zug aus dem Tunnel auftauchte, schoss mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Wäre es nicht schön, wie ein Baum umzufallen und auf den Gleisen zu landen? Dann würde ich nie wieder etwas organisieren müssen. Außerdem würde ich in hundert Jahren sowieso tot sein. Alle auf diesem Bahnsteig würden dann tot sein. Ich würde einfach ein bisschen früher gehen. Im Grab gab es wenigstens keine Kalkulationsta-bellen mehr. Und kein Grau. Nur noch Schwärze oder gar nichts. Womöglich würde ich sogar feststellen, dass tatsächlich so etwas wie ein Himmel existierte, und dort meine alten Wellensittiche und Hamster wiedertreffen, und auch den Hasen und die Katze, die mir als kleines Mädchen gehört hatten. Und ich würde meinen Vater wiedersehen.

Dann aber sah ich das kantige, unrasierte Gesicht des U-Bahn-Fahrers erschreckend nahe an mir vorbeisausen, und ich versuchte mir die Leute auf dem Bahnsteig aus seiner Perspektive vorzustellen. Hatte er Alpträume, dass eines Tages jemand springen würde?

Unser Büro besitzt keine Ähnlichkeit mit dem, was mein Vater als normal bezeichnet hätte. Allerdings hat er selbst auch nie in einem normalen Büro gearbeitet. Wir fanden es am Rand von Soho und übernahmen den Mietvertrag von einer Dotcom-Firma, die Pleite gegangen war. Es gibt im Hauptraum weder Trennwände noch andere Raumteiler, noch Türen, nur eine Reihe parallel angeordneter Tische wie in einem kargen Kloster-refektorium. Zusätzlich haben wir einen winzigen so genannten Konferenzraum, aber für gewöhnlich führen wir unsere Kun-dengespräche an einem langen Tisch am Ende des Raums, wo sich eine Art Podium befindet, auf dem im Kloster wahrscheinlich der Abt sitzen würde. Die Beleuchtung besteht aus industriell aussehenden Hängelampen, und jeder hat sein eigenes abschließbares Fach, aber keinen festen Schreibtisch oder Computer – mit Ausnahme von mir, weil ich anscheinend überall, wo ich mich aufhalte, ein solches Chaos hinterlasse, dass kein anderer dort arbeiten möchte. Wir haben die Einrich-tung von der Dotcom-Firma übernommen und es bisher nicht geschafft, etwas zu verändern. Meg und ich haben uns vorgenommen, das Ganze eines Tages in richtige Büroräume mit Wänden umwandeln zu lassen. Aber ich frage mich, ob wir je die Zeit dazu finden werden.

Um fünf nach acht kam ich dort an, was in Anbetracht der Umstände einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde verdient hätte. Das Büro lag leer und still vor mir. Gut. Mir blieb etwa eine halbe Stunde. Nachdem ich mir rasch einen Kaffee aufgebrüht hatte, machte ich mich an die Arbeit. Plötzlich hörte ich ein Geräusch und drehte mich erschrocken um. Wahrscheinlich irgendetwas draußen auf der Straße. Ich konnte mir ein nervöses Lächeln nicht verkneifen. Im Grunde war ich so eine Art Einbrecher in meinem eigenen Büro. Mein Vorhaben bereitete mir keine Schwierigkeiten, ich brauchte nur einen Moment, um Deborahs Unterlagen zu finden, kopierte einen Teil davon und legte sie genau in dem Moment an ihren Platz zurück, als ich draußen auf der Treppe Schritte hörte.

4

Ich wusste, dass es Meg war, sie traf immer als Erste im Büro ein. Nur heute nicht. Sie trug ein weißes Baumwollshirt und hatte das Haar streng nach hinten gebunden. Ihr einziger Schmuck waren kleine silberne Ohrstecker, und sie war völlig ungeschminkt. Wie frisch sie doch aussah, wie ein makelloses Stück Obst, ein Apfel oder Pfirsich. Sie zuckte einen Moment überrascht zusammen, als sie mich entdeckte, dann setzte sie sich neben mich. »Ich dachte, du würdest erst viel später kommen«, sagte sie. »Nach dem gestrigen Abend. Wie ist es denn noch weitergegangen?«

Ich beantwortete ihre Frage mit einer Art Achselzucken, das bedeutete: später. Wir sprechen später darüber.

Sie starrte mich an. »Du hast irgendeine Dummheit begangen, stimmt’s?«

Man darf Meg nicht unterschätzen. Sie kann wie mit Röntgenaugen in mich hineinsehen. Sie durchschaut sogar mein Achselzucken.

»Dafür ist jetzt nicht die Zeit«, antwortete ich. »Ich bin schon so früh gekommen, weil ich etwas überprüfen wollte. Sieh dir das an.«

Ich breitete die Fotokopien vor ihr aus.

Sie betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Du wirst mir ein bisschen etwas dazu sagen müssen«, meinte sie schließlich.

»Das sind Deborahs so genannte Unterlagen«, erklärte ich.

»Rechnungen, Berichte, Spesenformulare, Pläne, du weißt schon. Was wir halt so machen.«

»Ja, das sehe ich.«

»Es ist alles völliger Schrott«, fuhr ich fort. »Schau dir diese Spesenrechnung an. Deborah war überhaupt nicht in Sussex.«

»Ja, aber –«

»Und die Beurteilung für das übernächste Wochenende. Die, an der sie angeblich schon die ganze Woche schreibt. Das hier ist sie.«

Meg griff nach einem fast leeren Blatt. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie. »Vielleicht hat sie den Rest zu Hause.«

»Ich habe alles durchgesehen. Meiner Meinung nach bleibt nur noch zu klären, ob sie einfach unehrlich ist oder aber eine so blühende Phantasie hat, dass sie ihre chronischen Lügen selbst glaubt. Apropos, erinnerst du dich daran, wie sie letzte Woche behauptet hat, nach der Beerdigung ihres Bekannten den Zug verpasst zu haben? Es gibt gar keinen solchen Zug. Ich habe das überprüft.«

Meg wirkte schockiert. »Bist du sicher?«

»Ja.«

»Wir müssen mit ihr sprechen.«

»Wir müssen sie feuern.«

»Holly, das können wir nicht. Für so was gibt es gewisse Regeln.«

»Wir sind nur eine winzige Firma, Meg. Jemand wie Deborah könnte uns ruinieren. Wir bringen das Ganze eben auf eine faire Art und Weise über die Bühne. Reden mit ihr, erklären ihr die Situation und legen ihr nahe zu gehen. Vielleicht sollten wir ihr sogar raten, einen Arzt aufzusuchen. Wir erledigen das gleich heute. Sobald sie kommt.«

»Du vergisst, dass sie heute und morgen auf dieser Konferenz ist.«

»Dann eben, wenn sie zurück ist. Wir dürfen es bloß nicht auf die lange Bank schieben.«

Meg biss sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wir sollten besser erst mal mit Trish über die Sache sprechen.«

»Trish leitet das Büro, aber es ist unsere Firma. Unsere Entscheidung.«

»Wir sind hier doch wie eine Familie.«

»Und genau deswegen können wir mit jemandem wie Deborah nicht überleben.«

Meg hatte mittlerweile ganz rote Wangen. Das ist bei ihr immer so, wenn etwas sie emotional sehr bewegt. »Wie schaffst du das nur?«, fragte sie in verwundertem Ton.

»Was?«

»Gestern Abend hättest du beinahe eine Schlägerei angezettelt.

Eine Minute später lässt du dich von dem Mann, der dich genauso gut hätte umbringen können, auf einen Drink einladen.

Das war der Moment, als wir gegangen sind – sobald wir sicher waren, dass dir nichts passieren würde. Wo bist du danach hin?

Ich habe von zu Hause aus bei dir angerufen, aber du warst noch nicht da. Und jetzt tauchst du hier schon in aller Herrgottsfrühe auf und spielst Sherlock Holmes. Wie schaffst du es bloß, die Dinge in deinem Leben derart zu trennen? Als würdest du sie alle in verschiedene Fächer stecken. Bringst du denn nie etwas durcheinander?«

»Das ist ja gerade der Vorteil von Fächern«, erklärte ich.

»Und genau das war das Problem der Titanic. Das Ganze wäre gar nicht so schlimm gewesen, wenn es Absperrungen gegeben hätte, die das Wasser aufgehalten hätten, aber es konnte sich ungehindert ausbreiten, und das Schiff sank …«

»Die Titanic? Wovon um alles in der Welt redest du?«

Während der Besprechung bemühte ich mich, einen möglichst professionellen, wachen Eindruck zu machen. Ich verfügte über alle nötigen Fakten, notierte mir die Vorschläge unserer Kunden und versicherte ihnen, dass das kommende Wochenende zu ihrer vollsten Zufriedenheit ablaufen würde. Jedes Mal, wenn sich jemand zu Wort meldete, wandte ich mich dem oder der Betreffenden mit einem aufmerksamen Lächeln zu. Ich schaffte es sogar, gegenüber dem selbstgefälligen Vorstandsvorsitzenden der Pharmafirma freundlich zu bleiben.

»Teamaufbau«, sagte er gerade und strich sich übers Kinn.

»Ein Gefühl für gemeinsame Ziele, intellektuelle Abenteuer, gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Interessen, das vereinte Ziehen am gleichen Strang. Genau das brauchen wir hier.«

Oder eine Gehaltserhöhung, dachte ich. Und einen neuen Chef. »Und genau dafür sind wir da«, sagte ich.

»Ein Kollege hat Sie mir empfohlen. Er hat erzählt, am Ende der zwei Tage habe seine ganze Firma vor Enthusiasmus nur so gesprudelt. Das möchten wir auch.«

»Sprudeln«, sagte ich. »Wir werden unser Möglichstes tun.«

Ich hörte eine unserer Praktikantinnen ein Husten unterdrücken und warf ihr einen warnenden Blick zu.

Als der Mann ging, verabschiedete ich mich mit einem festen Händedruck und meinem freundlichsten Lächeln.

*

»So«, sagte Meg und reichte mir meinen Mantel. »Zeit für einen Kaffee.«

»Wir können doch auch hier einen trinken. Wir haben so viel zu –«

»So leicht kommst du mir nicht davon. Lass uns ins Luigi’s gehen, da können wir in Ruhe reden.«

Wir gingen die Straße bis zu dem dunklen kleinen Café hinunter, dessen Inneres mit seiner gedämpften Beleuchtung und den zischenden Espressomaschinen die Wärme und Gemütlichkeit einer Bootskajüte ausstrahlte.

»War ich zu dem Typen von gestern Abend recht eklig?«, fragte ich. »Wie war noch mal sein Name?«

»Todd«, antwortete Meg. »Ich glaube, ein bisschen erschreckt hast du ihn schon.«

»Obwohl er eigentlich ziemlich nett wirkte.«

»Ja, recht nett«, bestätigte Meg in beiläufigem Ton. Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie errötete heftig und wandte sich ab. »Was ist gestern Abend noch passiert?«, fragte sie nach einer kurzen Pause. »Das ist das Thema, über das wir eigentlich reden wollten.«

Ich betrachtete ihr weiches, rundes Gesicht, das mir mit seinem Kinngrübchen und dem lockigen Wuschelhaar immer so edwardianisch erschien. Wie sollte sie jemals verstehen können, was ich getan hatte? »Oh, du weißt schon. Es hat sich einfach noch eine Weile hingezogen.« Als ich einen Schluck von meinem Kaffee nahm, verbrannte ich mir die Oberlippe, aber der Schmerz war mir in dem Moment sehr willkommen.

»Vielleicht hatte ich am Ende ein bisschen zu viel Alkohol intus.«

»Am Ende?«

»Du bist meine Freundin, nicht meine Mutter. Ich hatte Spaß, das ist alles.«

»Bist du noch woandershin gegangen?«

»Ja, wir sind –« Ich hielt abrupt inne. Ich wusste weder, wer

»wir« waren noch wo wir hingegangen waren. Ich bekam kein klares Bild von dem Abend zusammen, durch meinen Kopf wirbelten nur verschwommene Bruchstücke: ein dunkler Raum voller Leute, ein Flussufer, splitterndes Glas, ein Taxi, ein Fiebertraum auf einem Bett. Sich wälzende Körper. Ich rieb mir die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben.

»Ja?«

Ich schüttete meinen Kaffee hinunter und stellte die Tasse mit einer energischen Bewegung ab.

»Willst du das wirklich hören, Meg? Die Wahrheit ist nämlich, dass ich mich an das meiste nicht mehr so genau erinnern kann.«

»Weil du so betrunken warst?«

»Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde das Ganze ein bisschen wie ein Traum. Du weißt schon.«

»Wann bist du zu Hause gewesen?«

»Ich komme mir wirklich vor wie ein Teenager«, bemerkte ich. »Kurz vor sechs.« Das war gerade mal fünf Stunden her, dachte ich. Wie konnten fünf Stunden so langsam vorüberkrie-chen?

»Kurz vor sechs? Mein Gott, Holly, wie kannst du dich da noch auf den Beinen halten? Was hat Charlie gesagt?«

»Nicht viel. Er hat geschlafen, und dann war es schon wieder Zeit für mich, in die Arbeit zu gehen.«

»Hat er kein Problem damit?«

Ich musste an Charlie denken, wie er auf dem Küchenboden gekauert und vorsichtig die Teile der Tasse aufgesammelt hatte, die mir hinuntergefallen war. »Ich glaube, wir müssen jetzt wieder zurück ins Büro.«

»War ein anderer Mann im Spiel?« Das klang eher wie eine Feststellung als eine Frage.

»Was?«

»Gestern Nacht.«

»Na ja, irgendwie schon«, murmelte ich. Dann hob ich den Kopf und sah Meg trotzig in die Augen.

»Aha. Irgendwie. Willst du damit sagen, dass du Sex mit einem anderen Mann hattest?«

»Es hatte nichts zu bedeuten.«

»Wie kann das nichts zu bedeuten haben?«

»Ich war betrunken und völlig überdreht. Ich hatte Sex mit einem Fremden. Ende der Geschichte.«

»Oder Anfang der Geschichte. Holly, hörst du eigentlich, was du da sagst?«

O ja, ich hörte es. Meine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, und ich hörte aufmerksam zu, versuchte krampfhaft, den Sinn der Worte zu verstehen.

»Was ist mit Charlie?« Sie fragte das ganz leise, und ihre Stimme klang dabei beängstigend ernst.

»Charlie ist Charlie«, antwortete ich dümmlich.

»Wirst du es ihm sagen?«

»Wozu? Damit er sich auch beschissen fühlt? Es ist passiert, und es ist vorbei, und es wird nicht wieder passieren.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich – ich werde nicht zulassen, dass es noch einmal passiert.

Es war …«, ich suchte in meinem vernebelten Gehirn nach dem richtigen Wort, »… eine Verirrung.«

Meg starrte mich lange an. Mein Herz raste, aber ich zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. Ich wollte auf keinen Fall den Blick senken oder abwenden, aber am Ende musste ich es doch tun, weil sie so ernst und vernünftig dreinschaute, als würde sie gerade eine Entscheidung fällen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich ihr Leid tat. Das konnte ich nicht ertragen.

Meg hatte mir Charlie damals vorgestellt. Sie hatte ihn kennen gelernt, weil er mit ihrem Cousin Luke auf die Kunstschule gegangen war. Sie lud mich ein, mit ihnen ins Kino zu gehen.

Ich kann mich noch genau an den Film erinnern, Lost in Translation. Ich weiß auch noch, wie das Wetter war, ein warmer Herbstwind wirbelte trockenes Laub um uns herum auf, während wir zu viert die Straße entlanggingen. Und ich weiß, was ich an dem Tag anhatte: eine Jeans, die an den Knien zerrissen war, Leinenstiefel und meine älteste Lederjacke. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es ein besonderer Tag werden würde. Meg und Luke traten völlig in den Hintergrund, ich registrierte nur noch Charlie: jede seiner Gesten, jedes Wort, das er sagte, jeden verstohlenen Blick in meine Richtung. Und ich spürte mit jenem wunderbaren, unvergleichlichen Gefühl des Schauderns, dass es ihm mit mir genauso ging. In der Bar war es, als würden elektrische Stromschläge durch meinen Körper zucken, als sich unsere Hände wie zufällig berührten. Im Kino saß Meg zwischen uns, die einen schlimmen Schnupfen hatte.

Ob ich damals so etwas dachte wie: Meg mag ihn auch, also lass die Finger von ihm? Ja, aber gleichzeitig dachte ich: Jetzt schaut er gerade wieder her, ich kann seinen Blick richtig spüren. Ich dachte: Es wird etwas passieren.

Nach dem Film fragten uns Luke und Charlie, ob wir Lust hätten, in dem Restaurant gleich gegenüber eine Kleinigkeit mit ihnen zu essen. Aber Meg sagte, sie müsse nach Hause ins Bett, und ich schloss mich ihr an. Wir nahmen uns zusammen ein Taxi. Während der Fahrt herrschte zwischen uns betretenes Schweigen, wir sahen uns kein einziges Mal an, aber als wir schließlich vor Megs Wohnung ankamen, legte sie mir eine Hand aufs Knie und sagte: »Ist schon gut, Holly. Er steht auf dich, nicht auf mich.« Ich murmelte etwas Unpassendes, woraufhin sie – und das ist typisch für Megs Großzügigkeit –

hinzufügte: »Selbst wenn er nicht auf dich stehen würde, heißt das nicht, dass ich seine Traumfrau wäre. Du nimmst ihn mir also nicht weg oder so.« Dann küsste sie mich auf die Wange und stieg aus.

Was ich wohl getan hätte, wenn sie das nicht gesagt hätte? Ich rede mir gerne ein, dass ich gar nichts getan hätte, aber wer weiß? Jedenfalls wartete ich, bis sie in ihrer Wohnung verschwunden war, dann bat ich den Taxifahrer umzudrehen und mich wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückzufahren.

Charlie und Luke waren noch beim Essen, als ich eintraf. Ich setzte mich zu ihnen, trank Rotwein aus ihren Gläsern, aß ihnen die Pommes weg und versuchte dabei nicht an Meg zu denken.

Nachdem ich auch noch einen Löffel von Charlies Zitronensor-bet probiert hatte, legte ich meine Hand auf seinen Oberschenkel, woraufhin er sein Bein über das meine schob.

Wir taten beide so, als würden wir Luke zuhören, rückten dabei aber immer näher zusammen. Später brachte Charlie mich nach Hause.

Meg hatte Recht gehabt, als sie zu mir sagte, dass ich ihn mögen würde. Sie hatte außerdem erzählt, dass er anfangs ziemlich schüchtern war, aber sehr witzig sein konnte, wenn man ihn erst einmal besser kannte – und auch in diesem Punkt hatte sie Recht. Er brachte mich vom ersten Moment an zum Lachen. Von Meg wusste ich, dass er ein begabter Künstler war und alle möglichen Techniken beherrschte: Öl, Aquarell, Kohle.

An der Kunstschule hatte er einen Comicstrip über einen ziemlich schusseligen Superhelden geschrieben, der dort regelrecht Kult wurde. Für seine Abschlusspräsentation nahm er den Inhalt eines Müllcontainers und machte daraus eine Installa-tion. Ich habe die Fotos gesehen. Wirklich erstaunlich. Schon an dem Tag, als ich ihn kennen lernte, wusste ich: Der ist es. Wäre es vom Gesetz her möglich gewesen, hätte ich ihn gleich am nächsten Tag geheiratet. So aber mussten wir uns einen Monat Zeit lassen.

Seit jenen paar Sätzen im Taxi hat Meg nie wieder etwas zu dem Thema gesagt, abgesehen von Nettigkeiten. Und ich habe es meinerseits genauso gehalten. Wahrscheinlich werden wir uns, was das betrifft, nie wirklich aussprechen, nicht mal, wenn wir alt sind und das wilde Feuer der Liebe der Vergangenheit angehört. Trotzdem hat es keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.

Ich habe von Anfang an gewusst, dass sie auch in Charlie verliebt war und ihre Gefühle nicht einfach abstellen konnte, bloß weil er sich für mich entschieden hatte. Sie ist ein Mensch, der lange braucht, bis er Feuer fängt, aber wenn es erst einmal passiert ist, dann brennt die Flamme langsam und hartnäckig vor sich hin und ist nur schwer zu löschen. Auch Charlie und ich haben nie darüber gesprochen, aber er ist zu Meg immer besonders nett – auf eine herzliche, leicht neckende Art. Sie verhält sich ihm gegenüber scheu und befangen, oft auch ein wenig wortkarg. Jetzt, nachdem ich ihr meinen Fehltritt gebeich-tet hatte, empfand ich plötzlich ein heftiges Gefühl der Scham.

»Die Wahrheit ist«, sagte ich langsam und endlich ehrlich,

»die Wahrheit ist, Meg, dass ich selbst nicht weiß, warum ich es getan habe. Das soll keine Entschuldigung sein. Ich will nur nicht, dass Charlie davon erfährt, denn dadurch bekäme es eine Bedeutung, obwohl es in Wirklichkeit völlig bedeutungslos war.« Das reichte nicht. So leicht durfte ich es mir nicht machen. »Auf eine schreckliche, grausame Weise bedeutungslos.«

Meg schwieg eine ganze Weile. Ich musterte sie aufmerksam, aber ihre Miene verriet mir nicht, was sie dachte. Schließlich strich sie mit einem Finger über den Rand ihrer Kaffeetasse und runzelte die Stirn. »Habt ihr irgendwelche Probleme, Charlie und du?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Wir führen keine Ehe wie … nun hätte ich fast gesagt, wie meine Eltern, aber die kann man ja schlecht als Maßstab nehmen, stimmt’s? Sagen wir mal, wie deine Eltern. Wir führen beide oft unser eigenes Leben. Ich bin ständig am Rotieren wegen meiner Arbeit, und er versucht, die seine richtig in Schwung zu bringen. Er verkriecht sich manchmal stundenlang in seinem Arbeitszimmer, und wenn ich dann reinkomme, starrt er mich an, als wäre ich eine Fremde. Ich weiß, es ist alles sehr schnell gegangen. Ich meine unsere Heirat.

Ich bin ja eigentlich nicht so der Typ zum Sesshaftwerden, aber ich weiß, dass es richtig war. Zumindest für mich. Vielleicht nicht für Charlie, vielleicht hat er mit mir keinen so guten Griff getan. Aber man sollte über so etwas wie eine Ehe nicht zu viel nachdenken, man sollte sie einfach führen. An dem festhalten, was einem wichtig ist. An der Liebe festhalten.«

Erschöpft ließ ich mich auf meinen Stuhl zurücksinken. Ich wusste nicht, ob ich selbst glaubte, was ich gerade gesagt hatte, oder ob zumindest ein Teil von mir es glaubte, aber da ich im Moment keinen Zugang zu diesem Teil hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Worte auszusprechen und so zu tun, als würde ich das alles wirklich empfinden. Und darauf zu warten, dass ich es irgendwann tatsächlich wieder empfinden würde. Ein einfaches Rezept: Du tust so, als wärst du du selbst, und vielleicht wirst du es dann auch wieder sein.

»Fühlst du dich schlecht?«

»Es würde wahrscheinlich nicht schaden, wenn ich mal eher ins Bett käme. Dann geht es mir morgen bestimmt wieder besser. Aber so hast du es nicht gemeint, oder?«

Sie musterte mich mit einem seltsamen Blick und legte dabei einen Finger an den Mundwinkel. Das macht sie immer so, wenn sie nachdenkt. »Du solltest vorsichtiger sein«, sagte sie schließlich.

Ich rief zu Hause an. »Na, läuft bei dir alles gut?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete Charlie.

»Hast du schon mit der Illustration angefangen?«

»Nein, noch nicht. Ich brauche Zeit.«

»Ich weiß, aber es wäre schade, wenn du den Auftrag verlieren würdest, und wir könnten das Geld so dringend –«

»Ich habe doch gesagt, dass ich es mache! Es schafft nun mal nicht jeder so wie du, schon vor dem Frühstück zehn Sachen zu erledigen.«

Ich spürte, wie die Wut in mir hochkochte, schämte mich aber sofort heftig dafür. Wie kam ich dazu, mich über einen anderen Menschen aufzuregen, noch dazu über Charlie? »Du hast Recht«, antwortete ich. Ich sagte ihm, dass ich gegen sechs nach Hause kommen und etwas zu essen mitbringen würde.

»Oder wir holen uns irgendwo was«, fügte ich hinzu.

»Gute Idee.«

»Ich liebe dich.« Aber Charlie hatte schon aufgelegt.

Es gelang mir tatsächlich, pünktlich im Büro aufzubrechen.

Ich hatte mir vorgenommen, in den Supermarkt zu gehen und mich wie eine richtige Ehefrau zu verhalten. Statt immer nur von einem Moment auf den anderen zu leben, würde ich endlich mal vorausplanen und den Einkaufswagen mit Lebensmitteln für die ganze Woche beladen. Dann konnte ich uns nachher eine richtige Mahlzeit kochen, vielleicht ein Huhn. Sogar ich würde es schaffen, ein Huhn zuzubereiten. Bei dem Gedanken an Essen wurde mir gleich wieder übel, obwohl ich eigentlich Hunger hatte.

Auf dem Weg zur U-Bahn kam ich an einer Reihe von Läden vorbei. Bei einem davon, einem kleinen Lebensmittelgeschäft, war ein Fenster eingeschlagen. Der Schaden war mit einer Plastikplane abgedeckt, die sich im Wind blähte. Vor dem Laden stand eine Asiatin in einem grauen Nylonkittel über den Gehsteig gebeugt. Eine ungute Erinnerung bahnte sich nagend den Weg in mein Bewusstsein. Hier war ich letzte Nacht gewesen. Das Ganze war meine Schuld. Als ich neben der Frau stehen blieb, blickte sie hoch. »Wie schrecklich für Sie«, sagte ich.

Sie zuckte bloß mit den Achseln, müde und resigniert, als wäre das nun mal ein Teil des Lebens, mit dem man sich abfinden musste, wie Wind und Regen. »Es ist nicht das erste Mal.«

Ich griff nach einem der Einkaufskörbe, die draußen neben dem Ladeneingang gestapelt waren. »Ich brauche sowieso ein paar Sachen«, erklärte ich. »Es ist mir ein Rätsel, weshalb ich noch nie bei Ihnen eingekauft habe. Wo ich doch auf dem Heimweg von der Arbeit jeden Tag hier vorbeikomme.«

Dann würde es eben kein Huhn geben. Ich kaufte ein Päckchen gemahlenen Kaffee und Teebeutel, außerdem ein paar Liter von einer Milchsorte, die, wie ich hinterher zu Hause feststellte, völlig ungenießbar schmeckte. Doch damit nicht genug, erstand ich noch zwei verschrumpelte, in Zellophan verpackte Äpfel, acht Rollen extraweiches rosafarbenes Toilettenpapier, eine Flasche Spülmittel, vier Schachteln Zigaretten, einen halben Liter überteuerten Gin, Limettensaft und Orangensaftkonzentrat, obwohl Charlie und ich das Zeug nicht ausstehen können.

Anschließend holte ich mir noch einen zweiten Korb für Müsli, Sesambrot, ein Glas Marmelade, einen Becher streichbare Butter, mehrere Päckchen Kaugummi, Kekse und Bier. Nachdem ich bezahlt hatte, hievte ich meine Tüten hoch, die so schwer waren, dass mir die Henkel in die Finger schnitten, und wandte mich zum Gehen.

In der nächsten Straße kam ich an einer Filiale meiner Bank vorbei. Ich überprüfte am Automaten meinen Kontostand.

Einhundertzweiundvierzig Pfund und dreiundvierzig Pence. Ich hob hundertvierzig Pfund in sauberen, druckfrischen Scheinen ab. Nachdem ich eine Weile in meiner Tasche herumgewühlt hatte, fischte ich ein altes Briefkuvert heraus. Ich steckte das Geld hinein und kritzelte – mit einer Schrift, von der ich hoffte, dass sie aussah wie die irgendeines beschränkten Randalierers –

»FÜR DAS FENSTER« auf den Umschlag. Dann holte ich tief Luft und marschierte zu dem Geschäft zurück. Hinter der Theke stand jetzt ein Mann, wahrscheinlich der Ehemann der Frau, die ich draußen vor dem Laden angetroffen hatte. Ich legte den Umschlag auf die Theke.

»Das habe ich draußen auf dem Gehsteig gefunden«, erklärte ich. »Ich nehme an, es ist für Sie.«

Ich ließ ihn mit verdutzter Miene zurück. Als ich aus dem Laden trat, begann es heftig zu regnen, sodass ich sofort klatschnass war. Ich hoffte, dass er meine Geschichte geschluckt hatte und das Geld nicht der Polizei übergeben würde.

Als ich die Wohnung betrat, rief ich nach Charlie, aber es kam keine Antwort. Ich packte erst mal meine Einkäufe aus, dann warf ich einen Blick in sein Arbeitszimmer. Er war nicht da, obwohl das Radio lief und im ganzen Raum ein schreckliches Chaos herrschte. Papierbogen lagen über den Boden verteilt, Bücherstapel waren umgekippt, unter dem Stuhl und dem Zeichenbrett lugten überquellende Aschenbecher hervor, und überall, wo noch ein bisschen Platz gewesen war, türmten sich CD-Stapel, zum Teil ebenfalls kurz vor dem Umkippen. Den Skizzenblock auf seinem Schreibtisch zierte eine feine, mit Bleistift gezogene Linie, die in einer kunstvollen Kritzelei endete. Daneben standen fünf halb ausgetrunkene Teetassen und ein Teller mit den braunen Kerngehäusen zweier Äpfel und der Schale einer Satsuma. Und auf dem Fensterbrett thronte die Tasse, die ich an diesem Morgen hatte fallen lassen. Ich nahm sie genauer in Augenschein: Dort, wo Charlie sie geklebt hatte, war nur noch ein hauchfeiner Riss zu sehen.

Nachdem ich den Raum verlassen und die Tür hinter mir zugezogen hatte, überlegte ich, ob ich jetzt schon ins Bett gehen sollte. Wahrscheinlich würde ich dann nie wieder aufwachen.

Also schlüpfte ich stattdessen in eine alte Jeans und eins von Charlies farbverklecksten T-Shirts und machte mich an die Arbeit. Ich schaltete im Erdgeschoss sämtliche Lampen ein und schwang dann die Trittleiter in die Mitte des Gangs, um auf beiden Seiten die Tapete wegkratzen zu können. Ich hatte mit dieser mühsamen Arbeit schon vor Monaten begonnen, kurz nachdem wir hier eingezogen waren, fand dann aber nie die Zeit, mein Werk zu vollenden. Es ist schon seltsam, wie man sich daran gewöhnen kann, in einer halb fertigen Wohnung zu leben, umgeben von herabhängenden Tapetenfetzen und nacktem Verputz.

Und so fand Charlie mich vor, als er eine Dreiviertelstunde später in seiner schönen weichen Wildlederjacke, die ich ihm gekauft hatte, zur Tür hereinkam. Ich stieg von der Leiter und küsste ihn auf die Augenlider, woraufhin er mich, staubig, wie ich war, in die Arme nahm und meinen schmerzenden, müden, treulosen Körper fest an sich drückte.

»Eins würde mich wirklich interessieren: Wo nimmst du bloß diese ganze Energie her? Kann ich bitte was davon abhaben?«

In diesem Moment hätte ich einen Schritt zurücktreten, ihm in die Augen sehen und sagen können: »Gestern Nacht, Charlie, ich weiß nicht, warum und mit wem, aber ich hatte Sex mit einem Fremden.« Eine kleine Welle der Erregung durchlief meinen Körper. Es war wie ein Schaudern, ausgelöst durch unerbittliche Kälte oder ein wohliges Gruseln.

Ich erwiderte sein Lächeln, strahlend wie die Unschuld in Person. »Große Entscheidung. Chinesisch, indisch oder thailändisch?«

Später hatten wir Sex miteinander, machten Liebe, vögelten. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, denn eigentlich wollte ich nur noch die Augen schließen und schlafen, schlafen, schlafen, aber das konnte ich Charlie nicht sagen. Nicht nach allem, was passiert war. Als er auf diese besondere Weise zu lächeln begann, lächelte ich zurück. Und als er mich in den Arm nahm, schlang ich ebenfalls die Arme um ihn, zog ihn an mich und murmelte in sein Ohr. Und die ganze Zeit hatte er keine Ahnung, dass ich gar nicht da war.

5

Während ich in der U-Bahn schwankend zwischen zwei korpulenten, schwitzenden Männern stand, überkam mich plötzlich ein Gefühl existentieller Freiheit. Es gab kein Naturge-setz wie beispielsweise die Schwerkraft, das mich zwang, zur Arbeit zu gehen und weiter den ausgetretenen Pfaden meines alten Lebens zu folgen. Ich konnte mit der U-Bahn weiterfahren, am Leicester Square in Richtung Heathrow umsteigen, irgendeinen Flieger nehmen und den Rest meines Lebens nicht mehr nach England zurückkehren. Allerdings musste ich vorher noch mal nach Hause, um meinen Pass zu holen. Und was war mit Geld? Alles, was ich besaß, steckte im Haus fest. Als Investition war das wohl in Ordnung, aber ich hatte definitiv ein Liquiditätsproblem. Eine Auslandsreise brachte zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Die Vorstellung von der existentiellen Freiheit war wahrscheinlich zu einer Zeit erfunden worden, als Visa noch keine Rolle spielten und man in den Ankunftshallen der Flughäfen nicht gleich darüber ausgequetscht wurde, wie lange man bleiben wolle und ob man vorhabe, sich einen Job zu suchen. Die Freiheit hatte ihre Grenzen, genauso wie die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung.

Ich verließ also doch den Zug, fuhr die Rolltreppe hinauf und trat in einen grauen, nieseligen Morgen hinaus. Ich musste an Charlie denken, der noch zu Hause im Bett lag, und fragte mich, ob er heute wohl etwas zu arbeiten hatte. Ich beschloss, ihn anzurufen, durchwühlte meine Tasche aber vergeblich nach meinem Handy. Im Büro eingetroffen, suchte ich dort weiter, ebenfalls ohne Erfolg. Ich überlegte krampfhaft, wann ich es das letzte Mal benutzt hatte, konnte mich aber nicht erinnern. Am Vortag hatte ich nur vom Büro aus telefoniert. Es lag also entweder zu Hause, oder ich hatte es irgendwo verloren, höchstwahrscheinlich an meinem Filmriss-Abend. Womöglich war es gestohlen worden, aber vielleicht hatte es ja auch ein normaler Mensch gefunden und an sich genommen. Ich bringe schon mein ganzes Leben damit zu, Dinge fallen zu lassen oder zu verlieren. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Schirm länger als eine Woche besessen habe. Mein Hab und Gut –

Geldbörsen, Sonnenbrillen, Schlüssel, Hüte, einfach alles, was nicht dauerhaft an meinem Körper befestigt werden kann – ist über die ganze Welt verstreut. Das gehört zu den Vorteilen eines Handys: Eine Sonnenbrille kann man nicht anrufen und fragen, wo sie sich gerade befindet. Ich wählte also meine eigene Nummer, und nachdem es ein paarmal geklingelt hatte, ging ein Mann ran. »Sie haben mein Telefon«, stellte ich fest.

»Aber nicht gestohlen«, entgegnete er und begann dann zu lachen, als hätte er einen besonders lustigen Witz gemacht.

»Das habe ich ja auch nicht behauptet«, fuhr ich fort. »Ich glaube, ich habe es in einem Pub oder Klub in Soho liegen lassen.«

»In einem Pub oder Klub?«

»Ich kann mir Namen nicht besonders gut merken«, erklärte ich. »Es war entweder in einem Pub in der Wardour Street oder

… gleich um die Ecke gibt es einen Klub, er heißt … irgendwas mit House.«

»Das Red House.«

»Genau«, sagte ich. »Dann war es wohl dort. Tut mir Leid, dass ich Sie deswegen belästigen muss. Ich lasse es überall liegen. Könnten Sie es mir irgendwie zukommen lassen? Oder soll ich einen Kurier bei Ihnen vorbeischicken?«

»Wo arbeiten Sie?«

»In Soho.«

»Dann ist es von mir aus nur ein Katzensprung. Ich bringe es Ihnen in der Mittagspause vorbei.«

»Das wäre phantastisch.«

»Ist mir ein Vergnügen.«

»Haben Sie es dabei? Oje, das war jetzt eine sehr dumme Frage.«

»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was ich damit machen soll.«

»Nun ist das Problem ja gelöst.«

Ich nannte ein Café in der Dean Street, ein Uhr, dann legte ich auf und stürzte mich in die Arbeit. Die Liste, die ich mir gemacht hatte, war zwei Seiten lang: Es galt, Telefonate zu führen, Briefe zu schreiben, Besprechungen abzuhalten, Verschiedenes zu organisieren und wichtige Entscheidungen zu treffen. Und ein paar gute Ideen brauchte ich auch noch. Mir blieb keine Zeit für andere Gedanken oder Gefühle. Ich reagierte einfach auf das, was vor mir lag, tat, was zu tun war, und wandte mich dann dem nächsten Punkt zu. Dinge und Personen schoben sich in mein Gesichtsfeld und verschwanden wieder daraus.

Irgendwann blickte ich hoch und stellte fest, dass es schon zehn nach eins war. Benommen sah ich mich um. Meine Liste war unter einer Reihe von Pfeilen, Notizen und Strichen verschwunden. Mein Schreibtisch war leer, zumindest im übertragenen Sinn, und alles ordentlich abgeheftet oder mittlerweile das Problem von jemand anderem. Was noch übrig war, schob ich zu einem Stapel zusammen, den ich in mein Fach legte. Ich rief Meg zu, dass ich schnell weg müsse.

Ich sah ihn, als ich das Café betrat. Er war ein großer, kräftiger Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln. Seine Jacke hing über der Rückenlehne seines Stuhls. Sein dichtes dunkles Haar trug er sorgfältig nach hinten gekämmt. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Handy. »Mein Telefon, nehme ich an«, sagte ich ohne irgendeine Einleitung.

Er stand auf und streckte mir lächelnd die Hand entgegen, aber als ich sie schüttelte, ließ er sie nicht wieder los, sondern drückte weiter meine Finger.

»Hallo, Holly«, sagte er. »Meine schöne Holly.«

Die Erkenntnis kroch wie ein kleines Insekt in mein Gehirn.

Ich konnte fast spüren, wie es sich einen Weg in den vorderen Teil meines Bewusstseins bahnte. O nein, dachte ich. Bitte nicht.

Ich spielte einen Moment mit dem Gedanken, mir das Telefon zu schnappen und aus dem Café zu stürmen, aber mein Körper fühlte sich schwer und bleiern an. Du kannst laufen, so schnell du willst, ich erwische dich trotzdem. Das hatte mein Vater immer gerufen, wenn er in dem Park in der Nähe unseres Hauses mit mir Fangen spielte. Diese Worte hatten mir schon damals ein wenig Angst gemacht. Ich entzog ihm meine Hand.

»Bei Tageslicht genauso schön wie nachts«, sagte er.

»Es tut mir Leid«, erklärte ich. »Ich weiß nicht … Ich kann mich nicht …«

»Es braucht dir nicht Leid zu tun.«

»Ich meine, es war ein dummer Fehler.«

»Oh, das finde ich nicht«, erwiderte er mit einem Lächeln.

»Ich heiße übrigens Rees, falls du dich nicht erinnerst.«

»Ich möchte mich nicht erinnern. Ich war betrunken, das ist alles.«

»Du warst wild.«

»Ich gehe jetzt.«

»Nein, das tust du nicht.«

Ich streckte eine Hand nach dem Telefon aus, aber er packte mich am Handgelenk und zog mich zu sich heran. »Lassen Sie los!«

»Erzähl mir nicht, dass du es nicht auch wieder willst. Nicht nach der Nacht, die wir zusammen verbracht haben.«

»Lassen Sie los!«, wiederholte ich mit Nachdruck.

»Du wolltest es doch auch, genauso sehr wie ich. Du hast gesagt –«

»Seien Sie nicht albern.«

»Du bist verheiratet, oder?«, fragte er und drehte dabei mein Handgelenk herum, bis er meinen Ring sehen konnte. »Mit wem? Wie heißt der arme Trottel? Lass mich raten. Vielleicht David oder Connor oder Fred oder Charlie oder Wesley? Aha, also Charlie, habe ich Recht?«

»Lassen Sie meine Hand los, Sie Mistkerl!«

»Ich habe seine Nummer sowieso schon auf meinem Telefon gespeichert. Und ein paar andere auch.«

Ich zwang mich, ihm in die Augen zu sehen, aber der Gedanke an das, was wir gemacht hatten, ließ eine Welle der Übelkeit in mir hochsteigen. »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte ich.

»Lassen Sie mich einfach los.«

»Und deinen Slip habe ich auch, vergiss das nicht. So ein schwarzes Spitzending.«

Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich versuchte mich loszureißen, aber er hielt mein Handgelenk so fest umklammert, dass sich seine Finger in mein Fleisch bohrten. »Was soll das?«, fragte ich. »Wenn Sie glauben, dass Sie mich erpressen können, dann sind Sie noch dümmer, als Sie aussehen.«

»Ach ja?«, erwiderte er. »Und wenn du glaubst, du kannst jetzt einfach durch diese Tür verschwinden und so tun, als wäre nichts passiert, dann …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Ich holte mit der freien Hand aus und schlug ihm damit, so fest ich konnte, mitten ins Gesicht. Die roten Abdrücke, die meine Finger auf seiner Haut hinterließen, verblassten nur langsam.

»Du Miststück!«, keuchte er.

»Entschuldigen Sie, aber wenn Sie sich schlagen möchten«, hörte ich eine Stimme hinter uns, »dann tun Sie das bitte draußen.«

»Ich gehe schon«, sagte ich. An mein Gegenüber gerichtet, fügte ich hinzu: »Und Sie halten sich besser von mir fern.«

»Du willst Ärger? Den kannst du haben!«, rief er mir nach, als ich ging. »Du bist im Arsch, das schwör ich dir!«

6

Ich wanderte eine Stunde lang in der Gegend herum. Mein Mittagessen bestand aus einer Nektarine, die ich mir auf dem Markt besorgte. Als ich schließlich ins Büro zurückkehrte, kochte ich immer noch vor Wut. Mein Zorn richtete sich nicht nur gegen diesen Mann, sondern auf eine bittere, verächtliche Weise auch gegen mich selbst. Benommen stolperte ich in unseren so genannten Konferenzraum und traf dort auf Meg und Trish, die sich gerade im Flüsterton unterhielten. Als Meg sich umdrehte und sah, dass ich es war, wirkte sie plötzlich verlegen, als hätte ich sie bei irgendetwas ertappt.

»Ich habe kurz mit Deborah gesprochen«, erklärte sie. »Über die verschiedenen Probleme, die wir im Moment haben.«

»Deborah?«, fragte ich. »Ich dachte, die ist auf einer Konferenz.«

»Sie ist früher zurückgekommen als geplant«, schaltete Trish sich ein.

»Und?«

»Wir haben sie auf ein paar der Problempunkte angesprochen.

Wir wollten ihre Seite der Geschichte hören. Sie gab zu, in Verzug geraten zu sein. Sie hatte uns nur deshalb nichts gesagt, weil es Lolas Schuld war.«

»Was?«

Lola arbeitete erst seit zwei Monaten bei uns. Sie war jung und engagiert, aber trotz ihrer schnellen Auffassungsgabe ging ihr Zuständigkeitsbereich bisher noch nicht allzu weit über Kaffee-kochen und Aktenschleppen hinaus.

»Deborah wollte sie in das Cook-Projekt mit einbinden.«

Trish berichtete, was dabei alles schief gelaufen war. Es schien eine komplizierte Geschichte zu sein, aber ich unterbrach sie schon nach den ersten Sätzen.

»Nein, nein, nein«, sagte ich. »Das ist doch alles Blödsinn.

Überlasst die Sache mir. Ich werde selbst mit Deborah reden.

Sagt ihr bitte, dass ich sie in fünf Minuten sprechen will. Machst du das für mich, Trish? Ich muss vorher noch jemanden anrufen.«

Selbst jetzt konnte ich Deborah noch so sehen, wie Meg und ich sie gesehen hatten, als wir ein paar Monate zuvor unser erstes Gespräch mit ihr führten. Sie war groß, wirkte sehr gepflegt und machte einen äußerst selbstbewussten Eindruck. Wir hatten beinahe das Gefühl gehabt, als wäre sie diejenige, die zum Vorstellungsgespräch lud, und nicht wir. Dass wir menschlich nicht wirklich mit ihr warm wurden, störte uns nicht, ganz im Gegenteil. Wir waren ja nicht auf der Suche nach einer neuen Freundin. Wir wollten eine hart arbeitende, kompetente Mitar-beiterin. Als Deborah zur Tür hereinkam, hatten wir sofort den Eindruck, dass sie sämtliche Anforderungen erfüllte. Ihr Arbeitszeugnis war allerdings ein wenig seltsam gewesen.

Anscheinend hatte sie sich mit ihrem letzten Arbeitgeber zerstritten, aber selbst das störte uns nicht. Vor allem mich nicht.

Mir gefiel die Vorstellung, jemanden mit Ecken und Kanten, mit Biss einzustellen, und das sagte ich auch zu Meg. Brave Angestellte hatten wir schon genug. Nur, dass sie eigentlich gegenüber anderen mit Biss auftreten sollte, nicht gegenüber uns selbst.

Als sie jetzt den Konferenzraum betrat, wirkte sie so beeindruckend wie immer.

»Wie war’s in Roehampton?«, fragte ich.

»Ganz okay.«

»Irgendwas Besonderes?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht wirklich«, antwortete sie.

»Ich bin ein bisschen früher gefahren.«

»Ach, hör doch auf!«, sagte ich. »Ich habe gerade mit Jo Palmer gesprochen, die zufällig diese Konferenz leitet. Du bist dort überhaupt nicht aufgetaucht.«

Ich muss zugeben, dass es mich beeindruckte, mit welcher Souveränität Deborah darauf reagierte, dass ich sie ertappt hatte.

Ihr Blick wirkte irritiert und leicht verletzt. »Hast du mir hinterherspioniert?«, fragte sie.

»Das ist mein Job«, entgegnete ich. »Ich leite diese Firma.«

»Ich war auf der Konferenz«, erklärte sie. »Kann sein, dass ich vergessen habe, mich registrieren zu lassen.«

Aber ich hatte meine Akte parat. Ich schlug sie auf und breitete die Kopien, die ich gemacht hatte, vor ihr aus, als handelte es sich dabei um ein unschlagbares Blatt Pokerkarten.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Du weißt genau, was das ist«, gab ich zurück. »Ich habe mit den anderen darüber gesprochen, was wir deinetwegen unternehmen sollen, und in einem schwachen Moment dachte ich, wir könnten dich mit einer Abmahnung davonkommen lassen.

Aber dann hast du versucht, die Schuld auf Lola zu schieben.

Was sollte denn das?«

»Sie ist noch unerfahren«, antwortete Deborah. »Ich habe sie gedeckt.«

»Bist du verrückt?«, fragte ich. »Gibst du eigentlich nie auf?

Sieh dir doch diese Unterlagen an! Du hast gelogen. Du hast die Firma hintergangen.«

Sie erwiderte meinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich bin gut in meinem Job«, erklärte sie. »Und das weißt du.«

»Du bist gefeuert.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr, um festzustellen, welches Datum wir hatten. Ich konnte im Moment nicht mal sagen, welche Jahreszeit gerade war. Jedenfalls fielen die Blätter von den Bäumen. »Wir werden dich bis Ende des Monats weiterbezahlen, aber ich möchte dich hier in der Firma nicht mehr sehen.«

Deborah schwieg eine ganze Weile. Nun hatte ich ihre unge-teilte Aufmerksamkeit.

»Das kannst du nicht machen!«, sagte sie schließlich. »Ich habe einen guten Job aufgegeben, um zu euch zu kommen. Ich habe eine Wohnung. Ich muss eine Hypothek abbezahlen.«

»Du hast Recht«, entgegnete ich. »Du bist gut in deinem Job.

Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist, aber hier bei uns kannst du definitiv nicht bleiben. Ich frage mich, ob du vielleicht Hilfe brauchst …«

Deborah verzog das Gesicht, als wäre der Raum von einem schrecklichen Gestank erfüllt. »Rede nicht so herablassend mit mir, du arrogante …« Sie hielt einen Moment inne, als würde ihr kein Schimpfwort einfallen, das schlimm genug für mich war.

»Weißt du eigentlich, dass dich niemand mag? Du hältst dich für brillant, rennst hektisch herum und spielst das verrückte Huhn, das mit seinem unwiderstehlichen Charme alle um den Finger wickelt, aber uns kannst du nichts vormachen. In Wirklichkeit bist du richtig erbärmlich, eine Mogelpackung.«

Ich holte tief Luft und zwang mich, ruhig und langsam zu sprechen. »Du solltest jetzt besser gehen«, sagte ich.

Sie lachte. »Du hältst dich für so wahnsinnig clever, aber eines Tages wird irgendjemand dafür sorgen, dass du auf deine arrogante kleine Nase fällst.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Soll das eine Drohung sein, Deborah?«

Als sie sich anschickte zu gehen, funkelten ihre Augen vor Zorn. »Du bildest dir ein, dass vor dir alle auf die Knie fallen, stimmt’s? Eines Tages aber wird einer aufstehen, und dann wirst du schon sehen, was passiert. Da reicht ein Einziger.«

Sie fegte aus dem Büro wie ein Wirbelwind. Als sie weg war, entschloss ich mich zu einem kleinen Ausflug in die Old Compton Street. Dort gibt es eine Bäckerei, die ganz besondere Sahnetörtchen macht. Ich kaufte zehn Stück, für jeden im Büro eins, und zehn Cappuccino. Als ich zurück in die Firma kam, machten Trish und Meg immer noch einen ziemlich geschockten Eindruck. »Glaubt ihr, meine Entscheidung war falsch?«

Die beiden wechselten einen Blick.

»Ich weiß nicht«, sagte Meg. »Das Ganze war ziemlich kompliziert.«

»Nein, war es nicht.«

Ich rief alle zusammen und sprach kurz über die Probleme in der Firma und wie wichtig es sei, dass wir miteinander redeten, wenn etwas falsch lief, aber mein Versuch, eine motivierende Rede zu halten, endete damit, dass sich alle den Sahnetörtchen zuwandten. Man hätte meinen können, auf einem Kinderge-burtstag zu sein.

Fünfundvierzig Minuten später saßen Meg und ich im Auto und verließen London. Meg betätigte sich als zuverlässige Kartenleserin, und ich fuhr zu schnell. Wir waren unterwegs, um den Veranstaltungsort unseres nächsten Wochenendevents zu inspizieren. »Veranstaltungsort« klingt so formell und nüchtern, als handelte es sich um ein modernes Hotel mit identisch ausgestatteten Zimmern, überteuerten Minibars und einem schicken kleinen Fitnessraum. Aber dem war nicht so. Es handelte sich vielmehr um eine noch nicht ganz ausgebaute, mit wildem Wein überwucherte Wassermühle in Oxfordshire.

Zusätzlich zu dem Mühlbach gab es am Ende des weitläufigen Grundstücks einen kleinen, mit Entengrün bedeckten See. Das Haus selbst verfügte über sechs verwinkelte Schlafzimmer, bei deren Anblick man gleich den Verdacht hegte, dass unter der Tapete die Feuchtigkeit lauerte. Für unsere Zwecke war das Ganze perfekt: Kletterbäume für Erwachsene, Wasser zum Reinfallen, ein langes, mit Fensterläden versehenes Esszimmer, in dem man abends in großer Runde beieinander sitzen konnte, und meilenweit kein anderes Gebäude. Die Mühle gehörte seit kurzem einem Paar, das Meg über gemeinsame Freunde kannte.

Die beiden hatten genug von ihrem stressigen Leben in London.

»Es ist ein gutes Gefühl, so mit dir durch die Gegend zu fahren«, stellte ich fest. »Ganz wie in alten Zeiten, als wir beide den Laden noch allein geschmissen haben.«

»Ja«, antwortete Meg mit einem gekünstelten Lachen. »Das waren noch Zeiten.« Sie schwieg einen Moment. »Wahrscheinlich hattest du Recht«, sagte sie dann. »Wegen Deborah. Ich hoffe nur, dass sie keine gerichtlichen Schritte gegen uns unternimmt.«

»Ich hoffe schon«, entgegnete ich. »Dann zeigen wir es ihr so richtig.«

Meg hustete lediglich.

London kann sehr unterschiedlich wirken, je nachdem, in welche Richtung man es verlässt. Wenn man nach Oxford fährt, scheint sich die Stadt endlos hinzuziehen, schließt man jedoch für einen Moment die Augen, ist plötzlich alles grün.

Nachdem es schon den ganzen Vormittag nach Regen ausgesehen hatte, begann es nun tatsächlich zu nieseln. Ich schaltete den Scheibenwischer an und starrte durch die Halbkreise, die die Wischblätter nach jeder Bewegung hinterließen, auf eine graue Landschaft. Ich machte das Radio an, drückte einen Knopf nach dem anderen und wechselte eine Weile zwischen den verschiedenen Sendern hin und her, ehe ich es frustriert wieder ausschaltete.

*

Corinne und Richard warteten bereits auf uns. Sie hatten in dem großen Wohnzimmer den Kamin angeheizt und eine Kanne Kaffee gekocht. Corinne reichte eine Platte mit kleinen Him-beerbiskuitkuchen herum, von denen ich mir gleich zwei nahm.

Nachdem ich eine Weile vor mich hingefuttert hatte, streckte ich zufrieden seufzend die Beine aus, um die Wärme des Kaminfeu-ers noch besser zu spüren. Draußen gurgelte der Bach vorbei, und jedes Mal, wenn die Sonne zwischen den grauen Wolken hervorlugte, warf sie schwache Lichtstrahlen über den Holzboden.

»Vielleicht sollte ich das auch machen«, sagte ich.

»Was?«

»Aus London weglaufen.«

»Ich würde das hier nicht wirklich als Weglaufen bezeichnen.«

»Einfach aussteigen«, fügte ich verträumt hinzu. »Einen Neuanfall starten.«

»Was? Einen Neuanfall?«

»Einen Neuanfang«, korrigierte ich mich. Mir begannen die Augen zuzufallen, deswegen riss ich sie energisch auf, setzte mich aufrechter hin und trank in großen Schlucken den starken Kaffee. Draußen hatte es mittlerweile wieder zu regnen begonnen. Ich warf einen Blick in den nassen, sattgrünen Garten hinaus. Am Samstag würden sich dort sieben Männer und fünf Frauen mit Spielen vergnügen.

»So«, sagte ich und griff nach dem letzten Kuchen. »An die Arbeit!«

*

Wir sahen uns als Erstes die Schlafzimmer an. Sehr schön, bis auf die Tatsache, dass das oberste Stockwerk nicht ganz den Brandschutzvorschriften entsprach. Dann statteten wir der Küche einen Besuch ab, in der es eine wunderschöne halbhohe Tür gab, die auf den plätschernden Bach hinausging.

»Entspricht das den Sicherheitsvorschriften?«, fragte Meg, die stets praktisch dachte.

»Wir eröffnen hier doch keine Kinderkrippe«, antwortete ich.

»Sie ist immer abgeschlossen«, erklärte Richard. »Solche architektonischen Details muss man erhalten.«

Es bereitete mir ziemliche Schwierigkeiten, den schweren Riegel zu lösen, aber schließlich schaffte ich es doch, die kleine Tür aufzuschieben und den Kopf hinauszustrecken. Wassertropfen klatschten gegen meine Wangen, und der Wind peitschte mir die Haare ins Gesicht. Seufzend schloss ich die Augen.

»Holly?«

»Mmmm. Ich komme schon.«

Ich zog den Kopf zurück und schloss die Tür.

»Sollen wir das Essen für Samstagabend durchsprechen?«, fragte Corinne.

»Ich bin sicher, es ist alles bestens.«

»Fürs Mittagessen habe ich eine Speisekarte zusammenge-stellt, ebenso für das Frühstück am Sonntag, außerdem gibt’s eine Liste mit den Zutaten für das Currygericht, das die Gruppe gemeinsam kochen soll, also wenn ihr einen Blick darauf werfen wollt und –«

»Ich bin sicher, es ist alles bestens«, wiederholte ich.

»Oh.« Corinne wirkte leicht verblüfft, fing sich aber gleich wieder. »Dann wären da noch die Getränke«, fuhr sie in munterem Ton fort.

»Wir haben vollstes Vertrauen zu euch.«

»Aber –«

»Stellt einfach sicher, dass mehr da ist, als ihr für nötig haltet, und verdoppelt das Ganze dann noch mal. So, und jetzt lasst uns einen Blick nach draußen werfen.«

»Soll ich euch Stiefel leihen? Das Gras ist noch nass.«

»Das macht nichts.«

Meg und ich liefen am Bach vorbei durch einen Teil des Gartens, in dem früher wohl mal Gemüse angebaut worden war, und dann über den weichen, mit Nässe voll gesogenen Wiesen-boden auf den See zu. Alles war wundervoll feucht und grün.

Ich hob einen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Das Entengrün schloss sich sofort wieder über ihm. Wir sahen uns an und kicherten.

»Ich freue mich schon, wenn sie alle vom Floß kippen und in das Wasser da fallen«, sagte ich.

»Wir wollen doch, dass sie uns ihren Freunden empfehlen«, gab Meg zu bedenken.

»Hinterher wickeln wir sie in Decken und becircen sie mit unserem Charme«, antwortete ich. »Wenn wir dann noch ein bisschen mit den Wimpern klimpern, werden sie uns schon weiterempfehlen.«

Meg zog ein Gesicht. »Das klingt, als wären wir ein Begleit-service.«

»Sind wir das nicht?«, gab ich zurück.

»Hör auf, Holly! Ich mag es nicht, wenn du so redest. Du hast doch die Briefe gesehen, die wir bekommen haben – da war von höherer Produktivität und verbesserter Arbeitsmoral die Rede.«

Ich legte einen Arm um ihre Schultern. »Das stimmt, meine Liebe«, beruhigte ich sie. »Und unseren Prospekt habe ich auch gelesen. Sag mal, fällt dir nichts auf?«

»Was meinst du?«

»Es gibt hier ein paar Vögel, die störende Geräusche von sich geben, und der Wind rauscht ein bisschen in den Bäumen, aber ansonsten ist fast nichts zu hören. Kaum zu fassen, dass London zur selben Welt gehört.«

»Wir fahren gleich zurück.«

»Viel lieber würde ich mir jetzt ein Zimmer hier nehmen und mich ins Bett legen. Du könntest mich dann ja wecken, wenn du am Wochenende kommst.«

»Leider musst du dich vorher noch um ein paar Dinge kümmern. Zum Beispiel um deinen Ehemann.«

Bei der Rückfahrt saß Meg am Steuer, und ich versuchte mich als Kartenleserin, aber hauptsächlich war ich mit Reden beschäftigt. »Nachdem ich mir schon kein Zimmer nehmen konnte, würde ich jetzt am liebsten nach hinten klettern und auf dem Rücksitz schlafen«, sagte ich schließlich.

»Tu dir keinen Zwang an.«

Viele Leute meinen, das sei die Situation gewesen, in der sie sich als Kinder am geborgensten gefühlt hätten. Ich erinnere mich nur daran, dass mein Vater mal mit uns zu einer Party außerhalb von London fahren wollte, dann aber nicht hinfand, woraufhin meine Eltern zu streiten begannen und mein Vater die Kontrolle über den Wagen verlor, sodass wir am Ende in einem Straßengraben landeten, aus dem uns ein Bauer mit seinem Traktor wieder herausziehen musste. Irgendwie war das Ganze sogar recht lustig gewesen.

Ich kroch nicht auf den Rücksitz, aber ich schlief tatsächlich ein und wachte erst wieder auf, als Meg vor meiner Tür anhielt und in fröhlichem Ton verkündete, dass wir zu Hause seien.

»Du bist die beste Autofahrerin der Welt«, sagte ich. »Ich habe von der Fahrt überhaupt nichts mitbekommen.«

7

Dann war plötzlich Sonntagabend, und es war alles vorbei. Als ich ins Haus zurückkam, traf ich Meg in Corinnes und Richards Küche an, die Hände um eine Kaffeetasse gelegt. »Du kannst wieder rauskommen«, sagte ich. »Sie sind weg.«

Meg grinste mich müde an. »Bist du sicher, dass sich nicht noch irgendwo einer versteckt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab sie bei der Verabschiedung genau gezählt«, erklärte ich. »Ist davon noch was da?«

Meg nickte zu einer Kanne hinüber, die neben dem Spülbecken stand. Ich griff nach einer von den großen, mit fröhlichen Aufschriften bedruckten Tassen und schenkte mir den starken schwarzen Kaffee ein. »Irgendwie habe ich hinterher immer das Gefühl, es müsste noch was kommen«, stellte ich fest. »Rufe nach ›Zugabe‹ und Blumensträuße.«

»Hauptsache, ihre Schecks sind gedeckt«, entgegnete Meg.

»Wie viel Schlaf hast du erwischt?«

»Keine Ahnung. Hab ich überhaupt geschlafen?«

»Ich schon.«

»Ja, irgendwie schaffst du das immer.«

»Das ist ja auch kein Verbrechen, oder? Schlafen ist weder etwas Unmoralisches noch ein Zeichen von Faulheit. Man muss nicht die ganze Nacht aufbleiben, um sich zu beweisen.«

»Ich weiß. Meg?«

»Ja?«

»Fühlst du dich auch manchmal völlig ausgequetscht?«

»Ausgequetscht?«

»Wie einer von den alten Lappen, die man zum Putzen nimmt.

Hinterher wringt man sie aus, und eine Menge widerliches Dreckwasser läuft heraus.«

»Habe ich das jetzt richtig verstanden?«, fragte Meg. »Wenn du in diesem Bild der alte Lappen bist, dann steht das widerliche Dreckwasser wohl für die Angestellten von Macadam Associates, mit denen wir gerade das Wochenende verbracht haben?«

»Und dann legt man den Lappen in einen Schrank, und wenn man ihn das nächste Mal braucht, ist er ganz starr und eklig.«

Megs Ton wurde eine Spur ernster. »Es ist Sonntagabend.

Draußen regnet es. Und du hast die letzten Tage hart gearbeitet.«

»Ich weiß nicht, ob ›hart‹ das richtige Wort ist. ›Hohl‹ trifft es wahrscheinlich eher.«

»Du bist müde«, fuhr sie fort. »Am besten, ich fahre dich jetzt auf der Stelle nach Hause zu Charlie. Dann nimmst du ein schönes Bad und gehst anschließend gleich ins Bett. Und den Wecker stellst du ab.«

»Ja.«

»Wir können morgen später anfangen. Ich glaube, zumindest das sind wir uns schuldig.«

»Anstelle einer anständigen Bezahlung.«

»Vielleicht werden wir uns schon bald ein richtiges Gehalt auszahlen können. Es läuft schließlich recht gut.«

»Manchmal glaube ich, das einzig Erwachsene an meiner Ehe ist die Tatsache, dass wir angefangen haben, uns wegen unserer Hypothek Sorgen zu machen.«

»Wir schaffen das schon«, meinte Meg.

»Du hast heute so was Beruhigendes.«

Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Dafür bin ich doch da, oder?«

»Und was ist mit dir?«

»Wie meinst du das?«

»Wirst du dich wieder mit diesem Typen treffen? Todd? Oder war ich so biestig zu ihm, dass er von dir jetzt auch nichts mehr wissen will?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie, ohne mich anzusehen.

»Habt ihr euch schon –«

»Lassen wir das Thema. Ich möchte nicht darüber sprechen.«

»Wann immer dir danach zumute ist …«, sagte ich. Eigentlich wollte ich noch etwas hinzufügen, fand aber nicht die richtigen Worte.

Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, aber manchmal weiß man nicht so recht, wie diese Geschichte aussieht oder wie man selbst hineinpasst. Mal angenommen, deine eigenen Eltern halten dich für oberflächlich und verantwortungslos, deine Freunde finden dich gesellig und extrovertiert, und in der Arbeit betrachten sie dich als strahlenden Mittelpunkt des Ganzen.

Voilà, schon bist du in einem bestimmten Bild von dir gefangen, in deinen eigenen engen Grenzen, und das Schlimme daran ist, dass dir das selbst meist gar nicht bewusst wird. Und da wir uns alle selbst ein Rätsel sind und andere Leute brauchen, die uns definieren und Realität verleihen, fängst du mit der Zeit an, dich selbst auch so zu sehen. Das ist die Geschichte, in der du zu stecken glaubst. Eine Komödie. Eine Farce. Du verlierst die anderen Teile von dir. Hin und wieder aber ist es dir vergönnt, dich anders zu sehen, anders zu beschreiben. Du wirst zu einer völlig anderen Geschichte, tiefgründiger, fremdartiger und interessanter, mit neuen Bedeutungen.

Meg und ich verdienen unser Geld damit, dass wir Menschen aufrütteln, sie für eine Weile ein neues Muster finden lassen.

Aber dann gehen sie nach Hause, wir gehen nach Hause, und was hat sich wirklich verändert? Deine alte Welt schließt sich wieder um dich, dein altes Selbst kehrt zurück. Die Leute glauben, dass sie ihr Leben und sich selbst ändern können. Du baust ein Floß und überquerst einen See, du spielst ein Spiel, bei dem du lockerlassen und dich rückwärts in die Arme eines Kollegen fallen lassen musst, du sitzt mit anderen in einem großen Kreis und redest über all die Dinge in deinem Leben, die du falsch gemacht hast, die Entscheidungen, die du bereust. Und hinterher wirst du in der Lage sein, neu durchzustarten.

Wenn ich »du« sage, meine ich natürlich mich, Holly Krauss, der ich nicht entkommen kann, wie sehr ich mich auch anstrenge. An diesem Wochenende hatte ich mich so sehr bemüht, so sehr wie nie zuvor, die energiegeladenste Person in dieser ganzen Schar energiegeladener, überdrehter Menschen zu sein, und nun war mein Tank leer, mein Schrank geplündert.

Ich musste an Stuart denken, einen der Teilnehmer. Er war um die vierzig, vielleicht ein bisschen älter, ein schlaksiger Typ mit langem, ein wenig schmutzig wirkendem strohfarbenem Haar und einer etwas dekadenten Art. Ständig hatte er eine von seinen penetrant riechenden selbst gedrehten Zigaretten im Mundwinkel hängen und lief die ganze Zeit in derselben alten, abgewetzten Lederjacke herum. Er war der Zyniker der Gruppe, der während unserer Spiele immer leicht spöttisch grinste. Ich hatte ihn als meine persönliche Herausforderung betrachtet, die harte Nuss, die es zu knacken galt. Deswegen gesellte ich mich nach dem Abendessen zu ihm, und wir blieben auf, bis alle anderen längst im Bett waren und man nur noch das Rauschen des Windes und das Plätschern des Bachs draußen hörte.

Nachdem wir ziemlich viel Scotch aus der von Richard auf dem Tisch stehen gelassenen Flasche getrunken hatten, erzählte er mir von seinen beiden Söhnen.

»Sie sind fast schon junge Männer«, erklärte er. »Ich habe ihre Mutter verlassen, als sie drei und zwei Jahre alt waren. Ich hatte mich damals hoffnungslos in eine andere Frau verliebt, was aber auch nicht lange gut ging. Jedenfalls sind sie inzwischen Teenager. Mein Gott, Fergal ist fast neunzehn. Sie haben Freundinnen und nehmen Drogen, und ich bin für sie quasi unsichtbar. Sie sehen einfach durch mich hindurch. Was ich sage, scheint bei ihnen gar nicht anzukommen.«

»Das wird sich ändern, wenn sie älter sind«, erklärte ich.

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber es ist ein ganz seltsames Gefühl. Als würde ich gar nicht existieren. Ich fühle mich wie ein Geist in meinem eigenen Leben.«

Er drehte sich eine neue Zigarette und schob sie sich in den Mundwinkel.

»Ich wette, Sie haben sich noch nie so gefühlt«, fuhr er fort, nachdem er sie sich angezündet und einen langen Zug genommen hatte. »Bestimmt hat Sie noch nie jemand so behandelt, als würden Sie nicht existieren. Wieso auch? Bei Ihnen käme kein Mensch auf die Idee. Und wenn doch, dann würden Sie es sich nicht gefallen lassen, stimmt’s?« Er stieß ein trockenes Lachen aus.

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich wünschte, es würde mal jemand versuchen. Vielleicht würde es mir ja gefallen.« Ich bat ihn, mir auch eine zu drehen. Nach ein paar geübten Handgrif-fen reichte er sie mir. Ich schenkte uns noch mal Whisky nach.

»Und was ist mit Ihnen?«

»Mit mir?«

»Was ist Ihre Geschichte?«

Meine Geschichte. Für solche Gelegenheiten hatte ich ein Repertoire an Anekdoten auf Lager, die ich inzwischen relativ schmerzfrei erzählen konnte: die geschäftlichen Bruchlandungen meines Vaters, die mir damals so lustig erschienen waren, rückblickend aber gar nicht mehr so amüsant wirkten. Oder war es vielleicht andersherum? Wurden sie erst lustig, wenn man Anekdoten daraus machte? Oder die beiden Male, als ich von der Schule geflogen war, das erste Mal wegen aufsässigen Verhaltens, das zweite Mal wegen Drogen. Von zu Hause ausgerissen war ich auch einmal: Mit elf hatte ich mir den von allen geliebten Familienhund geschnappt und es immerhin bis ans Ende der Straße geschafft. Das war eine süße Geschichte.

Die hätte ich ihm erzählen können. Aber ich schüttelte den Kopf. »Ein andermal. Jetzt muss ich wirklich ins Bett.«

»Ich hasse es, älter zu werden.«

Innerlich stöhnte ich laut auf. Das war die düsterste Phase der Nacht: die frühen Morgenstunden, prädestiniert für alkoholseli-ge Beichten. »Warum denn das?«

»Es ist einfach alles zum Kotzen. Türen gehen zu, Träume verflüchtigen sich. Die eigenen Kinder behandeln einen, als wäre man von vorgestern. Als ich in Ihrem Alter war, erschien mir alles noch so leicht. Damals betrank man sich und war am nächsten Tag topfit. Mir wird es morgen früh beschissen gehen, aber ich wette, Sie sehen bestimmt taufrisch aus.«

»Apropos morgen früh …«

»Man denkt sich: Und das soll’s jetzt gewesen sein? Das Leben, das ich eigentlich führen wollte. Was ist daraus geworden?«

»Wie alt sind Sie? Vierzig? Einundvierzig? Da ist es doch wirklich noch ein bisschen früh, sich –«

»Und dann ist da noch das Thema Sex.«

»Stuart …«

»Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie mich nicht auslachen werden. Im Gegensatz zu manchen anderen Leuten. Ich war im Bett immer ziemlich gut, müssen Sie wissen.«

Als wäre Sex so etwas wie Hochsprung oder Kopfrechnen, dachte ich.

»Da gab’s nie irgendwelche Probleme«, fuhr er fort. Er schenkte sich ein weiteres Mal nach und leerte das Glas in einem Zug. »Erst in den letzten paar Jahren.«

»Ah«, sagte ich so neutral wie möglich.

»Nun ja, ich kann nicht mehr so – Sie wissen schon –, ich kann mich nicht mehr auf meinen Körper verlassen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich denke schon.«

»Das ist ein richtiger Teufelskreis – je weniger Selbstvertrauen ich habe, desto mehr wird das Ganze zum Problem. Ihr Frauen könnt euch gar nicht vorstellen, wie das ist.« Er lief knallrot an.

»Früher hatte ich mich immer so gut unter Kontrolle. Jetzt ist es

… na ja, es ist zu schnell vorbei. Wissen Sie, was ich meine?«

Ich beschränkte mich auf ein vages Brummen.

»Jetzt halten Sie mich bestimmt für einen erbärmlichen Versager.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich wette, viele von Ihren Kumpels haben schon ähnliche Phasen durchgemacht, auch wenn sie nie darüber reden.«

»Meinen Sie?«

»Ganz bestimmt.«

»Ich denke mir die ganze Zeit, dass es irgendwo da draußen eine Frau geben muss, die mir darüber hinweghelfen kann. Ich habe auch schon ein bestimmtes Bild im Kopf. Es müsste eine sein, die äußerlich ganz kühl und beherrscht wirkt.«

Wenigstens dachte er nicht an mich.

»Die aber unter der kühlen Schale aufgewühlt und leiden-schaftlich ist.«

»Also …«, begann ich.

»Ich hätte meine Frau damals nicht betrügen sollen. Dann wäre mir das wahrscheinlich nie passiert. Vielleicht bekomme ich nur, was ich verdient habe. Vielleicht ist es die gerechte Strafe, dass Gott mich jetzt zum Gespött der Leute macht.

Haben Sie Ihren Mann jemals betrogen?«

»Nein.« Irgendwie schaffte ich es, durch meinen Tonfall meine Entrüstung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass er mich das überhaupt zu fragen wagte, und fügte hinzu: »Wir sind erst seit gut einem Jahr verheiratet.«

»Wie heißt er?«

»Charlie.«

»Ich hoffe, Charlie weiß, was für ein Glückspilz er ist.«

Meg setzte mich kurz nach neun zu Hause ab. Sie sagte, sie wolle nicht mehr mit reinkommen, schließlich hätten wir uns dieses Wochenende schon lange genug gesehen, aber dann begleitete sie mich doch noch ins Haus. Drinnen trafen wir Charlie in Gesellschaft seines alten Freundes Sam an. Die beiden lümmelten im dunklen Wohnzimmer auf dem Sofa und schauten sich eine DVD an. Ich küsste Charlie auf den Scheitel und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas.

»Hallo«, sagte er und streckte eine Hand nach mir aus. »Hallo, Meg.«

»Hallo«, antwortete sie. Wie immer wurde sie dabei ein wenig rot.

»Ist euer Wochenende gut gelaufen?«

»Ja, aber es war extrem anstrengend.«

»Möchtet ihr etwas zu trinken? Oder zu essen? Es könnte sogar sein, dass noch ein Stück Pizza übrig ist.«

»Bloß eine Tasse Tee. Ich mach das schon.«

»Keine Sorge. Ich kapiere sowieso nicht, was in diesem Film abläuft.«

Mit diesen Worten stand er auf und verschwand in die Küche, gefolgt von Meg. Ich konnte die beiden miteinander reden hören, dann brach Charlie in lautes Gelächter aus. Ich ließ mich neben Sam auf dem Sofa nieder und starrte auf den Bildschirm.

Irgendetwas flog gerade in die Luft.

»Worum geht es?«, fragte ich.

»Es ist ein bisschen kompliziert«, antwortete Sam. »Der Typ ist ein Auftragskiller, der sich bereit erklärt hat, einen letzten Auftrag zu erledigen. Und seine Tochter ist entführt worden.

Wir vermuten, dass beides irgendwie zusammenhängt.«

»Hast du deine Steuererklärung fertig?«, rief ich zu Charlie hinüber.

»Ich hab zumindest angefangen«, antwortete er.

»Ich dachte, das wäre schon ganz eilig.«

Darauf kam keine Antwort.

Ich ging in den Garten hinaus. Er wirkte im Moment noch wie Ödland, aber Charlie und ich hatten Pläne damit. In der Mitte sollte sich ein gepflasterter Weg dahinschlängeln, zu beiden Seiten würden wir Rasen säen, am hinteren Ende einen Apfel-baum und einen Kirschbaum pflanzen und – das war meine Aufgabe – neben der Küchentür eine kleine gekieste Terrasse anlegen, auf die ich Dutzende von Terrakottatöpfen mit Sträu-chern, duftenden Blumen und dekorativen Bäumchen stellen wollte. Ich hatte sogar schon einen Lorbeerbaum bestellt. Ich lehnte mich an die Wand, an der Jasmin und Geißblatt hochgezogen werden sollte, und stellte mir vor, wie ich im Sommer mit einem Glas kaltem Weißwein in der Hand draußen sitzen und Charlie dabei zusehen würde, wie er an dem Grill hantierte, den er für uns bauen wollte.

Jetzt aber war es kalt und dunkel hier, sodass ich schon nach wenigen Minuten wieder hineinging. Meg sagte, sie sei gerade am Aufbrechen, und ausnahmsweise versuchte ich nicht, sie zum Bleiben zu überreden. Ich musste dringend unter die Dusche. Obwohl ich so erschöpft war, fühlte ich mich nach dem Stress des Wochenendes immer noch total aufgedreht und hoffte, dass das Wasser mich beruhigen würde, sodass ich bald ins Bett gehen und schlafen konnte. Hinterher schlüpfte ich in den Pyjama, den Charlie mir geschenkt hatte, und gesellte mich wieder zu den Männern. Doch der Film war so hektisch und nervenaufreibend, dass ich davon nur noch unruhiger wurde. Ich ging nach oben und griff nach dem Roman, den ich gerade las, aber nach ein paar Seiten wurde mir klar, dass ich nichts von dem Gelesenen aufgenommen hatte und von vorn würde beginnen müssen. Offenbar war ich nicht in der Stimmung zum Lesen. Ich brauchte irgendeine Beschäftigung, bei der ich mein Gehirn ausschalten konnte. Also tappte ich die Treppe wieder hinunter und spähte in Charlies Arbeitszimmer. Bei dem Anblick, der sich mir bot, entgleisten mir sofort die Gesichtszü-

ge.

Als ich das erste Mal hörte, dass Charlie Illustrator war, glaubte ich zu wissen, was das heißt. »Illustrator« bedeutete nicht dasselbe wie »Künstler«, ein für mich sehr vages und zugleich sehr beeindruckendes Wort voller Potential für die Phantasie.

»Illustrator« war konkreter und präziser, mit klaren Grenzen und einem Element des Rationalen. Ein Illustrator hatte einen Auftrag und einen Termin, ein konkretes Thema und eine Mappe. Ich stellte mir vor, dass Lektoren oder Redakteure bei Charlie anrufen und ihn beauftragen würden, etwas für eine Zeitung zu zeichnen, das am nächsten Tag fertig sein musste, oder etwas für eine Zeitschrift, das er eine Woche später abliefern musste, oder einen Buchumschlag zu entwerfen, für den er sich mehrere Monate Zeit lassen konnte. Vielleicht würde er auch Kinderbücher illustrieren. Ich hatte ihn mir in einem ordentlichen, luftigen Raum vorgestellt, mit einem großen Zeichentisch und einem Gefäß voller gespitzter Bleistifte. Das schien auch genau zu dem zu passen, was ich an ihm feststellte: dass er verträumt und introvertiert war, aber gleichzeitig solide und humorvoll, zerstreut, aber doch akribisch und auf seine Aufgabe konzentriert. Er hatte zarte, aber zupackende Hände, die in der Lage waren, Dinge herzustellen (Holzschnitzereien, Regalfächer und kunstvolle Holzkisten, einen Gokart für den autistischen Jungen drei Türen weiter) und Kaputtes zu reparieren (Fenster, Fahrräder, sämtliche Teller und Tassen, die ich zerbrach, sogar die Waschmaschine).

Allerdings war mir nicht klar gewesen, dass das Illustrieren ein ebenso hartes Geschäft ist wie jedes andere auch. Man muss mit seiner Mappe erst einmal bei Lektoren, Redakteuren und Agenten Klinken putzen gehen, um überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen. Es geht darum, Kontakte aufzubauen und diese dann möglichst gut zu nutzen. Mittlerweile hatte ich begriffen, dass Charlie immer – selbst wenn wir miteinander im Bett lagen oder in Urlaub waren – im Hinterkopf hatte, dass jedes Jahr eine weitere Flut neuer, hungriger, talentierter Illustratoren aus den Kunstschulen auf die Leute losgelassen wurde, bewaffnet mit ihren Mappen, ihrem Ehrgeiz und ihren frischen, neuen Ideen.

Ich war fest entschlossen, wie eine Löwin für ihn zu kämpfen, seine Muse und seine Agentin zu sein, die ganze Drecksarbeit für ihn zu erledigen, denn dafür war er zu phlegmatisch und doch vielleicht zu sehr Künstler. Genau das liebte ich an ihm, aber gleichzeitig hasste ich es und hätte manchmal vor Frust die Wände hochgehen können. Ich hielt trotzdem meist den Mund, weil er so viel Talent besaß. Davon versuchte ich die Leute auch immer wieder zu überzeugen, aber die Einzigen, die mich wirklich verstanden, waren diejenigen, die ihn sowieso schon kannten und seine Arbeiten oder, noch besser, ihn selbst bei der Arbeit gesehen hatten. Wenn er aufs Papier starrte, trat ein ganz besonderer Ausdruck in seine Augen. Er konnte eine Linie oder einen Farbklecks so wundervoll sparsam und geschickt einset-zen und hatte ein unglaubliches Gefühl dafür, wo etwas hingehörte und wann es reichte und er aufhören musste. Ich wollte nicht die nörgelnde Frau sein, die ihn davon abhielt, sein Potential auszuschöpfen. Dafür hatte ich zu viele von den schrecklichen alten Filmen gesehen. Ich wollte nicht der Drache sein, der schimpfte: »Schon recht, Leonardo, geh ruhig und mal das Abendmahl, aber erwarte nicht von mir, dass ich noch da bin, wenn du zurückkommst.«

Er sagte immer, dass er es auf seine Art und in seinem Tempo machen würde. Manchmal hieß das, dass er es überhaupt nicht machte. Termine verstrichen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn das geschah. Es ging mir nicht nur ums Geld, auch wenn wir das weiß Gott dringend benötigten, weil die hohe Hypothek abzuzahlen war und Meg und ich die Firma gegründet hatten. Was ich am allermeisten hasste, war die Vergeudung von so viel Talent. Das ging mir dermaßen gegen den Strich, dass ich jedes Mal richtig entnervt und gereizt war, wenn es passierte. Ich versuchte, mich am Riemen zu reißen und nichts zu sagen, nicht zu nörgeln, weil es dadurch nur noch schlimmer wurde. Oft aber konnte ich meinen Mund dann doch nicht halten. Ich hatte mal eine Sammlung von van-Gogh-Briefen gelesen. Es handelte sich um Charlies Lieblingsbuch, seine Bibel sozusagen. Mir war aber während der Lektüre immer wieder durch den Kopf gegangen, dass van Gogh eigentlich nur eine einfühlsame Frau und ein bisschen medizinische Hilfe gebraucht hätte. Trotzdem hatte er die berühmten Bilder gemalt. Und sich umgebracht.

Charlies Papierkram war über den ganzen Boden verstreut. Es handelte sich größtenteils um Stapel von Briefen, die zum Teil noch ungeöffnet waren. Dazwischen lagen aufgeschlagene Bücher, deren Rücken bereits Knicke aufwiesen – eines über schwarze Löcher, eines über neue Evolutionstheorien, eine Anthologie mit Beschreibungen von Schachspielen. Die Van-Gogh-Briefe. Ich konnte mir Charlies Wochenende genau vorstellen: unzählige Tassen Tee und Kaffee. Eine Joggingrunde durch Highgate Woods. Ein bisschen Fernsehen. Ein paar Seiten eines Buchs, einer Zeitschrift. Irgendeine Reparatur im Haus.

Ein Bier mit Freunden. Ein paar Stunden online. Eine Pizza zum Mitnehmen. Irgendwann hatte er sich dann endlich dazu aufgerafft, seine Steuererklärung in Angriff zu nehmen. Er hatte die großen Stapel, die sich auf und neben seinem Schreibtisch türmten, in kleinere Stapel sortiert und über den ganzen Raum verteilt. Er hatte dem Grauen kurz ins Auge geblickt und dann den Rückzug angetreten. Wahrscheinlich war ihm in dem Moment der Gedanke gekommen, Sam anzurufen. In solchen Situationen brauchte man Freunde, die einen von dem ablenk-ten, was man eigentlich tun sollte.

Die Küche sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Während die beiden Männer sich weiter den Film anschauten, begann ich zu putzen, zu schrubben und zu polieren. Als ich damit fertig war, stellte ich alles, was herumstand oder -lag, in die Schränke. Anschließend räumte ich die Schränke noch einmal komplett aus, nahm ihren Inhalt genau unter die Lupe und warf einen Teil davon in einen Müllsack, ehe ich den Rest erneut einräumte. Als Charlie hereinkam, war ich fast fertig und hatte das Gefühl, einen Berg erklommen zu haben und nun vom Gipfel aus auf ein schönes sonniges Tal hinunterzublicken.

»Das wollte ich doch machen«, sagte Charlie.

»Kein Problem. Ich hatte sowieso vor, hier mal richtig auszu-misten.«

»Auszumisten?«

»Die Schränke. Ich habe eine Menge Zeug weggeschmissen.

Zum Beispiel die Eismaschine, bei der irgendein Teil fehlte.«

»Aber das wollte ich doch ersetzen.«

»Wie denn? Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Es gibt keine Eisenwarenhandlungen mehr, in denen man Ersatzteile bekommt. Inzwischen ist es billiger, eine neue Maschine zu kaufen. Falls wir überhaupt eine brauchen. Was nicht der Fall ist, weil wir nie Eis machen. Genauso wenig wie selbst gemachte Nudeln. Die Maschine habe ich auch entsorgt.

Sie war schon ganz rostig. Wir kochen eigentlich nie etwas, außer Toast und Eier mit Speck.«

»Wie schaffst du das bloß?«, fragte er. »Nach diesem anstrengenden Wochenende? Ich wette, du hast kaum geschlafen. Bist du denn gar nicht erschöpft?«

»Ganz im Gegenteil«, erklärte ich. »Das tut mir gut. Es hilft mir, langsam wieder herunterzukommen.«

»Weißt du, ich mag es wirklich, wenn du diesen Pyjama anhast, aber manchmal bereue ich fast, dass ich ihn dir gekauft habe.«

Ich wusste, was er damit sagen wollte, tat aber so, als würde ich ihn nicht verstehen. Mein ganzer Körper schmerzte. Der Gedanke, angefasst zu werden, war mir im Moment unerträglich.

»Ich hab einen Blick in dein Arbeitszimmer geworfen …«, begann ich.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er.

»Deine Steuererklärung. Sie war letzte Woche fällig, oder?

Oder schon vorletzte?«

»Ich mache es so schnell wie möglich«, antwortete er.

»Lass uns die Sachen rasch gemeinsam durchsehen.«

»Nun sei nicht albern. Es ist halb zwölf. Wie ich dich kenne, bist du das ganze Wochenende nicht zum Schlafen gekommen.

Außerdem hast du selbst eine Firma, um die du dich kümmern musst.«

»Ich bin nicht müde, und ich möchte auch nur einen kurzen Blick darauf werfen. Nun komm schon!«

Ich schlüpfte in Hausschuhe und einen Bademantel und zerrte Charlie in sein Arbeitszimmer. Es war wirklich ein beklemmen-der Ort.

»Genauso sieht es in meinem Gehirn aus«, stellte er mit einem Lächeln fest.

»Bitte sag so was nicht.«

»Ich kümmere mich morgen darum«, erklärte er. »Ich verspreche es dir. Ich werde sogar ein paar von den Briefen aufmachen.

Die mit den roten Aufklebern.«

Ich holte tief Luft. »Der wichtigste Rat, den wir bei der Gründung von KS bekommen haben, war, mit den Leuten in Kontakt zu bleiben. Sie beginnen sich Sorgen zu machen, wenn sie nichts von einem hören. Das hier« – ich deutete auf das Schre-ckensszenario – »erinnert mich an ein kleines Kind, das die Hände vor die Augen hält und glaubt, man könnte es dann nicht sehen.«

Er zog eine Grimasse.

»Wir wollen doch nicht das Haus verlieren, Charlie.«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, entgegnete er leichthin. »Du kannst mich immer noch umbringen und die Lebensversicherung kassieren.«

Ich holte einen Müllsack, meinen zweiten an diesem Abend, und ein Notizbuch, dann machte ich mich an die Arbeit. Ich öffnete sämtliche Briefe und begann sie auf verschiedene Stapel zu verteilen: richtige, nach einem bestimmten System angeordnete Stapel. Charlie protestierte zunächst, legte sich dann aber auf das alte Sofa und glitt in einen Zustand des Halbschlafs hinüber, aus dem ich ihn hin und wieder aufweckte, indem ich ihm irgendwelche Fragen stellte. Verpackungsmaterial, Werbung und anderer Müll wanderten in den Sack. Dann las ich alles durch und sortierte es zuerst thematisch und dann noch mal nach dem Schreckensgrad. Wie sich herausstellte, hatte Charlie keine anständige Buchhaltung geführt. Ich legte ein provisorisches Kassenbuch an, das bei einem Steuerbeamten wahrscheinlich gerade so durchgehen würde.

Nachdem ich Charlie erneut aufgeweckt hatte, machte er uns heiße Schokolade, in die wir Kekse tunkten. Meine Füße waren eiskalt, und ich spürte, dass ich langsam ein bisschen herunter-kam. Hinter meinen Augen lauerte eine große Müdigkeit, bereit, über mich herzufallen. Ich legte die Stapel, die man vergessen konnte, auf den Boden, kritzelte Zahlen in das Kassenbuch, machte mir Notizen, stupste zwischendurch Charlie an, sortierte die kleiner gewordenen Stapel neu und reduzierte sie dann immer weiter, bis am Ende nur noch sechs wirklich dringende Schreiben übrig waren. Bei dreien davon handelte es sich um unbezahlte Rechnungen, die anderen drei waren Honorarrechnungen, die Charlie nie abgeschickt hatte.

Als Charlie wieder eingedöst war, stieß ich in der untersten Schublade seines Schreibtisches auf einen Brief, den er offenbar wütend zusammengeknüllt hatte, bevor er ihn dort hineinschob.

Die Unterschrift nicht mitgerechnet, war das Schreiben drei Zeilen lang: die negative Antwort eines Verlags, der Charlies Konzept eines graphisch gestalteten Romans ablehnte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er an so etwas arbeitete. Leise schloss ich die Schublade wieder und betrachtete dann Charlie, der den Kopf zur Seite geneigt hatte, sodass ihm sein weiches Haar ins Gesicht fiel. Sein Mund war leicht geöffnet, und aus seiner Kehle drang ein leises Schnarchen. Er hatte mir nichts von dem Projekt erzählt, es vor mir versteckt und so getan, als würde es gar nicht existieren. Eine heftige Welle der Zärtlichkeit überroll-te mich, und ich fühlte mich plötzlich zittrig und schwach.

»Ein paar von denen sind richtig gut«, sagte ich in fröhlichem Ton, als er aufwachte, und deutete dabei auf den Stapel Zeich-nungen, die ich auf den Tisch gelegt hatte. Nur die von Meg und mir, auf der ich wie eine dürre, schwachsinnige Karikatur von mir aussah, hatte ich verstohlen zusammengeknüllt und in den Müllsack gestopft.

»Das sind doch bloß dämliche Kritzeleien«, antwortete er, während er sich die Augen rieb.

Ich musterte ihn prüfend. »Es macht dir keinen Spaß mehr, oder?«

»Was?«

»Das Zeichnen.«

Er zuckte mit den Achseln. »Es ist auch bloß eine Arbeit.«

»Es ist nicht bloß eine Arbeit. Du bist richtig gut darin, total begabt. Mein Gott, ich wünschte, ich könnte so was. Und es hat dir doch immer solchen Spaß gemacht.«

»Das war, bevor ich es tun musste. Bevor es ein Job war. Wie du mir ja immer wieder sagst, haben wir eine Hypothek abzuzahlen.«

»Du empfindest es wirklich nur noch als Plackerei?«

»Das ist jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, Holly. Es ist zwei Uhr morgens.«

»Dann hör doch damit auf«, fuhr ich fort. »Du musst es ja nicht machen.«

»Wovon redest du?«

»Weißt du eigentlich, was du wirklich mit Begeisterung tust?

Was dich richtig befriedigt? Etwas zu bauen oder zu reparieren.

Ich habe den Ausdruck auf deinem Gesicht gesehen, wenn du das machst. Damit solltest du dein Geld verdienen.«

»Du meinst, ich sollte Sachen reparieren?«

»Ja. Vergiss das mit dem Künstler oder Illustrator. Mach noch mal eine Ausbildung. Eine Lehre. Als … als Klempner. Ich lese ständig, dass Klempner für ihre Arbeit verlangen können, was sie wollen, weil sie so gefragt sind. Wir könnten die Hypothek für das Haus neu festsetzen lassen. So eine Lehre lässt sich schon irgendwie finanzieren. Das würde dir bestimmt Spaß machen.«

»Deiner Meinung nach sollte ich also Abflüsse, Rohrbrüche und verstopfte Regenrinnen reparieren? So denkst du über mich, ja?«

Obwohl ich die Warnsignale hörte, ignorierte ich sie. »Das wäre jedenfalls besser, als Tag für Tag hier herumzusitzen und nichts zustande zu bringen, außer in die Luft zu starren und dich mies zu fühlen, während ich immer genervter werde. Lass uns das doch einfach durchziehen.«

»Und du sitzt als Firmenberaterin oder wie auch immer du dich nennst in Soho. Und was macht Ihr Mann? Oh, der ist Klempner. Wenn Sie eine verstopfte Toilette haben, können Sie ihn jederzeit anrufen.«

»Warum nicht, Charlie? Was ist so schlimm daran, als Klempner zu arbeiten?«

»Ich hab gedacht, du glaubst an mich.«

»Das tue ich doch – natürlich tue ich das.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mal gesagt, ich hätte eine große Zukunft vor mir.«

»Ich möchte doch nur, dass du –«

Das Telefon klingelte. Wir sahen uns verblüfft an.

»Wer, zum Teufel, ruft um diese Zeit noch an?«

Ein Angstschauder ließ mich zum Telefon stürzen, aber Charlie war schneller. »Ja? Oh.« Seine Gesichtszüge entspannten sich, und seine Stimme klang nicht mehr so aggressiv. »Nein, wie durch ein Wunder habe ich noch nicht geschlafen. Ja. Ja. In Ordnung. Ich komme gleich rüber.« Er legte auf.

»Was ist denn los?«

»Naomi ist völlig panisch. Sie braucht bei irgendwas meine Hilfe.«

»Um diese Zeit?«

»Sie hat gesehen, dass bei uns noch Licht brennt.«

»Was kann so dringend sein?«

»Sie sagt, bei ihr in der Wohnung riecht es verbrannt. Sie hat Angst vor einem Kabelbrand.«

»Kann sie nicht jemanden anrufen?«

»Sie hat jemanden angerufen. Uns.«

»Es ist mitten in der Nacht.«

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete er. »Und ich bin Klempner, nicht Elektriker. Aber sie ist unsere Nachbarin. Wenn ihr Haus abbrennt, erwischt es unseres auch.«

»Komm bald zurück, Charlie. Wir können es nicht dabei bewenden belassen.«

»Ich dachte, du hättest schon alle Probleme gelöst.« Und weg war er. Ich hörte die Haustür zufallen und dann seine Schritte durch die nächtliche Stille hallen.

Ich blieb ein paar Augenblicke sitzen und ließ unser Gespräch vor meinem geistigen Auge Revue passieren, rief mir Charlies harten, wütenden Gesichtsausdruck ins Gedächtnis. Dann steckte ich seine zu Stapeln sortierten Briefe in lauter separate Hüllen. Ich sammelte alle herumliegenden Stifte ein und stellte sie in einen Glaskrug. Ich stopfte den ganzen Abfall in den Müllsack und trug sämtliche Tassen und Aschenbecher in die Küche. Anschließend wischte ich noch alle Oberflächen mit einem feuchten Lappen ab. Als ich endlich fertig war, setzte ich mich in Charlies sauberem Zimmer an seinen aufgeräumten Schreibtisch, legte den Kopf auf die Arme und gestattete mir, in einen leichten, unruhigen Schlaf zu sinken.

Irgendwann fuhr ich erschrocken hoch, wahrscheinlich, weil ich kurz davor war, vom Stuhl zu fallen. Ich fühlte mich steif und alles andere als erholt. Als ich auf meine Uhr schaute, stellte ich fest, dass es schon fast fünf war. Ich schleppte mich nach oben, aber Charlie war noch immer nicht zurück. Schließlich machte ich eine große Kanne starken Kaffee und rief bei Naomi an.

»Naomi. Hier ist Holly.«

»Holly! O Gott, es tut mir Leid, wenn ich dich um deine Nachtruhe gebracht habe. Charlie hat mich gerettet. Es war ein Elektrokabel. Die Drähte lagen bloß und waren schon schrecklich heiß. Er hat es provisorisch repariert, aber dazu musste er diesen Kasten von der Wand schrauben und dann –«

»So genau wollte ich das gar nicht wissen«, unterbrach ich sie verschlafen. »Ich habe uns eine Kanne Kaffee gekocht. Kommt rüber und trinkt eine Tasse.«

»Ich besitze leider nicht deine Energie. Was ich jetzt brauche, ist Schlaf, und nicht Kaffee, der mich wach macht.«

Zehn Minuten später kam Charlie zurück. Er wirkte benommen und leicht abwesend, aber ich zerrte ihn trotzdem in sein Arbeitszimmer.

»Hier«, sagte ich und reichte ihm einen Zettel. Er starrte ihn verständnislos an. »Ich habe es dir aufgeschrieben. Es ist ganz einfach. Du musst vier Telefonate führen, eines nach dem anderen. Am besten, du fängst um zehn Uhr an. Außerdem musst du drei Briefe schreiben. Ich habe sie für dich aufgesetzt.

Es ist nicht so schlimm, wie es ausgesehen hat. Und schick die Honorarrechnungen ab. Vielleicht überweisen dir die Leute dann ein bisschen Geld.«

Er starrte wieder den Zettel an, dann mich. »Wie schaffst du das bloß?«, fragte er.

»Wenn ich eine Sache mal in Angriff genommen habe, kann ich erst wieder aufhören, wenn alles erledigt ist.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Das wegen vorhin tut mir Leid«, erklärte ich.

»Nein. Nein, ich bin derjenige, dem es Leid tun sollte.«

Ich schlang die Arme um ihn. »Zwischen uns ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Ich muss jetzt erst mal duschen«, erklärte er. »Und dann sollten wir versuchen, noch ein bisschen zu schlafen.«

»Für mich ist es inzwischen viel zu spät, um ins Bett zu gehen.« Ich versuchte zu ignorieren, dass er meine Frage nicht beantwortet hatte. »Ich dachte, wir könnten zusammen frühstü-

cken und vielleicht noch einen Spaziergang machen, bevor ich zur Arbeit muss.«

»Bist du denn gar nicht müde?«

»Die Bedeutung des Schlafs wird allgemein überschätzt«, antwortete ich. »Es gibt zu viele interessante andere …« Die Worte überschlugen sich und blieben in meinem Mund hängen wie trockene Brotkrumen. »Andere Dinge. Weißt du, was ich meine?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Charlie. »Es fällt mir nicht immer leicht, dir zu folgen.«

»Soll das ein Kompliment sein?«, fragte ich, aber er gab mir keine Antwort.

8

Im Gehen denkt es sich leichter, und wenn man mal gar nichts denken möchte, geht das auch leichter. Man setzt einfach einen Fuß vor den anderen und lässt die kalte Luft durch einen hindurchströmen, sieht seine Umgebung, ohne sie wahrzunehmen, hört Geräusche, ohne sie zu registrieren.

An diesem Tag legte ich den ganzen Weg in die Arbeit zu Fuß zurück: von Archway bis Soho. Das sind ungefähr zehn Kilometer, und man geht größtenteils stark befahrene Hauptstraßen entlang. Beim Überqueren der Brücke bemühte ich mich aus Angst vor einem Schwindelanfall, möglichst nicht übers Geländer zu blicken. Dann lief ich den Hügel hinunter, die Kentish Town Road entlang und weiter durch die Camden High Street. In einem kleinen Café trank ich eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette, die ich von einer jungen Frau schnorrte, und belauschte ein Gespräch zwischen zwei Schulmädchen darüber, wie schwierig es war, richtig zu knutschen, wenn man eine Zahnspange trug. Dann ging es weiter: Hampstead Road, Tottenham Court Road, und schon war ich da, nur einen Steinwurf von unserem Büro entfernt. Ich schaute auf meine Uhr. Inklusive Kaffeepause hatte ich nur gut anderthalb Stunden gebraucht, was mir recht wenig erschien. Vielleicht waren es doch keine zehn Kilometer, oder ich war sehr schnell gegangen.

Erst jetzt merkte ich, dass meine Wangen glühten und mein Haar schweißnass an meiner Stirn klebte.

Ich holte mir bei Luigi’s ein Stück Mohngebäck und verspeiste es an unsere Büromauer gelehnt, um mich noch ein wenig abzukühlen, ehe ich hinaufging. Eine Frau auf Rollerblades glitt anmutig auf mich zu und bedachte mich im Vorbeifahren mit einem breiten Lächeln. Vielleicht sollte ich mir auch solche Dinger anschaffen, dachte ich. Dann konnte ich jeden Morgen in die Arbeit schweben. Es sah nicht allzu schwierig aus.

»Hallo!«

»Meg, ich habe dich gar nicht kommen sehen, war ganz in Gedanken.«

»Hast du gut geschlafen?«

»Ja.«

»Ich bin schon vor zehn ins Bett und erst um acht aufgestanden. Was für eine Wohltat!«

»Du siehst irgendwie anders aus«, stellte ich fest. »Was hast du gemacht?«

»Gar nichts!«

»Doch. Irgendwas ist mit deinem Haar passiert.«

Errötend griff sie sich an den Kopf. »Ich habe mir in einem Katalog eins von diesen Glätteisen bestellt, und heute Morgen hab ich es einfach mal ausprobiert«, erklärte sie. »Hinterher schaute mein Gesicht auch nicht anders aus als mit meiner Wuschelmähne.« Dann fügte sie verlegen hinzu: »Findest du es sehr schlimm?«

»Nein, es gefällt mir. Aber du hast keine Wuschelmähne, du hast Locken. Ich wünschte, ich hätte auch so wunderschönes Haar wie du.«

»Das glaubst du doch wohl selber nicht, Holly!« Einen Moment lang wirkten ihre Lippen verkniffen und ihre Augen schmal, und sie sah plötzlich aus wie eine völlig andere Person.

Sie machte fast so ein Gesicht wie Charlie, als ich ihm letzte Nacht gesagt hatte, er solle doch Klempner werden. Dann lächelte sie. »Na ja, es ist einfach mal was anderes. Nach dem nächsten Regenguss drehen sie sich von selbst wieder auf.

Übrigens …« Sie hielt inne.

»Ja?«

»Ich weiß gar nicht, ob ich es dir sagen soll.«

»Raus damit. Nach dieser Ankündigung musst du es mir sagen.«

»Ich hab einen Anruf bekommen. Von einem Mann. Er hat seinen Namen nicht genannt, aber gesagt, dass er dich kennt und dass dir Ärger bevorsteht. Dass wir alle ernten, was wir säen, oder so was in der Art. Er hat sich ziemlich gruselig angehört.«

»War er mit einer Sense bewaffnet?«

»Holly!«, sagte sie vorwurfsvoll.

Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.

Bei uns in der Firma gibt es drei Toiletten. Um neun vor zwölf betrat ich die geräumigste der Kabinen, rollte meinen Mantel zu einer Art Nackenrolle zusammen und legte ihn auf den herun-tergeklappten Klodeckel. Dann kickte ich meine Schuhe in eine Ecke, ließ mich auf den Boden sinken und bettete meine Wange auf den rauen, aber warmen Stoff meines Mantels. Dankbar schloss ich die Augen.

Als in der Toilette neben mir die Spülung betätigt wurde, schlug ich die Augen wieder auf und warf einen Blick auf meine Uhr. Viertel nach zwölf. Das seltsame Dröhnen in meinem Kopf schien sich gelegt zu haben. Ich erhob mich, schlüpfte wieder in die Schuhe, nahm den Mantel und verließ die Kabine. Nachdem ich mir vor dem kleinen Spiegel Hände und Gesicht gewaschen hatte und mir mit einer Bürste durchs Haar gefahren war, marschierte ich zurück ins Büro.

»Wir haben einen Brief von Deborahs Anwalt bekommen. Er droht uns wegen ihrer unfairen Entlassung mit rechtlichen Schritten«, eröffnete mir Meg, als ich ihr gegenüber Platz nahm.

»Ist das ein Problem?«

»Ich habe Chris gebeten, heute Nachmittag vorbeizuschauen, damit wir darüber sprechen können.«

»Womöglich habe ich damit den Ruin über die Firma gebracht«, sagte ich. »Es tut mir Leid.«

»Und gleich kommt jemand, der dich sehen möchte.«

»Wer denn?« Verblüfft begann ich, meinen Terminkalender durchzublättern.

»Er hat mir seinen Namen nicht genannt. Nur dass er hier sei, um Holly Krauss zu sehen. Ich habe angenommen –«

»Ist schon in Ordnung.«

Aber es war nicht in Ordnung. Rees lächelte mich unverwandt an, während er quer durch den Raum auf mich zukam. Sofort stieg ein Gefühl der Übelkeit in mir auf.

»Hallo, Holly.«

Ich spürte, dass mehrere neugierige Augenpaare auf uns gerichtet waren.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, erklärte ich kalt. »Bitte gehen Sie.«

»Oh, ich bin eigentlich gar nicht deinetwegen hier. Ich hatte nur gerade nichts Besseres zu tun und wollte mal sehen, wo du arbeitest. Damit ich ein Gefühl dafür bekomme, wie du lebst. Du weißt schon. Und Sie müssen Meg sein.«

»Das ist richtig. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Wir haben gestern Abend miteinander telefoniert. Erinnern Sie sich?«

»In diesem Fall glaube ich, dass Holly Recht hat und Sie auf der Stelle gehen sollten«, antwortete sie absolut souverän. »Oder soll ich die Polizei rufen?«

»Hier arbeiten nur Frauen, oder?«

Meg griff nach dem Telefon.

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich gehe ja schon.« Er sah mich einen Moment schweigend an, dann kniff er mich so fest in die Wange, dass es wehtat. »Ich warte auf deinen Anruf, Holly.

Aber lass mich nicht zu lange warten. Und bilde dir bloß nicht ein, dass du mich wieder loswirst.«

Auf wundersame Weise glitten die Zahlen und Daten auf meinem Bildschirm an die richtigen Stellen. Wie schaffte ich das nur? Ich spürte, dass Meg mich immer noch musterte.

»Was ist?«

»Dieser Mann. Er ist gefährlich.«

»Ach, das glaube ich nicht. Er ist bloß ein Widerling.«

»Holly, hörst du dich eigentlich selbst?«

»Nein.«

»Hast du es Charlie schon gesagt?«

»Meg, weißt du, wie es ist, wenn eine Maschine gut läuft, weil die Zahnräder sich reibungslos drehen und alles schön geölt ist, sodass du das Gefühl hast, du könntest endlos so weiterarbeiten?

Dann kommt dieser Rees daher und ist wie ein überflüssiger Bolzen, den jemand in deine perfekt laufende Maschine geworfen hat, und du weiß genau, wenn du ihn nicht sofort wieder hinausbeförderst, wird bald ein schreckliches metallisches Quietschen zu hören sein, und aus der Maschine werden dir Funken und Metallteile entgegenfliegen, bis das Ganze am Ende knirschend und quietschend zum Stillstand kommt. Kennst du dieses Gefühl?«

»Demnach hast du es Charlie also noch nicht gesagt.«

»Nein. Und das habe ich auch nicht vor … Was ist? Du meinst doch nicht allen Ernstes, dass ich das tun sollte?«

Meg sah mich an. Ich versuchte ihre Gedanken zu lesen, aber es gelang mir nicht. Schließlich wandte sie den Blick ab und begann mit den Fingern auf ihrer Schreibtischplatte herumzu-trommeln. »Manchmal«, sagte sie so leise, dass ich mich anstrengen musste, sie zu verstehen, »ist es besser, die Karten offen auf den Tisch zu legen.«

»Manchmal ja«, antwortete ich. »Aber manchmal auch nicht.«

»Holly …« Sie zögerte.

»Ja?«

»Ach, nichts. Auf jeden Fall solltest du die Polizei anrufen.«

»Nein.«

»Du willst das einfach ignorieren? Glaubst du, es hört von selbst wieder auf?«

Ich überlegte einen Moment. »Ich glaube, die meisten Dinge hören von selbst wieder auf, wenn man sie nur lange genug ignoriert.«

9

Manchmal habe ich Angst einzuschlafen. Es ist zu sehr wie sterben. An diesem Abend wagte ich die Augen nicht zu schließen, obwohl mir vor Erschöpfung schon ganz schummrig war. Ohne Appetit stocherte ich in etwas herum, das Charlie für uns hatte kommen lassen, und redete dabei ununterbrochen, damit er mir keine Fragen stellen konnte. Jedes Mal, wenn zwischen uns auch nur eine beängstigende Sekunde lang Schweigen herrschte, beeilte ich mich, die Pause zu füllen. Dann sahen wir uns die Nachrichten an und hinterher eine Quizsen-dung.

Ich rief immer laut die falschen Antworten. Nach einer Weile schaltete Charlie aus und sagte, er sei müde und gehe jetzt ins Bett.

»Ich komme auch gleich«, antwortete ich. »In einer Minute.«

Ich machte mir eine Tasse Tee, weil ich hoffte, dass ich dadurch ruhiger werden würde, aber er schmeckte eigenartig, wie schimmeliges Stroh. Ich schaltete den Fernseher wieder an und zappte durch die Kanäle, fand aber nichts, was meine Aufmerksamkeit fesselte. Es gelang mir nicht, mich länger als ein paar Minuten auf die Gesichter zu konzentrieren, die mir vom Bildschirm entgegengrinsten. Auch die Worte, die in meinen Ohren dröhnten, ergaben für mich keinerlei Sinn. Um halb zwei schleppte ich mich schließlich nach oben. Auf dem Weg ins Schlafzimmer stieß ich mir an der Tür eine Zehe an und schrie vor Schmerz laut auf.

Charlies rechtes Auge öffnete sich einen Spalt. »Holly?«, murmelte er.

Ich wartete, bis er wieder eingeschlafen war, dann schaltete ich meine Nachttischlampe an. Wenn ich nicht schlafen kann, lese ich gern Gedichte. Gedichte und Kochbücher. Ich koche zwar nie, aber eines Tages werde ich damit anfangen, und dann wird mein Kopf voller leckerer Rezepte stecken, beispielsweise für geräucherten Schellfisch und Muschelpastete.

Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich Hunger hatte. Ich hievte mich wieder aus dem Bett und tappte zum Kühlschrank hinunter. Wir haben einen riesigen Kühlschrank – viel zu groß für zwei Personen –, aber es ist meist nichts drin außer Kaffee, Bier, Butter und kleinen Trinkjoghurts, die Charlie immer besorgt und die mich an Pudding mit Süßstoff erinnern. Heute stieß ich auf ein paar marinierte Sardellen, die wir meines Wissens noch nie gehabt hatten. Ich aß eine halbe, aber irgendwie war das nicht das Richtige für ein Nachtmenü. Zu salzig.

Vor meinem geistigen Auge sah ich hohe Wellen gegen verkrustete, mit Napfschnecken überzogene Felsen klatschen und Männer mit schwieligen Händen Netze voll zuckender silbriger Fische aus dem Wasser hieven.

Nachdem ich wieder im Bett lag, presste ich meinen kalten, verspannten Körper an Charlies warmen, schlafenden und versuchte zusammenzuzählen, wie viele Stunden ich letzte Woche geschlafen hatte, aber das Rechnen fiel mir unglaublich schwer, ich verzählte mich ständig. Schließlich gab ich auf, schlang die Arme um Charlie – meinen schönen, warmherzigen, verlässlichen, vertrauensvollen Ehemann – und presste meine Lippen an seinen Nacken.

»In Zukunft werde ich ganz lieb und brav sein«, flüsterte ich in seine straffe Haut hinein. »Ganz unglaublich lieb und brav. Du wirst mich nicht wiedererkennen. Ich werde eine völlig neue Frau sein.«

Langsam begann es zu dämmern. Plötzlich riss ich die Augen auf. Mir war gerade in den Sinn gekommen, dass ich vergessen hatte, Trish die ihr zugesagte Information aus dem Internet zu besorgen. Während der Nacht war mir schon eingefallen, dass ich versprochen hatte, der Obdachlosen, die immer draußen vor dem U-Bahn-Eingang saß, wenn ich zur Arbeit fuhr, eine Decke vorbeizubringen. Rasch schlüpfte ich in meine Sachen und stürmte die Treppe hinunter, immer gleich zwei Stufen auf einmal. Nachdem ich Wasser aufgesetzt hatte, warf ich meinen Computer an.

Um sieben weckte ich Charlie mit Kaffee und suchte dann im Schrank nach Müsli, obwohl ich das Zeug eigentlich nicht ausstehen kann. Ich finde, es schmeckt nach süßer, matschiger Pappe. Nachdem ich ein paar Minuten in den Flocken herumge-stochert hatte, kippte ich sie in den Müll. Charlie starrte schon eine ganze Weile auf seine Zeitung, hatte aber noch nicht ein einziges Mal umgeblättert. Rasiert war er auch noch nicht.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte ich.

Er murmelte irgendetwas.

»Ich nicht. Hatte mal wieder eine schlaflose Nacht.«

Mein Blick blieb auf der Rückseite seiner Zeitung hängen.

»›Ängstliche Haartracht‹, zehn Buchstaben. Dreadlocks. Ja!

Das muss einem erst mal einfallen, oder? Und was ist mit

›Berühmtheit, die jede Nacht einen Auftritt hat‹? VIP. Nein.

Star. Star! Gut, weiter, dreizehn Buchstaben: ›Wachsamer Typ, der jeden Tag verschläft..‹«

Charlie faltete die Zeitung zusammen, sodass ich das Kreuzworträtsel nicht mehr sehen konnte.

Kaum war ich im Büro, rief Meg an. Ihre Stimme klang belegt.

»Holly, ist es in Ordnung, wenn ich heute zu Hause bleibe?

Ich fühle mich hundeelend.«

»Natürlich, kein Problem«, antwortete ich. »Am besten, du legst dich mit einer Wärmflasche ins Bett. Kann ich irgendwas für dich tun?«