»Es ist wahrscheinlich nur ein Schnupfen plus Erschöpfung.

Ich kann einfach nicht so durchpowern wie du. Aber morgen bin ich wieder da. Das Problem ist nur, dass ich heute eigentlich in das Kaff bei Bedford rauffahren wollte, um mir unsere dortige Location anzusehen. Vielleicht können wir das verschieben. Ich glaube nicht, dass es so dringend ist.«

Im Geiste begann ich bereits, meine Termine neu zu organisieren. Vormittags hatte ich ein Gespräch mit einer Gruppe von Unternehmensberatern, aber das überschnitt sich nicht mit Megs Termin. Und die Besprechung mit den Computerleuten ließ sich nach hinten verlegen. »Das kann ich übernehmen.«

»Bist du sicher? Eigentlich möchte ich dir das nicht auch noch aufhalsen. Du arbeitest sowieso schon viel zu viel.«

»Nein, ehrlich. Das geht schon. Kein Problem. Überlass es einfach mir.«

Ein paar Jahre zuvor war ich mal längere Zeit solo und wurde –

obwohl ich mit meinen vierundzwanzig Jahren eigentlich noch nicht als alte Jungfer gelten konnte – ständig von Freunden eingeladen, die glaubten, jemanden gefunden zu haben, der mir wahrscheinlich gefallen würde. Diese Abende verliefen meist nicht sehr erfolgreich. Ich bin nicht besonders gut im Umsetzen von Plänen. Erfahrungsgemäß hat es keinen Sinn, nach den wirklich wichtigen Dingen im Leben bewusst Ausschau zu halten. Sie passieren am Rande unseres Gesichtsfelds, wenn wir glauben, gerade etwas ganz anderes zu tun. Deswegen war ich jedes Mal, wenn mir eröffnet wurde, dass X genau mein Typ sei, ein wenig entrüstet darüber, dass andere Menschen sich einbil-deten, genau zu wissen, welcher Typ zu mir passte. Meist endete so etwas damit, dass ich mich höchst angeregt mit der verheira-teten Frau mir gegenüber unterhielt und den wahrscheinlich sehr netten jungen Mann, der an meiner Seite platziert worden war, völlig ignorierte. Noch schlimmer fand ich es, wenn Freunde auf etwas subtilere Weise ans Werk zu gehen versuchten und ich nicht merkte, was sie im Schilde führten – oder erst Wochen später. Dann fühlte ich mich immer wie ein Fisch, der nicht angebissen hatte, weil ihm gar nicht klar gewesen war, dass es etwas zum Anbeißen gab. In einem Fall kam mir die Erleuch-tung im Nachhinein, als ich gerade im Begriff war, eine Kaffeetasse an den Mund zu führen. Ich hielt mitten in der Bewegung inne und sagte zu mir selbst: »Also das war der Grund für diese Einladung!«

Gelegentlich lief das Ganze auch andersherum. Ich war mal zum Abendessen bei einer Frau eingeladen, die ich eigentlich nur flüchtig kannte. Die drei oder vier anderen Gäste hatte ich überhaupt noch nie gesehen. Es handelte sich um einen jener seltenen Abende, an denen alles stimmte. Neben mir saß ein absolut umwerfender Mann, in jeder Hinsicht so perfekt, dass er mir fast wie eine Figur aus einem dieser lächerlichen Pornofilme vorkam. Er machte irgendeinen Traumjob, die Organisation von Segelregatten rund um die Welt oder so was in der Art, und war groß und braun gebrannt. Sogar an seinen Namen kann ich mich noch erinnern: Glenn. Ich nahm mir vor, ihn noch am selben Abend dazu zu bringen, sich unsterblich in mich zu verlieben, und zeigte mich von meiner besten Seite. Es schien, als könnte ich doppelt so schnell denken wie alle anderen, ich war ihnen stets einen Schritt voraus. Ich fühlte mich, wie sich wahrscheinlich eine Schauspielerin fühlte, wenn eine Aufführung besonders gut gelang und sie wusste, dass sie ihr Publikum im Griff hatte.

Als ich ging, glaubte ich, gerade den schönsten Abend meines Lebens verbracht zu haben. Ich war glücklich, und die Tatsache, dass ich das auch merkte, verstärkte dieses Glück.

Auf dem Heimweg fiel mir ein, dass ich Glenns Telefonnummer nicht hatte, und er meine auch nicht, aber das war ja kein Problem. Er konnte sich von unserer gemeinsamen Bekannten meine Nummer geben lassen, und Jahre später würden wir uns an jenen Abend erinnern und darüber lachen, wie wir uns kennen gelernt hatten – fast wie im Film. Auf jeden Fall war es ein so außergewöhnlicher Abend gewesen, dass wir uns wahrscheinlich alle bald wieder treffen würden. Ich schickte Annie eine fröhliche Postkarte, auf der ich mich für den wunderbaren Abend bedankte und auch eine frivole Bemerkung zum Thema Glenn fallen ließ. Es kam keine Reaktion. Weder von ihr noch von ihm. Etwa ein Jahr später traf ich Annie zufällig auf einer Party. Als ich das Abendessen erwähnte, murmelte sie lediglich etwas Unverständliches. Ich erkundigte mich auch nach Glenn, aber sie antwortete nur ganz vage, sie wisse nichts Genaueres.

Dann wurde sie regelrecht unfreundlich, blickte sich über meine Schulter hinweg im Raum um und ließ mich kurz darauf mit einer knappen Entschuldigung stehen.

Ich ging den Abend im Geiste immer wieder durch und be-mühte mich, ihn aus der Perspektive der anderen zu sehen. Hatte ich mir möglicherweise etwas vorgemacht? Mir nur eingebildet, besonders charmant zu sein, während ich in Wirklichkeit laut und aufdringlich war? Vergeblich versuchte ich, mich an die Reaktionen der anderen zu erinnern. Vielleicht war das genau das Problem gewesen. Vielleicht hatte ich sie gar nicht zu Wort kommen lassen.

Ich war nicht sicher, ob das nur mir so ging oder ob alle Menschen hin und wieder eine solche Diskrepanz zwischen ihren eigenen Gefühlen und denen ihrer Mitmenschen erlebten. Ich war der Meinung gewesen, Glenn hoffnungslos in mich verliebt gemacht zu haben, aber er hatte sich einfach in nichts aufgelöst.

Und nun dieser schreckliche Rees. Für mich nur ein spontaner, bedeutungsloser, im Nachhinein abstoßender One-Night-Stand.

Er dagegen schien zu glauben, dass wir dadurch auf ewig miteinander verbunden waren. Ich wusste nicht, ob er mich liebte oder hasste und welche der beiden Möglichkeiten die schlimmere war. All diese Diskrepanzen. Wenn doch nur die äußere Welt mit der in unserem Kopf übereinstimmen würde.

Oder zumindest die Welt in unserem eigenen Kopf mit der in den Köpfen unserer Mitmenschen.

Nichts passte zusammen. Du trägst Kopfhörer, bildest dir aber ein, in normaler Lautstärke zu sprechen, während um dich herum die Leute zusammenzucken, weil du so schreist. Die ganze Zeit ging das so. Ich wusste, dass die Dinge außer Kontrolle geraten waren, sowohl in meinem Leben als auch in meinem Kopf. In mir tobte ein richtiger Sturm. Am besten, ich machte alle Luken dicht und wartete einfach, bis er sich wieder gelegt hatte, genau wie Glenn es wahrscheinlich tat, wenn er mit einer seiner Yachten rund um die Welt segelte. Im Laufe des mittlerweile so legendären Abendessens hatte ich ihn nach dem schlimmsten Sturm gefragt, den er je erlebt habe, aber wie sehr ich auch mein Gehirn zermarterte, ich konnte mich nicht an seine Antwort erinnern. Wahrscheinlich hatte ich ihn gar nicht zu Wort kommen lassen.

So ist es im Leben immer. Wenn man sich wirklich wünscht, dass etwas gut läuft, endet es meist in einem Desaster. Ist es dir aber egal, dann scheint jeder von dir begeistert zu sein. Und genau deswegen lief die Präsentation vor einer Gruppe von Geschäftsleuten an diesem Vormittag – zu einer Zeit, als ich so viel anderes im Kopf hatte – wie geschmiert. Ich warf nicht einmal einen Blick auf meine Notizen, sondern trat einfach auf die Bühne und spielte meine Rolle. Der Mann, der mich vorgestellt hatte, wollte mich gar nicht mehr gehen lassen. Er sprach über das, was ich gesagt hatte, stellte mir Fragen über Geschäftsstrategien und schlug vor, ich solle doch mal bei ihnen im Büro vorbeikommen, damit ich sie bei der Arbeit sehen könne. Demnach hatten wir den Auftrag. Ich raste zurück ins Büro, besprach kurz ein paar Sachen mit Trish, während Lola den Mietwagen für mich organisierte, genehmigte mir noch schnell einen doppelten Espresso und sprang dann in den Wagen, der nach Leder, Kiefernnadeln und Sauberkeit roch.

Wie immer dauerte es eine Ewigkeit, aus London hinauszu-kommen. Allmählich führte ich das Leben einer Pendlerin, nur ohne das Haus auf dem Land. Nervös wechselte ich immer wieder die Fahrspur, obwohl die Autoschlangen alle gleich langsam dahinkrochen, ließ an jeder roten Ampel ungeduldig den Motor aufheulen und warf alle paar Minuten einen besorg-ten Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Irgendwie erschien es mir wichtig, dass ich pünktlich ankam, obwohl ich im Grunde genau wusste, dass es keine so große Rolle spielte.

An einer Ampel fuhr ich mit quietschenden Reifen los. Der Wagen, den ich hinter mir zurückließ, hupte wütend und ordnete sich an der nächsten Ampel neben mir ein. Durchs Fenster wetterte ein Mann zornig zu mir herüber, und dann, als könnte ich mir nicht vorstellen, was er brüllte, zeigte er mir auch noch den Mittelfinger. Die Frau neben ihm schrie ebenfalls irgendetwas. Einen Moment lang betrachtete ich ihr wutverzerrtes Gesicht, das aussah wie die Fratze eines dieser Wasserspeier.

Dann tippte ich mit dem Zeigefinger an meine Stirn und formte mit den Lippen das Wort »VERRÜCKT«. Ihre Gesichter wurden noch wütender. In dem Moment schaltete die Ampel um, und ich gab Gas. Der Verkehr hatte sich inzwischen etwas beruhigt.

Was dann passierte, ging so schnell, dass ich es gar nicht richtig mitbekam. Ehe ich mich versah, war der rote Escort an mir vorbeigeschossen und legte vor mir eine Vollbremsung hin, sodass ich gezwungen war anzuhalten. Der Mann stieg aus und stolzierte wie ein fetter, aufgeblasener Gockel auf mich zu. Ich öffnete die Tür und stieg ebenfalls aus.

»Ja?«, fragte ich.

»Du Miststück!«, schimpfte er. »Was, zum Teufel, soll das?«

Er trat näher. Ich blickte auf meine linke Hand hinunter. Meine Nägel wurden allmählich ein bisschen lang, dachte ich, ich musste sie abends unbedingt schneiden. Meine Finger krümmten sich zur Faust. Ich sah meinen Ehering, meine Knöchel, und ich sah seinen schreienden Mund. Dorthin verpasste ich ihm einen Schlag, verstärkt durch die ganze Kraft meiner Schulter: genau auf seine Lippen, um ihm auf diese Weise die Worte zurück in den Hals zu stopfen.

Er klappte einfach zusammen, ging auf dem Asphalt in die Knie.

»Nachtwächter!«, sagte ich. »Das ist die Lösung für das Kreuzworträtsel. Genau!«

Ich machte ein paar Schritte zurück. Hinter mir wurde es laut.

Die Frau war ebenfalls ausgestiegen und rannte hysterisch schreiend auf ihn zu. Er hob den Kopf. Sein Gesicht wirkte jetzt völlig ausdruckslos, mal abgesehen von der Tatsache, dass sein Mund vor Überraschung offen stand. Ich bemerkte, dass er Blut an den Zähnen hatte. Während er sich langsam aufrichtete, stieg ich in aller Ruhe in meinen Wagen und fuhr davon. Ich kam nicht mal zu spät.

Charlie und ich gingen mit Sam und Luke, Megs Cousin, ins Kino. Meg hatte ich auch gefragt, ob sie uns Gesellschaft leisten wolle. Sie hatte geantwortet, sie fühle sich schon viel besser und vielleicht werde sie tatsächlich mitkommen, aber dann sagte sie in letzter Minute ab, ohne den Grund zu nennen. Nach dem Film gingen wir noch zusammen zum Inder, wo ich allerdings nur so tat, als würde ich essen, indem ich die roten, öligen Fleischstü-

cke auf dem Teller hin und her schob und aus dem Reis kleine Häufchen machte. Vermutlich hatte ich in letzter Zeit ziemlich abgenommen. Ich hatte mich an diesem Morgen auf die Waage gestellt, aber sie funktionierte nicht richtig, beim ersten Mal zeigte sie viel zu wenig, beim zweiten Mal viel zu viel an.

Wahrscheinlich hatte ich irgendwas falsch gemacht. Oder vielleicht war ich im Begriff zu verschwinden und würde demnächst unsichtbar werden.

Irgendwann beugte Charlie sich zu mir und nahm meine Hand.

Ich zuckte zusammen und registrierte zum ersten Mal mit mäßigem Interesse, dass meine Knöchel ganz blau waren. Es dauerte einen Moment, bis mir der Mann wieder einfiel, den ich geschlagen hatte. Erst jetzt, nachdem mich die blauen Flecken an das Ganze erinnerten, begann mir die Hand wehzutun.

»Ihr solltet mal den anderen Typen sehen«, sagte ich. Die Jungs mussten lachen, und ich lachte ebenfalls, sogar noch lauter als sie.

Um halb elf waren wir wieder zu Hause. Sam und Luke kamen noch auf einen Kaffee mit herein. Kurz darauf klingelte es. Es war Naomi, die irgendetwas unter dem Arm hatte. »Vor zwei Stunden ist ein Päckchen für dich gekommen«, erklärte sie.

»Per Kurier. Ich musste den Empfang mit meiner Unterschrift bestätigen. Erst wollte ich es euch einfach in den Briefkasten stecken, aber es war zu breit. Außerdem habe ich mir gedacht, es könnte etwas Dringendes sein.«

»Danke.« Ich nahm ihr das Päckchen ab.

»Geht es dir nicht gut, Holly? Du siehst heute ganz schön fertig aus.«

»Ich fühle mich bloß ein bisschen abgespült. Abgekämpft meine ich natürlich. Komm doch rein. Vielleicht möchtest du auch einen Kaffee?«

»Störe ich euch denn nicht?«

»Je mehr wir sind, desto lustiger«, antwortete ich. Sie folgte mir ins Wohnzimmer und ließ sich zwischen Sam und Charlie nieder. Ich fand, dass sie an diesem Abend sehr hübsch aussah, rund und gesund wie eine wohl genährte, zufriedene Katze.

»Mach doch mal dein Päckchen auf«, sagte Luke.

Ich versuchte den gepolsterten Umschlag aufzureißen, der, wie sich herausstellte, mit diesem schrecklichen grauen Flusenzeug gefüllt war, das man dann überall in der Wohnung hat, und rammte mir bei dem Versuch eine Heftklammer in den Finger.

»Ich kann diese blöden Dinger nicht ausstehen!«, schimpfte ich.

»Die gehören doch verboten, genau wie Frischhaltefolie!«

»Komm, lass mich das machen«, sagte Charlie. Er nahm mir den Umschlag aus der Hand, öffnete ihn und fuhr mit der Hand hinein. »Was hast du eigentlich gegen Frischhaltefolie?«

»Sie ist –«, begann ich, aber dann blieben mir die Worte im Hals stecken.

»Was ist denn das?«, fragte Charlie.

Ich starrte auf das zarte schwarze Ding, das an seinen Fingern baumelte. Mir war plötzlich so heiß, als hätte ich Fieber. Ich spürte die Schweißtropfen auf meiner Stirn.

»Irgendein blöder Werbegag«, antwortete ich mit hoher, fröhlicher Stimme, während ich ihm den Slip aus der Hand riss.

»Wer sich das wohl wieder ausgedacht hat? Stellt euch vor, eine Schar mittelalterlicher, Anzug tragender Geschäftsmänner sitzt um einen glänzenden Tisch herum, und einer von ihnen sagt:

›Wir sollten allen unseren Kunden sexy Unterwäsche schicken.‹«

Naomi drehte den Umschlag um. »Für was soll denn da ge-worben werden, Holly?«

»Das ist ja gerade der Gag«, antwortete ich verzweifelt. Ich presste den Slip an meine Wange und stellte dabei fest, dass er nicht gewaschen war. Er roch nach mir. Ich spürte, wie es mir die Schamröte ins Gesicht trieb. »Die wollen, dass man sich fragt, was das Ganze zu bedeuten hat.«

»Das haben sie definitiv geschafft«, meinte Luke und kicherte.

»Bald darauf«, plapperte ich weiter, »schicken sie ein zweites Päckchen, und dann kapiert man, worum es geht. Das ist zur Zeit total angesagt. Der letzte Schrei. Im Büro bekommen wir dauernd solche Dinger, das geht mir langsam richtig auf den Keks. Und nun schicken sie mir das Zeug sogar schon nach Hause. Noch dazu eine ganz falsche Größe. Seht euch das an.

Das Ding passt mir doch nie im Leben, oder? Am besten, ich werfe es gleich in den Müll, oder was meint ihr?«

Charlie sagte gar nichts. Sein Blick war auf den Slip in meiner schweißnassen Hand gerichtet und dann auf mich.

10

Ich bestellte mir an der Bar einen gewürzten Tomatensaft.

Obwohl es erst zwanzig nach fünf war, wurde es draußen schon dunkel. Bald würde nicht mehr Herbst sein, sondern richtig Winter, mit kurzen grauen Tagen und langen schwarzen Nächten. In gewissen Stimmungen mag ich die Dunkelheit. Sie hat für mich dann nichts Beängstigendes, sondern eher etwas von einer Samtdecke, die mich schützend einhüllt.

»Hab ich es mir doch gedacht, dass ich dich hier finde!«

Als ich mich umdrehte, sah ich ein Gesicht, das ich zwar kannte, ohne das entsprechende Umfeld aber zunächst nicht einordnen konnte. Es war ein glattes, bleiches Gesicht, einge-rahmt von dunklem, streng zurückgebundenem Haar und durchaus attraktiv, auch wenn es im Moment gerade ziemlich feindselig wirkte. Der rote Mund war aufgerissen, und Worte quollen heraus.

»Holly Krauss. Schwenkt hier ihren Drink, als gäbe es nichts auf der Welt, weswegen sie sich Sorgen machen müsste.«

»Deborah«, sagte ich verblüfft. »Was machst du denn –«

»Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass du mich nicht wiedersiehst, oder? Ich habe dir doch gesagt, dass du mich so leicht nicht loswirst.«

»Was willst du?«

»Was ich will? Was ich will? Ich will meinen Job wiederha-ben. Ich will meine Wohnung behalten. Ich will meine Selbstachtung zurück. Und ich will eine Entschuldigung. Ich will, dass du zu Kreuze kriechst. Und wenn du das nicht tust, dann will ich nur noch eins: dich fertig machen. Und das werde ich, du wirst schon sehen.«

Ich brachte ein Achselzucken zustande, von dem ich hoffte, dass es möglichst desinteressiert wirkte. »Wenn du etwas zu sagen hast, dann musst du mit unserem Anwalt sprechen.«

»Ja, ja, das haben wir schon. Aber ich wollte auch mit dir sprechen. Persönlich. Du kannst nicht einfach das Leben eines Menschen ruinieren und dann erwarten, dass es damit getan ist, das Ganze einem Anwalt zu übergeben.«

Ich sah in ihr cremeweißes Gesicht mit den markanten Augenbrauen und dem roten Mund. »Hör zu, Deborah, ich möchte das hier nicht besprechen –«

»Du möchtest es nicht besprechen«, unterbrach mich Deborah.

»Du möchtest es nicht besprechen? Arme Holly.«

Sie trat einen Schritt vor, während ich einen zurückwich, sodass ich mit dem Rücken an der Bar klebte.

»Ich glaube, du brauchst Hilfe«, sagte ich. »Ärztliche Hilfe.«

Ihr ganzes Gesicht schien vor Wut zu beben. Es war, als würde eine Maske aufreißen. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden.

»Wie kannst du es wagen zu behaupten, mit mir sei etwas nicht in Ordnung?«, fauchte sie. »Wie kannst du es wagen? Erst feuerst du mich, und dann unterstellst du mir, ich sei krank im Kopf. Das Einzige, was mich krank macht, bist du!«

Mit diesen Worten hob sie die Hand und holte dabei wütend in meine Richtung aus. Dabei schlug sie mir das Glas aus der Hand, sodass mein Tomatensaft in hohem Bogen durch die Luft flog und anschließend auf uns beiden landete. Ich sah Deborah an. Sie hatte einen großen roten Fleck auf ihrer weißen Bluse, und ihr Gesicht war übersät mit dicken roten Safttropfen.

»Oje! Jetzt siehst du aus wie ein Jackson-Pollock-Gemälde«, stellte ich fröhlich fest.

»Holly, alles in Ordnung? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Vor mir stand ein großer, schlaksiger Mann mit einer Haken-nase, ein wenig eng beieinander liegenden Augen und einem Schopf aus blondem, bereits leicht ergrauendem Haar. Weißes Hemd, schwarze Lederjacke, graue Cordhose, geschnürte, knöchelhohe Wildlederschuhe. Stuart vom Wochenende. Der Mann, der zu früh ejakulierte und sich in Gegenwart seiner Söhne unsichtbar fühlte. Ich lächelte ihn an. Ausnahmsweise freute ich mich mal, einen Kunden außerhalb der Bürozeiten zu treffen. »Ich wette, ich weiß, wo alle Ihre Möbelstücke her-stammen«, sagte ich mit einem Kichern, das sogar in meinen eigenen Ohren ein wenig verrückt klang.

»Meine Möbelstücke? «

»Gap. Zumindest ist das da ein klassisches Gap-Shirt. Und ja, nachdem Sie schon fragen, Sie können tatsächlich helfen. Sagen Sie doch bitte Deborah – das hier ist übrigens Deborah –, dass sie mir einen neuen Tomatensaft bestellen soll. Dann verzichte ich darauf, ihr die Reinigungsrechnung zu schicken.«

»Ist das auch wieder einer von deinen Liebhabern?«, fragte Deborah. »Du hast wohl eine ganze Sammlung, oder? Passen Sie bloß auf«, fügte sie an Stuart gewandt hinzu. »Sobald Sie keine Verwendung mehr für Sie hat, kickt sie Sie einfach in den Müll.«

»Wir kommen zu spät zu der Ausstellung, Holly«, sagte Stuart, obwohl er gerade fasziniert Deborah anstarrte. »Ziehen Sie Ihren Mantel an, dann können wir gehen.«

»Ich bin noch nicht mit dir fertig«, erklärte Deborah, während ich in meinen Mantel schlüpfte. »Wart’s nur ab. Du kannst nicht aus einer Laune heraus das Leben eines Menschen ruinieren und dann einfach davonmarschieren.«

Ich nahm Stuart am Arm. »Lassen Sie uns gehen.«

»Auf Wiedersehen«, sagte er mit seltsam ritterlicher Förm-lichkeit zu Deborah. »Es tut mir Leid, dass wir uns unter solchen Umständen kennen gelernt haben.«

»Ach, hören Sie doch auf.«

Er zögerte einen Moment. Noch immer starrte er in Deborahs wütendes, schönes Gesicht. Dann wandte er sich zum Gehen.

»Ich mache dich fertig!«, rief sie uns nach. »Glaub nur nicht, dass du mir ungestraft davonkommst, du Miststück!«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich draußen auf der Straße zu Stuart und ließ seine Hand los. »Bestimmt haben Sie jetzt eine fürchterliche Meinung von mir.«

»Unsinn, es hat mir Spaß gemacht, Sie wie ein Ritter aus einer misslichen Lage befreien zu können. Was haben Sie dieser Deborah denn so Schlimmes angetan?«

»Ach, da ging’s bloß um ein Problem im Büro.«

»Hmm. Das klang eben aber nach einem Problem, das ein wenig außer Kontrolle geraten ist.«

»Ja«, sagte ich. Erst jetzt merkte ich, dass ich ganz wackelige Knie hatte. »Sie haben wahrscheinlich Recht. Und vielleicht hatte Deborah auch Recht, als Sie mich ein Miststück nannte.

Ich weiß es nicht.«

»Was wirft sie Ihnen vor?«

»Hauptsächlich, dass ich sie entlassen habe. Es blieb mir nichts anderes übrig. Wir sind nur eine kleine Firma, ein bisschen wie eine Familie. Wir müssen uns aufeinander verlassen können, oder das Ganze bricht zusammen. Aber ich weiß, dass ich oft zu sehr auf Konfrontationskurs gehe. Kompromisse sind nicht gerade meine Stärke. Charlie sagt immer, dass ich bei Streitgesprächen grundsätzlich den ersten Teil überspringe, der eigentlich aus ruhiger, vernünftiger Argumentation bestehen sollte, und gleich die schweren Geschütze auffahre. Aber ich denke, wir sollten versuchen, zu irgendeiner Art von Einigung zu kommen. Wenn wir monatelang herumstreiten, noch dazu über unsere Anwälte, sind wir am Ende alle Verlierer. Zumindest weiß ich, dass Meg und Trish das so sehen.«

»Kann ich vielleicht irgendwie helfen? Ich könnte als Vermittler fungieren. Selbstverständlich ohne Anwaltshonorar.«

»Nein, nein, lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen. Ein wirklich nettes Angebot von Ihnen, aber das Ganze ist meine Schuld und mein Problem, und wenn jemand sich darum kümmern muss, dann bin ich das.«

»Ganz im Gegenteil. Meiner Meinung nach sind Sie die dafür am wenigsten geeignete Person. Außerdem ist das mein Job. Ich kümmere mich um Personalprobleme. Lassen Sie es mich machen, einfach als Freundschaftsdienst.«

»Es würde nicht funktionieren. Sie haben doch gesehen, wie sie war.«

»Sehr wütend«, gab Stuart mir Recht. »Lassen Sie es mich wenigstens versuchen. Haben Sie ihre Telefonnummer?«

»Nein. Aber Trish hat sie.«

»Trish?«

»Im Büro. Sie kann sie Ihnen geben. Oder Sie schlagen die Nummer einfach im Telefonbuch nach – ihr Name ist Deborah Trickett, und ich weiß, dass sie in Kensington wohnt. Willow Lane, glaube ich.«

»Deborah Trickett, Willow Lane«, wiederholte er.

»Ich halte das für keine sehr gute Idee.«

»Es ist eine Herausforderung.«

»Hören Sie, Stuart, ich glaube, ich sollte jetzt nach Hause fahren.«

»Aber Sie wollten doch mit zu der Ausstellung. Das war vorhin keine geniale Improvisation von mir. Ich bin tatsächlich unterwegs zur Vernissage eines Freundes. Die Galerie ist gleich da vorn, am Ende der Straße. Kommen Sie doch mit. Das wird bestimmt nett.«

»Sehr lieb von Ihnen, vielleicht an einem anderen Tag, aber ich hatte in letzter Zeit sehr viel um die Ohren, und ich glaube nicht, dass ich heute in der richtigen Verfassung für so etwas bin. Irgendwie habe ich gar keine Energie mehr.«

»Das klingt aber so gar nicht nach Ihnen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind doch sonst so ein Energiebündel. Das war einer der Gründe, warum ich mit Ihnen sprechen wollte. Dieses Wochenende mit Ihnen hatte etwas ganz Besonderes. Es lag nicht an dem, was wir getan haben. Diese dämliche Floßfahrerei machen andere wahrscheinlich auch. Trotzdem sind die Leute bei uns in der Firma immer noch ganz enthusiastisch. Das haben Sie bewirkt.«

»Also gut«, sagte ich. »Ich komme für eine halbe Stunde mit.«

Ich zog meine Umhängetasche, die mir von der Schulter gerutscht war, wieder hoch. Meine Knöchel schmerzten, und ich hatte Wasserblasen an den Fersen. Mein Gesicht kribbelte ein wenig, als wäre es mir eingeschlafen, aber ich glaube nicht, dass einem wirklich das Gesicht einschlafen kann. Ich wollte mir die Wange reiben, fasste jedoch irgendwie daneben und versetzte mir selbst einen Nasenstüber.

»Was für eine Art Freund ist er?«

»Was für eine Art Freund? Na ja, er ist …«

»Nein, ich meine, was für eine Art Ausstellung?«

»Oh, Kunst im weiteren Sinn. Objekte aus … Sie wissen schon, aus allen möglichen Sachen. Es ist ein bisschen schwierig zu beschreiben. Manche davon sind sehr schön, wenn auch auf eine ganz eigene Weise.«

»Wunderbar«, sagte ich. »Dann nichts wie los.«

Ich stolperte gleich beim ersten Schritt. Stuart streckte geistes-gegenwärtig den Arm aus, um mich zu stützen, und musterte mich dann prüfend. »Vielleicht sind Sie wirklich ein bisschen müde.«

»Nein, es geht schon wieder. Ich bin fest entschlossen mitzukommen.« Meine Begeisterung klang aufgesetzt, ihm war bestimmt klar, dass ich eigentlich gar keine Lust hatte.

»Es ist gleich da vorn, auf der linken Seite. Die Oryx Gallery.«

»Die kenne ich. Vor ein paar Wochen haben sie da mal Schuhe ausgestellt, die ganz aus Essen bestanden.«

»Gehen Sie immer so schnell?«

»Ist das schnell?«

»Wir müssen kein Rennen gewinnen, Holly.«

»Doch, ein Rennen gegen die Zeit. Wir können gewinnen.

Aber nun sind wir ja schon da. Brauchen wir eine Einladung, um reinzukommen?«

»Ich hab eine. Für zwei Personen.«

»Für zwei? Hat Sie jemand versetzt?«

»Ich habe jemanden versetzt.«

»Aha.«

Er schob die Tür auf, und einen Moment später hatten wir die Leute auf der Straße, den Wind und Regen hinter uns gelassen und traten in einen hellen Kokon aus leuchtend weißen Wänden, glänzenden Bodendielen und Reihen von Scheinwerfern, die entlang der Decke verliefen und deren Licht von den schim-mernden Holzflächen darunter reflektiert wurde. Der Raum war von leisem Stimmengewirr erfüllt. Ich nahm von einem Tablett, das mir hingehalten wurde, ein edel geformtes Glas, das bis zum Rand mit kühlem gelbem Wein gefüllt war, und schloss mich der Menge an.

»Cheers«, sagte Stuart in dem ironischen Ton, der bei ihm anscheinend ganz normal war. »Wie wäre es übrigens, wenn wir uns duzen würden?«

»Gerne«, antwortete ich. »Cheers!« Ich hob mein Glas, das im Licht der Scheinwerfer richtig schön funkelte, und nahm dann einen großen Schluck. »So, nun wollen wir uns mal die Arbeiten deines Freundes ansehen. Ist er hier? Welcher ist es? Und wie heißt er?«

»Laurie. Er hält sich wahrscheinlich im Raum nebenan auf oder versteckt sich in dem Pub am Ende der Straße.«

»Die Sachen gefallen mir«, sagte ich. »Wirklich. Das da hätte ich gern auf meinem Kaminsims stehen. Ich werde übrigens nicht mit dir schlafen.«

Stuart schien sich verschluckt zu haben. Er hustete so heftig, dass ich ihm auf den Rücken klopfen musste.

»Ich bin mit einem Mann namens Charlie Carter verheiratet«, fuhr ich fort, nachdem er sich einigermaßen gefangen hatte. »Ich glaube, das hatte ich dir schon erzählt. Er ist Künstler, auch wenn ich finde, dass er Klempner werden sollte. Schau, ich trage einen Ring.«

»Ja, ich sehe es.«

»Obwohl ich ihn manchmal abnehme. Vielleicht sollte ich das nicht tun.«

»Du wirkst nicht wie eine verheiratete Frau.«

»Was soll das heißen? Eine verheiratete Frau. Es gibt wahrscheinlich eine Menge viktorianischer Romane, die so ähnliche Titel haben. Ich weiß jedenfalls nicht genau, was es heißt.

Bedeutet es vielleicht, dass ich Biskuitkuchen backen und mit

… mit Konfitüre und Sahne füllen sollte? Und in der Küche eine Schürze tragen? Und herumlaufen und ›Ich bin Holly-und-Charlie‹ sagen? Und ihn immer anrufen und um Erlaubnis bitten, wenn ich etwas unternehmen möchte, so wie jetzt?« Ich zog mein Handy aus der Tasche und schwang es durch die Luft.

Ein wenig Wein schwappte aus meinem Glas. »Vielleicht sollte ich ihn jetzt wirklich anrufen und fragen, ob er seiner Frau gütigerweise erlaubt, mit einem Mann mittleren Alters, der Stuart heißt und Gap-Hemden trägt, eine Kunstgalerie zu besuchen. Sieh mal, das da drüben gefällt mir, das mit dem polierten Metall. Es wirkt irgendwie weich, obwohl es gleichzeitig so funkelt. Man bekommt richtig Lust, es anzufassen, findest du nicht?«

Stuart warf mir einen bösen Blick zu, leerte sein Glas in einem Zug und knallte es dann auf ein Tablett, das gerade vorbeigetra-gen wurde. »Bist du immer so grob?«

»Bin ich das?« Ich steckte mein Handy wieder in die Tasche, wo es gleich darauf zu vibrieren begann, was ich aber ignorierte.

»Tut mir Leid. Ich möchte wirklich nicht grob zu dir sein. Ich hab dir ja gesagt, dass ich ein bisschen müde bin, das ist alles.

Ich bin halt eine Idiotin, eine richtige Närrin. Ich mag dich.

Findest du nicht auch, dass man manchmal Leute kennen lernt, bei denen man sofort weiß, ob man mit ihnen befreundet sein könnte oder nicht? Das ist, als würde es Klick machen. Weißt du, was ich meine? Es heißt immer, der wichtigste Moment in einer Beziehung ist die erste Sekunde oder so – aber vielleicht gilt das nur für Liebespaare. Ich weiß auch nicht so recht, ob das ein wunderbarer oder ein erschreckender Gedanke ist. Jedenfalls gibt es einem nicht gerade das Gefühl, großen Einfluss auf diese Dinge zu haben, oder? Nein, wahrscheinlich nicht. Ist das dein Künstler, der uns da zuwinkt? Mein Gott, ist der groß! Fast schon ein Riese. Kann es sein, dass das irgendwie ein bisschen lächerlich aussieht, oder sehen neben ihm alle anderen lächerlich aus?«

»Ja, das ist Laurie.«

Auf dem Weg zu ihm kamen wir an einer großen Frau mit einer prächtigen Mähne roten Haars vorbei, die gerade eine der Skulpturen betrachtete. An ihre Begleiterin gewandt, sagte sie mit lauter, klarer Stimme: »Ziemlicher Schrott, findest du nicht auch?«

Ich sah, wie Lauries freundliches, eben noch lächelndes Gesicht plötzlich einen völlig leeren Ausdruck annahm, als hätte jemand einen Schwamm genommen und auch noch die letzten Spuren von Freude weggewischt. Selbst seine Augen schienen sich in tiefe, ausdruckslose Höhlen zu verwandeln. Ich trat auf ihn zu und starrte zu ihm hinauf. »Ich finde Ihre Skulpturen wundervoll«, sagte ich noch lauter als die Frau. »Wirklich wundervoll. Wahrscheinlich fehlt manchen Leuten das richtige Verständnis dafür, aber mir gefallen sie so gut, dass ich unbedingt eine kaufen muss. Die da drüben.« Ich machte eine Handbewegung in die entsprechende Richtung.

»Das freut mich aber.« Die Farbe kehrte in sein Gesicht zu-rück. »Ich stelle Ihnen gleich meine Agentin vor. Da kommt sie gerade.«

Hinter mir hörte ich Stuart in warnendem Ton flüstern, dass die Sachen sehr teuer seien, aber ich ignorierte ihn einfach.

»Ich kann Ihnen einen Scheck ausstellen«, sagte ich. Wieder fing mein Telefon in meiner Tasche zu vibrieren an. »Oder eine Anzahlung machen. Wie es Ihnen lieber ist. Aber das bespreche ich am besten mit Ihrer Agentin, oder?«

»Holly?«, fragte Stuart noch einmal. Er hatte es irgendwie geschafft, zwei weitere Gläser Wein zu organisieren, eines mit Rotwein, eines mit Weißwein, und trank aus jedem jeweils einen großen Schluck. »Bist du sicher –«

»Absolut. Wozu verdient man Geld, wenn nicht zum Ausgeben?«

Eine halbe Stunde später suchte ich die Toilette auf. Mein Kopf fühlte sich seltsam hohl an, und an der linken Wange hatte ich ein lästiges nervöses Zucken. Eine der Kabinen war bereits besetzt, und die betreffende Dame hatte ihren Brokatschal und ihre teuren Lederhandschuhe auf der Seite abgelegt. Ich erkannte die Sachen wieder, sie gehörten dem rothaarigen Monster mit der lauten Stimme, das Laurie so beleidigt hatte. Mein Herz begann wie wild zu klopfen, ich bekam vor Aufregung kaum noch Luft, und mir brach der Schweiß aus. Gleichzeitig erheiter-te mich mein Vorhaben derart, dass mir ein leises Glucksen entwischte, ehe ich nach dem Schal und den Handschuhen griff und die Sachen in meine Tasche stopfte. In dem Moment wurde drinnen die Spülung betätigt, und ich verließ eilig den Raum.

»Ich muss gehen«, erklärte ich atemlos, als ich wieder bei Stuart war.

»Aber wir –«

»Tut mir Leid, ein Notfall. Ich rufe dich an, oder du kannst mich in der Arbeit anrufen. Morgen oder übermorgen. Ich würde mich freuen, wenn wir bald mal wieder etwas miteinander unternehmen könnten. Bis dann!«

Während ich mit meiner dicken Tasche unter dem Arm aus der Galerie stürmte und die Straße entlangrannte, schüttelte es mich vor Lachen. In den schmalen Straßen musste ich Radfahrern und Taxis ausweichen und wurde mehrmals angehupt. Irgendwann begann mein Handy von neuem zu vibrieren, und diesmal fischte ich es aus der Tasche. Es war Charlie, und er war schrecklich wütend. »Holly, ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen. Wo, zum Teufel, bist du?«

»O Gott.« Ein Gefühl von Verzweiflung packte mich. Ich blieb wie angewurzelt stehen und blickte mich auf der dunklen, mit Müll übersäten Straße um, starrte auf die Pfützen schwefeli-gen Lichts, um die sich dubios aussehende Männer scharten.

»O nein!«

»Du hast es vergessen.«

»Nein! Ja. Oh, Mist. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Wie spät ist es?«

»Fast neun. Ich sitze hier schon seit fünfundvierzig Minuten herum.«

Ich blieb am Telefon, bis ich zu Hause war, und entschuldigte mich immer wieder.

11

»Was wir brauchen«, sagte Charlie, »ist ein Plan.«

»Ein Plan?«

»Das war heute nicht gerade ein produktiver Tag.«

Wenn wir jetzt schon das Stadium erreicht hatten, in dem ich mich darauf verlassen musste, dass Charlie für uns die Planung übernahm, dann steckte ich wirklich in Schwierigkeiten.

Jedenfalls war das mein erster Gedanke. Mein zweiter war, dass Charlie wahrscheinlich Recht hatte. Es war Samstag, der Tag, nachdem ich mit Stuart diese schreckliche Ausstellung besucht und darüber eine Verabredung mit meinem Ehemann vergessen hatte. Ein weiterer Abend, an dem ich Spaß gehabt hatte.

Mittlerweile war es Nachmittag, schon zehn nach vier. Und was hatte ich als Tagwerk vorzuweisen?

Nicht sehr viel. Ich hatte einen Traum gehabt, in dem ich im Begriff war, zu einer Reise aufzubrechen. Ich weiß nicht, ob ich auswandern oder nur in Urlaub fahren wollte, aber das spielte auch keine Rolle. Ich konnte weder mein Ticket noch meinen Pass finden, und mein Reiseziel hatte ich ebenfalls vergessen.

Und dann stellte ich fest, dass ich noch nicht einmal gepackt hatte, obwohl ich sicher gewesen war, das bereits getan zu haben, sodass ich ganz von vorn anfangen musste. Ich konnte keine Tasche für meine Sachen finden, und ein weiteres Problem bestand darin, dass der Boden mit Haferbrei bedeckt war, was zur Folge hatte, dass ich nur sehr langsam vorankam. Ich sah immer wieder auf die Uhr, weil ich befürchtete, mich zu verspäten, konnte auf dem Zifferblatt aber nichts erkennen.

Dann wachte ich auf. Mein vergeblicher Versuch, im Traum meine Sachen zu packen, war so ziemlich das Produktivste, was ich an diesem Tag zustande gebracht hatte.

Neben dem Bett stand eine Tasse kalter Tee. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass Charlie ihn mir vor Stunden gebracht hatte. Ich hatte vorgehabt aufzustehen und aktiv zu werden, es aber nicht geschafft. Dabei fühlte ich mich gar nicht so schlecht wie erwartet. Ich war nicht richtig krank. Allerdings hatte ich einen widerlichen Geschmack im Mund, und meine Haut fühlte sich ein wenig heiß an, was bei mir Anzeichen für eine nahende Grippe sind. Ich schaffte es einfach nicht aufzustehen. Vielleicht brauchte ich nur ein bisschen mehr Zeit. Während ich so dalag, stellte ich weitere Symptome fest. Mein Brustraum schmerzte, und das Atmen fiel mir schwer, als gäbe es zu wenig Sauerstoff im Raum. Mit einem plötzlichen Gefühl von Panik rang ich nach Luft, so als wären meine Lungen zu klein für die Luftmenge, die ich brauchte. So ähnlich musste es sein, wenn man ertrank, verzweifelt die Luft anhielt, sich vor Atemnot krümmte und schließlich doch keine andere Wahl hatte, als das Wasser in seine Lunge zu saugen. Einen Moment lang keuchte und hustete ich, dann bekam ich wieder Luft.

Ich nahm einen Schluck von dem kalten Tee und zog mir anschließend die Decke über den Kopf. Hatte ich davon nicht schon seit Tagen geträumt? Mich unter meiner Bettdecke zu verkriechen, wo ich mich sicher und geborgen fühlen konnte?

Meine Haut war klamm, und ich zitterte. Ich wollte mich noch fester in die Decke wickeln, musste jedoch feststellen, dass sie unter dem Bezug mal wieder völlig verdreht war. Mit diesem Problem kämpften wir schon seit Monaten. Wir hatten aus Versehen ein Bett gekauft, das zu klein war für unsere Bezüge, sodass es darin herumrutschte wie eine Erbse in einer zu großen Hülse. Das hatte zur Folge, dass es Stellen gab, die zwar aussahen wie eine Bettdecke, aber nicht wärmten, weil sie nur aus Bezug bestanden. Noch schlimmer war, dass sich das Innenleben in dem Bezug ständig verdrehte. Im Moment war es gerade besonders extrem. Frustriert zerrte ich am Saum des Bettbezugs. Am liebsten hätte ich das ganze Bett in kleine Stücke gerissen und angezündet, damit es mich nie wieder derart zur Weißglut bringen konnte, aber stattdessen wickelte ich es bloß so fest wie möglich um meinen Körper.

Wenn ich sonst im Bett liege und nicht schlafe, nutze ich die Zeit, um Pläne zu machen, aber an diesem Samstag wollte mein Gehirn einfach nicht richtig funktionieren. Die Art, wie ich immer wieder über bestimmte Dinge nachdachte, erschien mir sehr unproduktiv. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, aß ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben Artischocken. Der Großteil meiner Erinnerungen an Familienessen während meiner Kindheit sind ziemlich absurder Natur. Oft lag mein Vater irgendwo in einem abgedunkelten Raum, roch seltsam medizinisch und war »krank«. Später verschwand er dann ganz. Bei der speziellen Gelegenheit war er nicht anwesend, und es gab jenes seltsame Gemüse, das meine Mutter vom Markt mitgebracht hatte. Ich war so aufgeregt wegen meiner Artischocke und der ganzen Prozedur, sie abzuzupfen und in geschmolzene Butter zu tauchen, dass ich viel zu schnell und zu viel aß. Ich weiß noch, wie ich zum Schluss die letzten Reste von den Blättern nagte. In der Nacht wachte ich auf und musste mich mehrfach übergeben. Meine Mutter leistete mir Beistand, legte immer wieder ihre kühle Hand auf meine heiße Stirn. Ich fragte sie, ob ich sterben müsse. Seltsamerweise kann ich mich an ihre Antwort sehr genau erinnern. Sie sagte nicht »Nein«, wie es jede normale Mutter getan hätte, sondern: »Natürlich, Holly, wir müssen alle mal sterben. Aber bis dahin hast du noch eine Menge Zeit.« Darüber habe ich später noch oft gelacht.

Seit jener schrecklichen Mahlzeit, die mir so wundervoll erschien, während ich sie zu mir nahm, verursacht mir allein schon der Gedanke an Artischocken ein flaues Gefühl. Wenn ich in einem Geschäft eine entdecke, schwappt eine Welle der Übelkeit durch meinen Körper. Als ich nun die Ereignisse der letzten Wochen erneut im Geiste durchging, war es, als würde ich meine Arme in etwas Ekliges, Stinkendes, langsam vor sich Hinfaulendes tauchen. Während ich, eingehüllt in eine nutzlose Bettdecke, vor Kälte zitternd dalag, kam es mir vor, als hätte ich jene Artischocke ein weiteres Mal zu mir genommen. Ich war herumgelaufen, hatte unersättlich von allem gekostet und nun das Gefühl, dass es mich krank gemacht und alles Gute aus mir herausgepresst hatte. Alle meine Handlungen erschienen mir nur noch schlecht, und zwar in jeder Hinsicht. Meine widerliche Nacht mit … Ich versuchte, weder an seinen Namen noch an sein Gesicht zu denken, aber dann zwang ich mich, es als eine Art Buße doch zu tun. Ich konnte überhaupt nicht mehr nach-vollziehen, wie ich hatte zulassen können, dass jemand all das mit mir tat. Das Wissen, dass dieser Mann nun ein Teil meines Lebens war, erfüllte mich mit großer Angst. Er hatte mich bereits im Büro belästigt und mir meinen Slip geschickt, und ich wusste, dass es noch schlimmer kommen würde.

Der Rest meiner jüngeren Vergangenheit hatte sich nicht ganz auf diesem Niveau abgespielt, war aber möglicherweise davon beeinflusst worden. Ich schien durch meine Tage gestürmt zu sein, ohne nachzudenken – wie ein Mensch, der am Rande eines Abgrunds dahinlief. Nun endlich wagte ich es hinunterzublicken. Alles sah plötzlich ganz anders aus, als es mir zu der betreffenden Zeit erschienen war. Einiges stach mir als besonders schlimm ins Auge: das Fenster, das zu Bruch gegangen war, der Mann, den ich geschlagen hatte. Rückblickend schien es mir, als hätte ich mein halbes Leben damit zugebracht, Menschen anzuschreien, Streit anzuzetteln oder einfach nur laut vor mich hin zu quasseln. Und was war mit der unglückseligen Deborah, die ich so überstürzt gefeuert hatte? Was wollte ich damit erreichen? Ich hatte mich mit der ganzen Situation nicht richtig auseinander gesetzt, wollte lediglich vor Meg eine Show abziehen, um ihr zu zeigen, dass ich etwas konnte, was ihr nicht gelang. Im Grunde war das Ganze aus purer Angabe geschehen, und nun wurde ich dafür bestraft.

Ich startete ein Experiment, versuchte herauszufinden, ob ich mich in letzter Zeit auch mal auf eine Weise benommen hatte, die mir nicht gleich ein ungutes Gefühl verursachte. Da war beispielsweise mein Verhalten gegenüber Charlie, das ja an sich schon ein riesiges Problem darstellte. Ich hatte ihn belogen, betrogen, versetzt. War womöglich auch mein Bemühen, ihm bei seiner blöden Steuererklärung zu helfen, für mich nur ein Weg gewesen, ihm zu zeigen, dass ich – abgesehen von allem anderen – auch seine eigene Arbeit besser machte als er selbst?

Beim Gedanken an meine Arbeit kam mir sofort die Galle hoch, und einen Moment lang war ich kurz davor, mich zu übergeben. Mein Job hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Table-Dancing: Ich sorgte dafür, dass die Kerle ihren Spaß hatten, und wusste genau, wie ich sie dazu bringen konnte, mir im übertragenen Sinn die Zehn-Pfund-Noten unter den String zu schieben.

Das war nichts, worauf man stolz sein konnte. Ganz im Gegenteil. Einen Moment lang stellte ich mir dieses Bett in Archway als mein Totenlager vor. Wenn ich hier am Ende meines Lebens läge, wie würde ich dann auf meine berufliche Laufbahn zurückblicken? Ich hatte erschöpfte Businessmenschen unterhalten und dafür gesorgt, dass sie mit einem etwas besseren Gefühl in ihre beschissenen Firmen zurückkehrten. Dabei wäre es wahrscheinlich sinnvoller gewesen, ihre Büros in die Luft zu sprengen. Alles wäre sinnvoller gewesen als der Job, den ich machte. Am besten, ich schmiss alles hin, gab das Haus an die Baufirma zurück und erlernte einen ordentlichen Beruf.

Über diese Idee musste ich fast selbst lachen. Mir fiel die Zeile aus »Goodbye Yellow Brick Road« ein, in der es darum ging, wieder das Land zu bestellen. Ja, genau. Das war die Lösung für all meine Probleme, und diese Lösung war noch lächerlicher als mein Leben selbst: Charlie würde Klempner werden und ich Tischlerin.

Allmählich nervten mich meine eigenen Gedanken derart, dass ich beschloss, doch aufzustehen. Ich ging unter die Dusche, wusch mir das Haar und kratzte mir bei der Gelegenheit mit den Nägeln die Kopfhaut auf. Hinterher suchte ich erst in unserem Badezimmerregal und dann im Schrank mit all meinen lächerlichen Cremes und Lotionen nach der Nagelschere, konnte sie aber nicht finden. Ich rief zu Charlie hinunter, ob er wisse, wo sie sei, worauf er irgendetwas zurückschrie, auf das ich ihm eine pampige Antwort gab. Charlies Angewohnheit, die Nagelschere überall außer im Bad zu benutzen, steht auf meiner Liste seiner zwanzig schlimmsten Macken ungefähr auf Platz vierzehn. Eine Folge davon ist, dass sich im Bett ständig spitze kleine Halb-monde in meine Haut bohren, eine andere, dass ich die Nagelschere nie finden kann, wenn ich sie brauche. Ich brüllte zu Charlie hinunter, dass ich eine neue Nagelschere kaufen würde, die nur ich allein benutzen durfte. Er gab mir keine Antwort. Am Ringfinger hatte ich einen besonders langen, rauen Nagel, mit dem ich ständig an meinen Klamotten hängen blieb.

Ich biss daran herum, bis er einriss, und zog ihn dann seitlich weg. Natürlich erwischte ich den falschen Winkel, sodass der Nagel viel zu weit unten abbrach, was höllisch wehtat und außerdem ein Stück des Nagelbetts freilegte, das sofort zu bluten begann. Hinzu kam, dass es fürchterlich aussah. Ich war gezwungen, auf der anderen Seite auch noch ein Stück abzubei-

ßen, damit es einigermaßen gleichmäßig wirkte. Nun würde der Nagel mindestens zwei Wochen brauchen, bis er so weit nachgewachsen war, dass ich ihn das nächste Mal schneiden konnte.

Charlie – oder Gott – hatte die Nagelschere irgendwo versteckt, und ab da wurde es nur noch schlimmer. Nachdem ich nicht vorhatte, an diesem Tag das Haus zu verlassen, hielt ich es auch nicht für nötig, mich richtig anzuziehen. Ich schlüpfte lediglich in irgendein Sweatshirt und eine der alte Jogginghosen, die man in der Taille mit einer Kordel zusammenhielt. Während ich am einen Ende anzog, verschwand das andere im Loch am Bund. Entnervt stöhnte ich auf. Ich versuchte, das fransige Ende der Kordel aus dem Loch herauszubekommen, aber es war schon zu weit hineingerutscht. Als Nächstes probierte ich, den Bund zusammenzuschieben, um die Kordel auf diese Weise zurück in Richtung Loch zu befördern, aber das funktionierte auch nicht. Ich konnte die Kordel zwar spüren, kam aber nicht an sie ran. Irgendwann hatte man mir mal beigebracht, wie man mit einer solchen Krise fertig wurde: Man brauchte dazu lediglich eine Nadel, eine ruhige Hand und ein bisschen Geduld.

Leider verfügte ich weder über das eine noch das andere. Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg. Wahrscheinlich würde mich gleich der Schlag treffen. Die Welt der unbelebten Materie hatte sich offenbar gegen mich verschworen: die Bettdecke, die Nagelschere, die Jogginghose. Ich zog die Hose wieder aus, riss zornig daran herum und schleuderte sie dann in eine Ecke.

Völlig entnervt kauerte ich mich auf den Boden und umfasste mit beiden Händen meinen Kopf.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Charlie?«, murmelte ich.

»Was ist los? Was hast du?«

»Ich habe letzte Nacht so schlecht geschlafen.«

»Ich weiß«, sagte er. »Du hast im Schlaf geredet.«

»Was habe ich gesagt?«, fragte ich erschrocken.

»Bloß unverständliches Zeug«, antwortete er. »Möchtest du etwas essen?«

»Ich hab eigentlich gar keinen Hunger.«

»Was ist mit deinem Finger passiert?«

Ich blickte auf meinen Ringfinger hinunter. Die Fingerspitze war mit einer Kruste aus dunklem, angetrocknetem Blut bedeckt. »Ich habe nur den Nagel eingerissen«, erwiderte ich.

»Zieh dich trotzdem an. Wir könnten einen Spaziergang machen.«

»Ich möchte erst noch in die Badewanne.«

»Warst du nicht gerade unter der Dusche?«

»Mir ist kalt. Ich muss mich aufwärmen.«

Charlie musterte mich prüfend. Sein Blick erinnerte mich an die Art, wie man manchmal Leute ansieht, deren seltsames Verhalten einen plötzlich erkennen lässt, dass sie betrunken sind. »Soll ich dir was ins Bad bringen?«, fragte er. »Kaffee?

Einen Keks?«

»Danke, nicht nötig. Ich werde auch nicht lange brauchen.«

In der Badewanne kaute ich alle meine Nägel auf eine akzep-table Länge herunter. Dieses Mal stellte ich mich ein wenig geschickter an, sodass es ohne weitere Blutverluste abging. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Wanne blieb, auf jeden Fall ließ ich mehrmals heißes Wasser nachlaufen, bis sich schließlich keines mehr in der Leitung befand. Hinterher bereitete es mir Mühe, mich anzuziehen. Zu entscheiden, was ich tragen wollte, und dann auch noch hineinzuschlüpfen, erschien mir unglaublich anstrengend. Mir wurde allein schon bei dem Gedanken schwindlig, eine trockene Jeans über meine feuchte Haut ziehen zu müssen. Ich legte mich aufs Bett und schlief ein. Jedes Mal, wenn ich aufwachte, fühlte ich mich noch erschöpfter. Ich legte einen Arm über die Augen, weil mich das Licht blendete.

Später, ich weiß nicht, wie viel später, hörte ich eine Stimme.

Megs Stimme.

»Warum weinst du denn so?«, fragte sie.

Als ich die Augen öffnete, stellte ich fest, dass Meg und Charlie links und rechts neben dem Bett saßen und auf mich heruntersahen.

»Was ist los? Bin ich krank? Oder liege ich vielleicht schon im Sterben? Vielleicht bin ich ja schon tot, und das hier ist meine Leiche, und bald wird einer von euch beiden laut seufzen und sagen: ›Na ja, es ist wahrscheinlich besser so.‹«

»Wovon redest du?«, fragte Meg.

»Meg und ich machen uns Sorgen um dich«, erklärte Charlie.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum.«

»Möchtest du jetzt aufstehen?«

»Nicht, solange ihr beide hier sitzt und mich anseht, als hätte ich eine tödliche Krankheit, die mich jeden Moment hinwegraf-fen könnte. Aber ich stehe bald auf.«

»Ich mach uns schon mal Tee«, sagte Charlie in beruhigendem Ton und lächelte mich dabei mitfühlend an.

Am liebsten hätte ich ihm dieses Lächeln mit der Faust aus dem Gesicht geschlagen, aber gleichzeitig war mir auf eine vage Weise bewusst, dass er ungemein lieb und geduldig auf mein unerträgliches Verhalten reagierte. Tief in mir flüsterte eine leise Stimme, dass ich irgendwann wieder anfangen musste, mich wie ein normales menschliches Wesen zu benehmen.

»Ich zähle bis zehn, dann stehe ich auf«, erklärte ich. »Eins, zwei, drei …«

Meg ging, als ich bei neun angekommen war. Ich blieb noch eine Weile liegen, bevor ich die Zähne zusammenbiss, meine ganzen Kräfte mobilisierte und mich ankleidete. Dann öffnete ich die Vorhänge des kleineren Fensters, das auf die Straße hinausging: Die Gehsteige waren nass, der Himmel bewölkt.

Anschließend zog ich die Vorhänge des größeren Fensters auf und presste meine Stirn an das kühle Glas. Charlie war draußen im Garten. Meg trat gerade aus dem Haus und ging zu ihm. Als sie ihn an der Schulter berührte, drehte er sich zu ihr um. Sie standen ganz nah beieinander und unterhielten sich eine Weile.

Dann nahm Charlie Megs Hand und drückte sie an seine Wange.

Meg lächelte ihn an. Zusammen kehrten sie ins Haus zurück.

Ich schleppte mich die Treppe hinunter, als hätte ich Bleige-wichte an den Füßen. Wenigstens konnten sie mich auf diese Weise kommen hören.

Charlie machte eine frische Kanne Tee, stellte eine dampfende Tasse vor mich hin und forderte mich zum Trinken auf.

Meg toastete eine Scheibe Brot für mich und bestrich sie mit Honig. Dann erschien Naomi mit einer Dose.

»Charlie hat gesagt, du fühlst dich nicht so gut«, erklärte sie.

»Ich habe Ingwerkekse gebacken. Ingwer ist sehr gut, wenn man sich krank fühlt. Hallo, Meg.«

»Hallo, Naomi.«

»Ich fühle mich aber nicht krank«, antwortete ich trotzig.

»Ach so, na ja, sie sind trotzdem gut. Hier, probier mal eines.«

Sie lächelte mich an, sodass ich ihre gleichmäßigen weißen Zähne mit der Lücke vorne sehen konnte. Sie trug weder eine Jacke noch einen Pullover, nur ein hellgelbes T-Shirt. Sie wirkte so frisch und sauber wie ein Frühlingstag.

»Holly hat in letzter Zeit zu viel gearbeitet«, erklärte Meg.

»Und nicht genug geschlafen«, fügte Charlie hinzu.

»Du Arme«, meinte Naomi. »Kein Wunder, dass du dich schlecht fühlst. Wenn meine Patienten unter Schlaflosigkeit leiden, gebe ich ihnen immer einen bestimmten Tee. Es ist eine Mischung aus chinesischen Kräutern, die ein bisschen aussieht wie grauer Staub, aber sie wirkt beruhigend und scheint den Leuten zu helfen. Möchtest du was davon?«

»Nein.«

»Doch«, sagte Charlie. »Doch, sie möchte etwas davon.«

»Ich kann Kräutertee nicht ausstehen.« Mit einem finsteren Blick auf die drei, die mit besorgter Miene um mich herumstanden, fügte ich hinzu: »Und Mitgefühl auch nicht.«

In dem Moment klingelte es an der Tür, und Charlie ging hinaus, um aufzumachen. Ich hörte Stimmengemurmel, dann rief Charlie nach mir. Als ich neben ihn trat, waren draußen gerade zwei Männer damit beschäftigt, etwas aus einem Liefer-wagen zu laden. Es war ein großer, in eine grüne Plane gehüllter Gegenstand.

»Was ist das?«, fragte ich.

Ein dritter Mann reichte mir ein Klemmbrett. »Holly Krauss?«, fragte er.

»Ja, das bin ich.«

»Bitte unterschreiben Sie hier.«

Ich starrte auf die Rechnung. Ganz oben stand ORYX GAL-LERY, und neben dem Namen war ein Tier mit Hörnern abgebildet, das wahrscheinlich einen Oryx darstellen sollte.

»Oh«, sagte ich, als mir die schreckliche Wahrheit dämmerte.

»Können Sie es bitte wieder mitnehmen? Ich will es doch nicht haben.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir müssen gleich weiter nach Leicester, meine Liebe. Außerdem glaube ich nicht, dass das geht. Sie haben dafür bezahlt, jetzt gehört es Ihnen. Wo sollen wir es hinstellen?«

Es waren drei Männer nötig, um es in unser Wohnzimmer zu schleppen. Obwohl es gar nicht so groß wirkte, wog es unglaublich viel. Als sie dann mit einer schwungvollen Bewegung die Plane wegzogen, verschlug es Charlie die Sprache.

»Lieber Himmel!«, rief Naomi. »Was um alles in der Welt soll denn das sein?«

Ich konnte mich nicht daran erinnern, welche Skulptur ich gekauft hatte. Sie bestand aus mehreren alten Maschinenteilen, die in seltsamen Winkeln zusammengeschweißt und dann auf eine Plinthe montiert worden waren. Auf jeden Fall war das Ding extrem hässlich und viel zu groß für den schmalen Raum.

Charlie sagte noch immer nichts. Erst als die Männer gegangen waren und die Tür hinter sich zugezogen hatten, fragte er:

»Was ist das?« Seine Hände waren zu Fäusten geballt.

»Ich fürchte, das war so eine Schnapsidee von mir«, erklärte ich fröhlich. »Puh!«

Er griff nach dem Durchschlag der Rechnung, die ich unter-schrieben hatte. »Um Gottes willen, Holly.«

»Wie viel?«, fragte ich.

»Heißt das, du weißt es nicht?«

»Ich werde das Ding zurückgeben.«

»Natürlich wirst du das. Wenn sie dich lassen. Woher willst du wissen, dass sie es zurücknehmen? Ich würde es jedenfalls nicht zurücknehmen. Warum hast du es überhaupt gekauft? Was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich fand es irgendwie witzig.« Sozusagen als Bekräftigung stieß ich ein kleines Lachen aus. »Und vielleicht ist es ja eine Investition. Wer weiß?«

Charlie war vor Wut ganz weiß geworden. Die Rechnung zitterte in seiner Hand, als würde in unserem Wohnzimmer ein Wind gehen. Er konnte kaum sprechen. »Wir haben eine extrem hohe Hypothek abzuzahlen«, stieß er hervor. »Wir haben bei der Angabe unserer Einnahmen ziemlich geschummelt, um sie zu bekommen. Ich verstehe das nicht.«

Wir starrten alle auf das scheußliche Objekt in unserem Wohnzimmer.

»Ich glaube, wir sollten jetzt gehen«, erklärte Meg, aber sie und Naomi blieben weiter wie angewurzelt stehen.

»Was soll das, Holly? Was, zum Teufel, ist bloß mit dir los?

Sag es mir! Sag es mir! «

Ich betrachtete die Skulptur, und zum ersten Mal an diesem Tag erschien mir etwas lustig. Zu meinem eigenen Entsetzen begann ich zu lachen. Und nachdem ich einmal damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.

12

Meg hasst den November. Sie sagt, er sei der Korridor des Jahres: eine grimmige, enge Zeit, durch die man durchmuss, um anderswohin zu gelangen. Den Februar hasst sie auch. Das Grau, die Kälte, die harte Erde, die kahlen Bäume, die kurzen, farblosen, trüben Tage. Ich selbst habe das nie wirklich nach-vollziehen können. Jahreszeiten sind etwas für Bauern und Gärtner. Meiner Meinung nach zählt mehr das Wetter in unseren Köpfen, und in der dritten Novemberwoche, als gerade ein feiner Nieselregen die Straßen nass glänzen und die Luft wie gemasert aussehen ließ, wurde der Himmel in meinem Kopf plötzlich wolkenlos blau, und die Sonne begann zu strahlen.

Manchmal passiert das einfach so. Wochenlang hatte ich mich wie ein blinder, langsamer, erdverkrusteter alter Maulwurf durch den Tunnel der Tage gegraben, und nun war ich ohne Vorwar-nung an der Oberfläche aufgetaucht und starrte halb benommen in das wunderschöne Licht.

Ich zog die Vorhänge auf und ließ den Morgen herein. Drau-

ßen war es so neblig, dass die Formen der Häuser und Bäume verschwammen und der Verkehrslärm viel gedämpfter klang als sonst. Vertraute Dinge wirkten plötzlich geheimnisvoll. An einem Tag wie heute konnte alles Mögliche passieren.

»Wach auf, Charlie, es gibt Kaffee.« Ich ließ mich auf der Bettkante nieder und legte eine Hand auf seine warme Schulter.

Da er sich nicht rührte, schüttelte ich ihn leicht. »Es ist halb acht. Du hast gesagt, du musst spätestens um acht weg.«

Er murmelte etwas und verschwand tief unter der Bettdecke.

»Sollen wir uns heute Mittag zum Essen treffen? Ich lade dich ein.«

»Ich bin schon verabredet«, antwortete er unter der Decke.

»Erst mit der Buchhalterin und dann mit dem Redakteur vom Correspondent. «

Mit der Buchhalterin. Das klang recht hochtrabend, aber in Wirklichkeit handelte es sich um Tina, die Meg geholfen hatte, das Buchhaltungsprogramm für KS einzurichten.

»Dann führe ich dich eben hinterher aus«, erklärte ich.

Er kam unter der Decke hervor, richtete sich halb auf, griff nach der Tasse und legte die Hände darum. Ließ den Dampf in sein Gesicht steigen. »Ich habe Sam und den anderen versprochen, dass ich mit ihnen auf einen Drink gehe.«

»Schade«, sagte ich. »Ich wollte mit dir feiern.«

»Was denn? Heute ist doch nicht mein Geburtstag, oder?«

»Einfach nur feiern. In welcher Farbe sollen wir diesen Raum streichen?«

»Was?«

»Darüber habe ich mir heute Nacht schon den Kopf zerbrochen. Für die Küche nehmen wir einen Gelbton, habe ich mir gedacht, aber natürlich nicht so ein schreckliches, grelles Gelb, sondern einen weichen, buttrigen, gefälligen Ton, und hier drin vielleicht Terrakotta. Wie die Dachziegel eines italienischen Hauses. Oder ein grünliches Grau. Was meinst du? Sexy oder beruhigend? Ich werde die Farbe besorgen und am Samstag oder sogar schon eher anfangen. Ich hab noch ungefähr hundert Tage Urlaub gut. Wenn ich erst einmal begonnen habe, geht’s bestimmt ganz schnell. Du brauchst mir nicht zu helfen. Ich weiß, in letzter Zeit hab ich die Dinge ein bisschen schleifen lassen, aber dafür möchte ich mich jetzt besonders intensiv um dich kümmern. Was ich hasse, sind die ganzen Vorbereitungen.

Du weißt schon. Statt gleich loslegen zu können, muss man erst mal die Fußleisten säubern, den Boden mit Papier abdecken und die Regale ausräumen. Das nervt genauso wie diese dämlichen Gebrauchsanweisungen, die man studieren muss, bevor man etwas aufbaut oder in Betrieb nimmt. Eines habe ich mir geschworen: Ich werde in meinem ganzen Leben nie wieder eine Gebrauchsanweisung lesen. Trish hat erst gestern zu mir gesagt, dass man, wenn man die Wohnung streicht, vorher sämtliche Holzleisten und Fensterrahmen abkleben soll, damit man saubere Kanten bekommt. Das erscheint mir völlig übertrieben.

Manchmal denke ich, Trish hätte zur Armee gehen sollen. Ich hatte immer schon sehr ruhige Hände.«

Ich streckte meine linke Hand aus. »Sieh dir das an!« Meine Hände zitterten richtiggehend.

»Das war früher nie so«, sagte ich. »Gut dass ich kein Gehirn-chirurg bin, sonst würde ich womöglich ganze Motorikbereiche lahmlegen. Vielleicht trinke ich zu viel Kaffee. Oder zu wenig.

Koffeinentzug?«

Charlie ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Gelb?«, fragte er schließlich.

»Was?«

»Ich hab versucht, deinem Gedankengang zu folgen, bin aber irgendwo ziemlich am Anfang hängen geblieben. Wie lange, glaubst du, könntest du so vor dich hinreden, ohne von deinem Gegenüber eine Antwort zu kriegen?«

»Was? Oh, tut mir Leid. Soll ich dir Toast machen? Toast mit Marmelade? Ich könnte sogar ein Hemd für dich bügeln.«

»Lügnerin«, sagte er, und ich begann zu kichern. Dann schlug mein Kichern in ein seltsames, prustendes Lachen um, das ich nicht kontrollieren konnte.

Er schwang die Füße aus dem Bett und hievte sich hoch. Nackt und muskulös stand er vor mir. Ich streckte den Arm nach ihm aus und legte meine Hand an seinen warmen, goldbraunen Rücken. »Das viele Laufen tut dir gut«, stellte ich fest. »Wie wär’s, wenn du ein bisschen später losgehst?«

»Heute nicht.«

»Dann ein anderes Mal.«

Während er in seine Jacke schlüpfte, begann das Handy in der Tasche seine dämliche Melodie zu dudeln. »Hallo?«, meldete er sich. »Ja? Nein, acht ist wunderbar. Natürlich. Ich werde da sein.« Sein Gesicht entspannte sich zu einem intimen kleinen Lächeln. Spätestens jetzt war mir klar, dass er mit einer Frau sprach. Prompt nahm er das Telefon in die andere Hand und drehte sich halb von mir weg. »Ich werde pünktlich sein.«

Plötzlich hatte ich das Gefühl, einen Fremden zu beobachten, einen gut aussehenden Fremden mit Krähenfüßen um die Augen.

»Für wen wirst du pünktlich sein?«, fragte ich, nachdem er das Telefon wieder in seiner Brusttasche verstaut hatte und vor dem Spiegel an seinem Krawattenknoten herumzupfte.

»Für niemand Besonderen. Für Sam und die anderen.«

»Du darfst flirten, aber dich nicht in eine andere verlieben.«

Die Worte waren draußen, bevor ich sie zurückhalten konnte.

Während sie in meinen Ohren nachhallten, zuckte ein Gefühl von Panik wie ein Blitz durch meinen Körper. Wie konnte ich nach allem, was ich getan hatte, so etwas zu ihm sagen und es dann auch noch so meinen? Wie konnte ich etwas dagegen haben, wenn Charlie sich heute Abend in einem Restaurant über den Tisch beugte und einer anderen Frau in die Augen sah, nachdem ich selbst zugelassen hatte, dass ein fremder Mann mich eine ganze Nacht lang küsste und betatschte, dass er mich kratzte und fickte, mein Innerstes nach außen kehrte?

»Keine Sorge«, antwortete Charlie. »Ich bin ein verheirateter Mann, oder hast du das vergessen?«

»Nein, das habe ich nicht.« Ich streckte den Arm aus und zupfte mit meinen zitternden Fingern an seinem Hemd herum, obwohl es eigentlich gar nicht nötig war. »Ich wünsche dir einen schönen Tag.«

Ich war zu nervös, um konzentriert zu arbeiten. Mittags verbrachte ich zwei Stunden damit, in einem Geschäft, das die Ausmaße einer Lagerhalle hatte, die Farben für unsere Wände auszusuchen. Was gar nicht so einfach war, weil mich die vielen klangvollen Namen irritierten: Gerberagelb, Flachssilber und Themsebraun. Eisgrau, Lakritze, Paprika. Am Ende erstand ich fünf Liter von einem satten Orangerot namens Fuchsbraun und fünf von einem senfigen Gelb, außerdem drei weiche schwarze Pinsel – dick, mittel und dünn –, sechs Blatt raues Schleifpapier und eine Flasche denaturierten Alkohol. Nachmittags hatten wir eine Besprechung und gleich im Anschluss unsere vierzehntägi-ge bürointerne Versammlung, in der wir über neue Ideen diskutierten. Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich stellte mir vor, wie ich mit einem Pinsel voller gelber Farbe vor einer glatt verputzten Wand stehen würde. Der erste Pinselstrich: ein leuchtender Streifen durch die Leere.

Kurz nach sechs rief mich Stuart auf dem Handy an. Im Hintergrund hörte ich Stimmen. Verbrachte er eigentlich sein ganzes Leben in Bars? Ich hatte ihn seit jenem Abend nicht mehr gesehen, einem weiteren jener Abende, die ich zu vergessen suchte. Die Oryx-Galerie widersetzte sich hartnäckig meiner Bitte – besser gesagt, meinem Flehen –, die Skulptur zurückzu-nehmen. Inzwischen stand sie wie ein Mahnmal in unserem Schlafzimmer, wo sie außer uns niemand sehen musste. Charlie hatte sich an ihrem Sockel schon die Zehen angestoßen und ich mir an einer ihrer vielen rauen Kanten einen Rock zerrissen.

Stuart hatte zwei Nachrichten hinterlassen – eine in nüchter-nem, eine in betrunkenem Zustand –, und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, ihn zurückzurufen, war ich irgendwie doch nicht dazugekommen. Er war einfach der Typ Mann, den man nicht zurückrief; einer, den man zwar recht sympathisch fand, der interessant war und gut aussah, aber trotzdem seltsam schemenhaft blieb. Er redete sehr viel, und ich konnte mich nie genau daran erinnern, was er eigentlich gesagt hatte. Er trank auch sehr viel, und dann flossen seine Worte zu einem Strom zusammen, der über mich hinwegrauschte.

»Holly!«, sagte er gerade. »Hier ist Stuart. Der, den du einfach hast stehen lassen und nie zurückgerufen hast. Ich habe es aber nicht persönlich genommen.«

Betrunken, dachte ich. »Hallo, Stuart.«

»Was treibst du denn so?«

»Du meinst, ganz allgemein?«

»In den nächsten paar Stunden.«

Ich öffnete den Mund, um zu sagen, dass ich schon was vorhätte, doch in Wirklichkeit fühlte ich mich nur müde. Charlie war an diesem Abend ohne mich unterwegs. Höchstwahrscheinlich mit einer anderen Frau. Ich hatte also keine Pläne. Und eigentlich war ich gar nicht so müde. Ganz im Gegenteil, ich war rastlos und voller Tatendrang. Eine Frau auf der Suche nach einem Abenteuer.

»Warum fragst du?«

»Ich fahre zu einem Pokerabend, den ein Freund von mir bei sich zu Hause veranstaltet. Wir sind bloß zu sechst oder so, und da dachte ich mir, dass es vielleicht ganz nett wäre, wenn du mitkommen würdest.«

»Ich habe seit meiner Collegezeit nicht mehr Poker gespielt.

Ich kann schwarzer Peter und Patiencen legen, aber das war’s dann auch schon.«

»Ich glaub nicht, dass die anderen davon sehr begeistert wä-

ren. Aber du musst ja nicht mitspielen. Kannst einfach zusehen, Whisky trinken und Rauchkringel in die Luft blasen.«

»Das klingt nach einem total lustigen Abend«, entgegnete ich.

»Ich kann mir wirklich nichts Schöneres vorstellen, als sechs Leuten einen ganzen Abend lang beim Kartenspielen zuzu-schauen.«

»Dann kommst du also mit?«, fragte er in enthusiastischem Ton. »Großartig. Ich hole dich in einer Stunde vor deinem Büro ab.« Mit diesen Worten legte er auf.

»Warum nicht?«, sagte ich laut.

Ich bemerkte, dass Meg mich über den Schreibtisch hinweg ansah, und wandte rasch den Blick ab. Schließlich war sie nicht meine Mutter, außerdem würde ich bloß eine Weile bei einem Kartenspiel zusehen. Das konnte ja wohl nicht schaden, oder?

Ich stand auf und ging zur Toilette, wo ich mich vor den Spiegel stellte und mir die Lippen nachzog. Dann band ich mir das Haar zu einem eleganten Knoten zusammen und betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich wollte aussehen wie eine Femme fatale in einem film noir aus den vierziger Jahren. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich in einem Treppenhaus stehen, die Schattenstreifen einer Jalousie auf dem Gesicht. Ich wollte hohe Pfennigabsätze und einen engen Rock tragen und angesichts von Schmerz und Gefahr nur lässig mit den Schultern zucken.

13

Ich verstaute meine Farbdosen auf den Rücksitz des Taxis und nahm dann daneben Platz. Als ich in den darauf folgenden Tagen auf diesen Abend zurückblickte, war das der letzte zusammenhängende Teil, an den ich mich erinnern konnte. Ich saß mit Stuart und seinem Freund Fergus im Taxi. Stuart war guter Laune, aber ziemlich zurückhaltend und vermutlich überrascht, dass ich mitkam. Vielleicht hatte er sich auch wieder daran erinnert, wie unerwartet unser Besuch in der Ausstellung ausgegangen war, sodass er sich mittlerweile ein wenig in Acht nahm. Das Gesicht von Fergus lag größtenteils im Dunkeln, aber ich konnte erkennen, dass er sehr dünn und knochig war und eine schlaffe Haut hatte.

Als er mir eine Zigarette anbot, griff ich danach, und im plötzlich aufflammenden Licht des Feuerzeugs sah ich sein bleiches, leichenhaftes Gesicht. Einen Moment lang war ich versucht, den Fahrer zu bitten anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, aber der Moment ging vorüber – oder grub sich in mein Gehirn ein.

»Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte ich.

»Wandsworth.«

»Das kenne ich nicht.«

Von da an lief der Abend ab wie ein Stück altes, beschädigtes Filmmaterial: Der Ton fällt aus und setzt wieder ein, einzelne Teile sind in Schwarzweiß oder laufen in der falschen Ge-schwindigkeit ab, manche Bilder wirken verschwommen, ganze Szenen fehlen. Von dem Haus sind mir nur ein paar Einzelheiten in Erinnerung geblieben: ein riesiger Plasma-Fernsehbildschirm, ein Ledersofa, ein billiges, »dezent erotisches« Bild an der Wand – eine Frau, die einen Strumpf von einem weißen Bein zieht, während ein Mann sie aus einer dunklen Ecke heraus beobachtet. In der Küche steht ein Kühlschrank aus schimmern-dem Edelstahl.

Es sind bereits fünf Männer, und sie trinken Scotch. Alle haben Anzüge an, aber nur einer, ein fetter Typ mit rotem Gesicht, trägt zu seinem Anzug auch eine Krawatte. Ihm gehört das Haus, und er ist der Veranstalter dieses Pokerspiels. Fergus kenne ich bereits. Ein anderer heißt Tony. Stuart hat mir während der Herfahrt im Taxi von ihm erzählt. Er betreibt eine Baufirma, aber Stuart deutet zwinkernd an, dass er auch noch andere Interessen habe.

»Du meinst kriminelle?«

Stuart lacht. »Tony macht seine Geschäfte nicht immer auf legalem Weg«, erklärt er.

Offensichtlich ist es Stuart ein Anliegen, mich wissen zu lassen, dass er Leute wie Tony kennt. Als Stuart mich ihm ziemlich überschwänglich vorstellt, sagt Tony kaum ein Wort.

Er ist groß und hat breite Schultern. Ich schüttle seine Hand. Er mustert mich einen Moment neugierig. Ich bin die einzige Frau hier. Plötzlich habe ich das berauschende Gefühl, in eine Welt zu entfliehen, wo man ganz andere Dinge tut.

*

Sie spielen Poker. Es liegt kein Geld auf dem Tisch, nur bunte, zu Stapeln aufgetürmte Chips. Ich stelle mich hinter Tony und blicke ihm eine Weile über die Schulter. Ich habe einen Drink in der Hand, lasse die Eiswürfel klirren. Ich gehe um den Tisch herum und sehe mir die Karten an. Das gefällt mir. Die gemur-melten Gebote, die konzentrierten Gesichter der Männer, die besonderen Ausdrücke, die sie benutzen. Allmählich kommt es wieder. Ich beherrsche dieses Spiel. Irgendwann war ich darin einmal sehr gut.

Stuart sitzt auf der anderen Seite des Tisches. Er sagt, ich solle zu ihm hinüberkommen und ihm Glück bringen. Ich antworte, von meinem Platz aus hätte ich einen recht guten Blick. Stuart spricht auf besitzergreifende Weise von mir. Wahrscheinlich halten mich die anderen für seine Freundin, und er unterlässt es, das richtig zu stellen. Er sagt mir, dass ich aussähe wie eine Gangsterbraut. Dieser Gedanke ist mir selbst auch schon gekommen, und ich fand ihn zunächst sehr amüsant, aber nun, da Stuart ihn laut ausgesprochen hat, erscheint er mir überhaupt nicht mehr lustig.

Ein Handy klingelt. Tony geht. Irgendetwas erfordert seine Aufmerksamkeit.

Ein Platz am Tisch ist frei. Einen Moment später sitze ich dort.

Ich spiele. Stuart sieht mich verblüfft an. Er sagt, er habe gedacht, ich könne nicht Poker spielen, und es wäre sicher besser, wenn ich mich wieder darauf beschränken würde, dekorativ auszusehen. Er ist jetzt ganz Mann und nicht mehr die sensible Seele, mit der ich damals in Oxfordshire bis spät in die Nacht geredet habe. Bei der ersten Runde lasse ich mir viel Zeit, starre lange auf die zwei Königinnen in meiner Hand. Wage ich es zu bleiben? Was soll ich setzen? Stuart sagt etwas, das ich nicht mitbekomme, und die Männer lachen. Dann erzählt er ihnen von meinem Skulpturenkauf und verbindet die Geschichte dann irgendwie mit der Aufforderung, ich solle mich doch auch wieder so schnell entscheiden. Die Männer lachen erneut. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt.

Immer noch besser, als beim Sex zu schnell zu kommen, sage ich und fixiere dabei Stuart. Auch wenn ich das natürlich nur aus seinen Erzählungen wisse, füge ich hinzu. Die anderen Männer finden das ausgesprochen lustig. Sie lachen laut und ziehen Stuart damit auf, boxen ihn freundschaftlich. Er sagt kein Wort.

Plötzlich verspüre ich ein flaues Gefühl im Magen. Ich habe es Stuart zwar heimgezahlt, aber vielleicht bin ich doch ein bisschen zu weit gegangen. Ich greife nach irgendeinem Glas und leere es in einem Zug. Eine Art Stromschlag zuckt durch meinen Körper. Ich fühle mich schon besser. Betäubter.

Es ist alles so einfach. Ich habe meinen eigenen Haufen bunter Chips. Ich sortiere sie nach Farben. Es läuft wunderbar. Ich werfe drei Karten weg und bekomme eine weitere Königin.

Damit schlage ich alle. Mein Haufen ist schon viel größer geworden. Später, ich weiß nicht, wie viel später, bekomme ich wieder drei von einer Sorte. Aber diesmal gewinne ich nicht.

Irgendjemand hat etwas Besseres. Mein Chiphaufen ist weg.

Ich spiele, und dann spiele ich nicht mehr. Stuart ist verschwunden. Er ist nirgendwo zu sehen. Ich sitze auf dem Ledersofa.

Was ist nur aus dem lustigen Abend geworden? Erst war ich die Gangsterbraut, die mit allen flirtete, rauchte und trank. Die den Männern über die Schultern schaute, während sie Karten spielten. Dann war ich plötzlich etwas anderes, nämlich die ungezogene kleine Schwester, die sich bei den großen Jungs einmischte, mit ihren Spielsachen spielte. Es war alles wahnsinnig lustig und wurde immer noch lustiger, fast wie früher, wenn man mit seiner besten Freundin zusammen war und irgendwann einen Lachkrampf bekam und gar nicht mehr aufhören konnte zu kichern. Irgendwann fing das Lachen dann an wehzutun, aber man hatte Angst, damit aufzuhören. Nun sitze ich auf dem Ledersofa, das an meinen Oberschenkeln klebt, trinke einen weiteren Whisky und bekomme langsam das dumpfe Gefühl, dass so manches an diesem Abend überhaupt nicht lustig ist. Ich kenne die Leute hier nicht und weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll; und über Geld, glaube ich, verfüge ich auch nicht mehr. Geld. Das ist auch noch so ein wunder Punkt. Nachdem es ein paar Runden lang nicht so gut gelaufen war, hatte jemand eine Zahl genannt: neuntausend Pfund. Das sei die Summe, die ich zu zahlen hätte. Das kann nicht sein. Es war doch nur ein Spiel. Ich habe doch nur Stuart begleitet.

Ich trinke weiter, damit ich nichts mehr fühlen kann. Jemand reicht mir eine Zigarette und zündet sie mir an. Ich sauge den Rauch tief in meine Lungen ein. Mir wird immer schwummriger. Ich muss an meine Farbdosen denken. Wo sind sie?

*

Mir passieren ständig blöde Sachen, das ist schon mein ganzes Leben so. Ich zerbreche Gläser oder renne gegen Türen. Wenn ich Gemüse schneide, was selten genug vorkommt, dann ramme ich mir bestimmt das Messer in den Daumen. Ich bin es also gewohnt, in der Notaufnahme oder auf dem Zahnarztstuhl ein Schmerzmittel gespritzt zu bekommen. Das Interessante an diesen Spritzen ist, dass sie den Schmerz nicht beseitigen, sondern nur an eine andere Stelle verlagern, wo er einen nicht so stört, obwohl man spürt, dass er unterschwellig noch da ist.

Auch jetzt weiß ich, dass es einen Teil von mir gibt, der sich nicht so wohl fühlt, und dass sich der Rest von mir später, wenn die Wirkung des Alkohols nachlässt, auch nicht mehr wohl fühlen wird.

Tony beugt sich über mich. »Alles in Ordnung?«

Ich starre ihn nur an.

»Wir sollten jetzt aufbrechen«, erklärt er. »Das Spiel ist vorbei.« Er hilft mir auf und führt mich aus dem Zimmer.

»Ich fahre Sie nach Hause«, meint er.

»Meine Farbe«, sage ich. »Ich brauche meine Farbdosen.«

»Vergessen Sie Ihre Farbe.«

14

»Wohin?«

Ich starrte ihn an. Wohin? Wo konnte ich in diesem Zustand hin? Ich sah aus dem Fenster. Es war immer noch dunkel, obwohl am Horizont bereits die Dämmerung auszumachen war.

Ich sah die leeren, stillen Straßen draußen und mein eigenes Gesicht, das mir aus der Scheibe entgegenstarrte. Ich schob mir das Haar hinter die Ohren und zog meinen Rocksaum über die Knie.

»Wo wohnen Sie?«

»Ich möchte nicht heim«, antwortete ich benommen. »Meg.

Genau. Ich möchte zu Meg.«

»Und wo wohnt Meg?«, fragte er geduldig.

»Oh, natürlich, tut mir Leid. Ventura Street. Nicht weit von der Marylebone Road. Sie müssen …«

»Ich kenne die Gegend. Ich hab da mal gearbeitet.«

»Und wo ist Ihre derzeitige Baustelle?«

»In der Nähe der Tate Modern. Genauer wollen Sie es wahrscheinlich gar nicht wissen.«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Unter dem Sitz ist eine Decke.«

»Eine Decke?«

»Sie zittern. Wickeln Sie sich ein.«

Danach setzten wir unsere Fahrt schweigend fort, und ein paar Minuten später überquerten wir bereits den Fluss. Tonys Mercedes glitt ruhig die Straßen entlang. Im Licht der Scheinwerfer sah ich schwarze Müllsäcke, die auf dem Gehsteig zur Abholung bereitstanden, kahle Skelette von Platanen, deren Äste im Wind schwankten, eine durch die Dunkelheit schleichende Katze, einen Mann im Trenchcoat, der langsam dahinschlurfte.

Auch Autos waren noch unterwegs, sogar mehr, als ich vermutet hätte. Manchmal schloss ich die Augen, aber wenn ich das tat, hatte ich das Gefühl zu sterben, und in meinem Kopf begann wie ein Film mein ganzes verrücktes Leben abzulaufen. Deswegen starrte ich die meiste Zeit aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Stadt auf mich zu bewegte, an mir vorbeirauschte.

Hin und wieder sah ich auch zu Tony, der mit einer Zigarette im Mundwinkel am Steuer saß.

»Von hier aus müssen Sie mich lotsen.«

Als er schließlich vor Megs Wohnung hielt, wäre ich am liebsten wortlos ausgestiegen, aber es gab da noch etwas, was ich sagen musste.

»Als Sie weg waren, hätte ich – ich hätte nicht anfangen sollen zu spielen. Ich kann mich gar nicht mehr so richtig an alles erinnern. Aber ich habe Geld verloren. Ziemlich viel sogar.«

Tony zündete sich eine neue Zigarette an. »Ja. Das habe ich gehört.«

»Ich wollte das alles gar nicht.« Ich wartete auf eine Reaktion, aber er schwieg. »Was soll ich denn jetzt machen?«

Er inhalierte tief und stieß den Rauch dann aus. »Bezahlen.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das Geld habe.«

»Geld kann man immer auftreiben.«

»Ich weiß nicht, wem ich es geben soll.«

»Setzen Sie sich mit Vic in Verbindung. Oder, umgekehrt, er setzt sich mit Ihnen in Verbindung. So oder so.«

Ich hatte gehofft, Tony würde mir irgendwie helfen. Frustriert stieg ich aus. Es kam mir vor, als könnte ich durch meine Schuhe die Nässe des Gehsteigs spüren. Tony wartete, während ich klingelte. Eine Minute später, nachdem ich ein zweites Mal geklingelt hatte, hörte ich drinnen ein Geräusch, dann ging die Tür einen Spalt weit auf, und Megs verschlafenes Gesicht spähte heraus.

»Meg«, sagte ich.

»Holly? Was um alles in der Welt …?«

»Kann ich reinkommen?«

»Natürlich.«

Ich hörte die Kette klappern, das Geräusch von Metall auf Metall, dann ging die Tür auf, und Meg stand vor mir, die Hände am Kragen ihres dicken grauen Bademantels.

»Was ist passiert?« Sie musterte mich prüfend. »Geht es dir nicht gut? Was ist los?«

Ich drehte mich um und winkte zu Tony hinüber, der mit einem Nicken antwortete. Sein Mercedes schnurrte davon.

»Verstehe«, sagte Meg. Ihre Miene wirkte plötzlich wie ver-steinert.

»Lass uns hinaufgehen«, sagte ich. Auf der Treppe sprach ich mit ihrem abweisenden Rücken. »Es tut mir Leid, dass ich dich aufgeweckt habe. Ich wollte nicht direkt nach Hause fahren.«

»Das kann ich mir denken.« Megs Stimme klang so kühl, dass ich mich am liebsten auf die Treppe gesetzt und die Hände vors Gesicht geschlagen hätte.

»Es sind ein paar Dinge schief gelaufen«, sagte ich, als wir in ihre warme Wohnung traten.

»Ich mach uns einen Kaffee«, sagte sie. »Dann können wir darüber reden.«

»Ich kann nicht darüber reden. Ich bin zu müde.«

Meg rieb sich die Augen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Du kannst gerne duschen, wenn du möchtest.«

»Ich stecke in Schwierigkeiten, Meg.«

»Ich weiß.«

Plötzlich war ich von Angst erfüllt. Wie meinte sie das? Wie konnte sie etwas darüber wissen? Ich wollte nicht, dass sie mich mit ihren klugen Augen missbilligend musterte. Ich wollte von niemandem gemustert werden. Aber es gibt überall Augen, wohin man auch geht, und man kann sich nicht verstecken, seine schmutzigen Geheimnisse und seine Scham nicht verbergen.

»Ich nehme ein Bad«, antwortete ich matt und schlurfte in ihr Badezimmer, wo der Heizkörper summte.

Nachdem ich eine ganze Weile in dem heißen Wasser gelegen hatte, schlüpfte ich in eine schwarze Cordhose und ein weiches rosa Shirt, das ich Meg zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Sie gab mir sogar eine kleine Zahnbürste, die noch von ihrer letzten Flugreise stammte. Ich vermied es, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Anblick. Für einen Moment verharrte ich völlig regungslos, hielt mich am Waschbecken fest und wartete darauf, dass sich das Entsetzen wieder in mein Inneres zurückziehen würde, wo es ungestört wachsen und gedeihen konnte.

»Hier, Kaffee«, sagte Meg.

Ich versuchte, ihn entgegenzunehmen, aber meine Hände zitterten so sehr, dass ein Teil der heißen Flüssigkeit auf meiner Haut landete und ich gezwungen war, die Tasse wieder abzustel-len und wie ein Hund aus seiner Schüssel daraus zu trinken.

»Möchtest du etwas essen?«

»Nein, ich würde jetzt keinen Bissen hinunterkriegen.«

In dem Moment konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, jemals wieder etwas zu mir zu nehmen. Ich würde fasten, bis ich irgendwann so leer und sauber sein würde wie ein Kind, das nicht vom Leben beschmutzt und besudelt war.

»Also«, sagte Meg. Sie stützte das Kinn in die Hand und sah mich an.

»Ich habe eine Dummheit gemacht.«

»Dieser Mann?«

»Nein, er hat mich nur heimgefahren.«

Meg hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Sie wartete darauf, dass ich reden, ihr alles erzählen würde.

»Ich kann nicht«, sagte ich. »Tut mir Leid. Ich muss mit Charlie reden. Er sollte das als Erster erfahren. Ich werde mir ein Taxi rufen und ihn um eine Aussprache bitten.«

»Das klingt gut.«

Am liebsten hätte ich wie ein kleines Kind zu ihr gesagt: Bitte bleib meine Freundin. Ich war nahe dran, aber Meg, die mir mit müder, ernster Miene gegenübersaß, erschien mir so erwachsen, so abgeklärt, so weit weg von mir und meinen hässlichen Problemen, dass ich mir fast nicht vorstellen konnte, dass wir noch Freundinnen und Partnerinnen waren, zwei Frauen, die dieselbe Sprache sprachen und sich auch ohne Worte verstanden. Im Moment waren wir meilenweit davon entfernt.

»Es tut mir Leid«, sagte ich lahm. »Meg? Es tut mir Leid.«

Wir schwiegen eine ganze Weile. Im Raum war es so still, dass ich mein eigenes heiseres Atemgeräusch hören konnte.

Verlegen zupfte ich an dem rosa Shirt herum und stellte bei der Gelegenheit fest, dass ich meine Nägel noch weiter herunterge-bissen hatte, auch wenn ich mich daran überhaupt nicht erinnern konnte. Ich wartete. »Es ist kein Licht am anderen Ende des Tunnels«, sagte ich zu mir selbst. »Dieser Tunnel geht immer weiter, und in der Dunkelheit rasen schreckliche Dinge auf mich zu.«

Schließlich sah Meg mich an, als hätte sie einen Entschluss gefasst. Dann sagte sie: »Ich kann das nicht mehr.« Ihre Stimme klang hart. Ihr Gesicht wirkte ebenfalls hart.

»Wie meinst du das? Was kannst du nicht mehr?« Meine eigene Stimme hörte sich an wie ein Krächzen. Ich musste an eine Krähe auf einem hohen Baum denken.

»Dein Verhalten ertragen. Glaubst du, dass ich in meinem Leben nichts anderes zu tun habe, als das Chaos aufzuräumen, das du überall hinterlässt?«

»Ich weiß nicht, was du –«

»Denkst du dabei eigentlich auch einmal an mich? Oder Charlie? Oder irgendjemand anderen außer an dich? Du kannst dir die Antwort sparen. Natürlich tust du das nicht. Die Welt dreht sich nur um dich und deine dummen Wünsche. Du hältst dich für wundervoll und einmalig, stimmt’s?«

»Im Moment eigentlich nicht –«, begann ich.

»Mit deinen langen Haaren und deinen großen Augen. Du glaubst, wenn du mit deinen schwarzen Wimpern klimperst, kommen gleich alle angerannt, um dir zu helfen. Dir zu helfen, wenn du in Schwierigkeiten steckst, und dir zu verzeihen, wenn du sie im Stich lässt. Schließlich meinst du es ja nie so. Du bist eben impulsiv, nicht wahr? So spontan und leichtsinnig. So siehst du das doch, oder?«

»Tut mir Leid.«

»Was meinst du, wie das für mich ist? Du stehst vorn, auf der Bühne, und ziehst eine Show ab, während die gute alte Meg immer hinter den Kulissen zugange ist, wo keiner sieht, wie sie die Scherben aufsammelt und alles ausbügelt, was du angerichtet hast.«

Der ganze Groll, der sich in ihr aufgestaut hatte, sprudelte jetzt aus ihr heraus. Ich wusste, dass es durchaus einiges gegeben hätte, was sich dagegenhalten ließ. Zum Beispiel, dass ich fast ein ganzes Jahr lang jeden Tag bis zu zwanzig Stunden gearbeitet hatte, und das sieben Tage die Woche. Ich hatte einen Großteil der wirklich harten Arbeit geleistet, indem ich eine Menge Kunden für uns an Land zog und intensiv betreute.

Aber im Moment war ich viel zu müde, um mich zu rechtfertigen. Es spielte keine Rolle. Meg war so richtig in Fahrt.

»Holly, du solltest das Ganze mal objektiv betrachten. Du hast eine Frau entlassen, weil dir gerade danach zumute war, und nun müssen wir uns mit den Folgen herumschlagen. Du hast mit einem Mann geschlafen, der jetzt ständig im Büro anruft und Leute belästigt. Du becirct die Kunden mit deinem Charme, oder du beleidigst sie. Du schläfst an deinem Schreibtisch oder auf der Toilette ein – glaub bloß nicht, dass wir das nicht mitbekommen –, und dann schlägst du dir wieder die ganze Nacht um die Ohren. Du bist wie ein Kleinkind, das nach allem greift, was ihm ins Auge sticht, und es dann einfach wieder fallen lässt, wenn ihm langweilig wird. Und Charlie behandelst du auch schlecht.«

»Charlie ist meine Sache«, entgegnete ich müde. »Nur weil du

–« Ich brach abrupt ab und hielt mir vorsichtshalber auch noch eine Hand vor den Mund, um die Worte zurückzuhalten.

»Was? Nur weil ich was? Raus damit! Ich weiß genau, was du sagen wolltest. Nur weil ich auch mal in ihn verliebt war.

Stimmt, das war ich, und du hast es gewusst. Aber er hat sich in dich verliebt, wie es alle Männer tun, stimmt’s?«

»Das wollte ich nicht sagen«, antwortete ich lahm. Jede Spur von Zorn war verschwunden. Traurig betrachtete ich Megs bleiches, verschlafenes Gesicht, ihre zerzausten Haare, ihre gerunzelte Stirn.

»Hast du dir eigentlich schon jemals Gedanken über mich gemacht?«

»Über dich?«

»Ja. Mich. Ist dir aufgefallen, dass ich in letzter Zeit oft ein wenig niedergeschlagen bin? Dass mein Leben nicht nach Plan läuft? Dass ich mir ein bisschen Sorgen mache? Nein, natürlich nicht, weil deine persönliche Berg-und-Tal-Fahrt dir gar keinen Raum lässt, die ganz normalen, weniger dramatischen Stimmungen anderer Menschen zu registrieren.«

»Das ist nicht wahr.«

Sie stand auf und zog den Gürtel ihres grauen Bademantels enger. »Ich werde jetzt ein Bad nehmen, falls du nicht das ganze heiße Wasser aufgebraucht hast, und mich dann allmählich auf meinen Tag vorbereiten. Lass dir ein Taxi kommen, und zieh bitte die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.«

*

Ich war so früh dran, dass ich ihn auf mich zukommen sah. Wir hatten vereinbart, uns in dem Park in der Nähe unseres Hauses zu treffen. Zuerst bemerkte er mich nicht, sodass ich ihn beobachten konnte, während er die Straße entlangging. Er trug einen dicken Mantel, den wir zusammen ausgesucht hatten, und hielt den Kopf leicht gesenkt. Aber ich konnte trotzdem seinen ernsten, fast schon grimmigen Gesichtsausdruck sehen. An einem anderen Tag hätte ich ihn gefragt, worüber er denn so angestrengt nachdenke. So aber wusste ich es. Ich wusste, was sein Gesicht so angespannt und sorgenvoll wirken ließ, und seinen Mund so schmal. Ich.

Als er mich erkannte, wurde sein Gesicht ausdruckslos, und er schob die Hände noch tiefer in die Manteltaschen.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich.

»Schon gut.«

Gemeinsam stapften wir in den kleinen Park. Ich räusperte mich, brachte aber trotzdem keinen Ton heraus.

»Hattest du eine schöne Nacht?«, fragte er.

»Nein.«

»Hast du sie mit einem Mann verbracht?«

»Nein.« Ich holte so tief Luft, dass es schmerzte. Ich spürte ein paar kalte Regentropfen auf meinem Gesicht. »Du warst gestern Abend unterwegs, deswegen bin ich auch ausgegangen. Mit einem Typen namens Stuart, einem Kunden. Es war kein Rendezvous oder so was. Stuart ist derjenige, mit dem ich auf der Kunstausstellung war, aber er bedeutet mir nichts. Es ist wirklich blöd. Anscheinend kann ich nicht allein sein. Sind viele Menschen um mich herum, habe ich oft das Gefühl, dass ich gleich durchdrehe oder explodiere, wenn ich nicht sofort verschwinde, um meine Ruhe zu haben. Bin ich dann aber allein, kann ich das auch nicht ertragen. Ich kann es nicht erklären, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, ich –«

»Wie wär’s, wenn du mit Rees anfängst? Ich glaube, den Namen habe ich richtig verstanden, oder?«

Eiseskälte fraß sich bis in meine Knochen. »Rees?«, fragte ich.

»Was ist mit ihm?«

»Das würde ich gern von dir erfahren.«

»Er ist nicht wichtig.«

»Du meinst, genau wie dieser Stuart?«

»Nein, ich meine … es hatte irgendwie gar nichts mit ihm zu tun … das, was passiert ist, obwohl er natürlich dabei war, aber es hätte jeder sein können. Ich meine …« Ich rieb mir hektisch die Augen. Ich wusste selbst nicht, was ich meinte. Ich hätte ihm so gern in klaren, verständlichen Worten berichtet, wie das alles abgelaufen war, meine Sünden und Verfehlungen offen und ehrlich auf den Tisch gelegt, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es war, als hätte ich ein Knäuel von Drähten im Kopf, sodass ich nur wirres Zeug daherredete.

»Woher weißt du von ihm?«, fragte ich stattdessen.

»Er hat mich angerufen«, antwortete Charlie. Zum ersten Mal klang seine Stimme ein wenig brüchig. Vor Kummer? Wut?

Hass? Ich wusste es nicht.

»O mein Gott, Charlie, das tut mir Leid. Es tut mir so Leid.

Was hat er gesagt?«

»Das erste Mal hat er mich auf dem Handy angerufen. Ich frage mich, wie er an die Nummer gekommen ist.« Verlegen murmelte ich etwas, aber er sprach weiter, ohne auf mein Gestammel zu achten. »Er hat mich gefragt, ob ich weiß, was du alles treibst. Ich dachte erst, es wäre irgendein Irrer, der ausge-tickt ist, weil du ihm etwas angetan hast; davon scheint es zurzeit ja einige zu geben. Beim zweiten Mal, vor zwei Tagen, hat er zu Hause angerufen und nach dir verlangt, und dann hat eins zum anderen geführt, und er hat mir gesagt, wer er ist.«

»Was hat er dir erzählt?«

»Das dritte Mal, gestern Abend, hat er gesagt, du seist im Bett eine richtige Wildkatze. Dann fragte er mich, ob ich wisse, was du in dem Moment gerade treibst.«

»Wie schrecklich für dich. Wie widerlich. Du hättest es mir sagen sollen.«

»Was? Hättest du mich dann getröstet?«

Ich begann wieder wirres Zeug zu stammeln, aber Charlie unterbrach mich: »Sag mir bloß eins: Hast du mit diesem Kerl geschlafen?«

»Ja«, antwortete ich. »Vor ungefähr einem Monat. Ich war total betrunken.«

»Mal wieder.«

»Ja. Mal wieder. Und da ist alles außer Kontrolle geraten. Ich konnte hinterher selbst nicht fassen, dass ich das wirklich getan hatte. Es war wie ein Traum, ein Alptraum, als wäre eine andere Person in meinen Körper geschlüpft. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wie er ausgesehen hatte. Ich wollte einfach so tun, als wäre es nicht passiert.«

Ein Ausdruck tiefsten Abscheus huschte über Charlies Gesicht. Ich streckte die Hand nach ihm aus, aber er rückte von mir ab, als wäre es ihm unerträglich, von mir angefasst zu werden.

Das konnte ich gut verstehen. Ich fand mich selbst zum Kotzen.

»Ich weiß«, fuhr ich fort. »Ich will damit nur sagen, dass es ein unendlich dummer, völlig sinnloser One-Night-Stand war. Ich habe dir nichts davon erzählt, weil … na ja, weil ich wusste, dass es dich verletzen würde, und weil es nichts zu bedeuten hatte. Es hatte wirklich nichts zu bedeuten«, wiederholte ich.

»Jedenfalls bedeutet es nicht, dass ich dich nicht mehr liebe und begehre. Ich liebe nur dich. Charlie?«

Er musterte mich mit einem Blick, aus dem fast so etwas wie Staunen sprach. »Weißt du eigentlich, was du da redest?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Wie soll ich darauf deiner Meinung nach reagieren – auf diesen ganzen Mist?«

»So etwas wird nie wieder passieren. Ich werde mich ändern«, antwortete ich verzweifelt. »Wenn du mir noch eine Chance gibst. Wenn du mir verzeihst.«

»Weißt du was, Holly? Ich kann darüber jetzt nicht sprechen.«

»Charlie –«

»Ich war immer so stolz auf dich … so stolz, derjenige zu sein, den du geheiratet hast.«

»Bitte, ich werde dafür sorgen, dass du wieder stolz auf mich sein kannst. Bitte.«

»Ich komme mir vor wie ein Vollidiot. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich muss erst mal nachdenken. Ein bisschen allein sein.«

»Ja, ja, natürlich. Das verstehe ich. Aber ich werde … na ja, ich werde bereit sein, wann immer du wieder mit mir reden möchtest. Ich bleibe heute zu Hause. Gehe nicht in die Arbeit.

Ich werde … ich werde einfach daheim bleiben. Ich werde auf dich warten, ja?«

»Wie du meinst.«

Er verließ den Park. Ich schaute ihm nach. Er ging mit gesenktem Kopf. Sein langer Mantel wehte im Wind. Ich sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Dann setzte ich mich auf eine Bank.

Als kleines Mädchen machte ich immer lange Spaziergänge mit meinem Vater. Jedes Mal, wenn wir einen Zaun oder eine Mauer erreichten, kletterte ich hinauf, und wenn ich oben war, forderte er mich auf, in seine ausgestreckten Arme zu springen.

Ich zögerte nie. Sogar wenn es sehr hoch war, stürzte ich mich hinunter, weil ich wusste, dass er mich auffangen würde. Er nannte mich seinen Wildfang. Seine Heldin. Ich flog durch die Luft in die Sicherheit seiner Arme. Dann verließ er mich, und ich flog immer noch durch die Luft, aber es war niemand mehr da, der mich retten konnte, niemand, der mich auffing, wenn ich fiel.

Irgendwann erhob ich mich. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich auf der Bank gesessen hatte, aber meine Hände waren von der Kälte ganz weiß.

Als ich zu Hause ankam, traf ich Naomi, und sie fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken. Ich wollte sie schon abwimmeln, aber dann dachte ich mir: Warum nicht?

Als ich meine Schlüssel herausholte, stellte ich fest, dass der Haustürschlüssel fehlte. Ich wühlte in meiner Tasche herum, weil ich hoffte, dass er sich dort irgendwo versteckt hatte, konnte ihn aber nicht finden.

»Ich hasse das!«, stöhnte ich, fast schon den Tränen nahe.

»Immer verliere ich meine Schlüssel. Schlüssel, Geldbörsen, Sonnenbrillen, Handys, Schirme. Egal. Ich verliere alles.«

»Aber du hast doch einen Schlüsselring, und deine ganzen anderen Schlüssel hängen noch dran. Wie kannst du da einen verlieren?«, fragte sie geduldig.

»Es ist ein ganz blöder Schlüsselring«, antwortete ich. »Absolut blöd. Sieh dir das an. Ich kann mich bloß nicht davon trennen, weil er meinem bescheuerten Vater gehört hat. Hah.«

»Ist ja nicht so schlimm. Du hast mir doch vor Monaten mal einen Ersatzschlüssel gegeben, für Notfälle. Ich hole ihn dir schnell.«

Ich ließ mich auf der Haustreppe nieder. Nach ein paar Minuten kam sie mit dem Schlüssel zurück.

»Hier. Behalte ihn, bis du den anderen gefunden hast.«

»Danke.«

»Oder glaubst du, jemand hat ihn gestohlen?«

»Gestohlen?« Ich versuchte, mir meine plötzliche Angst nicht anmerken zu lassen. »Wie kommst du darauf?«

Sie zuckte mit den Achseln. Dann schloss sie meine Haustür auf und reichte mir den Schlüssel.

Am Ende war sie diejenige, die den Kaffee machte und im hintersten Winkel des Küchenschranks ein Päckchen Kekse fand. Sie erklärte, ich sähe ein bisschen blass und kränklich aus, und nötigte mich, zwei Schokoladenkekse zu essen. Dann fragte sie mich, was mir fehle. Ich wollte antworten, mir fehle nichts, es gehe mir gut, aber mir liefen bereits die Tränen über die Wangen. Als sie mich umarmte, stellte ich fest, dass sie nach Vanille und etwas Würzigem wie Muskat roch. Ein paar Sekunden lang genoss ich die mütterliche Wärme ihrer Umar-mung.

»Du hast gebacken«, murmelte ich mit tränenerstickter Stimme.

Während sie mir die Tränen vom Gesicht wischte und meine Hand hielt, versuchte sie, mich mit beruhigenden Worten zu trösten. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, bestimmt würde ich mich bald wieder besser fühlen.

Dann ging sie, und ich blieb einfach am Küchentisch sitzen.

Ich wartete auf Charlie, auch wenn ich nicht viel Hoffnung hatte, dass er tatsächlich nach Hause kommen würde. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, legte ich die Wange auf das gemaserte Holz der Tischplatte und schloss die Augen.

Ich würde einfach schlafen. Schlafen und nie wieder aufwachen.

15

Ich hatte mich immer für völlig unentbehrlich gehalten, mir eingebildet, diejenige zu sein, die den Großteil der Arbeit machte, die Firma über Wasser hielt, Charlie dabei half, seine künstlerischen Ambitionen zu verwirklichen, und als strahlender Mittelpunkt jede Party bereicherte. Damit war nun Schluss.

Inzwischen kam ich mir eher vor wie der schwächste Teilnehmer einer Expedition, der alle aufhielt und deren Leben gefährdete. Ich war das Mädchen in dem alten Schwarzweiß-

Sciencefictionfilm, dessen Pfennigabsatz abbrach, während sie gerade vor dem Monster davonlief.

Ich stand in der Regent Street und holte tief Luft. Es hing alles davon ab, was für eine Einstellung man zu den Dingen hatte. Ich brauchte nur meine Einstellung zu ändern, dann würde sich auch mein Verhalten ändern, und alles würde wieder gut werden.

Ich bummelte durch ein paar Läden. In dem ersten, einer Buchhandlung, entdeckte ich eine Sammlung von Gedichten, die einen zumindest laut Einleitung glücklich stimmen sollten. Und nachdem ich ein kurzes Gedicht gelesen hatte, das mich zum Lächeln brachte, erstand ich gleich dreißig Exemplare.

Dann ging ich, unter dem Gewicht der Bücherkiste schwankend, in ein Schreibwarengeschäft und suchte dort eine Postkarte von einem Stillleben aus, das nur ein Glas Wasser und eine Knoblauchknolle zeigte. Wieder erwarb ich dreißig Stück.

Auf dem Rückweg zur Arbeit schaute ich dann noch in einen Haushaltswarenladen. Ich suchte nach etwas ganz Besonderem, auch wenn ich selbst noch keine klare Vorstellung davon hatte, wie es aussehen sollte. Auf jeden Fall wollte ich etwas aus Holz.

Plötzlich entdeckte ich genau das Richtige: einen Holzstab mit zwei Scheiben am Ende, einer kleinen und einer etwas größeren.

Als ich eine Verkäuferin fragte, was für eine Funktion es habe, erklärte sie mir, es sei für flüssigen Honig. Ich fand das großartig und nahm gleich den ganzen Korb voll mit.

Nachdem ich wieder im Büro war, verteilte ich die Sachen an die Mädchen. Es war noch eine Menge übrig. Ich steckte sie in ein Päckchen, legte eine Karte dazu und adressierte das Ganze an den Chef von eYel, der Designfirma, für die ich ein Event organisieren sollte: »Lieber Craig, da ich leider keine Zeit hatte, ein Konzept auszuarbeiten, schicke ich stattdessen ein paar kleine Präsente. Mit lieben Grüßen, Holly.« Ich bat Lola, es per Kurier an die Firma zu senden.

Als ich meinen Blick durchs Büro schweifen ließ, ging mir mal wieder durch den Kopf, wie dringend wir ein paar abge-trennte Bereiche brauchten, in denen man in Ruhe arbeiten konnte. Spontan rief ich einen Architekten an, den die Nachbarin von Lolas Mutter kannte. Er versprach, bald vorbeizu-kommen, um sich das Büro anzusehen und ein paar Entwürfe vorzulegen.

Danach überkam mich wieder große Müdigkeit. Ich wollte nur noch schlafen. Mit mehr Schlaf würde ich mein Leben sicher wieder in den Griff bekommen, und alles würde gut werden. Ich machte eine Stunde eher Schluss, fuhr nach Hause und legte mich ins Bett. Mir war kalt. Ich hätte eine Wärmflasche gebraucht, aber wir besaßen keine. Ich stand also noch einmal auf, schlüpfte in eine Jogginghose und ein Sweatshirt und breitete eine zusätzliche Decke über das Bett, ehe ich mich wieder hinlegte. Irgendwann bekam ich verschwommen mit, dass Charlie den Raum betrat, etwas sagte – ich wusste nicht mal, ob seine Worte überhaupt an mich gerichtet waren – und wieder ging.

Als am nächsten Morgen um acht der Wecker läutete, ging es mir besser. Ich hatte vierzehn Stunden geschlafen und tauchte wie neugeboren aus der Bewusstlosigkeit auf, auch wenn ich mich noch ein wenig benommen fühlte. Nun waren die Kontu-ren der Welt wieder scharf und klar. Meine Panik hatte sich ebenfalls gelegt. Ich wusste, dass es in meinem Leben ein paar große Probleme gab, aber ich hatte endlich das Gefühl, ihnen gewachsen zu sein. Nachdem ich geduscht und mir die Haare gewaschen hatte, schlüpfte ich in einen dunklen Hosenanzug.

Charlie schlief noch wie ein Murmeltier. Beim Anblick seiner zerzausten Haare und seines nur halb unter dem Kissen hervor-lugenden Gesichts spürte ich einen ziehenden Schmerz in der Brust. Ich legte ihm einen Zettel auf den Tisch, auf den ich schrieb, dass ich ihn sehr, sehr liebte und dass wir reden müssten.

Ich traf vor allen anderen im Büro ein, trank erst mal eine Tasse starken Kaffee und nahm dann den Stapel Arbeit in Angriff, den ich noch nicht erledigt hatte. Noch schlimmer war der kleinere Stapel, den ich bereits erledigt hatte und bei dem mir ein paar Fehler unterlaufen waren, die es nun wieder auszubügeln galt. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, fast wie bei einem Frühjahrsputz, und mir wurde klar, dass ich es schaffen würde. Ich wollte den ganzen Stapel bis zur Mittagspause, die ich im Büro verbringen würde, fertig haben. Ich arbeitete konzentriert und mit gesenktem Kopf, sodass ich überhaupt nicht mitbekam, was um mich herum vorging. Als Meg mir auf die Schulter tippte, fuhr ich erschrocken hoch. Ich wusste nicht mal, wie spät es schon war. Ich warf einen Blick auf meine Uhr: zehn nach zwölf.

»Kann ich dich einen Moment sprechen?«, fragte sie.

»Klar.«

»Im Konferenzraum.«

»Wieso denn das?«

»Es dauert nur eine Minute.«

Ich folgte Meg und blieb dann wie vom Donner gerührt stehen. Trish saß bereits am Tisch, außerdem eine Frau, die ich nicht kannte, und zwischen ihnen Charlie. Seltsamerweise war mein erster Gedanke nicht, was er hier machte, sondern wie er hereingekommen war, ohne dass ich es bemerkt hatte. Offenbar hatte er den Hintereingang benutzt. Meg setzte sich neben die anderen und forderte mich dann mit einer Handbewegung auf, ihnen gegenüber Platz zu nehmen. Ich kam mir vor wie bei einem Bewerbungsgespräch.

»Was soll das werden?«, fragte ich. »Eine neue Folge von

›This Is Your Life‹?«

»Das hier ist Dr. Jean Difford«, erklärte Meg. »Sie erteilt Ratschläge bei Problemen am Arbeitsplatz.«

»Welche Art Ratschläge?«

»Medizinische.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte ich. »Was soll das alles?«

Jean Difford bedachte mich mit einem Lächeln, das mich wohl beruhigen sollte, bei mir allerdings die gegenteilige Wirkung erzielte. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Holly«, sagte sie. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Was denn?«

»Kennen Sie Glenstone Manor?«

»Nein.«

»Ich habe dort für heute einen Termin für Sie vereinbart.«

Nun folgte eine lange Pause. Ich sah erst Meg und Trish an, dann Charlie. Meg und Trish starrten auf die Tischplatte, aber Charlie musterte mich besorgt. Zum ersten Mal seit Tagen erkannte ich wieder Liebe in seinem Blick. Oder Mitleid?

»Das hier ist eine Art Verschwörung«, erklärte er. »Wir machen uns alle Sorgen um dich. Irgendetwas läuft bei dir schief, und wir glauben, dass du Hilfe brauchst.«

»Du kannst nicht so weitermachen«, pflichtete Meg ihm bei.

»Darüber habe ich selbst zu entscheiden, würde ich sagen.«

»Nein«, widersprach Charlie. »Wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist, muss man eingreifen.«

»Ihr habt über mich gesprochen. Mich analysiert.« Ich wandte mich an Meg. »Das ist deine Rache, oder?«

»Nein.«

»Du warst gestern gar nicht beim Zahnarzt. Du warst damit beschäftigt, diesen … diesen Hinterhalt zu planen.«

»Es ist kein Hinterhalt, sondern ein Aktionsplan«, mischte Trish sich ein.

»Na schön. Wie sieht dieser Aktionsplan denn aus?«

»Sie gehen nach Glenstone Manor«, erklärte Dr. Difford.

»Dort werden Sie durchgecheckt und behandelt. Das Ganze wird ein bis zwei Wochen in Anspruch nehmen.«

»Wie bitte?«, sagte ich. »Sie sind doch Ärztin.«

»Ja.«

»Wissen Sie, was mich am meisten irritiert? Sie sagen, ich müsse in eine Anstalt. Dabei kennen Sie mich doch überhaupt nicht.«

»Ich habe mit Ihren Kolleginnen und Ihrem Mann gesprochen.« Ich warf Charlie einen fragenden Blick zu. Er hatte immerhin den Anstand, ein wenig beschämt dreinzublicken.

»Sie wollen Ihnen helfen.«

Ich holte tief Luft und zwang mich dann zu lächeln. »Sie können sich bestimmt vorstellen, dass mich das alles ein wenig unvorbereitet trifft«, sagte ich. »Darf ich noch ein paar Fragen stellen, bevor ich abtransportiert werde?«

»Sie können fragen, was Sie möchten«, antwortete Dr. Difford. Die Art, wie sie mit mir sprach – ruhig und geduldig, als stünde ich gerade mit Selbstmordabsichten auf einem Fenstersims –, trieb mich zur Weißglut.

»Ist irgendjemand hier der Meinung, dass ich ein Drogenprob-lem habe?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Meg.

»Alkohol?«

»Nicht mehr als viele andere.«

»Was fehlt mir dann eurer Meinung nach?«

Zunächst gab mir niemand eine Antwort.

»Das besprechen wir in Glenstone Manor«, sagte Dr. Difford schließlich.

»Ihr glaubt alle, dass ich am Durchdrehen bin.«

Alle schwiegen.

»Zugegeben, die letzten paar Wochen ist bei mir einiges schief gelaufen«, erklärte ich. »Das streite ich ja gar nicht ab. Es gab ein, zwei Abende, an denen die Dinge außer Kontrolle geraten sind. Ich bin nicht stolz auf mein Verhalten, aber dabei, mich mit den Folgen auseinander zu setzen. Was meine Arbeit betrifft, war ich in den letzten Tagen auch nicht gerade in Höchstform, aber das habe ich schon wieder in Ordnung gebracht. Ihr hättet erst einmal mit mir darüber reden sollen, Meg, Trish« – ich funkelte die beiden wütend an –, »bevor ihr euch hinter meinem Rücken an irgendeine Ärztin wendet, die sich einbildet, eine Diagnose stellen zu können, ohne mich auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben. Damit meine ich vor allem dich, Meg, denn du bist meine Freundin – oder warst es zumindest mal. Und was Charlie betrifft, bin ich mir meiner Ausrutscher durchaus bewusst, aber das geht nur uns beide etwas an. Es tut mir Leid, wenn ich euch das sagen muss, aber das hier ist reine Zeitverschwendung.«

»Wir haben darüber lange diskutiert«, sagte Trish. »Wir halten es für richtig und nötig.«

»Ihr hättet mit mir darüber diskutieren sollen.«

»Das tun wir gerade.«

»Nein, ihr –« Ich konnte kaum noch sprechen, so wütend war ich. »Hört zu, es mag ja sein, dass es an der Zeit ist, die Karten auf den Tisch zu legen. Das gebe ich durchaus zu. Ich hatte diese Woche ein paar schlechte Tage –«

»Es geht nicht um diese Woche«, unterbrach mich Meg. »Das weißt du ganz genau.«

»Meg und ich haben diese Firma gemeinsam gegründet, und während des letzten Jahres habe ich den Laden fast im Allein-gang am Laufen gehalten. Wer hat ungefähr neun Zehntel unserer Kunden aufgetan? Ich. Wer belabert sie ganze Abende lang? Ich. Wer leitet die Präsentationen? Ich. Wer plant die Events? Wer hat die Ideen? Wer verkauft sie?«

»Ein paar von uns machen hier auch ihre Arbeit«, erklärte Meg. »Langweilige Sachen, wie zum Beispiel die Buchhaltung.

Oder das Aufräumen der Scherben, die du ab und zu hinterlässt.«

»Als ihr euch alle in die Hosen gemacht habt, weil ihr euch nicht getraut habt, dieser fiesen Deborah Trickett eine auf den Deckel zu geben, wer hat denn da in den sauren Apfel gebissen und sie gefeuert? Seitdem macht sie mich in ganz London schlecht. Das wäre deine Aufgabe gewesen, Trish. Ich habe ein Jahr lang sieben Tage die Woche gearbeitet, und wenn ich nicht im Büro war, dann habe ich mich der so genannten Unterhaltung unserer Kunden gewidmet. Dabei sind ein paar Dinge ein wenig aus dem Ruder gelaufen, aber ich bin gerade dabei, das wieder in den Griff zu bekommen; denn das ist ja schließlich mein Job.

Geht raus und werft einen Blick auf meinen Schreibtisch. Wenn ihr auch nur einen einzigen Fehler findet, irgendein Problem, um das ich mich noch nicht gekümmert habe, dann dürft ihr mich in die Klapse verfrachten und mir spritzen, was ihr wollt.«

Trish hüstelte leise. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ein paar Ausdrucke vor sich liegen hatte. »In den letzten Tagen«, erklärte sie in geschäftsmäßigem Ton, »sind dir ein paar sehr seltsame Fehler unterlaufen. Es kamen deswegen schon mehrere Anfra-gen von Kunden.«

»Lass sehen!« Ihr riss ihr die Unterlagen aus der Hand. Meine Wangen brannten vor Scham.

In dem Moment klopfte es an der Tür. Meg und Trish blickten sich genervt um. Die Tür ging auf, und Lola streckte den Kopf herein.

»Ein Anruf für Holly«, sagte sie.

»Sag, dass wir in einer Besprechung sind«, antwortete Trish.

»Wir rufen zurück.«

»Es ist Craig von eYel, für die wir das Event organisieren sollen. Er möchte sofort mit Holly sprechen.«

Meg und Trish sahen sich an. Meg stand auf. »Ich werde mit ihm reden«, erklärte sie.

»Holly«, sagte Charlie mit mitleidsvoller Stimme. »Wir überlegen doch nur, was das Beste für dich ist.«

»Das ist die Frage«, entgegnete ich. »Habt ihr eigentlich vor, mich zwangseinweisen zu lassen? Gegen meinen Willen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr zu einer solchen Gemeinheit fähig seid. Außerdem ist das wahrscheinlich rechtlich gar nicht möglich. Trish wird nicht zulassen, dass ihr etwas Regelwidri-ges tut. Ich werde also nicht in dieses Glenstone Manor gehen, sondern ganz normal weitermachen und jeden Tag von neun bis sechs zur Arbeit erscheinen. Ich werde euch beweisen, wie ruhig und vernünftig und wohl erzogen ich sein kann. Und wenn ich etwas tue, womit ihr nicht einverstanden seid, oder wenn mir Fehler unterlaufen, dann kommt zu mir und besprecht das mit mir.«

Nun folgte ein langes, zunehmend peinliches Schweigen.

Schließlich kam Meg zurück und setzte sich wieder. Sie machte einen ziemlich verstörten Eindruck. »Was ist?«, fragte Trish.

Meg ignorierte sie und wandte sich an mich: »Falls du wieder einmal vorhast, wichtigen Kunden, mit denen wir noch keinen Vertrag haben, Päckchen mit Küchenutensilien und Gedichtbänden zu schicken, dann wäre es vielleicht ratsam, wenn du dich vorher mit uns absprichst.«

»Tut mir Leid.« Vielleicht sollte ich mir diese drei Worte auf die Stirn tätowieren lassen. Dadurch würde ich eine Menge Zeit sparen.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, fragte Trish.

»Wir hätten diesen Auftrag so dringend gebraucht.«

»Er will sich morgen mit dir treffen«, informierte mich Meg.

»Sie sind also noch nicht abgesprungen?«

Meg wand sich verlegen. »Er möchte morgen darüber sprechen.«

»Mit uns allen?«

»Er hat gesagt, er möchte sich mit Holly treffen.«

»Du hättest trotzdem vorher mit uns darüber reden sollen«, meinte Trish. »Außerdem sind wir noch immer zu keiner Entscheidung gekommen.«

Ich spürte, dass sie ins Wanken geraten waren, und erhob mich. »Es tut mir Leid, dass ihr meinetwegen so viel Mühe hattet«, sagte ich in sehr freundlichem, höflichem Ton. »Und es tut mir auch Leid, dass ihr euch so viele unnötige Sorgen um mich gemacht habt.«

Ich wandte mich an Charlie. »Wir müssen reden. Darf ich dich heute Abend zum Essen ausführen? Ich habe dir eine Menge zu sagen. Und ich möchte mich bei dir entschuldigen.«

Sein Blick ruhte eine Weile auf mir. »In Ordnung, Holly.«

»Das ist die einzige Therapie, die ich brauche.«

Es war wie bei einer Aufführung, bei der die Leute das Theater verlassen mussten, bevor sie den letzten Akt des Stücks gesehen hatten. Ich beobachtete, wie Meg und Dr. Difford beim Hinausgehen leise ein paar Worte wechselten, aber das war mir egal.

Ich hatte Wichtigeres im Kopf. Ich musste erst einmal Ordnung in mein Leben und meine Ehe bringen.

16

Wir saßen in einem ruhigen italienischen Restaurant ganz in der Nähe unseres Hauses an einem Fenstertisch. Charlie trank Bier, ich Mineralwasser. Wir beobachteten die Leute draußen auf dem Gehsteig, von denen die meisten es ziemlich eilig hatten, aus dem Regen ins Trockene zu kommen. Ich erinnerte Charlie daran, wie viel Spaß es uns in der Anfangszeit unserer Beziehung gemacht hatte, in einem Lokal zu sitzen und die Geschichten der Leute an den anderen Tischen zu erraten. Sein Lächeln wirkte gezwungen. Er gab sich Mühe, aber ihm war deutlich anzumerken, dass er wütend und auch verletzt war. Er beugte sich so weit zu mir herüber, dass niemand anderer hören konnte, was er sagte. »Ich habe darüber nachgedacht, einfach zu gehen und dich niemals wiederzusehen. Aber dann …« Er hielt inne und starrte mich an, als würde er mit sich ringen.

»Ja?«

»Ich weiß auch nicht. Es ist alles so chaotisch. Aber du bist zurzeit einfach nicht du selbst.«

»Oh, bitte, fang nicht schon wieder damit an. Was? Was denkst du?«

Er nahm meine zitternden, kalten Hände in seine warmen und sagte, dass wir es schon wieder auf die Reihe kriegen würden, egal, wie schwer es auch sei. Er fügte hinzu, wir seien jetzt genau ein Jahr verheiratet, und auch wenn wir im Moment nicht viel Grund zum Feiern hätten, sollten wir zumindest gute Vorsätze fassen. Das nächste Jahr unserer Ehe müsse besser werden. Er wolle, dass wir von nun an eine richtige Ehe führten, in der beide Partner aufeinander Rücksicht nahmen, und er habe vor, mir zu helfen.

Ich versuchte ihm zu sagen, dass ich keine Hilfe brauchte, weil ich mich wirklich ändern würde, sogar schon damit angefangen hätte, wovon er sich bald werde überzeugen können. Aber er ließ mich nicht ausreden und meinte, das alles könnten wir später diskutieren. Zuerst müsse ich mich ausruhen und erholen.

Ich begann entrüstet zu erklären, dass ich gar nicht krank sei, doch er entgegnete, ich solle es sein lassen. »Man muss nicht immer über alles reden«, fügte er hinzu.

Ich wollte widersprechen, aber dann verließ mich plötzlich meine ganze Streitlust. Es war, als wäre mein Gehirn in Scheiben geschnitten worden, fein säuberlich aufgeteilt in Wut und Trotz, Demütigung und Scham, grimmige Ironie, Aggression und Gleichgültigkeit. Keine der Scheiben schien mit den anderen in Verbindung zu stehen, und ich wusste nicht, mit welchem Stück von mir ich sprechen sollte. Ich fragte ihn kläglich, ob er mich noch liebe, aber er schien meine Frage nicht zu hören. Deswegen sagte ich aus heiterem Himmel und sogar für mich selbst unerwartet: »Ich habe meinen Schlüssel verloren.«

»Was?«

»Ich habe meinen Schlüssel verloren«, wiederholte ich. »Er hängt nicht mehr an meinem Schlüsselring.«

»Du verlierst doch dauernd deine Schlüssel«, antwortete er, völlig aus dem Konzept gebracht. »Was hat denn das mit all dem anderen zu tun?«

»Ich weiß nicht. Ich wollte es dir bloß sagen.«

»Gut, jetzt hast du es mir gesagt. Ich werde dir einen nachmachen lassen – und du besorgst dir einen Schlüsselring, der nicht die ganze Zeit aufgeht.«

Wir bestellten uns etwas ganz Einfaches zu essen, nur Risotto und Salat. Charlie trank ein Glas Weißwein, während ich beim Wasser blieb. Wir aßen angespannt, fast schweigend, als würden wir einander noch nicht lange kennen und uns erst einmal vorsichtig umkreisen.

Charlie kam mir irgendwie anders vor. In den vergangenen Wochen war er oft schweigsam und gereizt gewesen, unzufrieden und verbittert. Zum Teil hatte er sich das selbst zuzuschreiben, und diese Tatsache hatte mich ebenfalls wütend gemacht, was wiederum zur Folge hatte, dass er noch unzufriedener wurde und ich immer noch wütender. Andrerseits war sein Zorn aber auch eine weiß Gott verständliche Reaktion auf mein Verhalten gewesen. Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, als wäre das, was als Ehe begann, zu einem psychologischen Experiment verkommen, bei dem zwei Menschen in einem Raum zusammengesperrt waren, damit sie sich gegenseitig zu Tode quälten.

Jetzt erschien er mir viel ruhiger, fast schon zufrieden, als hätte er alles unter Kontrolle – als könnte er mich beschützen. Er hatte, was uns betraf, seine Entscheidung getroffen. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich bei Charlie noch nie gesehen. Er weckte in mir das Bedürfnis, mich in seine Arme zu flüchten.

Gleichzeitig verspürte ich aber auch den Wunsch, mich in ein tiefes, dunkles Loch zu verkriechen und dort zu schlafen, bis es wieder Frühling wurde. Ich entschied mich für das Nächstlie-gende: Ich aß ein paar Bissen Risotto, nahm einen Schluck von Charlies Wein und stieg dann in das Taxi, das er für uns bestellt hatte. Zu Hause ließ er mir ein Bad ein, und nachdem ich eine ganze Weile in der Wanne gelegen hatte, ging ich ins Bett. Dort lag ich und starrte die scheußliche Skulptur an, bis Charlie mit einer Tasse Tee und einem Keks hereinkam. Ich fühlte mich fast wieder wie ein Kind. Er schaltete das Licht aus und blieb noch einen Augenblick im Türrahmen stehen.

Am nächsten Morgen fand ich im Büro eine Nachricht von eYel vor. Sie bestand nur aus dem Namen der Bar ganz in der Nähe unseres Büros, wo Craig sich nach der Arbeit mit mir treffen wollte. Dass ich seiner Firma dieses Päckchen geschickt hatte, war mir inzwischen äußerst peinlich. Vielleicht konnte ich das Ganze als Scherz hinstellen oder als liebenswerte Macke …

Ich bat Lola, mir in dem Café gegenüber zwei doppelte Espressos zu besorgen. Als sie damit zurückkam, ging ich mit beiden Tassen zu Meg, die mich mit grimmiger Miene empfing.

»Vielleicht solltest du mich begleiten«, sagte ich.

»Du brauchst mich nicht.«

»Ich glaube, ich brauche dich viel zu sehr.«

»Er hat ausdrücklich gesagt, dass er sich mit dir treffen will.«

Ich nahm einen großen Schluck Kaffee. Dass ich mir dabei die Zunge verbrannte, war mir nur recht. Megs Tasse stand noch unberührt auf ihrem Schreibtisch.

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Was?«

»Musst du die Existenz unserer Firma eigentlich jeden Tag von neuem aufs Spiel setzen? Wir sind nicht alle so wie du. Wir brauchen nicht so viel Aufregung.«

Schon in dem Moment, als ich Craig an der Bar sah, wusste ich, dass es gut ausgehen würde. Er hatte bereits einen halben Martini intus und lächelte breit, als er mich erkannte. Er wollte für mich ebenfalls einen Drink bestellen, aber ich lehnte ab. Ich würde mich erst einmal mit Wasser begnügen.

»Sie sind verrückt.« Mit diesen Worten leerte er sein Glas und bestellte ein zweites. »Das war genau das, was wir gebraucht haben. Jemanden, der nicht in den üblichen Mustern denkt. Hier, hören Sie sich das an.«

Der Gedichtband lag neben seinem Martiniglas auf der Theke.

Er griff danach und trug ein Gedicht vor. Es fiel mir schwer, ihm zu folgen.

»Ist das nicht großartig? Ich habe seit meinem Studium in Oxford kein Gedicht mehr gelesen. Und dieses Ding hier …« Er zog das Gerät für den flüssigen Honig aus der Tasche. »Es ist ein Gebrauchsgegenstand«, sagte er, »und trotzdem hat es etwas Witziges. Ich habe es ein paar Leuten gezeigt, und allen gefiel es.«

»Ich fand es auch witzig«, antwortete ich. Im Grunde war das so ziemlich das Einzige, was ich zu dem Gespräch beitrug. Ich fühlte mich viel zu wirr im Kopf, um etwas Vernünftiges zu sagen, sodass ich Craig einfach von seiner Designfirma erzählen ließ und an den richtigen Stellen nickte, um den Eindruck intensiven Nachdenkens zu erwecken. Und hin und wieder lächelte ich, als wäre ich auch ganz bei der Sache.

Nach einer Stunde stand er auf und gab mir die Hand. »Das war ein großartiges Gespräch«, erklärte er. »Ich habe das Gefühl, dass wir unsere Idee wirklich klar und deutlich darge-legt haben.«

Ich schüttelte seine Hand.

»Kann ich Sie irgendwo absetzen?«, fragte er.

»Nein. Ich gehe zurück ins Büro«, log ich.

»Ihr Leute seid wirklich unglaublich«, meinte er mit einem Lächeln. »Ich rufe Sie morgen an. Wir werden zusammen eine Menge Geld verdienen.«

Als ich allein war, bestellte ich mir noch ein Mineralwasser.

Viel dringender hätte ich Papier und einen Stift gebraucht, aber ich fing einfach an, die Liste in meinem Kopf aufzustellen.

Wichtig war, dass ich mein Leben Schritt für Schritt in Ordnung brachte, ein Problem nach dem anderen anging. Erstens: Charlie.

Zweitens: die Arbeit. Dann waren da noch die anderen Sachen, um die ich mich kümmern musste. Beispielsweise diese dumme Pokergeschichte. Bestimmt würden sie einsehen, dass das Ganze ein Missverständnis gewesen war. Das würde die Nummer drei auf meiner Liste sein. Ich bezahlte mein Mineralwasser und fragte, wo die Toilette sei. Die Barfrau erklärte mir den Weg ins Untergeschoss. Nachdem ich mir dort die Hände gewaschen hatte, warf ich einen Blick in den Spiegel und strich mir das Haar glatt. »Eins nach dem anderen«, sagte ich mir.

Als ich wieder auf den Gang hinaustrat, streifte ich im Vorbei-gehen einen Mann im Anzug und murmelte eine Entschuldigung. Plötzlich spürte ich eine Hand an meiner Schulter und wurde brutal gegen die unverputzte Ziegelwand gedrückt. Durch den dünnen Seidenstoff meines Kleides spürte ich die Kälte der Wand. Der Gesichtsausdruck, mit dem Rees mich anstarrte, hatte fast etwas Fragendes. »Du hast dich nicht bei mir gemeldet«, stellte er fest.

Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien. Seine Hand hob sich. Ich spürte die Wucht seines Schlags nicht, sah nur eine Explosion weißen Lichts und hörte das Geräusch, mit dem seine Hand auf mein Gesicht traf. Ich rang nach Luft.

»Du verarschst mich«, sagte er. »Das mag ich nicht.«

Er drückte seine linke Hand so fest gegen meinen Hals, dass ich nicht schreien konnte. Mit der Rechten streichelte er einen Moment lang die Stelle an meiner Wange, wo er mich getroffen hatte, dann ließ er seine Hand über meine Brüste, meinen Bauch und zwischen meine Beine wandern. Er lehnte sich an mich. Ich konnte das Klirren der Gläser und das Stimmengewirr hören, das von oben herunterdrang. Er flüsterte mir ins Ohr: »Du hast mit mir gespielt. Du hast mich so weit gebracht. Ich bin eigentlich gar nicht so. Ich war ein ganz normaler Mann mit einer Freundin …«

Es war verrückt. Mein Inneres fühlte sich an, als hätte es sich vor Angst verflüssigt. Ich wusste, dass ich ihm hilflos ausgelie-fert war und ihn nicht daran hindern konnte, mir alles Mögliche anzutun, aber als er voller Selbstmitleid davon zu sprechen anfing, dass er ein ganz normaler Mann sei, konnte ich mir trotz allem ein Lachen nicht verkneifen.

Sein Gesicht wurde rot vor Wut. »Du verdammte … du verdammte –«, keuchte er. »Und wie gefällt dir das?« Er rammt mir sein Knie so heftig in den Unterleib, dass ich vor Schmerz aufschrie, und begann dann an meinem Kleid herumzureißen. Er beugte sich zu mir herunter, bis ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte.

»Du hast mich gefickt«, flüsterte er. »Jetzt kann ich mit dir machen, was ich will.«

Mit der ganzen Energie, die ich noch besaß, spuckte ich ihn an. Befriedigt starrte ich auf die Ladung Speichel an seinem Hals. Er hob die Hand und verpasste mir einen weiteren Schlag.

Wieder spürte ich nichts, sondern hörte nur, wie mein Hinterkopf gegen die Wand knallte. Er legte eine Hand an den Ausschnitt meines Kleides, riss einen Moment daran herum, und presste dann plötzlich die Lippen auf meinen Mund. Ich biss zu, so fest ich konnte, und schmeckte Blut. Ich hörte ihn aufschrei-en. Wieder folgte eine Explosion, der nächste Schlag.

Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Rees ließ von mir ab.

Während er die Treppe hinaufrannte, kamen zwei Frauen herunter und gingen wortlos an mir vorbei. Sie schienen gar nicht zu bemerken, dass ich dort wie ein Häufchen Elend an der Wand lehnte.

Meine Beine zitterten, und mein Herz klopfte so heftig, dass ich ein paar Minuten lang nicht imstande war, mich zu bewegen.

Ich lehnte einfach an der Wand und lauschte dem Geräusch meines eigenen Atems. Dann wurde drinnen im Toilettenraum die Spülung betätigt, und ich schaffte es schließlich doch, die Treppe hinaufzugehen, zurück in die von hellem Licht und Gelächter erfüllte Bar und vor dort hinaus auf die dunkle Straße.

17

Ich schaute mich um. Eine stämmige Gestalt stolperte aus einer Seitengasse, und ich rang einen Moment nach Luft, aber es war nicht er, sondern irgendein anderer Mann im Anzug. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass es erst kurz nach sieben war. Im Juni wäre es jetzt noch stundenlang hell gewesen.

Wohin? Am besten nach Hause, aber die Taxis, die vorbeifuh-ren, waren alle besetzt, und mit der U-Bahn konnte ich in diesem Zustand unmöglich fahren. Ich zog mein Handy heraus, aber wen sollte ich anrufen? Vorsichtig legte ich eine Hand an meine Wange und unter mein Auge, berührte die angeschwolle-ne Haut. Das fühlte sich gar nicht gut an. Ich wickelte mich noch fester in meinen Mantel und versuchte, nicht daran zu denken, wie besitzergreifend seine Hand über meinen Körper geglitten war. Mir war kalt und übel.

Ich beschloss, zurück ins Büro zu gehen. Normalerweise hätte ich für die kurze Strecke nur eine Minute gebraucht, aber meine Beine zitterten so stark, dass ich nur ganz langsam vorankam.

Außerdem musste ich mich immer wieder umsehen, ob er sich noch irgendwo in der Nähe befand. In der Firma angekommen, ging ich geradewegs zur Toilette, schaltete das Licht an, stellte mich vor den Spiegel und betrachtete die Fremde, die mir entgegenstarrte. Die Augen waren blutunterlaufen, die Haut geschwollen, das Kleid zerrissen, und die Wange zierte ein Bluterguss. Ich zog den Mantel aus und inspizierte den Schaden.

Dann drehte ich das kalte Wasser auf und kühlte damit mein Gesicht. Als Nächstes tastete ich die Stelle an meinem Hinterkopf ab, mit der ich gegen die Wand geknallt war. Als ich anschließend meine Finger betrachtete, musste ich feststellen, dass sie blutverschmiert waren. Allmählich begann ich auch den Schmerz zu fühlen, der zunächst ausgeblieben war, und gleichzeitig überkam mich ein Gefühl tiefster Verzweiflung. Mir wurde davon richtig schwindlig, sodass ich mich am Waschbecken festhalten musste, um nicht umzukippen.

Ich schloss die Augen. Dann hörte ich draußen ein Geräusch.

Schritte kamen näher, ein Licht ging an. Ich konnte mich nicht bewegen, starrte einfach nur auf die lädierte, hilflose Frau im Spiegel. Die Schritte kamen näher, setzten kurz aus, bewegten sich dann weiter in meine Richtung. Knarrend ging die Tür auf.

Dann stand plötzlich Meg hinter mir. Ich drehte mich nicht um, aber unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und wir starrten uns wortlos an. Es war, als könnte sie einfach in mich hineinsehen, mit ihren Röntgenaugen in all die scheußlichen Teile von mir vordringen, von denen nicht einmal ich selbst wusste. In dem Moment fühlte ich mich so verängstigt und allein, dass ich es kaum noch schaffte, mich aufrechtzuhalten und weiter ihren Blick zu erwidern. War das, was sie mir entgegenbrachte, ein Gefühl von Freundschaft, das über Zuneigung und vielleicht sogar Liebe hinausging, eine Art furchteinflößendes, bis ins Innerste reichendes Wissen und Kennen? Oder war es etwas anderes?

»Meg«, sagte ich schließlich. »Was?«

»Das muss ein Ende haben.« Sie trat noch einen Schritt näher und legte mir eine Hand auf die Schulter. Durch mein dünnes Kleid spürte ich ihre warmen Finger. Ich empfand ihre Hand als sehr schwer. Wollte sie mich trösten, oder war das eher die Geste einer Wärterin, die eine Gefangene abführen wollte? Ich drehte mich zu ihr um. Sie legte mir einen Arm um die Schulter und geleitete mich ins Büro zurück.

»Du musst zur Polizei gehen – das wollte ich ja von Anfang an, aber jetzt musst du.«

»Aber –«

»Kein Aber. Der Typ ist gefährlich – das war mir schon klar, als ich ihn das erste Mal sah. Er wird es nicht dabei belassen.«

»Meg?«

»Ich fahre jetzt mit dir aufs Revier. Mein Wagen steht draußen in der Ladezone. Ich wollte nur schnell ein paar Akten holen.

Warte, ich bringe dir deinen Mantel.«

Sie kam mit dem Mantel zurück, half mir hinein und führte mich dann hinunter zu ihrem Wagen.

»Meg«, sagte ich, nachdem wir eingestiegen waren und Meg den Wagen angelassen hatte.

»Ja?«

»Was ist mit mir los?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich hab das Gefühl, dass du mir etwas verschweigst.«

»Wir sprechen später darüber.«

»Wir hatten doch früher nie Geheimnisse voreinander. Wir haben uns immer alles erzählt.«

»Jetzt musst du erst mal zur Polizei und diesen Rees anzeigen.

Alles andere kann warten.«

»Ich hasse es, wenn ich warten muss.«

»Ich weiß.«

»Hat Charlie eine Affäre?«

»Später, Holly.«

»Ich habe Recht, stimmt’s? Ich könnte es ihm nicht verdenken.

Die Frage ist nur, mit wem? Meg, mit wem?«

»Wir sind da.«

Als ich nach einer Wartezeit von vierzig Minuten schließlich einer Beamtin namens Gill Corcoran gegenübersaß, stellte ich fest, dass ich gar nicht recht wusste, wie ich die Geschichte erzählen sollte. Sie war so schwer in Worte zu fassen, so präsent und zugleich verschwommen, wie ein Alptraum, der einen schweißüberströmt aus dem Schlaf hochfahren lässt. Dass ich es am Ende doch schaffte, mich bis an ihr hässliches Ende durchzukämpfen, hatte ich hauptsächlich Meg zu verdanken, die neben dem Schreibtisch saß und mir immer wieder auf die Sprünge half, wenn ich stecken blieb.

Gill Corcoran hatte ein nettes Gesicht, kluge Augen und eine sympathische, anteilnehmende Art zuzuhören. Sie füllte den vor mir stehenden Styroporbecher immer wieder mit Wasser, das ich in großen Schlucken trank, als könnte ich damit alles hinunter-spülen, alles aus mir herausschwemmen. Sie ließ sich von mir in allen Einzelheiten schildern, wie Rees mich geschlagen hatte.

Sie begutachtete meine Wange und die Wunde an meinem Kopf, die immer noch blutete. Sie bat mich, ihr genau zu zeigen, wo er mich angefasst, was er alles gemacht hatte.

Ich schaute Meg nicht an, spürte aber ihren Blick, während ich erzählte, wie ich ihn kennen gelernt hatte. Ich berichtete von der Nacht, die wir zusammen verbracht hatten. Von den Anrufen, mit denen er Charlie belästigt, und von dem Slip, den er mir geschickt hatte. Meg starrte auf ihre Hände in ihrem Schoß.

Einmal sah ich – oder spürte eher –, wie sie zusammenzuckte, aber ich sprach einfach weiter. Nun erfuhr sie endlich, was für ein Mensch ich wirklich war. Gill Corcoran wirkte nicht geschockt und schien mich auch nicht zu verurteilen, wofür ich ihr sehr dankbar war.

»Ich werde jetzt ganz ehrlich zu Ihnen sein, Miss Krauss.«

»Holly.«

»Holly. Wir können ihn verhören. Eine Anzeige wäre auf-grund mehrerer Tatbestände berechtigt. Aber das wird nicht einfach.«

»Sehen Sie sich den Bluterguss an«, mischte Meg sich ein.

»Sie hatten eine Beziehung mit diesem Mann.«

»Keine Beziehung, sondern einen völlig sinnlosen, widerlichen One-Night …«

»Das geht mich nichts an. Ich weiß nur, wie es aussehen würde – oder wie man es aussehen lassen würde –, falls die Sache jemals vor Gericht käme.«

»Ich war betrunken«, räumte ich ein. »Betrunken, dumm, treulos, verrückt. Aber wollen Sie damit andeuten, dass er mich ungestraft überfallen und bedrohen kann, nur weil ich ein einziges Mal mit ihm Sex hatte?«

»Nein, das wollte ich damit ganz und gar nicht andeuten. Ich möchte nur, dass Ihnen bewusst ist, was das alles nach sich ziehen würde. Sie müssten vor Gericht all das schildern, was Sie gerade mir geschildert haben. Ihr Privatleben und Ihr Verhalten in dieser Sache würden einer genauen Prüfung unterzogen werden. Wissen Sie, wie viele Vergewaltigungsfälle mit einer Verurteilung enden?«

»Nein.«

»In manchen Gegenden des Landes nicht mal einer von fünf.

Obwohl da auch die Fälle mitgerechnet werden, bei denen das Opfer von einer ihr fremden Person vergewaltigt wird. Und das sind nur die Fälle, die überhaupt vor Gericht landen, weil die Polizei und die Staatsanwaltschaft eine Chance auf eine Verurteilung sehen. In den Fällen, bei denen das Opfer im Rahmen einer Verabredung vergewaltigt –«

»Er hat mich nicht vergewaltigt. Und es gab nie eine Verabredung«, stellte ich mit tonloser Stimme richtig.

»Mich brauchen Sie nicht zu überzeugen, Holly. Sie müssen sich bloß darüber im Klaren sein, worauf Sie sich einlassen. In Ihrem eigenen Interesse.«

»Verstehe.«

»Sie sind eine verheiratete Frau.«

»Ja.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte Meg wütend: »Aber er versucht es vielleicht wieder.«

Gill Corcoran gab ihr keine Antwort. Sie sah mich nur an. Mir war klar, dass sie Recht hatte.

»Sie würden Hackfleisch aus mir machen«, sagte ich. Ich wandte mich zu Meg. »Ich hatte kürzlich einen Traum. Einen Alptraum. Alle möglichen Leute deuteten laut schreiend mit dem Finger auf mich, ihre Gesichter waren zum Teil unscharf, zum Teil scharf, aber das änderte sich ständig. Rees war da, und Deborah auch. Und der Typ, der das Pokerspiel veranstaltet hat, und der Mann, den ich zu Boden geschlagen habe.«

Ich sah Meg überrascht blinzeln, redete aber einfach weiter:

»Und Charlie war auch da, glaube ich. Und du. Ihr habt mir alle Vorwürfe gemacht, mich schlimmer Dinge beschuldigt.

Wenn ich vor Gericht ginge, würde ich diesen Alptraum wahr werden lassen. Dann müsste ich das alles wirklich durchmachen.«

Ich stand auf und stellte fest, dass ich nicht mehr ganz so wackelige Beine hatte. »Vielen Dank«, sagte ich zu Gill Corcoran. »Sie haben mir sehr geholfen.«

Als wir uns die Hand gaben, ging mir durch den Kopf: Sie hätte eine Freundin von mir sein können. Eine Sorgen gewohnte Polizistin, die Nachtschicht schob. Ein kleiner Lichtblick in der Dunkelheit.

Meg fuhr mich nach Hause. Sie wollte noch mit hineinkom-men, doch ich bestand darauf, Charlie allein gegenüberzutreten.

18

Aber Charlie war nicht zu Hause. Das Haus war dunkel, still und leer.

Ich ging nach oben, zog mein Kleid aus, warf es in eine Ecke und schlüpfte in meinen Bademantel. Ich bürstete mir das Haar, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, und band es zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen. Dann ging ich in die Küche, wo ich Eiswürfel aus dem Gefrierfach nahm, in ein Tuch wickelte und dieses dann vorsichtig an meine pochende Wange drückte.

Ich rief Charlie auf dem Handy an, aber es begann in seinem Versteck hinter dem Toaster zu klingeln. Ein kleiner Teil von mir war erleichtert darüber, dass ich ihm nicht zu erzählen brauchte, was passiert war, aber gleichzeitig wusste ich, dass sich unsere Beziehung jedes Mal, wenn wir nicht miteinander sprachen, die Erklärungen und Geständnisse auf später verscho-ben, ein wenig mehr auflöste, bis am Ende nichts mehr übrig sein würde, das sich wieder zusammenfügen ließ, abgesehen von ein paar Erinnerungen. Ah ja, ich war einmal diese Frau und er dieser Mann. Es hatte eine Zeit gegeben, da wussten wir über jede Kleinigkeit Bescheid, die der andere machte, und konnten sogar sagen, was dem anderen gerade durch den Kopf ging.

Wenn es in einer Beziehung stimmt, dann erzählt man sich die kleinen Dinge – dass einen leichte Halsschmerzen plagen, welches Sandwich er zu Mittag gegessen, was jemand im Bus zu einem gesagt, was für einen schönen Sonnenuntergang man gesehen oder welche Socken er sich gekauft hat – ebenso wie die großen.

Ich hatte keine Ahnung, wo er sich jetzt befand, mit wem er zusammen war oder was er gerade tat. Oder was er gerade dachte. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, wenn er nach Hause kam, und genauso wenig wusste ich, was er antworten würde. Würde sein Gesicht freundlich sein oder hart? Würde ich eine andere Frau an ihm riechen? Eine Frau, die nett, ruhig und tolerant war. Eine, die nicht nervte.

Ich machte mir Rührei auf Toast und zwang mich, es zu essen.

Hinterher trank ich zwei Tassen grünen Tee. Ich presste die Stirn ans Küchenfenster und starrte in den dunklen, ungepfleg-ten Garten hinaus, wo ein böiger Wind durch das lange Gras fuhr und an den Ästen der Bäume zerrte. Ein Schauder lief durch meinen Körper.

Es klingelte an der Tür. Ich ging bis in die Mitte der Küche und blieb dort unsicher stehen. Charlie würde nicht klingeln, und jemand anderen wollte ich nicht sehen.

Es klingelte wieder. Zweimal kurz, einmal länger. Vielleicht hatte Charlie seinen Schlüssel vergessen. Nachdem ich den Gürtel meines Bademantels zugebunden hatte, ging ich in die Diele, öffnete die Haustür einen Spalt weit und spähte hinaus.

»Sie müssen die falsche –«

Sein schwerer Stiefel war in der Tür, bevor ich sie zuschlagen konnte, und gleichzeitig stieß er ein seltsames kleines Lachen aus, als hätte ich etwas Lustiges gesagt.

»Vorsicht«, sagte er und schob die Tür so heftig auf, dass ich rückwärts in die Diele stolperte. »Du musst Holly sein.«

Er war jung, wahrscheinlich noch keine zwanzig, und hatte ein Gesicht voller Pickel und einen sehr dünnen Hals. Sein Haar war raspelkurz geschoren. Er hatte einen Ring in der linken Augenbraue und mehrere im linken Ohr, aber keine im rechten, denn davon waren nur noch Teile übrig. Es sah aus, als hätte jemand ein riesiges Stück herausgebissen. Er trug eine weite Armeehose und darüber trotz der Kälte nur ein schmuddeliges graues Unterhemd. Seine Arme waren wild tätowiert, und unter seinem Unterhemd lugte der Ansatz einer weiteren Tätowierung hervor.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte ich. »Bitte gehen Sie wieder.«

»Nett haben Sie es hier.« Er stieß schon wieder dieses seltsam kreischende Lachen aus. Dann zog er lautstark die Nase hoch und wischte sie sich anschließend mit dem Arm ab.

»Ich rufe die Polizei.«

Er zog etwas aus seiner Tasche – ich konnte nicht sehen, was es war – und warf es von einer Hand in die andere. Dann machte es plötzlich Klick, und in dem dämmrigen Licht blitzte eine Messerklinge auf. Wir starrten sie beide an. Er lächelte, als hätte er gerade einen Zaubertrick vorgeführt.

»Lassen Sie das lieber sein.« Er klappte das Messer wieder zu und schob es zurück in seine Tasche. Wieder zog er die Nase hoch und kratzte sich dann ausgiebig am Arm. Er roch penetrant nach nassem Hund, Achselschweiß und Lösungsmitteln. Dieser Kerl ist völlig durchgeknallt, dachte ich. Er war bestimmt zu allem fähig. Ich ballte die Fäuste.

»Was wollen Sie?«

»Erst mal ein Bier.«

Er packte mich am Handgelenk und zerrte mich hinter sich her in die Küche, wo er den Kühlschrank aufriss und hineinspähte.

»Das hier tut’s.« Er öffnete es, nahm einen großen Schluck und rülpste laut. »Alles schick und ordentlich hier. Bestimmt macht ihr sogar eure Betten.« Wieder dieses kreischende Lachen. »Du kennst Vic Norris.«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Du schuldest ihm elftausend Pfund. Genau genommen«, fügte er hinzu, »schuldest du das Geld einer Firma namens Cowden Brothers.«

»Ich wollte das nicht«, sagte ich. »Mir ging es an dem Abend nicht gut. Außerdem kann ich gar nicht richtig Poker spielen.

Ich wusste überhaupt nicht, was ich da tat.«

Er sah mich mit einem breiten Grinsen an. »Der Bluterguss an deiner Wange sieht böse aus.«

»Außerdem habe ich neuntausend verloren, nicht elf.«

Er nahm ein paar weitere Schlucke von dem Bier und seufzte tief. »Mir egal«, sagte er dann. »Ich richte dir nur aus, was er zu mir gesagt hat. Zeit, deine Schulden zu bezahlen. Kapiert?«

»Ja«, antwortete ich. Ich wollte ihn bloß aus dem Haus haben.

Er aber ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen, als hätte er alle Zeit der Welt, und streckte die Beine aus. An Kopf und Armen hatte er Schorfstellen, an denen er ständig mit seinen heruntergekauten Nägeln herumkratzte.

»Mal sehen, was da so drin ist.« Mit diesen Worten zog er meine Tasche zu sich herüber und begann darin nach meiner Geldbörse zu wühlen. Schließlich wurde er fündig und öffnete sie. Sie enthielt fünfundzwanzig Pfund und ein bisschen Kleingeld. Er nahm alles heraus und schob es in seine Hosenta-sche.

»Was sagt denn dein Mann zu dem Ganzen?«

Ich gab ihm keine Antwort.

»Ich wette, du hast es ihm nicht erzählt.« Er stand auf und stellte sich so dicht vor mich hin, dass ich seinen Bieratem auf meinem Gesicht spürte. »Also, was habe ich dir noch nicht ausgerichtet? Ach ja. Vic sagt, im Moment sind es elf, aber in einer Woche werden es zwölf sein. Noch eine Woche später dreizehn. Und so weiter. Kapiert? Ich werde wiederkommen und es holen. Cash.«

Ich nickte.

»Mein Name ist Dean. Bis dann, Holly.«

Er spazierte aus der Küche in die Diele und von dort zur Tür hinaus. Ich folgte ihm bis an die Haustür und sah ihm nach, wie er den Gehsteig entlangwankte und dabei an Charlie vorbeiging, der aus der Gegenrichtung kam. Rasch schloss ich die Tür und lehnte mich mit einem Wimmern dagegen, bis ich Charlie wenige Augenblicke später mit dem Schlüssel hantieren hörte.

Ich richtete mich auf, straffte die Schultern und setzte ein Begrüßungslächeln auf. »Hallo, Charlie«, sagte ich, während er mit roten Wangen und strahlenden Augen eintrat. Sein Gang wirkte beschwingt. »Ich bin auch gerade erst gekommen«, erklärte ich. »Ich bin gestürzt und habe mich an der Wange verletzt, aber keine Sorge, es sieht schlimmer aus, als es ist.

Hattest du einen schönen Tag?«

Oh, hilf mir, hilf mir, hilf mir, liebster Charlie. Jemand muss mir helfen. Irgendjemand. Hilf mir, bevor ich zusammenbreche.

Aber das sagte ich nicht.

19

Am nächsten Tag weckte mich Charlie. Er half mir, mich aufzusetzen, und reichte mir dann ein Flanelltuch mit Eiswürfeln für meine Wange und eine Tasse sehr starken Kaffee. Er ließ sich neben mir auf der Bettkante nieder und sah zu, wie ich ihn trank. Danach ging es mir etwas besser. Die Glasschicht, die mich von der Welt zu trennen schien, wurde ein wenig dünner.

»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Das mit … na ja, eigentlich alles.«

»Ist schon gut«, meinte er und streichelte mir übers Haar.

»Ich glaube, es geht mir nicht besonders.«

»Wir werden schon dafür sorgen, dass es dir bald wieder besser geht.«

»Oh, Charlie«, sagte ich. »Ich weiß, dass du gut darin bist, Sachen zu reparieren, aber …«

»Es wird mein Hobby sein.« Seine Augen leuchteten.

Am liebsten hätte ich ihn gefragt: Mit wem schläfst du? Ich wusste, dass es da jemanden gab: Er war so fürsorglich und gleichzeitig doch so unnahbar. Plötzlich sah er wieder jünger und weicher aus, fast wie der enthusiastische junge Mann, in den ich mich vor einem Jahr verliebt hatte. Doch statt zu fragen:

»Warum hören wir nicht auf, uns gegenseitig anzulügen?

Warum spucken wir die schmutzige Wahrheit nicht aus, damit wir sie uns anschauen und beim Namen nennen können?«, berührte ich seine Wange und drehte mich dann zur Seite, damit er mein Gesicht nicht sah.

Es war fast acht. Ich würde bis sechs arbeiten. Zehn Stunden lang würde ich die Rolle der Holly Krauss spielen müssen, dann konnte ich die Bühne wieder verlassen, die Tür hinter mir zusperren und ins Bett gehen. Wenn ich es schaffte, den Tag zu überstehen, ohne irgendetwas schlimmer zu machen, dann würde es morgen schon ein wenig besser gehen – und so weiter.

Zuerst lief es ganz gut. Ich brachte das übliche morgendliche Procedere hinter mich und schaffte es sogar, ein bisschen etwas von dem zu essen, was Charlie mir hinstellte. Er sagte, es sei wichtig, dass ich richtig aß, womit er wahrscheinlich Recht hatte. Meine Haut fühlte sich rau an, als wäre ich krank gewesen oder kurz davor, krank zu werden. Ein leichter Nebel hing über allem, drinnen ebenso wie draußen. Ich verwandte viel Zeit darauf, mich anzuziehen und zu schminken, meine Maske anzulegen, die Rüstung, die mich vor der Welt schützen würde, auch wenn sich meine geschwollene, blaue Wange nicht verbergen ließ. Als ich schließlich meinen Mantel anzog, musterte Charlie mich prüfend.

Bevor ich in die Arbeit aufbrach, nahm ich mein Handy mit hinaus in den Garten, wo Charlie mich nicht hören konnte, und rief Stuart an.

»Holly? Na so was. Ich hab nicht damit gerechnet, so schnell wieder von dir zu hören.«

»Nein?« Meine Stimme klang matt.

»War ein toller Abend, oder?«, fragte er in viel zu lautem Ton.

»Welchen meinst du?«

»Ich schätze, du hast da eine große Auswahl. Ich spreche von deinen Heldentaten als Kartenspielerin.«

»Darüber wollte ich mit dir reden.«

»Wo sollen wir uns treffen?«, antwortete er seltsam bereitwil-lig.

Ich holte tief Luft. Eigentlich wollte ich mich überhaupt nicht mit ihm treffen, aber ich konnte ja schlecht am Telefon zu ihm sagen: »Ich hätte eine große Bitte an dich, aber können wir es möglichst schnell hinter uns bringen?« Also verabredeten wir uns um zehn in einem Café.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich während der Arbeitszeit aus dem Büro stahl, beruhigte mich dann aber damit, dass die anderen wahrscheinlich froh waren, wenn sie mich eine Weile nicht sehen mussten. Als Stuart eintraf, fiel mir auf, wie schick und selbstsicher er wirkte. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Der Kaffee, den er für uns holte, wurde in riesigen, farbenfrohen Bechern serviert, die aussahen, als wären sie für überdimensionale Kleinkinder entworfen worden.

Er musterte mich eindringlich. »Da hat dir wohl jemand mal so richtig gezeigt, was er von dir hält, oder?«

Ich fasste an meine Wange. »Ich bin gestürzt.«

»Ach ja?« Er grinste sarkastisch. »Und müde siehst du auch aus.«

»Wie heißt es so schön? Schlafen kann ich, wenn ich tot bin«, antwortete ich. »Jedenfalls muss ich erst mal ein paar Sachen regeln. Hast du mitbekommen, wie das mit dem Pokerspiel gelaufen ist?«

Stuarts Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. »Ja, das habe ich.«

»Du musst entschuldigen«, sagte ich. »Meine Erinnerung an den Abend ist ein bisschen bruchstückhaft. Aber ich weiß, dass ich nicht besonders nett zu dir war. Falls ich da ein wenig übers Ziel hinausgeschossen bin, tut es mir Leid.«

»Du bist weit übers Ziel hinausgeschossen.«

»Das tut mit Leid.«

»Ich habe mich hinterher wirklich gefragt, was du für einen Grund hattest, mich derart zu demütigen.«

»Es tut mir Leid, Stuart. Ich glaube, ich fühlte mich irgendwie von dir angegriffen, und wollte zurückschießen. Aber die Art und Weise, wie ich das getan habe, war wirklich unverzeihlich.«

»Worüber wolltest du mit mir sprechen?«

»Ich habe viel Geld verloren.«

»Ich weiß. Ich war dabei.«

»Diese Leute müssen doch gesehen haben, dass ich mit so was keine Erfahrung hatte. Ich kann es nicht fassen, dass sie wirklich Geld von mir wollen. Aber gestern ist bei mir zu Hause so ein Typ aufgetaucht und hat mich bedroht. Ich weiß nicht mal, wie er an meine Adresse gekommen ist.«

Stuart schwieg.

»Glaubst du, ich könnte mit jemandem reden?«

Stuart zog ein Gesicht, als wäre ihm das alles ziemlich egal.

»Du kannst mit Tony reden, wenn du willst. Oder mit Vic.

Aber ich weiß nicht, was du von ihnen erwartest. Es war ein richtiger Pokerabend. Du hast doch gesehen, dass sie um Geld gespielt haben. Wenn du in den Supermarkt gehst, kannst du doch auch nicht einfach deinen Einkaufswagen füllen und dann an der Kasse fragen, ob du die Sachen umsonst bekommst.«

»Es sind elftausend Pfund.«

»Wie gesagt, du kannst mit Tony reden.«

Nun kam der wirklich schwierige Teil. Ich schluckte.

»Weißt du, Stuart, eigentlich hatte ich ja gehofft, dass du vielleicht … na ja, dass du etwas zu ihnen sagen könntest.«

Nun folgte eine lange Pause. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er die Situation ziemlich genoss.

»Darum soll ich mich also auch noch kümmern?«, antwortete er schließlich.

»Was meinst du mit ›auch noch‹?«

»Du hast mich doch gebeten, mich um die Sache mit Deborah Trickett zu kümmern. Oder hast du das vergessen?«

»Ich habe dich nicht darum gebeten. Du hast es mir angeboten.

Außerdem habe ich schon seit Tagen nichts mehr von ihr gehört.«

»Und woran, glaubst du, liegt das?«

»Sie weiß, dass sie keine Chance hat.«

»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, entgegnete Stuart.

»Wie meinst du das?«

»Ich habe mit ihr gesprochen. Ihre Wohnung ist zum Verkauf ausgeschrieben. Die Frau steht demnächst auf der Straße. Sie muss ohne Zeugnis auf Arbeitssuche gehen. Sie hat einen guten Job aufgegeben, um bei KS Associates anzufangen, und nun hat sie alles verloren. Deswegen wäre es gut zu wissen, ob ihre Entlassung wirklich gerechtfertigt war.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Ich stehe auf gar keiner Seite. Ich fungiere nur als Vermittler.

Und als solcher versuche ich eine gemeinsame Basis zu finden.

Es erschien mir wichtig, dass du weißt, was für einen Schlag ihr das Ganze versetzt hat. Sie ist dadurch in eine prekäre Lage geraten. Das war dir vielleicht nicht ganz klar.«

»Oh, mir war durchaus klar …«, begann ich, klappte den Mund aber gleich wieder zu und sah ihn an. Er wurde ein bisschen rot. »Ich glaub’s nicht! Du vögelst mit ihr.«

Stuart lief knallrot an und blickte sich um.

»Nicht so laut!«, sagte er. »Was ist bloß los mit dir?«

»Und, habe ich Recht?«

Er richtete einen Finger auf mich. Ich befürchtete schon, er würde mir damit ins Auge stechen. »Nein. Hast du nicht.« Er konnte kaum sprechen, rang nach Luft. »Warum tust du das eigentlich? Das machst du bei allen Leuten so. Du suchst nach ihren Schwachstellen. Irgendeinen wunden Punkt hat ja jeder.

Du findest ihn, und dann machst du die Leute fertig. Bei Debbie war es auch so. Du hast sie bei einem Fehler ertappt. Du bist ja so klug. Und dann hast du das benutzt, um sie fertig zu machen.

Bei mir war’s das Gleiche. Und du bildest dir ein, das lassen sich alle gefallen. Geht es dabei um Macht? Oder bereitet es dir einfach Freude? Zu sehen, wie weit du gehen kannst? Eines kann ich dir jedenfalls sagen: Was deine Schulden bei Vic Norris betrifft, wirst du auf Granit beißen. Dem kannst du keinen Honig ums Maul schmieren. Aber klimpere ruhig ein bisschen mit deinen Wimpern, und versuch ihn zu becircen. Du wirst schon sehen, was dir das bringt. Vic Norris verzeiht nichts, und er vergisst auch nichts, und wenn du es einfach darauf ankommen lässt und auf dein Glück vertraust, dann wirst du bald wissen, was ich meine.«

Er hielt inne, als wäre ihm die Luft ausgegangen.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Ich bin hier, um mit dir über Deborah zu reden.«

»Und?«

»Du kannst zumindest eine der Katastrophen, die du angerichtet hast, wieder rückgängig machen. Gib ihr eine zweite Chance.

Sie verspricht, dass sie sich nichts mehr zuschulden kommen lassen und es dir nicht nachtragen wird.«

»Dass sie es mir nicht nachtragen wird?«

»Ja. Also, was für eine Antwort kann ich ihr geben?«

Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder gefangen hatte.

Mein Herz klopfte so heftig, dass ich kaum hörte, was Stuart sagte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.