»Ich hab eine Nachricht für Deborah«, sagte ich schließlich.

»Richte ihr aus, sie kann uns mal. Wir sind froh, dass wir ihr frühzeitig auf die Schliche gekommen sind. Ich würde ihr nicht mal unseren Müll anvertrauen.«

Ich stand auf und ging.

Schwankend wie eine Betrunkene kam ich im Büro an. Ich schaffte es gerade noch bis zu meinem Stuhl. Meine Beine gaben fast unter mir nach, und als ich anfing, am Computer etwas zu schreiben, zitterten meine Finger so, dass ich ständig die falschen Tasten drückte. Ich weiß nicht, wie viel Zeit auf diese Weise verging – alles schien ineinander zu fließen. Lola stellte mir eine Tasse Kaffee hin, aber ich verschüttete sie über den Schreibtisch, und eine Weile herrschte ziemliches Chaos: Akten mussten gerettet werden, und überall lagen voll gesogene Taschentücher herum. Ich biss von einem Sandwich ab, woraufhin mir sofort übel wurde, sodass ich den Rest in den Müll warf.

Ich kann mich an ein Gespräch mit Meg und Trish erinnern, weil es dabei um Deborah ging. Ich hörte mich selbst mit einer Stimme sprechen, die mir ganz fremd vorkam. Ich fragte die beiden, ob ich vielleicht doch ein wenig voreilig gewesen sei, und sie meinten, dass sie eine zweite Chance verdient habe.

Aber Trish antwortete in energischem Ton, dass unser Anwalt mittlerweile alle Unterlagen durchgesehen habe und sicher sei, dass wir uns unter den gegebenen Umständen völlig korrekt verhalten hätten. Der Fall sei abgeschlossen, und eine zweite Chance werde es nicht geben.

»So viel dazu«, fügte Meg hinzu. »Vergiss Deborah.«

»Vergiss Deborah«, wiederholte ich tonlos.

Ich weiß auch noch, dass mir Meg irgendwann die Hand auf die Schulter legte und immer wieder meinen Namen sagte. Sie fragte mich, ob alles in Ordnung sei, und ich antwortete, ja, es gehe mir gut. Dabei fiel es mir schwer, mich auf irgendetwas zu konzentrieren, weil ich ständig an diesen Jungen von gestern Abend denken musste, diesen Dean, der nach Kleber und Schweiß stank und so seltsam kicherte. Wie er aus dem Haus schlenderte, während Charlie die Straße entlangkam. Und ich musste an Stuarts Gesicht denken, das heute Morgen so feindselig und voller Abscheu gewesen war. Und dann gab’s da noch Rees, der mein Kleid zerrissen und mich geschlagen hatte. War das wirklich erst gestern passiert? Ich hatte noch das Geräusch in den Ohren, mit dem mein Kopf gegen die Wand geknallt war.

Das alles kam mir wie ein Traum vor, ein Alptraum, in dem alles Schlimme auf einmal über einen hereinbricht und all die schrecklichen Dinge, die man getan hat, zurückkehren und einen heimsuchen. Und man weiß, dass man nicht entkommen kann.

Was man auch tut, egal, ob man kämpft, flieht oder nach Hilfe ruft, es ist sinnlos.

»Du weinst ja«, sagte eine Stimme neben mir. Meg. Ich hatte sie gar nicht kommen sehen. »Warum weinst du?«

»Ich kann nicht damit aufhören.«

Eine Weile saß ich einfach nur so da, starrte auf den leeren Bildschirm und hörte um mich herum die Telefone klingeln.

Dann kam Meg mit Lola zurück. Sie sagte, draußen warte ein Taxi, und Lola werde mich nach Hause begleiten. Ich fand das ein bisschen seltsam, aber wahrscheinlich war es gar keine so schlechte Idee. Ich sagte zu Meg, ich müsse nur eine Weile die Schotten dicht machen, um den Sturm zu überstehen, dann würde ich wieder ganz die Alte sein. Sie meinte, ich solle mir so viel Zeit lassen, wie ich brauchte. Aber wir sollten uns die nächsten Tage mal zusammensetzen und besprechen, was ich unternehmen könnte, um mich vor Rees zu schützen. Und vor Deborah, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Und vor dem durchgeknallten Handlanger des Schuldeneintreibers. Und vor mir selbst. Was konnte ich tun, um mich vor mir selbst zu schützen?

Die Fahrt schien nur ein paar Minuten zu dauern. Lola schloss mir die Tür auf. Als sie mich auszog, sagte ich zu ihr, dass mich seit meiner Kindheit keine Frau mehr ausgezogen habe. Ein paar Männer, aber keine Frau. Ich entschuldigte mich bei ihr.

Eigentlich hätte ich ihr helfen sollen. Das war mein Job. Sie brachte mich ins Bett. Ich rollte mich zusammen, um mich aufzuwärmen. Lola ging, ich hörte sie unten die Tür schließen.

Im Haus war es ruhig, ich war allein. Von der Straße drangen ein paar Geräusche herein, das Quietschen von Reifen, Gehupe, Motorenlärm. Draußen waren die Leute, die mich hassten, ein paar aus gutem Grund, andere ohne guten Grund, wieder andere ganz ohne Grund. Sie waren überall. Ich zog mir die Decke über den Kopf und rollte mich zusammen. Die Knie gegen meine tränennassen Augen gepresst, schlief ich ein.

20

Der frühe Nachmittag ging in den späten über, und langsam wurde es Abend. Der Himmel vor dem Fenster färbte sich dunkel. Die grünen Zahlen der Uhr zeigten fünf, dann sechs, dann halb sieben … Charlie kam nicht nach Hause. Wo befand er sich? Früher war er immer zu Hause gewesen und hatte auf mich gewartet.

Schließlich zwang ich mich aufzustehen. In meinen Bademantel gewickelt, ging ich hinunter und rief Charlie auf dem Handy an.

»Ja?«

»Charlie, kommst du bald nach Hause? Ich fühle mich ein bisschen komisch.«

»Soll ich gleich kommen?«

»Wo bist du?«

»Bei Freunden.«

Ich lauschte, ob im Hintergrund irgendwelche Geräusche zu hören waren. »Ist schon gut«, sagte ich schließlich. »Ich bin wahrscheinlich bloß hysterisch. Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich komm schon klar.«

»Ich bleib nicht mehr lange«, versprach er. »Höchstens noch bis acht oder so. In Ordnung?«

»Ja«, antwortete ich. »Kein Problem.«

Ich rief Meg an.

»Hallo, ich bin’s«, sagte ich, als sie ranging.

»Holly.« Sie klang atemlos. »Geht es dir besser?«

»Das wegen heute tut mir Leid.«

»Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen. Aber hör zu, kann ich dich später zurückrufen? Es passt gerade nicht so gut

…«

Ich hörte einen Mann ihren Namen rufen.

»Wer ist bei dir?«, fragte ich. »Meg, wer ist bei dir?«

»Lass uns morgen reden. Nicht jetzt, am Telefon. Ruh dich aus, und lass es dir gut gehen.«

»Meg«, sagte ich, aber sie hatte schon aufgelegt. Das Einzige, was ich noch hören konnte, während ich den Hörer ans Ohr presste, war mein eigener, keuchender Atem.

Ich schleppte mich wieder nach oben ins Bett, den Blick auf die tickende Uhr gerichtet.

Als ich unten jemanden klingeln und dann so fest gegen die Tür hämmern hörte, dass es klang, als würde er sie gleich einschla-gen, glaubte ich erst, es wäre Teil eines Traums, in dem mir jemand an den Kragen wollte. Aber als ich mich dann im Bett aufsetzte, war das Geräusch noch immer da, und wenige Augenblicke später hörte ich Glas splittern. Ich unternahm gar nichts, sondern legte mich wieder hin. Mich überkam eine schreckliche Müdigkeit, als läge ich unter einer dicken Decke und hätte nicht die Kraft, sie abzuwerfen. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde, brachte aber nicht die Energie auf, mich davor zu fürchten. Meine Beine waren schwer wie Baumstämme. Ich lag reglos da, mein Kissen an die Brust gepresst. Ich hörte jemanden eine Tür zuschlagen und einen Stuhl über den Küchenboden schleifen.

Dann vernahm ich Schritte, und plötzlich war die Angst doch da. Heiß durchflutete sie meinen ganzen Körper, raubte mir den Atem, verursachte mir eine Gänsehaut.

Die Schritte erreichten die Diele. Einen Moment war es still, dann hörte ich die Treppe knarren.

»Steh auf, Holly«, sagte ich mir. »Steh endlich auf!«

Als ich aus dem Bett sprang, wäre ich beinahe gestürzt. Ein kleiner Teil von mir registrierte das Pochen meiner Wange und das Dröhnen in meinem Kopf, die raue Oberfläche der Bodendielen unter meinen Füßen, die schimmernde Schwärze des klaren Nachthimmels, die Geräusche der Welt draußen.

Telefon, dachte ich. Das war es – die Polizei anrufen. Ich kauerte mich auf den Boden, riss das Telefon vom Nachttisch und versuchte die 999 zu wählen, aber im Raum war es dunkel, und meine Finger waren dick wie Würstchen, sodass ich mich verwählte. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Die Schritte waren inzwischen vor der Schlafzimmertür angekommen. Die Tür wurde aufgestoßen und knallte gegen die Wand. Von dort, wo ich am Boden kauerte, sah ich nur schwarze Schuhe und eine graue Hose.

In dem Licht, das aus dem Gang hereinfiel, konnte ich die Ziffern auf dem Telefon erkennen und wählte erneut die Notrufnummer. Dabei stieß ich ein leises Wimmern aus.

»Da bist du ja. Du hast dich wohl versteckt, oder?«

Beim Klang seiner Stimme verebbte meine Angst sofort, und ich fühlte mich plötzlich wunderbar ruhig. Es war, als hätte sich ein heftiger Schneesturm schlagartig gelegt, sodass ich wieder klare Sicht hatte. Ich stand auf, das Telefon immer noch in der Hand.

»Stuart? Was machst du denn hier?«

»Was glaubst du denn, dass ich mache? Ich bin gekommen, um mit dir zu reden, das ist alles.«

Er sprach sehr undeutlich und schwankte ein wenig.

»Du bist betrunken. Hallo? Hallo? Ja? Ist da die Notrufstelle?

Mein Name ist Holly Krauss, und es ist ein Einbrecher in meinem –«

Er hechtete über das Bett und schlug mir das Telefon aus der Hand. Der Hörer landete auf dem Boden, wo Stuart ihm noch einen Tritt versetzte. Dann riss er das Kabel aus der Wand.

»So«, keuchte er. Sein Gesicht war rot gefleckt.

»Verlass sofort mein Haus.«

»Nicht, bevor wir geredet haben.«

»Es gibt nichts mehr zu reden.«

»Holly Krauss. Du hältst dich für besonders klug, was? Du glaubst, du bist die Tollste von allen.«

»Ich gehe jetzt nach unten. Lass mich vorbei.«

»Wir haben heute Nachmittag mit eurem bescheuerten Anwalt gesprochen. Nach unserem Gespräch heute Morgen. Du hast mir gar nicht zugehört, oder? Du hörst nie zu.«

»Unser Anwalt hat uns empfohlen –«

»Halt den Mund, und hör mir ein einziges Mal zu. Sie wird nicht einmal ein Zeugnis bekommen, oder?« Seine Stimme wurde immer lauter, sein Gesicht immer roter. »Sie liegt sowieso schon am Boden, und du verpasst ihr noch einen letzten Tritt. Das macht dir Spaß, oder? Deine Macht so richtig auszu-kosten. Genau wie es dir Spaß gemacht hat, mich zu demütigen.

Mich vor allen anderen zu verspotten. Was glaubst du, wie sich das angefühlt hat? Das macht dich an, oder?«

»Dass du etwas mit Deborah hast, heißt noch lange nicht, dass du –«

»Hast du sie eigentlich noch alle?«, schrie er. »Geht es in deinen kranken Kopf nicht hinein, dass zwischen mir und Deborah nichts läuft? Ich bin nur – ich versuche doch nur …

und du sitzt da und machst dich über mich lustig.«

»Ich mach uns Kaffee«, sagte ich. »Es war wirklich nicht meine Absicht, mich über jemanden lustig zu machen.«

Ich steuerte auf die Tür zu, aber er hielt mich an der Schulter fest und drehte mich zu sich herum. Ich bemerkte Speichel an seinem Kinn und roch den säuerlichen Alkoholatem. »Du gehst nirgendwohin.«

»Nimm deine Hand weg.«

»Du gehst erst, wenn ich es sage.«

Er drückte mich gegen die Wand. Ich stieß ihn mit einer heftigen Bewegung von mir weg, sodass er nach hinten taumel-te. Mein Blick fiel auf den Handspiegel auf der Kommode, den mir meine Großmutter geschenkt hatte. Ich griff danach, nahm ihn wie einen Tennisschläger in die Hand und knallte ihn Stuart ins Gesicht. Während er vor Schmerz und Wut aufheulte, war ich schon zur Tür hinaus und glaubte bereits, es geschafft zu haben, als er mich noch am Bademantel erwischte und festhielt.

Dann schlug er mir mit einer solchen Wucht ins Gesicht, dass es mir den Kopf nach hinten riss und ich einen stechenden Schmerz im Nacken spürte.

Er hatte immer noch die Hände an meinen Schultern, aber seine Miene wirkte plötzlich erschrocken und bestürzt.

»Holly, das wollte ich nicht«, stammelte er, »aber du hast einfach immer weitergemacht! Ich musste dich stoppen!«

»Nein«, sagte ich. »Nein.«

Sein Griff verstärkte sich. Ich riss die Hand hoch und schlug aufs Geratewohl nach ihm. Als er zurückwich, rannte ich los, zur Tür hinaus und auf die Treppe zu. Ich hatte das Gefühl, ihn knapp hinter mir zu hören, als ich plötzlich das Gleichgewicht verlor. Meine Füße blieben an der Treppe hängen, und ich streckte die Arme aus, um mich abzustützen, fand aber keinen Halt und schlug mit dem Kopf gegen das Geländer. Der Boden unten kam im Zeitlupentempo auf mich zu, und ich nahm plötzlich alles ganz klar und deutlich wahr: den Verputz der Wände, die ich noch immer nicht gestrichen hatte, den dünnen Teppich, den keuchenden Atem hinter mir, die Schuhe in der Diele, die offenen Schnürsenkel.

Dann knallte mein Kopf auf den harten Boden. Lichter blitzten auf, überall in meinem Körper explodierte der Schmerz. Ich hörte jemanden wimmern, und mir war klar, dass ich das sein musste. Ich öffnete die Augen und sah, dass ich wie eine gerade ins Wasser springende Taucherin beide Arme über dem Kopf ausgestreckt hatte. Eines meiner Beine ragte noch die Treppe hoch, das andere spürte ich nicht. Als ich es zu bewegen versuchte, stellte ich fest, dass es sich unter mir befand und stark angewinkelt war. Der Knöchel sah verdreht aus und tat ziemlich weh.

»Holly!«, sagte eine Stimme. »O Gott, Holly!«

Ein heulendes Geräusch hallte durch meinen Kopf. Jemand klopfte an die Tür, dann schwang sie auf, und wieder sah ich Schuhe vor meinem Gesicht, klobige schwarze Schuhe. Als ich den Kopf hob, erkannte ich einen Mann, nein, zwei Männer in Uniform, und hinter mir hörte ich Stuart sagen: »Es war ein Unfall, ich habe sie nicht gestoßen, es war ein Unfall, ich wollte das nicht, ich wollte nie, dass …«

»Hallo«, sagte ich. Dann ließ ich mein Gesicht auf den kühlen, staubigen Boden sinken und schloss die Augen. Ich empfand plötzlich ein Gefühl von Frieden, fast schon Glück. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.«

Sie führten Stuart in Handschellen ab, obwohl ich Ihnen immer wieder versicherte, dass es eigentlich nicht seine Schuld war.

Jedenfalls gab ich ihm nicht die Schuld. Ich gab niemandem die Schuld.

Nun lag ich auf einer Trage, und jemand breitete eine weiche Decke über mich. Eine Frau hielt meine Hand, während ich in den Krankenwagen geschoben wurde. Diese Leute wussten, was sie zu tun hatten, und ich musste nicht mehr denken und auch nichts mehr fühlen oder fürchten. Auf der Straße blieben die Leute neugierig stehen, stießen sich an, deuteten auf den Krankenwagen, unterhielten sich aufgeregt. Ich hörte jemanden meinen Namen sagen, und dann vernahm ich ihn immer wieder, als würde er von einem zum anderen getragen wie ein im Wind raschelndes Blatt. Holly Krauss, Holly Krauss, Holly Krauss …

Aber eigentlich interessierte mich das nicht besonders.

Und dann war da plötzlich jemand anderer neben mir. Eine Gestalt schob sich durch die offenen Türen des Krankenwagens und kniete sich neben mich.

»Holly?«

»Hallo, Charlie. Nun bist du also doch noch nach Hause gekommen.«

»Was hast du getan?«

»Die Frage ist wohl eher, was ihr angetan worden ist«, erklärte die Frau, die meine Hand gehalten hatte. »Das war noch Glück im Unglück.«

»Du riechst so gut«, sagte ich. »Nach Vanille.«

»Wer war das?«

»Stuart. Aber er wollte mir eigentlich gar nichts tun. Er war bloß betrunken.«

»Dein Gesicht …«

»Glaub mir, es geht mir gut.«

»Es ist ganz …«

»Sehe ich schlimm aus? Das wird schon wieder.«

Das war ein Wirbelsturm gewesen, dachte ich, aber er hatte uns nur gestreift. »Das Wetter ist in mir«, murmelte ich.

»Was?«

»Nicht so wichtig. Würdest du meine Hand halten?«

Er nahm sie und tätschelte sie sanft, wirkte dabei aber irgendwie benommen, fast abwesend.

»Wir müssen reden«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, nun schon seit Wochen immer dieselben drei Worte zu wiederholen.

Charlie gab mir keine Antwort. Die Türen gingen zu, und der Krankenwagen fuhr los.

Mir fehlte nicht viel, auch wenn sie mich über Nacht dabehiel-ten, um ganz sicherzugehen. Ein alter Bluterguss im Gesicht, eine neue Platzwunde am Hinterkopf, die mit ein paar Stichen genäht werden musste, ein geschwollener Knöchel, ein schmerzender Nacken und aufgeschürfte Schienbeine von meiner Schlitterpartie die Treppe hinunter. Die Polizeibeamtin, die mich am nächsten Morgen befragte, berichtete mir, Stuarts Gesicht sehe schlimmer aus als meines. Der arme Stuart. Ich schilderte ihr, was passiert war. Sie notierte alles, las es mir anschließend noch einmal vor und ließ mich dann unterschreiben. Als ich sie fragte, was jetzt mit ihm geschehen würde, zuckte sie nur mit den Achseln. Ich drehte mein Gesicht zur Wand und wartete, bis sie weg war.

Aus dem friedlichen Gefühl, das ich letzte Nacht empfunden hatte, war inzwischen eher Traurigkeit geworden. Ich dachte über Charlie und mich nach. Und über Meg und mich. Dies waren die zwei Menschen, die ich am meisten auf der Welt liebte. Vielleicht die Einzigen, die ich überhaupt liebte –

abgesehen von meiner Mutter, die ich nur liebte, weil sie meine Mutter war. Wenn es Meg und Charlie nicht mehr gäbe, wer würde mir dann noch bleiben? Eine Schar netter Bekannter, die nichts über mich wusste, außer dass ich gern im Mittelpunkt stand: amüsant, aber manchmal ein bisschen unberechenbar. Ich humpelte ins Bad und stellte mich vor den Spiegel. Mein Haar wirkte fettig, eine Seite meines Gesichts wies einen schmutzigen Gelbton auf, meine Lippen waren aufgesprungen, und ich hatte dunkle Augenringe. Wenn sie mich jetzt hätten sehen können, würden sie vielleicht anders über mich denken.

21

Während der Heimfahrt kam ich mir vor wie die hässliche Parodie einer jungen Mutter, die von ihrem liebenden Ehemann aus dem Krankenhaus abgeholt wurde. Allerdings hatten wir kein Baby, und ein besonders freudiges Ereignis war es auch nicht. Ich hielt eine Tragetasche auf dem Schoß, in dem meine zerrissenen, fleckigen Klamotten steckten. Wir sprachen kaum miteinander, bis Charlie vor dem Haus anhielt. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich hätte bei dir sein sollen. Dich beschützen sollen.«

»Die Polizei, dein Freund und Helfer, war ja gerade noch rechtzeitig zur Stelle«, antwortete ich. »Wer hat sie informiert?«

»Du selbst, soviel ich weiß.«

»Mir blieb doch gar keine Zeit, ihnen die Adresse zu nennen.«

»Das ist gar nicht nötig.«

»Wie praktisch.«

»Ich dachte, er wäre ein Freund von dir«, sagte Charlie.

»War er ja auch«, erwiderte ich. »Mittlerweile hassen mich meine Freunde noch mehr als meine Feinde.«

Wir stiegen aus und gingen die Stufen zur Haustür hinauf.

»Sag so was nicht«, meinte Charlie.

Wir gingen hinein. Ich setzte gerade zu einer Entschuldigung an, als Charlie ebenfalls zu reden begann, woraufhin wir uns beide entschuldigten und dem anderen den Vortritt lassen wollten. Ich bestand darauf, dass Charlie den Anfang machte.

»Fühlst du dich einigermaßen?«, fragte er.

»Ist das wirklich das, was du vorhin sagen wolltest?«

»Nein. Ich wollte mich entschuldigen. Eigentlich sollte ich jetzt hier bleiben und mich um dich kümmern, aber ich habe eine Besprechung. Wegen eines Auftrags.«

»Das ist ja großartig«, sagte ich. »Mit wem denn?«

»Einem Typen von einer Fachzeitschrift. Der Name würde dir nichts sagen.«

»Das freut mich so für dich. Wann ist denn die Besprechung?«

»Jetzt, fürchte ich. Macht es dir nichts aus?«

Ich berührte ihn am Arm. »Ab mit dir! Ich werde mich einfach ein bisschen ausruhen.«

»Ich hab kein gutes Gefühl dabei, dich jetzt allein zu lassen.«

»Unsinn«, sagte ich. »Das ist wirklich kein Problem. Die Gefahr ist gebannt, der Stier sozusagen bei den Hörnern gepackt. Und in meinem Zustand kann ich sowieso keine Bäume mehr ausreißen.«

Er lächelte. »Ich hab dich vorhin unterbrochen«, sagte er.

»Was wolltest du sagen?«

»Ich wollte mich noch einmal entschuldigen.«

»Wofür?«

»Für die Wiederholung.«

»Wie meinst du das?«

»Mir passieren immer wieder solche Sachen, und jedes Mal wird es schlimmer. Du hast es wirklich nicht leicht mit mir.

Wenn das alles endlich ausgestanden ist, müssen wir ernsthaft miteinander reden.«

»Ja«, antwortete er knapp. »Aber jetzt muss ich erst mal …«

Er rannte nach oben und kam mit einer schickeren Jacke zurück.

»Du siehst toll aus«, sagte ich. » Ich würde dir den Auftrag geben.«

Seine Miene verfinsterte sich. »Du weißt genau, dass ich dich niemals um einen Job bitten würde.«

»So hab ich das doch nicht gemeint«, stammelte ich.

»Ich muss los.«

»Du hast deine Mappe vergessen.«

Charlie sah mich an und zögerte eine Sekunde zu lang. »Er kennt meine Arbeit«, antwortete er. »Ich brauche sie nicht.«

»Na dann viel Glück.«

Er nickte. »Ach, übrigens«, sagte er. »Ich hab dir einen Schlüssel nachmachen lassen.« Er warf ihn auf den Tisch.

»Danke. Aber was, wenn jemand den anderen gestohlen hat?

Dieser Gedanke ist mir kürzlich mal durch den Kopf gegangen.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich weiß auch nicht.«

Nachdem er gegangen war, blieb ich eine ganze Weile wie angewurzelt stehen. Ich versuchte mich an ein Gedicht zu erinnern, das wir in der Schule mal gelesen hatten. Es handelte von einem Paar, das sich ständig gegenseitig anlog. Als es an der Tür klopfte, lächelte ich vor Freude. Charlie. Er hatte es sich anders überlegt. Ich würde ihn umarmen und dann das Gespräch mit ihm führen, das wir nun schon so lange vor uns herschoben.

»Das ging aber schnell –«, sagte ich. Der Rest blieb mir im Hals stecken, denn es war gar nicht Charlie, sondern Dean. Er hielt eine Dose Bier in der Hand.

»Ich hab gewartet, bis dein Alter weg war«, erklärte er, während er an mir vorbei ins Haus trat. »Da kannst du mal sehen, wie rücksichtsvoll ich bin.«

Er nahm einen Schluck aus seiner Dose.

»Ich hab diesmal mein eigenes Bier mitgebracht.« Er musterte mich neugierig. »Bist du schon wieder in eine Schlägerei geraten?«

»Sozusagen.«

Er rieb sich die Nase, als würde sie jucken. Dabei murmelte er etwas, das ich nicht verstand.

»Und?«

»Was, und?«

»Was wollen Sie hier?«

»Du weißt doch, was ich will.«

»Ich war im Krankenhaus«, erklärte ich. »Ich bin erst vor ein paar Minuten zurückgekommen. Außerdem habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich das Geld nicht besitze. Ich kann Vic Norris nichts zahlen.«

»Was soll das heißen, du kannst nicht zahlen?«, fragte Dean in höhnischem Ton. »Diese Hütte hier gehört dir doch, oder nicht?«

»Das Haus ist mit einer hohen Hypothek belastet. Ich habe kein Geld.«

Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier. »Das ist mir egal«, sagte er. »Ich bin bloß der, den er losschickt, wenn etwas abzuholen ist. Wenn etwas zu erledigen ist, schickt er einen anderen. Ich krieg zwar eine aufs Dach, wenn ich ihm sage, dass du nichts unternommen hast, aber du handelst dir noch viel größeren Ärger ein.«

»Ich kann nicht …«

Er ging zum Kaminsims und griff nach einer grünen Glaska-raffe, die wir zur Hochzeit bekommen hatten.

»Die ist ungefähr hundert Pfund wert«, erklärte ich. »Die können Sie haben.«

Er ließ sie auf den Boden fallen, wo sie in tausend grüne Scherben zerbarst. »Das reicht nicht.« Er leerte den Rest seines Biers. »Du kannst das Geld bestimmt auftreiben. Jeder treibt Geld auf, wenn er wirklich muss. Und du musst.«

»Wenn Sie mich bedrohen, rufe ich die Polizei.«

Dean stellte die leere Dose auf den Couchtisch. Dann machte er fast geistesabwesend, als wäre er allein, den Reißverschluss seiner Hose auf, holte seinen kleinen rosa Pimmel heraus und pinkelte in hohem Bogen auf die Bodendielen, wo sich rasch eine scharf riechende gelbe Pfütze bildete. Mit einer linkischen Hüftbewegung schob er sein Ding zurück in die Hose und zog den Reißverschluss wieder zu.

»Besorg das Geld«, sagte er. »Wenn du es nächstes Mal nicht hast, siehst du mich nicht wieder. Ich bin bloß der Bote, der nette Junge.« Er ging zur Tür. »Wir werden auch mit deinem Alten darüber reden.« Er grinste. »Danke, dass ich deine Toilette benutzen durfte.«

Als er draußen war, ging ich erstaunlich ruhig ins Klo, beugte mich über die Schüssel und übergab mich, bis mein Magen völlig leer war. Dann holte ich einen Eimer, einen Putzlappen und eine Rolle Toilettenpapier und kümmerte mich um die Bescherung im Wohnzimmer, die Glasscherben ebenso wie die Pisse. Nachdem auch die letzten Spuren davon beseitigt waren, wischte ich den Boden zweimal mit einem desinfizierenden Reinigungsmittel. Als ich fertig war, betrachtete ich meine Handflächen. Sie sahen aus wie die einer Leiche, die wochen-lang im Wasser gelegen hatte.

22

Ich träumte die ganze Nacht wirres Zeug, und die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, als ich aufwachte, waren ebenfalls wirr.

»Du bist krank«, erklärte Charlie, der neben mich trat, während ich versuchte, mich anzuziehen. Er wollte mich wieder ins Bett verfrachten, aber ich war stärker.

Ich riss mich los und zog ein Kleidungsstück aus dem Schrank. Es hatte cremefarbene Rüschen am Ausschnitt und an den Ärmeln. Ich war Elizabeth I. Nein, ich war ein Gentleman aus der Tudorzeit. Ich wickelte einen Schal um meinen lädierten Kopf. »Jetzt bin ich eine arme Frau vom Land«, verkündete ich.

»Eine Kartoffelsammlerin. Nordspanien und Esel, und die Männer sitzen im Schatten und trinken.«

»Hör zu, Holly«, sagte Charlie. Sein Gesicht war ganz nah an meinem, und sein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch. Ich konnte die Äderchen seiner Haut sehen und jedes einzelne winzige Stoppelhaar auf seinem Kinn. Ich konnte seinen Atem riechen. Ich wich zurück. »Du musst jetzt wieder ins Bett gehen«, fuhr er fort. »Ich werde mich um dich kümmern.«

»Schrei nicht so«, erwiderte ich. »Das fühlt sich an, als würde in meinem Kopf ein Gummiball herumspringen. Auf und ab, hin und her. Ich könnte ein Diagramm von all den seltsamen Winkeln zeichnen. Mit Pfeilen und gepunkteten Linien. Schneiden Sie hier.«

»Holly, Liebes, es ist noch nicht mal sieben.«

»Ich muss arbeiten. Ich muss die Hypothek abzahlen. Wenn ich aufhöre, gerät alles aus den Fugen. Alles bricht zusammen.

Und nur ich kann die Scherben aufsammeln. Nur ich.«

Ich zog ein Paar Schuhe heraus. Einer schien höher zu sein als der andere. Egal. Ich schob meinen bandagierten Fuß hinein.

»Du musst auch arbeiten«, sagte ich. »Du musst in die Gänge kommen, Charlie. Dein Leben läuft dir davon, und du bleibst zurück.«

»Warte einen Moment, dann begleite ich dich. Einverstanden?

Du kannst nicht allein gehen. Ich ziehe mir was an, wir frühstü-

cken, und dann gehen wir gemeinsam zur U-Bahn.«

»Nie wieder«, antwortete ich.

»Was?«

»Nie wieder U-Bahn. Nie weder. Alle zusammengepfercht wie Ameisen in einem Ameisenhaufen, wie Ungeziefer unter einem großen Felsblock. Und oben, unten und auf der Seite tonnenwei-se Stein und Erde. Wir sind da lebendig begraben, begreifst du das denn nicht, Charlie? Wir stecken in diesen kleinen Sauer-stoffkapseln, und jeder atmet den muffigen, schmutzigen Morgenatem aller anderen ein.«

»Dann fahren wir eben mit dem Bus.«

»Wir können zu Fuß gehen, über die wacklige Brücke. Da musst du mich aber festhalten – wer weiß, was mir sonst einfällt.«

»Holly, setz dich aufs Bett und warte. Ich springe schnell unter die Dusche. Du solltest dir etwas Richtiges anziehen.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, antwortete ich. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«

»Versprichst du mir, dass du auf mich wartest?«

»Versprochen. Großes Indianerehrenwort.«

Was für ein süßer Idiot er doch war, mir zu trauen. Er ging ins Bad, und ich hörte ihn das Wasser aufdrehen. Ich wackelte auf meinen ungleich hohen Absätzen die Treppe hinunter und aus dem Haus.

Obwohl ich zu Fuß ging, hatte ich das Gefühl, in einem immer schneller fahrenden Wagen zu sitzen. Alles Mögliche tauchte wie aus dem Nichts vor mir auf, Bäume, Menschen und Wände.

Meine Füße trafen auf den Randstein, und ich stolperte auf die Straße hinaus. Hinter mir hörte ich lautes Hupen und quietschende Reifen. Als ich mich umdrehte, starrte mich hinter einer Windschutzscheibe ein verzerrtes Gesicht an. Schon wieder jemand, der mich wirklich hasste. Ich konnte es an den bösen, wütenden Augen sehen. Ich humpelte schief über die Straße, eine Schulter höher als die andere.

»Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«

Eine Frau mit einem Kinderwagen. Ich sah den dunklen Ansatz ihres blond gefärbten Haars. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass alles irgendwann zum Vorschein kommt. Man kann nicht tricksen. Man kann die Leute nicht lange zum Narren halten. Es ist total lächerlich, wie wir uns alle einbilden, den anderen etwas vormachen zu können. Wir sind doch alle ein Teil derselben verrückten Scharade. Ich kann mich an Scharaden aus meiner Kindheit erinnern. Film: Man dreht die Faust, um die Filmspule nachzuahmen. Vier Worte: Man hält vier Finger hoch. Erstes Wort, zwei Silben, weiblicher Vorname. Richtig, Holly. Zweites Wort, eine Silbe. Das war leicht zu erraten, stimmt’s? Krauss. Holly Krauss. Holly Krauss ist Scheiße. Ja, ja, ja!

Ich ging über die Brücke. Über dem Fluss hingen Nebelfetzen.

Anscheinend war es kalt, denn ich atmete kleine weiße Wolken aus. Ich spürte, wie sich die Brücke unter mir bewegte. Ich schwöre, dass sie schwankte wie eine von diesen wackligen Hängebrücken, bei denen in den Abenteuerfilmen immer die Hälfte der Bretter fehlt. Ich war ständig am Stolpern. Dabei sah es immer noch so weit aus. Wie sollte ich da jemals bis auf die andere Seite kommen? Ich hatte das schon öfter geschafft. Hieß das, dass ich es auch dieses Mal schaffen konnte? Ich hatte alles schon einmal getan: gelogen, gelacht und all diese gottver-dammten Tage hinter mich gebracht. Bedeutete das, dass mir das jetzt auch wieder gelingen würde? Funktionierte so das Leben? Steckte wirklich nicht mehr dahinter?

Das Ende der Brücke kam näher. Ich blickte mich um und glaubte eine vertraute Gestalt zu erkennen, aber der Wind ließ meine Augen tränen, sodass ich nicht sicher war. Autos fuhren knapp an mir vorbei. Leute gingen in weitem Bogen um mich herum. Sie schienen mich zu meiden wie die Pest. Sehr klug von ihnen. Meine Füße glitten auf dem eisigen Boden immer wieder aus. Ich legte eine Hand auf das Geländer und spürte die Kälte.

Wenn ich jetzt hier stehen blieb, dann würden meine Finger wahrscheinlich an dem Metall festfrieren. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Links, rechts, links, rechts.

Nur noch ein paar Schritte, dann hatte ich die Brücke endlich geschafft. Der Wind blies mir ins Gesicht, und ich stolperte immer wieder. Ein seltsamer kleiner Laut drang aus meiner Kehle, gefolgt von einem zweiten.

»Geht es Ihnen nicht gut, meine Liebe?«

Ich starrte in das Gesicht einer Frau mit stacheligem braunem Haar und spitzem Kinn. Sie hatte einen Wassertropfen an der Lippe und einen abgebrochenen Zahn. Ein nettes Gesicht.

Braune Augen, leicht hochgezogene Brauen.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, wiederholte sie.

»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte ich.

»Sie scheinen Probleme zu haben. Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie helfen.«

»Ja, allerdings.« Ich begann zu lachen.

»Wen soll ich anrufen?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Sie schob ihre Hand unter meinen Ellbogen. Jemand stieß ein seltsames Geräusch aus, ein wildes Heulen. Die Leute standen im Kreis herum, und ich sah nur noch Gesichter, die auf mich herabstarrten. Ich saß auf dem Gehsteig. Das muss kalt sein, dachte ich. Ich schien keine Strümpfe zu tragen, und mein Knie war blutig. Das sah bestimmt sehr komisch aus, aber vielleicht würden sie denken, dass ich bloß ausgerutscht und hingefallen war.

»Ich bin ausgerutscht und gefallen«, erklärte ich. »Ausgerutscht und hingefallen.«

»Seht mal, was die anhat«, sagte eine Stimme. »Die ist doch betrunken.«

»Nur ordnungswidrig«, stellte ich richtig.

»Was sagt sie?«

»Ordnungswidrig!«, antwortete ich ein wenig lauter.

»Jetzt schreit sie irgendwas. Bestimmt hat sie Drogen genommen. Wir müssen die Polizei verständigen.«

Es stimmte, dass jemand schrie. Irgendetwas geriet da definitiv außer Kontrolle. Es war wie auf einer Party, wo im Nebenraum eine Schlägerei im Gange ist. Man hört Leute schreien und Glas splittern, aber wenn man dann hinüberläuft, um herauszufinden, was vor sich geht, ist bereits alles vorbei. Man sieht nur noch das Ergebnis: Scherben, umgeworfene Stühle, Leute, die sich hochrappeln. So ähnlich schien es auch jetzt zu sein. Offenbar war es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Aus dem Augenwin-kel sah ich ein paar Leute auf dem Boden liegen und seltsame Geräusche von sich geben. Meine Knie und Handflächen brannten. Als ich meine Hände betrachtete, sah ich rosafarbene Abschürfungen, gesprenkelt mit kleinen Kiesstückchen. Ein paar Neugierige blieben stehen, als hätte es einen Autounfall gegeben. Andere gingen rasch vorbei. Es handelte sich offensichtlich um einen Notfall, aber obwohl ich mich mehrmals nach der verletzten Person umblickte, konnte ich sie nirgendwo entdecken. Anscheinend befand sie sich jedes Mal knapp außerhalb meines Gesichtsfeldes. »Sie ist hinter dir«, sagte eine Stimme leise zu mir, damit die anderen es nicht hören konnten.

Ich versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, indem ich mich ganz schnell umdrehte, aber sie war schneller und schon wieder weg. Ich fragte ein paar Leute, was denn los sei, aber niemand konnte es mir verständlich erklären. Ein paar Mädchen im Teenageralter lachten mich einfach aus, als ich sie fragte.

Deswegen wollte ich auf sie losgehen, um ihnen eine Lektion zu erteilen, aber sie waren ebenfalls zu schnell für mich, drei kleine Stierkämpferinnen mit mir als Stier.

Ein Wagen hielt an, und ein Polizist und eine Polizistin stiegen aus. Ich fragte sie, ob wir uns gestern Abend kennen gelernt hätten. Meine Erinnerung war ein wenig getrübt. Ich rechnete damit, dass sie anfangen würden, Leute zu verhaften und zu verhören, aber die Polizistin kam auf mich zu und sah mir in die Augen. Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Gesicht ein Fenster, durch das sie etwas weit Entferntes betrachtete. Die beiden nahmen mich in ihre Mitte. Ich versuchte, mich aus ihrem Griff zu befreien, aber sie ließen meine Arme nicht los. Während ich noch zu erklären versuchte, dass es sich um eine Verwechslung handeln müsse, wurde ich bereits auf den Rücksitz des Streifenwagens geschoben. Sie schienen mich nicht zu hören, sodass ich gezwungen war, sie anzuschreien, aber sie schenkten mir noch immer keine Beachtung. Die Polizistin nahm neben mir Platz, und der Wagen fuhr los.

»Ich komme zu spät zur Arbeit«, erklärte ich. »Ich werde Ihnen sagen, wie Sie fahren müssen. Es sei denn, Sie bringen mich nach Hause. Ich wohne hier ganz in der Nähe, am anderen Ende der Straße. Sie werden wenden müssen.« Der Wagen wendete nicht. »Fahren wir aufs Polizeirevier? Es tut mir Leid, aber ich habe meinen Aussagen nichts hinzuzufügen.«

Aber sie fuhren mich weder aufs Revier noch zur Arbeit und auch nicht nach Hause.

23

»Wissen Sie, wo Sie sind?«

»Ja«, antwortete ich.

Dann schwiegen wir beide.

»Und?«

»Was, und?«

»Wo sind Sie?«

»Das haben Sie mich nicht gefragt«, gab ich zur Antwort.

»Sie haben bloß gefragt, ob ich weiß, wo ich bin. Und ich habe Ja gesagt. Weil ich es weiß.«

Sie atmete tief durch.

»Na schön. Könnten Sie mir jetzt vielleicht sagen, wo Sie sind?«

»Ja, das könnte ich. Heißt das, Sie wollen, dass ich es Ihnen sage?«

»Ja, bitte.«

»Eigentlich müssten Sie das ja selbst wissen. Sie arbeiten schließlich hier.«

»Ich möchte wissen, ob Sie es wissen.«

»Ich arbeite nicht hier.«

Ich konnte nicht anders, als loszuprusten. Der Tag hatte schlecht angefangen, aber inzwischen fand ich ihn ziemlich komisch. Mir war, als hätte ich eine schlimme Migräne über-standen, sodass ich mich zwar noch ein wenig seltsam fühlte, aber trotzdem schneller und klarer denken konnte als jeder andere Mensch im Raum. Ich betrachtete die junge Frau: DR.

CLEEVELY stand in eckigen Großbuchstaben auf ihrem Namensschild. Sie trug einen strahlend weißen Mantel und lächelte freundlich.

»Ich sehe Ihnen an, dass Sie jetzt krampfhaft überlegen«, erklärte ich, »wie Sie mich dazu bringen, Ihnen zu antworten, dass ich mich auf der Unfallstation eines Krankenhauses befinde. So, nun habe ich es gesagt. Ohne dass Sie mich dazu drängen mussten.«

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, fragte sie.

»O nein, nicht das schon wieder! Seit ich von einem Mann und einer Frau in Uniform hergebracht wurde – finden Sie nicht auch, dass Leute in Uniform etwas Besonderes an sich haben?

Als ich die beiden sah, hielt ich sie erst für ein Stripperpaar, weil ich an irgendeinen Gag dachte, Sie wissen schon, man kann doch Grüße oder Botschaften durch Stripper überbringen lassen, obwohl es zugegebenermaßen ungewöhnlich wäre, wenn einem jemand Stripper schickt, während man gerade die Suicide Bridge überquert. Das ist natürlich nicht ihr richtiger Name, das wäre ja auch eine seltsame Bezeichnung für eine Brücke. Wer möchte schon über einen Brücke gehen, die Selbstmordbrücke heißt? Oder unten durch. In Wirklichkeit heißt sie …« Ich konnte mich an den Namen nicht erinnern. »Auf jeden Fall wird sie in der Gegend – auf eine fast schon liebevolle Weise –

Suicide Bridge genannt. Der Grund ist, dass ständig Leute auf dieser Brücke Selbstmord begehen. Nein, nicht auf, sondern von der Brücke. Und sie tun das erstens deswegen, weil der Boden so weit weg ist. Der Boden darunter, meine ich. Und zweitens, weil es angeblich – ich habe das nicht überprüft, aber angeblich ist es der einzige Ort in London, wo man sich umbringen kann, indem man von einem Postbezirk, nämlich N19, losspringt und in einem anderen, nämlich N irgendwas, landet. Wie lautete noch mal die Frage?«

»Holly –«

»Für Sie immer noch Miss Holly.«

»Ich werde jemanden holen, der Sie untersuchen wird.«

»Was war noch mal Ihre Aufgabe?«

»Ich bin nur für Unfälle zuständig.«

»Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen.«

»Es dauert höchstens eine Minute.«

»Das macht nichts«, antwortete ich. »Ich muss sowieso in die Arbeit.« Dr. Cleevely verschwand durch den Vorhang, der um die Couch gezogen war. Leider ließ sie mich mit einer sehr großen Krankenschwester zurück, die mir damit drohte, mich festzubinden, falls ich versuchen sollte aufzustehen. Um sie ein wenig zu entspannen, begann ich ein Gespräch mit ihr. Wir hatten gerade erst angefangen, uns über Simbabwe zu unterhalten, wo sie herkam, als Dr. Cleevely mit einer anderen Ärztin zurückkehrte, einer Asiatin namens Dr. Mehta, die sich als die diensthabende Psychiaterin vorstellte.

»Das ist jetzt die Stelle, wo ich sage: ›Psychiaterin?‹ Ich brauche keine Psychiaterin. Ich bin völlig normal.«

Dr. Mehta lächelte nicht. Sie war eine ernsthafte junge Dame mit einem Klemmbrett und fragte mich als Erstes nach meinem Namen, meinem Geburtsdatum und meiner Adresse. »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

»Nicht schon wieder!«, stöhnte ich. »Ich habe wirklich Wichtigeres zu tun. Wenn Sie es genau wissen müssen: Zwei Polizeibeamte haben mich hergebracht.«

»Warum?«

»Ich schätze mal, sie hatten mich satt und wollten mich loswerden. Ich hatte in letzter Zeit ziemlich viel mit ihnen zu tun.

Das ist eine lange Geschichte.«

»Erzählen Sie«, forderte Dr. Mehta mich auf.

»Na schön, Sie haben es nicht anders gewollt. Jemand hat mich bedroht – genau genommen haben mich in letzter Zeit eine Menge Leute bedroht, aber der, von dem ich gerade rede, nun ja, er ist wahrscheinlich auch gerade in diesem Krankenhaus, weil ich ihm einen Handspiegel ins Gesicht geknallt habe, der mal meiner Großmutter gehörte. Jedenfalls bin ich sicher, dass es sich um dieses Krankenhaus gehandelt hat und ich vor kurzem schon mal hier war. An den genauen Tag kann ich mich nicht erinnern – es ist schwierig, die Tage auseinander zu halten, nicht wahr? –, aber er wollte mir nur etwas tun, weil ich diese Frau gefeuert hatte, und außerdem ist da noch dieser Mann, der auf mich fixiert ist. Wir hatten tatsächlich mal Sex, aber es hatte nichts zu bedeuten. Ich weiß, ich bin verheiratet. Ich weiß, ich weiß, ich habe schon mit Charlie darüber gesprochen, es war schrecklich, aber wir arbeiten daran. Dann ist da noch so ein junger Typ, der zu mir ins Haus kam und mir den ganzen Boden voll gepisst hat – aber darüber darf ich nicht sprechen. Das darf niemand wissen.« Ich hielt inne. »Wenn ich mich selbst so reden höre, wird mir klar, dass sich das von Ihrer Warte aus ziemlich verrückt anhören muss. Trotzdem ist wirklich alles wahr. Fragen Sie die Polizei nach dem Mann, der mich angegriffen hat. Aber nicht die Beamten, die mich gebracht haben, die wissen darüber wahrscheinlich nicht Bescheid. Oder fragen Sie Charlie, meinen Mann. Ich weiß, dass ich mich paranoid anhöre, aber es ist alles absolut wahr. Sie können es gerne überprüfen.« Ich schwieg einen Moment. »Ach nein, sparen Sie sich die Mühe, es spielt sowieso alles keine große Rolle mehr. Es ist nicht mehr wichtig, oder?« Ich versuchte Augenkontakt mit ihr herzustellen, aber sie kritzelte gerade etwas auf ihr Klemmbrett.

Dann blickte sie hoch. »Erzählen Sie mir, was passierte, als Sie von der Polizei aufgegriffen wurden.«

»Ich habe nicht viel mitbekommen«, erklärte ich. »Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Es gab irgendein Handgemenge. Die Polizisten haben das Ganze völlig falsch aufgefasst. Sie hätten den Dingen ihren Lauf lassen sollen.«

»War Ihr Verhalten ungewöhnlich?«

»Ich weiß nicht, wie Sie das meinen. Was schreiben Sie denn da auf Ihr Klemmbrett?«

»Ich mache mir Notizen.«

»Habe ich bestanden?«

»So ist das nicht.«

»Sie versuchen, mich in Ihre kleinen Fächer einzuordnen, mich zu beurteilen, stimmt’s?«

»Zumindest provisorisch, ja.«

»Das wird nicht funktionieren, weil mir jetzt ja klar ist, was Sie vorhaben. Jetzt können Sie nicht mehr wissen, ob ich die Wahrheit sage oder nur das, was Sie meiner Meinung nach hören wollen. Oder ob ich sage, was ein normaler Mensch in einer solchen Situation sagen würde. Oder ob ich vielleicht tatsächlich ein normaler Mensch bin, der normale Sachen sagt.

Oder aber ein normaler Mensch, der unnormale Sachen sagt, weil er aufgeregt ist und deswegen versucht, das Verhalten eines normalen Menschen nachzuahmen, dabei aber womöglich scheitert.«

»Sie tragen ein Nachthemd«, stellte Dr. Mehta fest.

»Brillant beobachtet. Jetzt haben Sie mich aber erwischt!

Wirklich brillant. Ist das irgendeine Art Spiel?«

»Es war nur eine Feststellung.«

Hinter dem Vorhang bewegte sich etwas. Jemand versuchte durchzukommen und schaffte es witzigerweise nicht. Ich musste an den Vorhang im Theater denken, vor oder nach der Vorstellung. Ein Gesicht tauchte auf. Ein vertrautes Gesicht. Charlie.

»Holly«, sagte er, »was ist los? Wo bist du hin? Ich habe dich gesucht! Ich bin überall herumgerannt und hab nach dir gesucht.

Erst hast du doch noch im Nachthemd auf dem Bett gesessen, und eine Minute später – oh, du trägst ja immer noch dein Nachthemd. Was ist los? Was hast du getan? Da kam so ein seltsamer Anruf – angeblich hast du jemanden angegriffen, eine junge –«

»Es ist nichts«, unterbrach ich ihn. »Ich hatte bloß einen blöden Unfall.« Ich hielt meine Hände hoch, die gleich nach meiner Ankunft von einer Krankenschwester verbunden worden waren. »Ich bin gestürzt und habe mir die Hände und die Knie aufgeschlagen. Sie haben mich hierher gebracht, und nun stellen sie mir eine Menge Fragen. Ich verstehe das alles nicht.«

»Ist das Ihr Mann?«, fragte Dr. Mehta.

»Er ist nett, nicht wahr? Alle mögen Charlie.«

Sie wandte sich an Charlie. »Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Die beiden verzogen sich hinter den Vorhang und ließen mich ohne Publikum auf der Bühne zurück. Jetzt war nur noch Gott mein Zuschauer. Nach ein paar Minuten kehrte Dr. Mehta allein zurück. »Charlie wartet draußen«, erklärte sie.

»Er kommt nachher noch einmal zu Ihnen herein.«

»Nimmt er mich mit nach Hause?«

»Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Erzählen Sie mir von Ihren Schlafgewohnheiten.«

»Da sind Sie ein bisschen spät dran«, antwortete ich. »Vor ein paar Wochen hatte ich so viel zu tun, dass ich nicht mehr zum Schlafen kam. Ich habe oft tagelang nicht geschlafen. Wissen Sie, dass es Forschungsergebnisse gibt, die besagen, dass ein Mensch, den man nicht schlafen lässt, verrückt wird? Das stimmt. Aber ich bin darüber hinweg. Ich habe geschlafen und geschlafen wie … wie ein Wal? Schlafen Wale? Wie ein Strandwal.« Ich musste lachen. »Das klingt nach einem Wal, der Urlaub macht. Ich meine einen gestrandeten Wal. Oder nehmen wir lieber einen Bären. Bären schlafen den ganzen Winter. Die Glücklichen.«

»Wie ist Ihr allgemeiner Gesundheitszustand? Fühlen Sie sich fit und wohl?«

»Sieht man das denn nicht? Ich sehe doch aus wie das blühende Leben. Wahrscheinlich bin ich der gesündeste Mensch im ganzen Gebäude.«

»Wie steht es denn mit … nun ja, beispielsweise Ihrem Sexu-alleben?«

»Was meinen Sie mit ›nun ja, beispielsweise‹? Ist Ihnen das Thema peinlich? Nun geben Sie es schon zu. Sind Sie neu auf dem Gebiet? Halten Sie sich für kompetent genug, den Zustand meines Liebeslebens zu beurteilen?«

»Mich interessiert, wie Sie es sehen.«

»Besonders toll ist es in letzter Zeit nicht gelaufen. Nur, damit Sie sehen, dass mir so leicht nichts peinlich ist und ich kein scheues Mauerblümchen bin, das ständig errötet und nur im Verborgenen blüht: Unter dem Einfluss von Alkohol und Ähnlichem hatte ich vor ein paar Wochen Sex mit einem Mann, dem ich noch nie zuvor begegnet war, und ja, ich bin verheiratet, und ja, ich bin glücklich verheiratet – und tut es mir Leid? O

mein Gott, ja – was sich für mich wie eine recht normale Antwort anhört.« Ich hielt inne und versuchte mich zu konzentrieren. »Das habe ich Ihnen alles schon erzählt, stimmt’s? Oder habe ich es der anderen erzählt? Der anderen Ärztin? Hier sind nur Frauen. Lasst ihr hier keine Männer arbeiten? Was nicht heißen soll, dass ich mich beschwere. Es fällt mir schwer, mit einem Mann über so etwas zu sprechen. Sie sind mir allerdings auch keine große Hilfe. Ich dachte, Sie wären Psychiaterin.

Könnten Sie mir nicht ein paar Worte des Trostes spenden? Ich brauche nämlich dringend Trost. Ich weiß, dass ich dauernd vor mich hinplappere, aber darunter bin ich traurig, das weiß ich.«

Ich sah sie an. Kritzel, kritzel, kritzel. »Nichts? Bloß wieder eine schlechte Note? Schon wieder eine Sechs? Ich glaube, Frau Doktor, dass ich mir jetzt genug Mühe gegeben habe, Sie zu unterhalten. Ich fühle mich allmählich ein bisschen müde.

Außerdem habe ich Kopfschmerzen, mein Knöchel pocht, meine Hände und Knie tun weh, und ich möchte einfach nur von hier weg und mich hinlegen. Wenn Sie mir irgendwas verschreiben wollen, habe ich nichts dagegen. Ansonsten werde ich jetzt gehen.«

Kritzel, kritzel, kritzel. Sie blickte auf. »Was ist mit Essen?«

»Nein, danke, ich habe keinen Hunger.«

Sie verzog keine Miene.

»Ich spreche von Ihrem Appetit. Im Allgemeinen.«

»Ich weiß nicht.«

»Essen Sie richtig?«

»Auf diese Frage bekommen Sie nur ein würdevolles ›Kein Kommentar‹. Ein Mensch darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen.«

»Haben Sie Probleme in der Arbeit?«

Ich zog eine Grimasse. Das war ein heikles Thema. Hier würde ich aufpassen müssen, was ich sagte. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit Sie haben. In der Arbeit waren sie total – was sie selbst bestimmt zugeben würden, wenn sie … na ja, eines Tages werden sie es bestimmt zugeben –, jedenfalls waren sie total …

unfair. Aber das ist doch sowieso alles sinnlos. Was können Sie schon über mein Leben wissen? Ich werde hier hereingeschleppt wie ein toter Vogel von einer Katze und Ihnen vor die Füße gelegt. Ich verstehe mein Leben ja nicht mal selbst, und das, obwohl ich mich schon siebenundzwanzig Jahre damit herumschlage.«

Ich blickte zu Dr. Mehta auf.

Inzwischen kritzelte sie nicht mehr, sondern starrte nur noch ins Leere. »Lassen Sie mich kurz mit Ihrem Mann sprechen«, sagte sie.

»Hatten wir das nicht schon?«, fragte ich. »Allmählich habe ich das Gefühl, dass sich die Dinge wiederholen.«

Während die beiden redeten, machte ich mir im Kopf eine Liste mit den Dingen, die ich ihr sagen wollte. Ich versuchte sie nach dem Grad ihrer Wichtigkeit zu ordnen, aber sie entglitten mir immer wieder, sodass ich von vorn anfangen musste. Und dann war Dr. Mehta plötzlich wieder da.

»Ich habe Sie gar nicht kommen sehen«, sagte ich.

»Miss Krauss«, erklärte Dr. Mehta. »Ich werde jetzt mit einem weiteren Spezialisten sprechen. Bestimmt wird er auch mit Ihnen reden …«

»Es ist also doch ein Mann im Haus«, unterbrach ich sie.

»Halten Sie den irgendwo versteckt? Damit Sie ihn bei besonderen Gelegenheiten herausholen können?«

»Trotzdem kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass ich möchte, dass Sie sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen.«

»Ich hätte den toten Vogel nicht erwähnen sollen, oder? Und die Katze. Das war doch nur ein Vergleich.«

Dr. Mehta sprach weiter, als wäre ich gar nicht im Raum.

»Wie gesagt, ich hätte gern, dass Sie sich freiwillig einweisen lassen. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, werden wir uns überlegen, Sie gegebenenfalls gemäß der Bestimmungen des Mental Health Act zwangseinweisen zu lassen.«

»Sie wollen mich zwangseinweisen lassen? Ist das Ihr Ernst?

Das macht man doch sonst nur mit richtig Wahnsinnigen, die mit einem Messer auf der Straße herumlaufen und Leute bedrohen. Sehen Sie mich doch an. Ich sitze hier ganz rund, ich meine natürlich ruhig, und führe mit Ihnen dieses völlig bescheuerte Gespräch.«

»Eine solche Zwangseinweisung ist ein ziemlich aufwändiger Prozess. Man braucht dazu zwei voneinander unabhängige Arzte und einen Sozialarbeiter, und wir müssten eine Menge Formulare ausfüllen. Aber falls nötig, werden wir das tun. Aber jetzt möchten Sie wahrscheinlich erst einmal mit Ihrem Mann sprechen.«

»Um mich zu verabschieden? Ich möchte mich aber nicht verabschieden, ich möchte nach Hause. Mehr brauche ich gar nicht. Wenn Sie mich nach Hause gehen lassen, wird alles wieder in Ordnung kommen.«

Dr. Mehta schien mir gar nicht mehr richtig zuzuhören. Ich war wie ein Radio, das weiterlief, während sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte. Nachdem sie weg war, kam Charlie herein. Er sah aus, als wäre er derjenige, der Hilfe brauchte.

»Holly«, sagte er mit Grabesstimme. »Es tut mir Leid.«

»Hat sie mit dir gesprochen? Sie wollen, dass ich bleibe. Am liebsten würde ich einfach abhauen, aber du müsstest mir erst meine Klamotten bringen. So kann ich nicht auf die Straße.«

Dann sah ich sein Gesicht, das in dem grellen Krankenhaus-licht zerfurcht und müde wirkte, und plötzlich verließ mich mein ganzer Kampfgeist. Ich fühlte mich erschöpft, gedemütigt und zutiefst beschämt. Ich streckte die Hand aus und berührte Charlie sanft am Arm. Er zuckte zusammen. »Wenn du es für richtig hältst … Ich werde tun, was du willst. Du musst es mir nur sagen.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich weiß es doch auch nicht.«

»Schon gut«, sagte ich. »Ich werde auf der gepunkteten Linie unterschreiben, Charlie. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Ich wünschte mir, er würde protestieren, aber das tat er nicht.

Stattdessen nickte er nur bedächtig.

»Sie werden dir helfen«, sagte er.

24

Sie halfen mir nicht. Sie machten es nur noch schlimmer.

Ich war wie ein Auto, das ein paar grundlegende Reparaturen gebraucht hätte, das aber statt in der Werkstatt auf dem Schrott-platz gelandet war, wo man die Fahrzeuge erst ausschlachtet, indem man Türen, Radios und alles, was noch irgendeinen Wert hat, ausbaut, und sie dann zu Stapeln aufgetürmt dem Rost überlässt.

Die Krankenschwester aus Simbabwe gab mir Tabletten, die mich angeblich beruhigen sollten, aber ich glaube nicht, dass ich sie nahm. Ich weiß noch, dass sie mich an beiden Armen festhalten mussten und irgendetwas zu Bruch ging, ich erinnere mich an Glasscherben auf dem Boden.

Ich schlug um mich wie ein verängstigtes Kind. Nachdem ich die Tabletten wieder ausgespuckt hatte, zeigte mir Dr. Mehta eine Spritze, ich sah den glitzernden Tropfen an der Spitze.

Obwohl ich versuchte, ihr auszuweichen, schob sie sie mir in den Arm, und ich spürte schon wenige Sekunden später, wie, ausgehend von der Nadel, eine Welle der Wärme meinen Arm hinauflief und sich in meinem Körper ausbreitete. Nun konnte ich endlich loslassen und mich dem Schlaf hingeben, wo nichts mehr wichtig war. Ein kleiner Teil von mir hoffte, dass ich nie wieder aufwachen und weiterkämpfen musste.

Die Tage waren wie ein Traum, an den ich nur bruchstückhafte Erinnerungen habe. Ich blicke auf diese Zeit zurück und sehe eine Frau, die wohl ich gewesen sein muss. Es schien, als hätten sich innere und äußere Welt vermischt, sodass ich sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Eine Weile beobachtete ich mich selbst, dann verlor ich mich aus den Augen, um irgendwann abrupt wieder aufzuwachen und dann erneut hilflos abzudriften.

Ich hatte erwartet, dass sie mich an einen sicheren, ruhigen Ort bringen würden, wo ich mich erholen konnte, aber dem war nicht so. Nachdem man mich ein paar Tage lang in einer psychiatrischen Klinik ruhig gestellt und durchgecheckt hatte –

ich weiß das nur, weil es mir später berichtet wurde –, entließ man mich in die Obhut meines Mannes, weil der verantwortli-che Arzt zu dem Schluss gekommen war, dass ich weder für andere noch für mich selbst eine unmittelbare Gefahr darstellte.

Wie sollte ich auch? Ich vegetierte nur noch vor mich hin, konnte nicht einmal mehr allein essen. Bei dem Vorfall auf der Brücke war niemand ernstlich zu Schaden gekommen, und es hatte keine Anzeige gegeben.

Das alles weiß ich nur von anderen, ich selbst habe nichts davon mitbekommen. Ich kann mich hauptsächlich an Bilder erinnern: Licht auf dem Linoleumboden, Verbände an den Handgelenken eines jungen Mädchens, eine alte Frau, die auf ihrer Lippe herumkaute, Essen von einem Rollwagen, Plastikga-beln, Pillen. Auch an Geräusche erinnere ich mich: Schreie mitten in der Nacht, eine Frau, die sich im Flüsterton mit sich selbst unterhielt, das Geplauder von ein paar Krankenschwestern, die gerade Pause hatten, Stimmen aus dem Fernseher. Und Gerüche: nach Desinfektionsmitteln, Essen und Urin. Ich erinnere mich auch noch an das spärliche graue Haar des Arztes, seinen weiten Pulli, seine freundlichen Augen. Ich glaube, ich nannte ihn »Daddy«. Ich glaube, er hielt meinen Arm. Aber vielleicht war das auch Charlie. Oder ein Traum.

Ich weiß noch, dass Charlie mir eines Tages erzählte, ein seltsamer junger Mann mit geschorenem Haar habe mit einem Ziegelstein eines unserer Fenster eingeworfen und sei dann kichernd davongerannt. Ich stammelte etwas, das der Beginn einer Beichte werden sollte, aber Charlie tätschelte nur meine Hand und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen.

Ich erinnere mich an eine Vase mit Blumen, einen ordinären, viel zu bunten Blumenstrauß, dessen penetranten Duft ich sogar im Schlaf riechen konnte. Charlie wusste nicht, von wem er stammte, und ich wollte gar nicht erst darüber nachdenken, weshalb ich versuchte, ihn loszuwerden, indem ich die Vase vom Tisch stieß. Doch wie sich herausstellte, bestand sie aus Plastik. Nachdem die Krankenschwester ein bisschen mit mir geschimpft und das Wasser aufgewischt hatte, steckte sie die Blumen zurück in die Vase und stellte sie auf den Tisch am Fußende meines Bettes, wo ich sie nicht erreichen konnte und sie ständig im Blick hatte.

Und ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Psychiater Dr. Thorne, auch wenn es eine Erinnerung von ganz seltsamer Art ist, als würde ich mir einen Film in einer Sprache ansehen, die ich nicht verstehe. Als würde dieser Film aus einer völlig anderen Kultur kommen, sodass ich nicht einmal in der Lage bin, die Gestik und Mimik der Darsteller zu deuten. Ich saß in meinem Bett und blickte auf meine Hände hinunter, die auf der Decke lagen. Auf der einen Seite hatte Charlie, auf der anderen Dr. Thorne Platz genommen. Wir waren umringt von einer Schar von Studenten, alle jünger als ich, wissbegierige Kinder.

»Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«, fragte ich.

Dann überraschte ich mich selbst und wohl auch ihn, indem ich nach seinem Arm griff. »Was passiert jetzt mit mir?«

»Sie leiden an einer bipolaren affektiven Psychose«, erklärte er.

»Manisch-depressiv?«, fragte Charlie. »Ja, das habe ich mir schon gedacht.«

»Nein«, widersprach ich. »Ich doch nicht.« Vielleicht sagte ich das aber auch gar nicht laut, sondern dachte es mir nur.

Ich vernahm Worte – »kurze Zyklen«, »Medikamente«, »Vorfälle«, »chemisches Ungleichgewicht«, »voll ausgeprägt«,

»Behandlungsweise«. Außerdem hörte ich ständig meinen Namen, aber es kam mir vor, als würde er jemand anderem gehören. Ich blickte auf meine Hände hinunter, starrte auf die abgebissenen Nägel und den Ehering an meinem Finger. Eine Träne tropfte auf die grobe braune Decke und versickerte darin.

»Ich bin manisch-depressiv?«, fragte ich in das Wirrwarr aus hässlichen Worten hinein.

»Ja, Holly«, antwortete Dr. Thorne. »Sie leiden an einer Krankheit.«

»Nein, ich leide an mir selbst«, hätte ich am liebsten geantwortet. Vielleicht habe ich es auch gesagt.

»Wir können Ihnen helfen«, fuhr er fort. »Wir können dafür sorgen, dass der Schmerz verschwindet. Mit Lithium«, fügte er hinzu.

Ich kannte dieses Wort. Es war ein Wort für andere Leute.

»Nebenwirkungen«, sagte er gerade. »Übelkeit, Durchfall, Gewichtszunahme, Durst, Hautprobleme.« Benommen starrte ich ihn an.

»Und bis das Lithium zu wirken beginnt, geben wir Ihnen zusätzlich noch etwas anderes.«

Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag auf den Kopf verpasst.

»Aber dann bin ich doch nicht mehr ich selbst«, wandte ich ein.

»So ist das nicht«, antwortete er.

Ich erinnere mich daran, wie ich nach Hause zurückkehrte. Tage nachdem ich von einem Streifenwagen ins St. Jude’s gebracht worden war, geleitete Charlie mich aus dem Krankenhaus. Ich spürte den kalten Regen auf meinem Gesicht, den Boden unter meinen Füßen.

»Einen Schritt nach dem anderen«, sagte Charlie.

So begann ich meine Reise.

Ich hatte einen Geschmack im Mund, den ich nicht mehr loswurde. Kopfschmerzen kamen und gingen. Meine Haut juckte. Vor allem aber war ich müde. Ich lag die ganze Zeit im Bett. Charlie brachte mir Tee und Essen und passte auf, dass ich meine Tabletten nahm. Er sah mir zu, wenn ich sie schluckte.

Manchmal schob er sie mir sogar in den Mund und hielt mir einen Becher voll Wasser an die Lippen, damit ich sie hinunter-spülen konnte. Einmal am Tag ließ er mir ein Bad ein, half mir in die Wanne und wusch mich mit einem Schwamm. Genauso gut hätte er ein Stück totes Fleisch waschen können. Ich bekam dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. Es erklärte alles, was in den vergangenen Monaten passiert war. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich selbst als einen großen Klumpen Fleisch, der irgendwo in einem Wald hing. Er würde Fliegen anziehen und von Maden zerfressen werden. Aas fressende Tiere würden auftauchen und um die Beute kämpfen. Jedes würde versuchen, ein Stück von dem toten Fleisch zu ergattern.

Ich versuchte einen Roman zu lesen, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Nach ein paar Seiten wusste ich schon nicht mehr, wer die einzelnen Leute waren. Immer hatte ich diesen Geschmack auf der Zunge, der sich auch unter alles legte, was ich ansah oder hörte. Ich bevorzugte die Stille meines abgedunkelten Zimmers. Wenn ich schlief, träumte ich von Rees, Stuart und Deborah, von dem Skinhead, der mir vor die Füße pisste, von Händen, die nach mir griffen, von Gesichtern, die mich höhnisch angrinsten. Und diese Träume wirkten auch in den Tag hinein. Ich konnte nicht aufhören, an all die Leute zu denken, die mich hassten. Ich hatte sie dazu gebracht, mich zu hassen, sie regelrecht dazu provoziert. Bilder aus meiner Vergangenheit scharten sich um mein Bett wie unerwünschte Besucher. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihre Gesichter, ihre feindseligen, wachsamen Augen. Ich stellte mir vor, wie sie in der wirklichen Welt außerhalb meines Kopfes darauf warteten, es mir heimzu-zahlen, sobald ich mich irgendwann wieder dorthin hinauswagen würde. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf.

Schlaf war besser als Wachsein, Dunkelheit besser als Licht.

*

Jeden Tag besuchte uns Naomi. Ich fand es tröstlich, ihre klare Stimme in der Küche zu hören. Sie brachte uns Kuchen, selbst gebackenes Brot, Suppen und Eintöpfe, wovon ich aber meist nichts essen konnte, weil mir so flau im Magen war. Manchmal kam sie herauf und legte mir eine Hand auf die Stirn oder maß meinen Puls. Sie sagte, es werde mir bestimmt bald besser gehen. Ich solle mir keine Sorgen machen. Dann schloss ich einfach die Augen, und sie ging wieder hinunter zu Charlie, der nicht mal mehr so tat, als würde er arbeiten, sondern alles so laufen ließ und darauf wartete, dass es mir wieder besser ginge.

Ich hörte sie unten in der Küche reden, auch wenn ich nicht verstand, was sie sagten. Mein Leben ging ohne mich weiter.

Meg kam: Sie setzte sich neben meinem Bett auf einen Stuhl und sagte Dinge, die keiner Antwort bedurften. Ich glaube, sie las mir sogar aus dem Band mit den fröhlichen Gedichten vor, den ich ihr vor so endlos langer Zeit geschenkt hatte. Aber vielleicht war auch das nur ein Traum, einer von vielen.

Ich versuchte ihr zu sagen, dass ich über alles Bescheid wisse, aber meine Worte ergaben keinen Sinn. Sie lehnte sich vor und wischte mir mit einem Taschentuch über die Wange. Anscheinend weinte ich, auch wenn ich zu weit von mir selbst entfernt war, um meinen Kummer zu fühlen. Ich befand mich in einem anderen, heimlichen Leben, von dem nur ich etwas wusste.

Wie aus dem Nichts tauchte vor meinem geistigen Auge plötzlich ein Bild aus meiner Kindheit auf: Mein Vater saß am Küchentisch und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.

Zwischen seinen Fingern quollen Tränen hervor. Ich hatte ihn immer als ausgesprochen fröhlich in Erinnerung gehabt. Wo kam plötzlich dieses Bild der Trauer her?

»Mein Vater«, sagte ich zu Charlie, als er mir das nächste Mal meine Pillen in den Mund schob.

»Ja?«

»Er war wie ich.«

»Du meinst …?«

»Er war manisch-depressiv. Natürlich war er das. Warum um alles in der Welt habe ich das nicht eher begriffen? Das erklärt alles und –« Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

»Was ist?«

»Er hat sich umgebracht, nicht wahr? Natürlich, so muss es gewesen sein. Er war wie ich, und dann hat er sich umgebracht.

Es sitzt in meinen Genen.«

»Hör auf.«

Ich hasste die Pillen, die ich mehrmals am Tag schlucken musste. Es waren moderne Tabletten, klein und glänzend, und sie steckten in Plastikfläschchen, auf denen gesetzlich geschütz-te Markennamen standen. Aber im Gegensatz zu Aspirin oder Penizillin war Lithium kein geniales Produkt der Pharmaindust-rie. Es war ein Element, ein lehmartiges Metall, das ich in der Schule im Chemieunterricht gesehen hatte. Es hatte etwas Geologisches, und nun befand es sich in mir, wie Metalladern in einem Felsen. Ich schmeckte es auf meiner Zunge und war sicher, bereits Veränderungen an meinem Körper feststellen zu können. Er fühlte sich nicht mehr so an, als gehörte er mir.

»Ich bin manisch-depressiv. All die Eigenschaften, die mich so besonders machen – so besonders gemacht haben –, sind nur ein Teil meiner Krankheit. Wer bin ich dann noch? Ich war immer der Meinung, dass man sich durch sein Tun und Handeln definiert. Dass ein Mensch aus all seinen Erinnerungen besteht.

Das ist mir jetzt genommen worden, die guten Zeiten ebenso wie die schlechten. Die Zeiten, in denen ich mich so mies fühlte, dass ich am liebsten allem ein Ende gesetzt hätte, aber auch die Zeiten, in denen ich das Gefühl hatte, nach den Sternen greifen zu können. All die wunderbaren Stunden, die ich erleben durfte.

Inzwischen habe ich das Gefühl, dass das gar nicht ich war, jedenfalls nicht mein wahres Ich. Es waren alles nur Symptome.

Ob ich mich daneben benahm oder nicht, hing nur von dem chemischen Ungleichgewicht in meinem Körper ab. Das ist eine großartige Entschuldigung, aber ich will sie nicht. Ich will ich sein. In guten und schlechten Zeiten, einfach nur ich.«

Auf wen redete ich da eigentlich ein, wen schrie ich an? Mich selbst natürlich – mein anderes Ich, die alte Holly Krauss, jene weit entfernte Gestalt aus einer vergangenen Welt, an deren kräftige Farben und intensive Empfindungen ich mich kaum noch erinnern konnte.

Ich sehnte mich danach, sanft in den Arm genommen und festgehalten zu werden, damit ich nicht wieder zerbrach. Das Bett, in dem ich lag, fühlte sich an wie ein fragiles kleines Boot, das von tosenden Wellen hin und her geworfen wurde. Als ich die Augen schloss, spürte ich, wie mich das Wasser hinunterzog.

*

Ich stand auf, zog mir etwas Richtiges an, putzte mir die Zähne, bürstete mein Haar. Dann betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel, erkannte es aber kaum wieder. Langsam ging ich nach unten, tastete mich wie eine Blinde Schritt für Schritt vor. Unten wanderte ich von Raum zu Raum. Alles kam mir fremd und verändert vor. Die Tür befand sich jetzt weiter auf der Seite, und das Spülbecken war niedriger, als ich es in Erinnerung gehabt hatte.

Ich ging in den Garten hinaus, wo meine Füße im Tau Abdrü-

cke hinterließen. Ich sagte mir, dass nichts ewig währte.

Irgendwann würde der Frühling kommen. Irgendwann würde es wieder Frühling werden.

25

»Andere Leute kommen mit diesen Medikamenten doch auch klar, also warum ich nicht? Ich habe einfach nicht mehr das Gefühl, ich selbst zu sein. Ich fühle mich so – so richtig beschissen. Auf der ganzen Linie.«

Naomi betrachtete mich eine Weile nachdenklich, dann stand sie auf. »Warte hier«, sagte sie.

Etwa zwanzig Minuten später kam sie mit einer großen Tragetasche zurück, aus der sie alle möglichen Päckchen und Kartons hervorkramte. Kamillentee. Johanniskraut. Multivitamintablet-ten, Fischöl und Nachtkerzenölkapseln. Eine Flasche Lavendel-Badesalz, dazu eine nach Lavendel duftende Kerze, Räucher-stäbchen. Sogar eine CD mit angeblich beruhigender Panflötenmusik befand sich darunter.

»Schmeiß deine Pillen weg«, sagte sie.

Ich starrte sie an.

»Probier’s aus.«

»Aber verrate es Charlie nicht«, sagte ich.

Nachdem Charlie zu seiner Joggingrunde aufgebrochen war, nahm ich die Fläschchen mit den Tabletten und betrachtete sie.

Allein schon der Gedanke, eine davon auf meine Handfläche zu legen und hinunterzuschlucken, verursachte mir Beklemmun-gen. Es waren sowieso nicht mehr viele übrig. Man bekam sie immer nur in kleinen Mengen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sagte der Arzt.

Ich ging mit den Fläschchen in die untere Toilette, schüttelte sämtliche Pillen in die Kloschüssel, betätigte die Spülung und beobachtete, wie die ovalen Kapseln im Wasser umherwirbelten und dann verschwanden.

Endlich war ich wieder mit mir selbst allein.

Ich kehrte in die Küche zurück, trank den lauwarmen Tee und wusch die Tasse aus. Anschließend ging ich zur Haustür und trat, ehe ich es mir anders überlegen konnte, in den kalten Wind hinaus. Ich lief in den Park, in dem Charlie und ich uns an jenem schrecklichen Tag getroffen hatten. Ich drehte drei Runden, dann machte ich mich auf den Rückweg. Das letzte Stück joggte ich sogar, obwohl ich das Gefühl hatte, mich gleich übergeben zu müssen. Hinterher nahm ich ein langes Bad mit Lavendelsalz.

Ich leerte drei Gläser Wasser. Dann legte ich die CD ein und lauschte den Flöten. Ich versuchte, mich auf meine innere Stärke zu konzentrieren. Mal sehen, was als Nächstes passieren würde.

Ich hatte mir selbst den Krieg erklärt.

Die scheußliche Angst kam ganz langsam, sickerte im Lauf des nächsten Tages immer mehr in mein Bewusstsein, bis ich sie in meinem Körper, meinem Blut spüren konnte.

In der zweiten Nacht hörte ich draußen Geräusche, raschelnde Schritte. Ich stand auf und presste mein Gesicht an die Fenster-scheibe. Lauerte da draußen in der Dunkelheit jemand? Ich zog die Vorhänge zu und lehnte mich zitternd gegen die Wand. Nach einer Weile schlüpfte ich in meinen Bademantel und setzte mich auf die Bettkante. Ich überlegte krampfhaft, was ich jetzt tun sollte. Charlie rufen. Richtig. Er würde mir sagen, was zu tun war. Ich öffnete den Mund, und ein hoher, durchdringender Schrei kam heraus.

»Charlie!«, rief ich. Dann noch einmal, so laut, dass mir der Hals wehtat: »Charlie, wo bist du?«

Keine Antwort. Er war nicht zu Hause. Tränen quollen mir aus den Augen, und ich wischte sie mit dem Ärmel meines Bademantels weg.

Plötzlich hatte ich keine Angst mehr. Nichts da draußen konnte so schlimm sein wie die Welt in meinem Kopf. Ich ging hinunter, öffnete die Hintertür und trat in den Garten hinaus.

Das Gras fühlte sich unter meinen nackten Füßen nass und kalt an. Der Wind schlug mir ins Gesicht.

»Dann kommt doch und holt mich!«, rief ich, so laut ich konnte. »Kommt schon, Rees oder Dean oder Stuart oder Deborah oder wer immer ihr seid! Es ist mir egal! Ihr würdet mir sogar einen Gefallen tun!«

Ich schloss die Augen und wartete. Wenigstens würde nun bald alles vorbei sein. Dieses ganze schmutzige Geschäft namens Leben.

»Nun kommt doch endlich!«, heulte ich, obwohl ich inzwischen wusste, dass dort draußen niemand war.

Irgendwo ging ein Fenster auf.

»Die meisten von uns versuchen zu schlafen!«, schrie eine Stimme.

Ich schrie zurück, riss einfach den Mund auf und ließ diesen hohen, durchdringenden Ton hören.

»Ach, steck doch deinen Kopf in einen Ofen!«, schimpfte die Stimme.

Fick dich doch selbst, oder gib dir die Kugel, aber verpiss dich verpiss dich verpiss dich. Wo kamen die Worte her, von innen oder von außen? Ich steckte mir die Finger in die Ohren, aber die Worte wirbelten immer noch durch meinen Kopf. Ich stolperte zurück ins Haus. Der Saum meines Bademantels war klatschnass, meine Füße eiskalt.

Ich sah zur Treppe, aber sie erschien mir zu steil. Mein Blick fiel auf das Telefon in der Diele, aber es war zu weit weg, und außerdem steckte im Hörer eine Stimme, die böse Sachen sagte, wenn ich ihn an mein Ohr hielt. Ich betrachtete meine Hände.

Sie waren so durchsichtig, dass ich die blauen Adern und die Knochen erkennen konnte, die wie Klauen aussahen. Ich öffnete eine Schublade und starrte auf all die scharfen, silbern schim-mernden Messer, die mir mit ihren Wellenschliffklingen entgegenblitzten. Ich zog meinen Bademantel aus und blickte voller Ekel an meinem weißen, verbrauchten Körper hinunter.

Ich fuhr mit den Fingern über meine schmerzenden Rippen und Brüste, bis hinauf zu meinem Hals. Dann ging ich in die Knie und legte meine Stirn auf den kalten Boden.

»Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht.«

Ich kann nicht mehr.

Und plötzlich hörte ich, wie aus dem Nichts eine freundliche Stimme sagte: Du musst ja nicht, Liebes.

»Ich muss nicht«, sagte ich, diesmal laut, während ein Gefühl unglaublicher Erleichterung durch meinen Körper flutete.

»Ich muss nicht. Ich kann es sein lassen.«

26

Es fühlte sich an wie eine kühle Hand auf meiner heißen, schweißnassen Stirn. Endlich hatte ich es mir eingestanden: Ich wollte tot sein.

Plötzlich konnte ich so klar denken wie seit Wochen nicht mehr, und ich verspürte, was meinen Entschluss betraf, nicht den geringsten Zweifel. Ich wollte keinen Schmerz, und ich wollte es auf eine möglichst saubere Art tun. Und ich wollte damit niemandem größeren Schaden zufügen als unbedingt nötig. Ich überlegte einen Moment, wie Charlie es wohl verkraf-ten würde, aber dann war mir plötzlich klar, dass er ohne mich besser dran wäre. Für ihn würde die Welt ein angenehmerer Ort sein, wenn es mich nicht mehr gab.

Hätten wir eine Waffe im Haus gehabt, dann hätte ich sie mir auf der Stelle in den Mund gesteckt und abgedrückt, aber mir fiel nichts ein, was ich stattdessen hätte verwenden können. Ich wollte mir nicht die Pulsadern aufschneiden. Ich wollte vom Tod wie ein erwarteter Gast willkommen geheißen werden und nicht mit einer kalten Klinge auf meiner Haut herumhacken.

Bestimmt war es kein Zufall gewesen, dass ich mir als Schau-platz für meinen großen Zusammenbruch die beliebteste Londoner Selbstmord-Location ausgesucht hatte. Wahrscheinlich hatte mich jener Geruch von Tod und Verzweiflung angelockt, der der Archway Road Bridge anhaftete. Die Leute reisten aus ganz England an, um von dieser Brücke zu springen, und ich hatte sie praktisch vor der Haustür. Ich hätte nicht mal einen Mantel anziehen müssen. Trotzdem war ich nicht in Versuchung. Meine Gründe waren absurd, fast schon ungezogen, so als ob ein Kind sich weigert zu essen, was auf seinem Teller liegt. Mittlerweile waren an der Brücke alle möglichen Zacken und Absperrungen angebracht worden, um Leute wie mich abzuschrecken, und ich bezweifelte, dass ich es schaffen würde, sie zu überwinden. Ich stellte mir vor, wie ich mich dabei verletzen und meine Sachen zerreißen würde. Noch schlimmer war – und das fand sogar ich ziemlich blöd –, dass ich schon mein Leben lang unter Höhenangst litt. Ich wollte langsam in den Tod gleiten, wie eine Schwimmerin, die von der Strömung ins Meer hinausgezogen wurde. Es sollte kein Horrortrip werden.

Ich hatte einen Termin bei Dr. Thorne. Charlie wollte mich begleiten, aber ich lehnte ab. »Schließlich«, meinte ich, »werde ich mich daran gewöhnen müssen, oder?«

Dr. Thorne hatte das Ergebnis meiner letzten Blutuntersu-chung vorliegen. Die Lithiumwerte seien ein wenig zu niedrig, deswegen werde er die Dosis erhöhen, erklärte er. Er schien guter Laune zu sein. Es war ein schöner, sonniger Morgen, und ich war seine erste Patientin an diesem Tag.

»Sie sehen schon ein wenig besser aus«, meinte er.

»Ich fühle mich auch schon besser«, log ich fröhlich. Ich hatte mir an diesem Tag besondere Mühe beim Anziehen gegeben und mich anschließend aufmerksam im Spiegel betrachtet, um sicherzustellen, dass meine Kleidung ordentlich aussah, meine Haare gebürstet waren und mein Lächeln überzeugend wirkte.

»Merken Sie irgendwelche Nebenwirkungen?«

»Nein«, antwortete ich. Da ich keinen übermäßig fröhlichen Eindruck erwecken wollte, fügte ich rasch hinzu: »Mein Mund ist ein bisschen trocken, und ich fühle mich leicht aufge-schwemmt. Aber es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.«

»Großartig«, sagte Dr. Thorne. »Wenn Sie ein wenig mehr als üblich trinken, müsste der trockene Mund eigentlich besser werden.«

»Das mache ich.«

»Gut. Wie ist Ihre Stimmung?«

»Ich fühle mich viel ruhiger.«

»Es wird noch eine Weile dauern, bis das Lithium so richtig wirkt.«

»Ich weiß.«

»Und mit den Einnahmezeiten kommen Sie auch klar?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich, was natürlich auch wieder gelogen war.

Ich hatte meine Medikamente schon seit Tagen nicht mehr genommen. Mir war völlig schleierhaft, wieso Charlie das noch nicht gemerkt hatte.

»Gut.«

»Allerdings habe ich da ein kleines Problem«, sagte ich beiläufig.

»Was denn?«

»Charlie und ich überlegen, eventuell für ein, zwei Wochen wegzufahren. Wir müssen mal eine Weile allein sein. Ich weiß aber noch nicht genau, wo wir landen werden. Vielleicht finden wir ja ein Fleckchen, wo es uns besonders gut gefällt. Was mache ich, wenn mir da die Tabletten ausgehen?«

»Keine Sorge«, antwortete Dr. Thorne. »Ich verschreibe Ihnen einfach so viele, dass es reicht. Wann soll es denn losgehen?«

Es war so einfach.

»Charlie ist gerade dabei, etwas zu organisieren«, erklärte ich.

»Irgend so ein Last-Minute-Angebot. Ich hoffe, dass wir gleich morgen starten können, aber vielleicht zieht es sich auch noch ein, zwei Wochen hin. Und ich weiß auch noch nicht genau, wie lange wir weg sein werden.«

»Sie Glückliche«, sagte Dr.

Thorne, während er fleißig

schrieb. »Ich hasse diese Jahreszeit. Es ist die beste Zeit für einen Urlaub.«

Ich habe schon oft von Leuten gelesen, die sich aus einem Impuls heraus umgebracht haben, indem sie plötzlich aus einem offenen Fenster sprangen oder sich vor einen Zug warfen. Bei mir war es tatsächlich so, als würde ich einen heimlichen Urlaub vorbereiten. Es musste alles am nächsten Tag, einem Dienstag, über die Bühne gehen, weil Charlie da den ganzen Tag über weg sein würde, angeblich auf irgendeinem Kurs. Aber ich wusste natürlich, dass er log. Er erklärte mir, dass er nach dem Frühs-tück aufbrechen und erst am frühen Abend zurückkommen würde. Er wollte wissen, ob das für mich in Ordnung sei, worauf ich ihm lächelnd antwortete, dass ich mich schon viel besser fühle.

Nach meinem Termin bei Dr. Thorpe ging ich einkaufen. Ich besorgte geräucherten Lachs und Schwarzbrot fürs Abendessen, obwohl ich wusste, dass ich keinen Bissen hinunterbekommen würde, und für Charlie neue Socken und Boxershorts, die ich ihm sauber gefaltet zu Hause in seine Schublade legte. Irgendwie gab mir dies das Gefühl, dass ich mich noch um ihn kümmerte, auch wenn ich ihn bald verlassen würde. Das war so ziemlich das erste Mal, dass ich mich wie eine richtige Ehefrau verhielt, und ich dachte ein paar Augenblicke darüber nach, wie unser gemeinsames Leben hätte aussehen können. In einer anderen Welt. Aber für das alles war es jetzt zu spät: Ich wusste, dass ich meine Rutschpartie in den Tod bereits angetreten hatte, und irgendwie schien es nicht mehr in meiner Macht zu stehen, nun noch etwas daran zu ändern.

Charlie und ich verbrachten einen ruhigen Abend zusammen, und ich ging früh zu Bett, weil ich wollte, dass der Morgen möglichst schnell kam.

Ich stand kurz davor, eine lange Reise anzutreten, und ich wollte, dass das Warten ein Ende hatte und ich aufbrechen konnte. Ich schlief lange und tief, und als ich aufwachte, war Charlie schon weg. Nun hatten wir uns nicht mal verabschiedet, aber das machte nichts. Wie verabschiedet man sich in so einem Fall? Am besten, man hebt nur kurz die Hand und geht dann ganz schnell, ohne sich noch mal umzublicken.

Ich stand auf, stellte mich unter die Dusche und wusch mir das Haar. Dann schlüpfte ich in bequeme, frisch gewaschene Sachen. Mir war bewusst, dass ich alles verdrängte, worüber man in einer solchen Situation nicht nachdenken durfte. Ich war dabei, auf einem schmalen Brett einen tiefen Abgrund zu überqueren. Wenn ich weder an die Tiefe unter mir noch an das schmale Stück Holz unter meinen Füßen dachte, würde ich es auf die andere Seite schaffen. Ließ ich jedoch die Tiefe des Abgrunds und die Schmalheit des Bretts in mein Bewusstsein dringen, würde ich fallen.

Ich ertappte mich dabei, wie ich das Bett machte, und hielt einen Moment inne, weil mir bewusst wurde, wie absurd das war, aber dann machte ich doch weiter, strich die Decke schön glatt. Um alles andere würden sich andere Leute kümmern müssen.

Ich durfte nicht innehalten und zu denken anfangen. Nachdem ich einen Karton Orangensaft und einen halb vollen Karton Apfelsaft aus dem Kühlschrank geholt hatte, stellte ich beide zusammen mit einem großen Glas auf den Küchentisch. Dann ging ich ins Bad. Ich besaß Medikamente für mehr als drei Wochen. Das war bestimmt genug. Nun befand ich mich schon ganz nah am Rand. Schwankte. Wieder einmal musste ich daran denken, wie ich als kleines Mädchen auf Mauern oder Klettergerüste gestiegen war, während mein Vater mit ausgebreiteten Armen unter mir stand und »Spring!« rief. »Spring nur, ich fange dich!« Oft versuchte er mir Angst einzujagen, indem er zum Spaß die Arme sinken ließ, als wollte er mich fallen lassen, was er natürlich nicht tat. Seltsam war aber, dass ich mich beim besten Willen nicht an sein Gesicht erinnern konnte, sosehr ich es auch versuchte, und an das von Charlie auch nicht. Nur das von Meg sah ich noch genau vor mir.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass Meg diejenige war, die am meisten unter meinem Vorhaben leiden und sich die größten Vorwürfe machen würde. Ich hatte eigentlich beschlossen, keinen Abschiedsbrief zu schreiben, aber nun überlegte ich es mir in letzter Minute doch anders. Ich griff nach einem Stift, holte mir aus dem Wohnzimmer einen Zettel und dachte kurz nach. Wie sagt man jemandem, dass einem etwas Leid tut, obwohl man weiß, dass man es durchziehen wird? Wie verabschiedet man sich? Ich wollte nichts von ihr und Charlie schreiben, sodass mein Brief am Ende sehr kurz ausfiel: »Meine liebe und treue Meg«, schrieb ich. »Es tut mir so Leid. Wirklich sehr, sehr Leid. Ich möchte nur, dass das alles aufhört. Vergib mir, meine beste und einzig wahre Freundin. In Liebe, Holly.«

Ich legte den Brief auf den Küchentisch und begann die Tabletten zu nehmen, immer zwei auf einmal, mit einem großen Schluck Apfelsaft und dann, als der aus war, mit Orangensaft.

Es ging ganz schnell und leicht. Als ich schließlich in die Diele trat, fiel mir auf, dass Charlies Schlüssel am Haken hingen, und einen Moment lang fragte ich mich, wie er am Abend in die Wohnung kommen wollte. Dann stieg ich langsam die Treppe hinauf und legte mich auf mein Bett. Dabei fiel mir ein, wie gewissenhaft ich heute Morgen die Decke glatt gestrichen hatte und was für eine Zeitverschwendung das gewesen war. Außerdem ging mir durch den Kopf, wie blöd es doch war, dass ich letzte Nacht so gut geschlafen hatte wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr und ob es mir dadurch jetzt schwer fallen würde einzuschlafen.

Ich versuche mich umzudrehen, aber mein Körper ist träge und schwer. Ich versuche, an etwas zu denken, an irgendetwas Schönes draußen in der Welt oder vielleicht aus meiner Vergangenheit. Ich denke an einen Berg und Sonnenschein, aber der Berg beginnt zu bröckeln und zerbricht in Stücke, und die Stücke beginnen hinunterzufallen und werden dabei weich und matschig und dann dunkel und klebrig. Das Sonnenlicht wird schwächer, und die Welt wird kalt und dunkel und grau, und das Grau wird schwarz, und die Sonne … die Sonne …

Ich befinde mich ganz unten auf dem Boden einer tiefen, tiefen Grube. Um mich herum bewegen sich schemenhafte Gestalten.

Sie kommen auf mich zu. Um mich herum ist Bewegung. In mir spüre ich nur Übelkeit, eine langsame, rollende, schreckliche Übelkeit. Bald wird sie nachlassen, bald wird es vorbei sein.

Dann passiert etwas. Ich sehe das Gesicht meines Vaters. Er starrt mich an. Er lacht nicht, wie er es in meiner Kindheit so oft getan hat … jenes unverschämte, ausgelassene, fröhliche Lachen. Aber er weint auch nicht, er weint keine Tränenströme, die die ganze Welt hinwegspülen werden. Nein. Er sieht mir nur ganz zärtlich in die Augen. Sieht direkt in mich hinein, aber das macht mir nichts mehr aus. Ich bin endlich nackt.

» Oh, Daddy« , sage ich oder versuche es zu sagen, aber ich bin inzwischen weit davon entfernt, sprechen zu können. Die Worte fallen von mir ab, und ich weiß, dass ich im Begriff hin, in die Stille einzutauchen. Ich spüre, wie mein schönes, schreckliches Leben sich auflöst: seine Worte, Bilder, Klänge, Erinnerungen.

Ich lasse eines nach dem anderen los: Wasser, das durch meine Hände rinnt.

Ich sage mir: » Holly, nun hast du losgelassen, und du fällst, und bald wird es vorbei sein. Die einzige Hölle ist das Leben. «

Und in dem Moment, nicht mehr weit von der Dunkelheit entfernt, verspüre ich plötzlich ein schmerzhaftes Bedauern.

Schlagartig taucht vor meinem geistigen Auge eine Szene auf –

so real, dass ich wirklich wieder dort bin.

Ich befinde mich irgendwo im Ausland und sitze mit Meg in einem Hafenrestaurant. Wir haben so lange zu Abend gegessen, dass die Sonne schon ganz tief steht. Unseren Tisch bedecken Teller mit leeren Muschelschalen, Flaschen, Krüge, Aschenbecher. Damals rauchten wir beide. Die Sonne fällt in einem so ungewöhnlichen Winkel ein, dass wir bis auf den Grund des Wassers sehen können, das so klar ist wie blaues Glas. Zwischen den Seilen, mit denen die Fischerboote angebunden sind, tummeln sich Schwärme kleiner Fische. Sowohl Meg als auch ich tragen ein Kleid. Meins kann ich nicht sehen, aber das von Meg ist hellblau und schmiegt sich eng an ihre Brust. Sie beugt sich kichernd vor, aber ich bin plötzlich ganz ernst geworden.

» Ich werde diesen Moment aufbewahren« , sage ich. » Wie in einer Flasche. Dann kann ich ihn immer hervorholen, und er wird mir helfen, die dunkelsten Momente meines Lebens zu überstehen. « Sie hat ihre Hand auf meine gelegt. Ich höre nicht, was sie sagt, aber ich sehe ihr liebes, liebes Gesicht.

Ganz tief in meinen Kopf ist ein Gedanke: Ruf Meg an. Ich bewege mich und falle aus dem Bett, lande schwer auf dem Boden. Dabei reiße ich das Telefon vom Nachtkästchen. Mein Gesicht fühlt sich klebrig an. Ich greife nach dem Telefon, starre auf die Zahlen. Sie verschwimmen immer wieder vor meinen Augen. Langsam und unter größter Anstrengung tippe ich die Nummer, halte den Hörer an mein Ohr. Nichts. Die Leitung ist tot. Ich kann nicht denken. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Alles ist zu schwierig, zu weit weg. Meine Gedanken sind so langsam, so schwer, als müsste ich sie durch Schlamm und Matsch ziehen.

Zentimeter für Zentimeter schleppe ich mich über den Boden.

Wohin? Was kann ich nur tun? Ich versuche mich aufzurichten, aber ich schaffe es nicht. Meine Kraft lässt nach. Ich kann kaum noch die Augen offen halten.

Ich unternehme einen letzten Versuch und sehe etwas, eine Silhouette vor dem Fenster, eine vertraute Form. Ein Dreieck, ein Stück Draht. Die Skulptur. Diese schreckliche Skulptur. In mir regt sich ein letzter Impuls, ein letzter Gedanke, den ich kaum mehr wahrnehme. Ich drücke mich gegen den Tisch wie ein schnaubendes, gieriges Tier. Mein Gesicht tut schrecklich weh, aber ich schiebe weiter, bis endlich der Tisch kippt und es fürchterlich kracht. Dann höre ich noch einmal ein Krachen, das Splittern von Glas, und dann noch einmal, draußen; das war kein Glas, und dann sacke ich einfach zusammen, versinke in mir selbst, ein Anker, der in den tintenschwarzen Ozean taucht.

Hinab in die Tiefe.

Aber da ist jemand. Da ist jemand und beobachtet mich. Obwohl ich die Augen nicht mehr öffnen kann, spüre ich seinen Blick.

Ich spüre, dass jemand neben mir steht. Irgendjemand.

Ich versuche, die Augen aufzuschlagen. Ein schmaler Streifen schwankenden Lichts. In diesem Streifen sehe ich Schuhe, ganz nahe vor meinem Gesicht, so nahe, dass sie vor meinen Augen verschwimmen. Ich kann meinen Blick nicht auf sie konzentrieren. Eine schreckliche Welle der Übelkeit schwappt durch meinen Körper.

Aber da ist jemand. Ich weiß es. Ich kann ihn atmen hören, hoch über mir. In der Welt, die ich gerade verlasse.

Ich strecke die Hand aus, um die Schuhe zu berühren, aber sie weichen vor mir zurück. Erst der eine, dann der andere. Sie werden zu weit entfernten Formen. Meine Hand versucht vergeblich, ihnen zu folgen.

Ich versuche, den Hals zu drehen, um herauszufinden, wer die Schuhe trägt, aber es geht nicht. Mein Kopf ist so schwer wie ein sterbender Planet. Altes, verbrauchtes Licht tanzt vor mir, schmutzig und flackernd. Gleich wird es verlöschen.

Ich versuche » Hilfe« zu sagen, aber meine Lippen bewegen sich nicht, und der Atem ertrinkt in meinem Hals. Das Meer weicht zurück. Ein Welle um die andere rollt von mir weg, und ich liege am verlassenen Ufer und spüre, wie das Leben in mir verebbt.

Und jemand sieht zu, wie ich sterbe.

Ich höre, wie sich die Schuhe klackend entfernen, ein letztes Geräusch vor der Stille.

Und dann ist die ganze Welt dunkel und kalt und still, und das letzte Licht verlischt.

MEIN ZWEITES STERBEN

27

Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Haut hatte einen hellen Grauton, der rund um ihre geschwollenen Lippen in Blau überging. Sie war dünner, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, ihr Körper schien sich unter der weißen Bettdecke kaum abzuzeichnen. Ich starrte sie an, bis meine Augen brannten, und bemerkte dabei Dinge, die mir vorher nie aufgefallen waren: die gespaltenen Spitzen ihrer Haare, der feine Flaum über ihrer Oberlippe, das kleine Muttermal knapp unterhalb ihres linken Ohrs, die Abschürfungen, die sich in parallelen Linien an den zarten Innenseiten ihrer Arme entlangzogen. Sie sah aus wie ein Wachsmodell, das dem Original zwar auf unheimliche Weise ähnelte, dem aber die Seele fehlte. Ich hatte Holly in all den Jahren, die ich sie nun schon kannte, noch nie schlafen oder sich einfach ausruhen sehen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich wie eine im Wind flackernde Flamme, und wenn sie sprach, gestikulierte sie theatralisch mit den Händen, warf ungeduldig das Haar zurück, beugte sich vor, lehnte sich wieder zurück, schlug nervös mit einem Bleistift gegen den Tisch, biss auf der Spitze ihres Daumens herum. Ständig sprang sie auf, tigerte im Raum auf und ab oder wechselte auf irgendeine andere Weise die Position, als könnte sie einfach keinen Ort finden, an dem sie sich wohl fühlte.

Jetzt aber lag sie ganz friedlich da. Völlig still und ohne jemandem Probleme zu machen: Charlie nicht, mir nicht und auch nicht den Krankenschwestern im Empfangsbereich, von denen mich eine zu diesem Bett geführt und leise die Vorhänge zugezogen hatte, damit ich ungestört war. Hinter den Vorhängen lauerten all die Gerüche und Geräusche einer Krankenhausstation, aber hier neben ihrem Bett herrschte Ruhe. Ich war direkt aus dem Büro hergefahren, gleich nachdem der Anruf kam, und hatte alles in dem Chaos zurückgelassen, das Holly während der letzten Wochen angerichtet hatte. Mit vereinten Kräften hatten wir versucht, einen Teil ihrer Aktionen wieder rückgängig zu machen. Manchmal bereitete es uns sogar Schwierigkeiten nachzuvollziehen, was sie im Einzelnen getan hatte, ganz zu schweigen davon, warum. Aber kaum hatten wir einen verärger-ten Kunden besänftigt, war eine Sendung irrsinnig teurer Seidenstrümpfe aus Italien eingetroffen, und am nächsten Tag wurden zehn neue Bürostühle geliefert, die Rückenschmerzen vorbeugen sollten und dementsprechend teuer waren. Ich ging sämtliche Ausgaben der letzten Zeit durch und beglich die meisten der noch offenen Rechnungen. Ich führte ein nicht ganz einfaches Gespräch mit dem Leiter unserer Bank, und dann musste ich mich auch noch um den Architekten kümmern, der eines Morgens mit seinen zwei Assistentinnen auftauchte und uns hübsche Pläne vorlegte, wie wir unseren Arbeitsraum umgestalten könnten, indem wir Glasbalken einziehen und einen Schacht in das Stockwerk über uns durchbrechen ließen.

Anscheinend hatte Holly behauptet, dass die Firma, die dort ihre Büros hatte, damit einverstanden sei.

Ich begriff nicht, wie sie die Zeit gefunden hatte, während ihrer ohnehin schon ausgefüllten Arbeitstage ein solches Chaos anzurichten. Und nun lag sie so still vor mir. Ich beugte mich über sie und nahm ihre Hand, die blau geädert und kalt auf der Bettdecke lag. Wenn sie jetzt sterben, aus diesem todesähnlichen Schlaf hinübergleiten würde, dann würde mit ihr auch das Chaos sterben. All die Rastlosigkeit, die Wut und Qual, die sinnlose Erschöpfung, in die sie sich selbst und andere manövrierte, würde verschwinden. In meinem Hinterkopf spukte ein Gedanke herum, und ich zwang mich, ihn genau zu betrachten.

Ein Teil von mir wollte, dass sie starb. Dass sie dem Ganzen ein Ende setzte und uns endlich in Ruhe ließ. Das musste Holly auch gedacht haben, als sie diese ganzen Pillen in sich hinein-stopfte: dass wir uns alle ihren Tod wünschten und erleichtert sein würden.

Ich strich mit dem Daumen über die hervorstehenden blauen Adern an ihrem Handrücken. Sie roch nach Desinfektionsmittel und Erbrochenem. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ihre Zunge sah ganz weiß aus. Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick wirkte völlig leer. Einen Moment später machte sie die Augen wieder zu. Als Holly damals mit ihren verrückten Stiefeln ins Büro gestürmt kam, wusste ich sofort, dass ich ihre Freundin sein wollte. Sie hatte eine so faszinierende Art, und wenn ich etwas sagte, hörte sie mir derart aufmerksam zu, dass es mir fast schon unangenehm war. Ihre Freundin zu werden war ein bisschen so, als ob man mit einem Mann eine Affäre begann. Sie machte mir spontan Geschenke, rief mich mitten in der Nacht an, um mir zu erzählen, was ihr gerade eingefallen war, oder wurde von einer Sekunde auf die andere wütend, weil ich irgendetwas gesagt oder nicht gesagt hatte. Als wir einmal in Südfrankreich zusammen an einem Tisch saßen, Meeresfrüchte aßen, Wein tranken und aufs Meer hinaussahen, das in der Abendsonne wunderbar glitzerte, sagte sie, dass sie mich liebe.

Ich weiß noch, dass ich rot wurde, beschwipst etwas stammelte und mich auf eine absurde Weise englisch fühlte, aber das störte sie nicht. Sie legte nur kichernd ihre Hand auf meine und erklärte, ich müsse nichts sagen, sie wisse schon, dass auch ich sie liebe und wir immer Freundinnen bleiben würden. Sie war das personifizierte Abenteuer.

»Meg.«

»Holly? Ich bin hier.«

»Ich muss kotzen.«

Ich riss die Vorhänge auf und rief nach einer Krankenschwester. Anschließend sah ich hilflos zu, wie Holly sich über eine Plastikschüssel beugte, sich mehrmals übergab und dann stöhnend nach Luft rang. Die Krankenschwester schien das ziemlich kalt zu lassen. Als Holly sich auf ihr Kissen zurücksinken ließ, wischte sie ihr mit einem Papiertuch über die Stirn und verschwand mit der Schüssel.

»Fast wäre ich im Gefängnis gelandet«, sagte Holly leise.

»Unsinn«, antwortete ich. »Das ist doch heute kein Verbrechen mehr.«

»Was?«

»Du weißt schon, wenn man versucht …«, ich wollte es nicht aussprechen, »… sich umzubringen.«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. Es klang fast wie ein Stöhnen. Ich musste mich nahe zu ihr hinunterbeu-gen, um sie verstehen zu können. Sie hatte Probleme, genügend Luft zu bekommen. »Hast du es schon gehört? Ich habe schon wieder etwas Schlimmes angestellt, nämlich diese schreckliche Skulptur durchs Fenster auf die Straße hinuntergestoßen. Sie hätte beinahe einen alten Mann erschlagen. Er hat die 999

angerufen.« Einen Moment kam es mir so vor, als würden ihre müden Augen amüsiert aufblitzen. »Ich bringe ihn fast um, und zum Dank rettet er mir das Leben.«

Sie schloss die Augen. Ich blieb schweigend neben ihr sitzen, drückte lediglich ihre Hand.

»Dann ist Charlie gekommen«, fuhr Holly nach einer Weile im Flüsterton fort. »Der arme Charlie. Wahrscheinlich findet er, dass es mir recht geschieht.«

Ich versuchte, ihre Worte ins Scherzhafte zu ziehen. »Es geschieht dir ja auch wirklich recht. Du hast schließlich etwas total Dummes getan.«

Aber Holly sagte, immer noch mit geschlossenen Augen:

»Es tut mir Leid, Meg. Es tut mir alles so Leid.«

»Du brauchst dich nicht zu …«

»Doch. Es tut mir Leid, so Leid. Ich habe alles kaputtgemacht.

Einfach alles. Ich verdiene es nicht, noch am Leben zu sein. Mir ist schon wieder so schlecht.«

»Soll ich noch mal die Krankenschwester rufen?«

»Es ist doch gar nichts mehr übrig, was noch herauskommen könnte. Bis auf meine Innereien. Was für ein Schlamassel.«

»Charlie ist unten, ein bisschen frische Luft schnappen. Soll ich ihn holen?«

»Nein. Lass mich nicht allein. Lass mich bitte nicht allein.«

Unter ihren Wimpern quollen Tränen hervor.

Schweigend betrachtete ich ihr aufgedunsenes Gesicht, ihre Hände, die zitternd auf der Decke lagen. Ich schluckte, und als ich dann wieder den säuerlichen, kranken Geruch einatmete, sehnte ich mich danach, draußen in der kalten, sauberen Winter-luft zu sein. »Ich liebe dich«, sagte ich schließlich in etwas barschem Ton.

»Ich hab versucht, dich anzurufen.«

»Was?«

»Als ich im Sterben lag. Ich hab versucht, dich anzurufen.«

Ein Schauder lief wie eine kalte Welle der Erkenntnis durch meinen Körper. Nun würde ich niemals frei von ihr sein. »Du hast versucht, mich anzurufen?«

Sie lächelte müde. Jedes Wort schien sie anzustrengen. »Die Leitung war tot. Du weißt ja, ich und Technik, die alte Geschichte. Ich hab dir einen Abschiedsbrief geschrieben. Das darfst du aber nicht Charlie sagen. Eigentlich hätte ich ihm einen schreiben sollen. Ich möchte ihm nicht unnötig wehtun.«

»Was stand in dem Brief?«

»Nicht viel. Hauptsächlich, dass es mir Leid tut. Die Polizei hat ihn nicht gefunden, und Charlie auch nicht. Vielleicht habe ich ja nur geträumt, dass ich ihn geschrieben habe. Ich hatte so eine Art Wachtraum, als ich im Sterben lag. Ich wusste, dass du dich schuldig fühlen würdest, aber es war nicht deine Schuld.

Ich verstehe das mit dir und Charlie.«

»Bitte? Das mit mir und Charlie?«

»Mmm.«

»Mein Gott, Holly. Heißt das, du hast wirklich geglaubt, dass wir … dass ich dazu fähig wäre …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen nahm ich ihre kalte Hand zwischen meine und rubbelte sie warm.

»Es war meine Schuld«, sagte sie müde. »Ich habe alles zerstört.«

Ich grinste sie an. In dem Moment hatte ich sie unglaublich gern. »Weißt du was? In einer Minute muss ich gehen. Weil nämlich draußen jemand auf mich wartet. Er hat mich hergefahren. Sein Name ist Todd, erinnerst du dich an ihn? Ich habe es dir nicht erzählt, weil es sein und mein Geheimnis war und wir es erst noch eine Weile für uns behalten wollten.«

Holly schlug die Augen auf, die feucht glänzten. Sie starrte mich an. »Du bist wirklich nicht mit Charlie …?«

»Nein.«

»Du meinst, ihr habt nie …?«

»Du bist meine beste Freundin. Das würde ich nie tun.«

»Ich war mir so sicher«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte euch beide verloren, durch meine eigene blöde Schuld.«

»Du warst in letzter Zeit ziemlich schwierig.«

»Todd?«

»Ja.«

»Der Glückliche.«

Ihre Stimme klang immer undeutlicher. Ich legte ihre Hand zurück auf die Decke und streichelte sie. »Schlaf jetzt ein bisschen.«

»Meg?«

»Was?«

»Jetzt bin ich aber froh.«

»Das ist gut.«

»Ich bin wirklich, wirklich froh …«

Ihre Lippen öffneten sich ein wenig, und ihr Atem wurde ruhiger. Ihre Augen zuckten unter den Lidern. Sie träumte.

Auf dem Flur kam mir Charlie entgegen. Er hatte einen küm-merlichen Strauß gelbe Nelken in der Hand, den er wohl unten im Krankenhauskiosk erstanden hatte. Obwohl er sich an diesem Morgen offensichtlich rasiert und sein sonst häufig ungekämmtes Haar gebürstet hatte, wirkte sein Gang unsicher, irgendwie angeschlagen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, und er runzelte die Stirn. Er schien ganz in seiner eigenen Welt gefangen zu sein.

»Charlie«, sagte ich.

Er blieb stehen und sah mich an, aber mir schien, als würde er durch mich hindurch auf etwas anderes starren.

»Ich war gerade bei ihr. Sie schläft wieder.«

»Das geht schon die ganze Zeit so«, sagte er. »Sie wacht auf, und man hat den Eindruck, dass sie gar nicht richtig da ist, aber dann fängt sie plötzlich an zu reden, und nach einer Weile wird sie davon so müde, dass sie wieder einschläft.«

»Sie fühlt sich schuldig.«

»Sie fühlt eine ganze Menge.«

Das Gespräch war mir unangenehm. Ich wollte nicht mit ihm darum wetteifern, wer am besten wusste, was Holly fühlte oder dachte. »Es wird ihr bald wieder besser gehen, Charlie.«

»Vielleicht«, antwortete er dumpf. »Zumindest für eine Weile.«

»Du hättest nicht mehr tun können, als du sowieso getan hast.«

»Oh, Meg«, sagte er und sah mir dabei zum ersten Mal in die Augen. »Natürlich hätte ich mehr tun können. Ich habe sie allein gelassen. Ich hätte es wissen müssen.«

»Du kannst nicht rund um die Uhr bei ihr sein.«

Er zuckte nur mit den Achseln und steckte sein Gesicht in die Nelken. »Ich rufe dich an.«

»Ich schau heute Abend nach der Arbeit noch einmal vorbei.«

»Danke.«

»Sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf kriegst, sonst wirst du auch noch krank, und damit wäre wirklich niemandem geholfen.«

»Ja«, antwortete er, ohne es wirklich zu meinen.

Ich fuhr abends um sieben noch einmal in die Klinik, aber es waren zu viele Leute da, die Holly sehen wollten. Charlie, der ein frisches Jeanshemd trug. Mein Cousin Luke. Naomi, die zu viel blauen Lidschatten aufgelegt hatte. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich außerdem auch noch Hollys Mutter. Sie saß mit kerzengeradem Rücken und einem verhärmten Gesichtsausdruck am Bett ihrer Tochter und hielt deren Hand, als handelte es sich dabei um einen unliebsamen Gegenstand, den jemand für ein paar Minuten ihrer Obhut anvertraut hatte. Holly lag wie eine Leiche zwischen ihnen. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Plastikkrug mit stark duftenden Lilien. War ich die Einzige, die merkte, dass sie nur so tat, als würde sie schlafen?

*

Am nächsten Tag saß ich gerade neben ihrem Bett, als Dr. Thorne kam, ein großer, spindeldürrer Mann mit einem dünnen Hals und klugen, grauen Augen. Er sah ein bisschen aus wie ein Storch und war mir sofort sympathisch. Ich stand auf, um zu gehen.

»Geh nicht«, sagte Holly.

»Aber ich –«

»Bleib.«

Also blieb ich. Nachdem Dr. Thorne einen Blick auf das Krankenblatt geworfen hatte, zog er sich ebenfalls einen Stuhl heran und stellte ihr eine ganze Reihe von Fragen, die Holly größtenteils sehr kurz und mit leiser, gedämpfter Stimme beantwortete. Warum hatte sie ihre Medikamente abgesetzt?

Wie lange hatte sie das schon geplant? Was genau hatte sie zu dem Ergebnis kommen lassen, dass sie es nicht mehr ertragen konnte weiterzuleben? Was war der Auslöser gewesen? Hatte sie früher schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, oder mit dem Gedanken gespielt, es zu versuchen? Woher kamen die Schnitte an ihren Armen? Wie war ihre Stimmung in der Zeit vor ihrem Selbstmordversuch gewesen? Dr. Thorne forderte sie auf, ihrer Gemütsverfassung eine Farbe zu geben.

Holly überlegte einen Moment und sagte dann: »Kastanien-braun.« Wie viele Tabletten hatte sie genommen? War ihr, nachdem sie sie geschluckt hatte, klar geworden, dass sie doch weiterleben wollte? Wie fühlte sie sich jetzt? Konnte sie ihre Gefühle beschreiben? Er bat sie, ihre gegenwärtige Stimmung auf einer Skala einzuordnen, auf der die Eins der negativsten und die Zehn der positivsten Gemütslage entsprach. In Hollys Augen blitzte etwas von ihrem alten Schalk auf. »Drei zwei Fünftel«, antwortete sie, woraufhin Dr. Thorne sie anlächelte, als würde er sie wirklich mögen. Die Fragen gingen endlos weiter. Nachdem er abschließend noch einen Blick auf ihre Zunge geworfen und ihren Puls gemessen hatte, fragte er sie, ob sie Stimmen gehört oder seltsame Dinge gesehen habe. Holly sah mich einen Moment hilfesuchend an, als hätte sie plötzlich Angst, wandte sich dann aber wieder Dr. Thorne zu.

»Vielleicht«, murmelte sie. »Woher weiß man, ob die Stimmen und die Gesichter im eigenen Kopf oder draußen sind?«

»Hatten Sie Angst?«

»Ja.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Sehr sogar. Ich hatte Angst davor, verrückt zu sein. Als ich im Sterben lag, dachte ich …«

»Was dachten Sie?«

»Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand beobachtete.«

»Ich glaube, das kommt häufiger vor.«

»Ich habe zwei Schuhe gesehen …«

Und so ging es endlos weiter. Es erschien mir irgendwie nicht richtig, dass ich mich mit im Raum befand, während er ihr seine Fragen stellte und sie ihre Antworten murmelte. Es war, als würde dadurch eine Schicht nach der anderen freigelegt, bis wir schließlich bei den offenen Wunden angelangt waren. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, hatte jedoch das Gefühl, den penetranten, süßlichen Geruch der Lilien nicht mehr lange ertragen zu können.

»Wäre es Ihnen lieber gewesen, Ihr Versuch wäre erfolgreich gewesen?«, fragte er sie schließlich.

Wieder sah Holly mich an. In ihrem Blick lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Er kam mir fast ein wenig ver-schmitzt vor.

»Nein«, antwortete sie nach einer Weile. »Ich glaube, ich möchte leben.«

28

Trotz allem war ich glücklich, so glücklich wie schon seit Jahren nicht mehr. Manchmal hatte ich deswegen fast ein schlechtes Gewissen, aber ich konnte es auch nicht ändern. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte und Todd neben mir sah, machte mein Herz vor Freude einen Satz. Alles, was mich früher in der Arbeit frustriert hatte, erschien mir jetzt kinderleicht. Dinge, die mir immer langweilig vorgekommen waren, fand ich plötzlich hochinteressant. Ich war von einer ganz neuen Energie und Begeisterung erfüllt. Ich war verliebt.

Manchmal schlief ich bei ihm, und manchmal übernachtete er bei mir. Unsere Wohnungen waren wie Tatorte, an denen wir eindeutige Beweise für unsere Anwesenheit hinterlassen hatten: Zahnbürsten, Unterwäsche, Kosmetika, Shirts, Blusen, Ta-schenbücher. Es kam jetzt öfter vor, dass ich zu Hause etwas suchte, bis mir plötzlich einfiel, dass es bei Todd war. Es machte mir Spaß, nie genau zu wissen, wo ich am Ende des Tages landen würde. Unsere Beziehung war ein risikoloses Abenteuer.

Ich wusste, dass es nie wieder ganz so sein würde wie jetzt, egal, was zwischen uns passierte. Falls es so weiterging, wie ich es mir wünschte, würden wir vielleicht irgendwann einen Punkt erreichen, an dem wir – jetzt noch völlig unvorstellbar – nicht mehr ständig aneinander dachten und auch mal ein paar Tage ohne Sex auskamen, weil der andere einem so vertraut war, dass er sozusagen zum Inventar gehörte. Aber im Moment waren wir noch unglaublich neugierig aufeinander. Todd war ein Labyrinth, in dem ich herumwandern wollte, ein Rätsel, das es zu lösen galt, eine Art magische Überraschungsreise. Wir sprachen über unser Leben, unsere Arbeit, frühere Beziehungen, was schief gelaufen und was gut gewesen war. Wir verrieten einander Geheimnisse.

Jeder Tag kam mir erschreckend kurz vor. Wie immer es weiterginge, diese Intensität und Energie würde auf jeden Fall nachlassen. Das musste zwangsläufig geschehen, damit wir irgendwann wieder normale Menschen werden konnten, ein normales Paar oder vielleicht auch nur Freunde.

Nun aber hatte Holly Vorrang. Während wir in Todds Wohnung frühstückten, erklärte ich ihm, dass ich mich an diesem Abend erst später mit ihm treffen könne, weil ich vorher bei Holly vorbeischauen müsse. Er nickte.

»Das alles wird ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen.«

»Natürlich.«

»Ich verstehe es, wenn dich das nervt.«

»Es nervt mich nicht.«

»Ich weiß, dass deine erste Begegnung mit Holly kein großer Erfolg war …«

»Damit meinst du wohl, dass ich kein großer Erfolg war, oder?«

»Es war nicht deine Schuld. Um es mal vorsichtig auszudrü-

cken.«

»Findest du nicht, dass du für eine beste Freundin ein bisschen zu viel Angst vor ihr hast?«

Darüber musste ich erst mal nachdenken. »Holly hat schon immer ziemlich viel Aufmerksamkeit erfordert«, antwortete ich.

»In emotionaler Hinsicht, meine ich. Sie war es aber wert. Dabei bin ich manchmal schier wahnsinnig geworden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, in welch peinliche Situationen sie mich schon gebracht hat …«

»O doch, dass kann ich durchaus«, meinte Todd.

»Aber ohne sie hätte ich vieles gar nicht gemacht. Holly bringt einen dazu, Dinge zu tun, die einem auf den ersten Blick verrückt erscheinen, aber dann denkt man sich: Warum eigentlich nicht? In letzter Zeit ist irgendwas schief gelaufen, sodass nur noch der verrückte Teil übrig blieb. Was du kennen gelernt hast, ist nicht die wahre Holly.«

»Meine Meinung über sie ist doch gar nicht so wichtig.«

Ich streckte die Hand aus und streichelte über sein seidiges braunes Haar. »Doch. Für mich schon. Sehr wichtig sogar. Holly wollte nicht nur sich selbst zerstören, sondern hat auch alles Mögliche unternommen, um mich von sich wegzutreiben.

Vielleicht hat sie damit auch nur wieder versucht, sich selbst Schaden zuzufügen – indem sie die Menschen vergraulte, die sie liebten.«

Ich stand auf, zog Todd von seinem Stuhl hoch und schlang die Arme um ihn. »Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust«, sagte ich.

»Natürlich.«

»Die meisten Leute würden erst mal fragen: ›Welchen?‹«

»Ich nicht. Nicht bei dir.«

»Oh.« Ich zwinkerte ihm zu und hätte vor lauter Rührung fast vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. »Ich möchte, dass du mir zuliebe versuchst, Holly so zu mögen, wie sie im Moment ist. Später wirst du sie wahrscheinlich gut leiden können.«

»Ich werde es versuchen.«

»Und wenn ich heute Abend bei ihr im Krankenhaus war, komme ich gleich zu dir.«

»Das ist meine Bedingung.«

Ich saß fast eine Stunde schweigend an Hollys Bett. Manchmal öffnete sie für ein paar Sekunden die Augen, schlief dann aber gleich wieder ein. Ich wurde selbst auch ganz müde, sodass ich erschrocken hochfuhr, als sie plötzlich zu sprechen begann.

Dabei verstand ich erst gar nicht, was sie sagte, weil sie so leise und undeutlich sprach.

»Was?«

»Ich habe Angst.«

»Wovor? Oder einfach nur so?«

»Vor dem Heimkommen.«

»Wie meinst du das?«

»Irgendwann muss ich hier wieder raus. Zurück in die Welt.

Hier fühle ich mich sicher.«

»Charlie hat mir erzählt, dass sie Stuart gegen Kaution freige-lassen haben. Aber ich glaube nicht, dass er noch mal versuchen wird, dir etwas anzutun.«

»Seinetwegen mache ich mir auch keine Sorgen. Ich überlege mir schon die ganze Zeit, ob ich meine Anzeige vielleicht zurückziehen soll.«

»Auf keinen Fall. Er hätte dich genauso gut umbringen können.«

»Er war bloß zufällig als Erster zur Stelle.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, wenn er es nicht gewesen wäre und ich jetzt nicht selbst versucht hätte, mir den Rest zu geben, dann hätte es vielleicht Rees getan. Als ich im Sterben lag, hatte ich das Gefühl, dass jemand da war.«

»Da?«

»So viele Leute wollen mich umbringen. Ich habe mir wohl eingebildet, dass so eine Art rachsüchtiger Zeuge anwesend war.

Wenn du weißt, was ich meine.«

»Ist Rees derjenige, vor dem du Angst hast?«

»Ja. Er und …«

»Sprich weiter.«

»Versprich mir, dass du Charlie nichts davon sagst.«

»So viele Geheimnisse«, seufzte ich.

»Ich brauche erst einen Schluck Wasser.«

Ich holte einen Plastikbecher voll Wasser. Sie trank ganz vorsichtig, wobei sie bei jedem Schluck zusammenzuckte.

»Ich habe mich auf ein Pokerspiel eingelassen«, erklärte sie.

»An dem Abend, als ich zu dir kam und wir uns gestritten haben.«

»Ja, ich kann mich daran erinnern.«

»Jedenfalls habe ich Geld an einen Mann verloren, der Vic Norris heißt.« Sie runzelte die Stirn. »Ziemlich viel Geld, um genau zu sein.«

»Wie viel?« Ich rechnete damit, dass sie hundert Pfund oder so etwas sagen würde. Ich selbst habe mal einen Fünfer verspielt, und das war beim bisher einzigen Kasinobesuch meines Lebens.

»Es wird immer mehr«, flüsterte sie. »Solange ich nicht bezahle, wird es immer mehr.«

»Dann bezahl es doch einfach.«

»Es kommt ein Skinhead vorbei.«

»Sag mir, wie viel du ihm schuldest.«

»Meg«, rief eine Stimme, »wie geht es dir?«

»Elftausend«, flüsterte sie und machte dabei einen unglaublich niedergeschlagenen Eindruck. Ich war völlig geschockt, sah aber gleichzeitig Charlie hereinkommen, der mit Büchern, Zeitschriften und Obst für Holly beladen war. Sie drückte aufgeregt meine Hand.

Ich ging ihm entgegen, um ihm ein paar von den Zeitschriften abzunehmen, die ihm gerade aus der Hand zu rutschen begannen. Er küsste mich auf beide Wangen. »Es ist lieb von dir, dass du so oft hier bist. Wirklich. Wie geht es ihr?«

»Besser, glaube ich. Sie –«

Aber ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu führen, weil gerade eine kleine Gruppe von Leuten eintraf. Dr. Thorne wurde von einer Krankenschwester und einem jungen Mann mit kurz geschorenen Haaren begleitet, der ebenfalls einen weißen Mantel trug. Die Schwester begann die Schläuche zu überprü-

fen, als wäre Holly ein defekter Boiler. Ich nutzte die Gelegenheit, um Dr. Thorne am Arm zu berühren. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen«, sagte ich so leise, dass Holly es nicht hörte.

»Worüber?«, fragte Dr. Thorne.

»Können wir kurz hinausgehen? Das ist besser. Wir haben uns kürzlich schon mal getroffen. Mein Name ist Meg Summers. Ich bin eine sehr enge Freundin von Holly. Und auch ihre Geschäftspartnerin.«

»Ja, sie hat Sie schon ein paarmal erwähnt.«

»Ich mache mir Sorgen um Holly.«

»Das tun wir alle.«

»Nein, ich meine, ich bin ganz durcheinander. Ich möchte mich wirklich nicht einmischen, aber es gibt da einen Punkt, den ich nicht verstehe.«

»Und der wäre?«, fragte Dr. Thorne.

»Holly hat versucht, sich umzubringen, und Sie behandeln Sie wegen schwerer Depression.«

»Wegen einer affektiven Psychose, um genau zu sein.«

»Wobei es sich um eine Art Geisteskrankheit handelt.«

»Richtig.«

»Der Punkt ist, dass ich gerade ein langes Gespräch mit Holly geführt habe. Wäre es denkbar, dass etwas, das wie eine Depression aussieht, auch eine ganz normale Reaktion auf extremen Stress sein könnte?«

»Wie meinen Sie das?«

Ich holte tief Luft und berichtete Dr. Thorne kurz von der Geschichte, die Holly mir gerade erzählt hatte. »Verstehen Sie?«, sagte ich abschließend. »Wenn ich auf diese Weise bedrängt würde, dann würde ich wahrscheinlich auch durchdre-hen.«

Dr. Thorne wirkte nachdenklich. »Lassen Sie uns eine Tasse Kaffee trinken«, sagte er.

Ich dachte erst, dass er mit mir in sein Büro oder ein richtiges Café gehen wollte, aber er meinte einen Kaffeeautomaten auf dem Gang vor der Krankenstation. Der Kaffee schmeckte scheußlich.

»Als ich anfing, Biologie zu studieren«, begann Dr. Thorne,

»hatte ich immer Probleme mit dem Zusammenhang zwischen Vogelnestern und Genetik. Vogelnester sind etwas so Spezifi-sches, und doch fallen sie innerhalb der einzelnen Arten ähnlich aus. Wie konnten die Gene der Vögel für einen Prozess verantwortlich sein, bei dem es darum ging, Moos, Gras oder Zweige zu finden und mit Schlamm oder Speichel zusammenzufügen?

Die Entwicklung des Gehirns hängt tatsächlich zu einem großen Teil von äußeren Reizen ab. Das menschliche Gehirn ist darauf programmiert, Sprache zu lernen, aber das Kind muss Sprache von außen erfahren, damit die Sprachzentren des Gehirns angeregt werden. Analog dazu kann man ein Vogelnest als eine Erweiterung des Vogelgehirns sehen, nicht mit elektrischen Impulsen, sondern mit Elementen der Außenwelt.«

»Ich verstehe nicht recht …«

»Holly hat mir ebenfalls von ihren Ängsten erzählt«, fuhr Dr. Thorne fort.

»Was ich wissen wollte«, sagte ich, »ist, ob diese Katastrophen in ihrem Leben real sind oder aber Teil ihrer Krankheit.«

Dr. Thorne lächelte, als hätte er gerade eine besonders kniffli-ge Quizfrage gelöst. »Sowohl als auch, könnte man sagen.

Darauf wollte ich hinaus, als ich vorhin das Vogelnest erwähnte.

Hollys Geist ist in Aufruhr, was sich zum Teil in einer Form der Selbstzerstörung manifestiert hat. In den letzten Monaten hat sie ihre Umwelt in etwas verwandelt, das man ebenfalls als Erweiterung ihres eigenen Gehirns betrachten kann. Man könnte sagen, dass sie ihren Selbsthass externalisiert hat, indem sie Situationen schuf, in der andere Menschen ihr gegenüber genauso empfinden wie sie sich selbst gegenüber. Sie ist eine paranoide Frau, die sich, um ihre Paranoia zu rechtfertigen, eine entsprechende Umwelt zurechtgezimmert hat.«

»Wollen Sie damit sagen, dass alle Ängste Hollys begründet sind?«

»Ich bin Arzt und kein Polizist. Trotzdem ist mir klar, dass es nicht nur darum geht, das Gehirn von Holly Krauss mit chemischen Mitteln zu behandeln und ihr eine Psychotherapie zu verordnen, obwohl beides sicher sehr wichtig ist. Sie ist kein Gehirn in einem Glasgefäß. Sie lebt in einer Welt, und eines Tages wird sie hoffentlich wieder in diese Welt zurückkehren und dort leben müssen.«

»Ja, aber … aber im Moment laufen dort draußen noch Leute herum, die ihr Schaden zufügen wollen.«

Dr. Thorne musterte mich mit ernster Miene. »Ich behaupte nicht, dass das einfach sein wird. Ich kenne auch andere Patienten, die schreckliche Dinge getan haben. Für sie wurde es erst so richtig schlimm, als es ihnen wieder besser ging, weil ihnen jetzt bewusst wurde, was für einen Schaden sie angerichtet hatten. Ich spreche von Leuten, die nach einer erfolgreichen medikamentösen Therapie erfuhren, dass sie während ihrer Krankheit ihre eigenen Kinder verletzt oder gar getötet hatten.

Die Welt klar zu sehen kann ein sehr zwiespältiges Vergnügen sein.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber ich bin immer noch nicht viel schlauer.«

Dr. Thorne gestattete sich ein kleines Lächeln. »Aber ein bisschen besser informiert.«

29

Es war, als würde ich mich nun, da Holly nicht mehr da war, in sie verwandeln. Als würde ich versuchen, die Lücke zu füllen, die sie hinterlassen hatte. Ich arbeitete zehn Stunden am Tag und aß mittags nur schnell nebenbei ein Sandwich, eilte abends zu Holly in die Klinik und blieb hinterher noch ziemlich lange mit Todd auf. Obwohl ich immer mindestens neun Stunden Schlaf gebraucht hatte, kam ich plötzlich mit sechs oder noch weniger aus, fühlte mich aber trotzdem kein bisschen müde. Als ich Trish gegenüber eine Bemerkung in diese Richtung fallen ließ, lachte sie.

»Warum lachst du?«

»Nein, Meg«, sagte sie auf ihre emphatische Art, die mich immer ein wenig nervös machte. »Glaub mir, du bist überhaupt nicht wie Holly.«

»Ich weiß, dass ich ihr eigentlich nicht ähnlich bin. Ich wollte damit nur sagen, dass ich mich plötzlich so energiegeladen fühle.«

»Wenn Holly sich energiegeladen fühlte, war sie wie ein Komet«, meinte Trish. »Oder wie ein Flugzeug kurz vor dem Start. Man konnte sie nicht ignorieren. Selbst wenn sie nur an ihrem Schreibtisch saß und sich nicht bewegte, war es, als würde sie pulsieren und die Luft um sich herum aufwirbeln. Ich spürte es bereits, wenn ich die Tür aufmachte. Meist wusste ich schon nach einer halben Sekunde, ob es ein schrecklicher oder ein wundervoller Tag werden würde. Ich mochte das überhaupt nicht, weil ich keinerlei Kontrolle darüber hatte. Sie war immer diejenige, die das Feld beherrschte, auch wenn es in Wirklichkeit gar nicht so war. Du weißt schon, was ich meine.«

»Ich glaube schon.«

»Du bist das genaue Gegenteil von ihr, deswegen seid ihr wahrscheinlich auch so enge Freundinnen. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Du strahlst so viel Ruhe aus.«

»Das klingt ein bisschen langweilig.«

»Nein, wir mögen das«, antwortete Trish. »Du gibst uns ein Gefühl von Sicherheit.«

»Wirklich?«

»Ja. Holly ist wie ein Hightech-Jahrmarkt. Du bist wie ein –

wie ein …« Sie suchte nach dem richtigen Bild, und ich wartete.

»Ein Haus«, sagte sie schließlich.

»Ist das gut?«

»Ja«, antwortete sie entschieden.

Dann legte sie ihre kleinen, geschickten Hände auf meine Schultern und küsste mich auf beide Wangen. Ich glaube, sie war selbst mindestens genauso überrascht wie ich.

So hektisch dieser Tag für mich auch war, ich musste die ganze Zeit an Trishs Worte und an Holly denken, genauer gesagt, an Hollys Feinde. An das, was sie mir in so verzweifeltem Ton zugeflüstert hatte, und an die Worte von Dr. Thorne. Bald würde sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, und ich wollte nicht, dass sie in eine feindliche Welt kam. Ich war mir nicht so ganz sicher, was Dr. Thorne und seine Vogelnester betraf, aber ich verstand, dass Holly sich manchmal selbst hasste und sich deswegen eine Welt geschaffen hatte, in der ihr viele Leute nur Schlechtes wünschten. Ich hatte schon oft erlebt, wie sie das anstellte. Sie bemühte sich nach Kräften, alle dazu zu bringen, sie fallen zu lassen. Sogar mich hatte sie schon fast so weit gehabt. Ich würde zwar nie in der Lage sein nachzuvollziehen, was Holly durchgemacht hatte, aber ich hatte zumindest eine vage Vorstellung von der Hölle, durch die sie gegangen war.

Laut Trish gab ich den Leuten ein Gefühl von Sicherheit. Das war nicht viel. Ich glaube, ich wäre lieber mit einem Jahrmarkt verglichen worden als mit einem Haus. Ich hätte es vorgezogen, so aufregend, sexy, glamourös, gefährlich, eigenwillig, verletz-lich, liebenswert, provozierend und kühn zu sein wie Holly, aber ich war nun mal, wie ich war. Und Holly vertraute mir. Mir hatte sie einen Abschiedsbrief geschrieben, und mich hatte sie anzurufen versucht, als sie im Sterben lag. Ich wollte, nein, ich musste versuchen, die Welt, in die meine Freundin zurückkehren würde, ein bisschen sicherer zu machen. Ich sah es einfach als meine Pflicht an. Eine schwere Pflicht, vor der ich mich aber nicht drücken konnte.

Todd setzte mich am Krankenhaus ab und wollte mich eine halbe Stunde später wieder abholen. Charlie war schon gegangen, aber Marcia Krauss arrangierte gerade einen großen Blumenstrauß in einem Krug. Hollys Mutter war noch jung –

schätzungsweise so um die fünfzig – und eigentlich ganz attraktiv, aber es war schwer, ihren Rechtschaffenheitspanzer zu durchdringen. Als ich sie ein paar Jahre zuvor kennen gelernt hatte, konnte ich gar nicht glauben, dass sie wirklich Hollys Mutter war. Später hatte ich begriffen, dass sie das Gegenteil von Holly verkörperte: ordentlich, vorsichtig, anständig, bescheiden, sparsam, tugendhaft, beherrscht und extrem ängstlich. Holly als Tochter zu haben muss ziemlich anstrengend für sie gewesen sein.

Ich küsste erst Marcia auf die Wange und dann Holly auf die Stirn. »Du siehst besser aus.«

»Lügnerin.«

Es stimmte aber. Sie wirkte immer noch ausgezehrt, und der blasser werdende Bluterguss an ihrer Wange gab ihrem Gesicht einen einseitigen Graustich, aber ihre Augen wirkten lebhafter, und sie sah insgesamt nicht mehr so mitgenommen aus.

»Hattest du heute viel Besuch?«

Holly ignorierte meine Frage.

»Wir haben gerade über Dad gesprochen«, erklärte sie.

»Du hast über ihn gesprochen«, widersprach ihre Mutter. »Ich nicht.«

»Ich wollte von dir wissen, wie er gestorben ist.«

Holly ging es definitiv besser, dachte ich. Zumindest schaffte sie es schon wieder, andere Leute in Verlegenheit zu bringen.

»Er hatte immer einen sehr anstrengenden Lebensstil«, antwortete Marcia.

»Mom«, sagte Holly. »Bitte hör auf, an den Blumen herumzu-zupfen, und sieh mich an. Bitte. Ich hab versucht, mich umzubringen.«

»Ich weiß«, murmelte ihre Mutter in die Rosen und Lilien hinein. »Deswegen bin ich ja hier.«

»Du hast es bisher aber noch mit keinem Wort erwähnt.«

»Ich bin hier, um dir zu helfen, über das alles hinwegzukom-men. Außerdem ist jetzt Meg da.«

»Meg hat damit kein Problem, oder? Du sagst doch immer, dass Dad genauso war wie ich. Ich möchte einfach nur wissen, ob er sich umgebracht hat.«

»Holly, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Wann dann?«

»Jedenfalls nicht jetzt.«

»Ich hab Recht, stimmt’s? Er war manisch-depressiv, und er hat sich umgebracht.«

»Das kann man so nicht sagen.«

»Es ist in meinem Blut. Ich habe es von ihm.«

»Hör auf!«

»Das ist doch nicht so schlimm«, sagte Holly. »Außerdem kannst du sowieso nichts dagegen tun.«

Sie ließ sich in ihr Kissen zurücksinken. Marcia griff nach ihrer Tasche, zupfte ein letztes Mal an dem Strauß herum und gab ihrer Tochter zum Abschied ein kleines Küsschen. »Gib Acht, dass du dich nicht überanstrengst.«

»Keine Sorge«, antwortete Holly. »Wird nicht passieren.«

Nachdem ihre Mutter gegangen war, sagte Holly zu mir:

»Ich wette, sie treibt Charlie in den Wahnsinn. Dabei würde sie viel lieber wieder nach Hause fahren, und mir wäre es auch lieber. Aber es wird von einer Mutter nun mal erwartet, dass sie sich um ihre kranke Tochter kümmert, und deswegen wird es auch so gemacht.«

Ich setzte mich auf die Bettkante, stibitzte Holly eine Traube und schob sie mir in den Mund. »Wann darfst du denn nun nach Hause?«

»Darüber lässt Dr. Thorne sich nicht so richtig aus. Er stellt mir weiterhin Fragen und meint, es gebe noch eine andere Behandlungsmethode, die er ausprobieren wolle.«

»Wie geht es Charlie?«

»Gut, glaube ich.«

»Kannst du mir sagen, wie ich diesen Poker-Mann finde? Wie war noch mal sein Name? Vic Norris?«

»Wie kommst du denn von ›Wie geht es Charlie?‹ so schnell auf dieses Thema?«

»Sag mir, wie ich ihn finden kann.«

»Warum? Außerdem weiß ich das selbst nicht so genau.«

»Wie hieß denn dieser andere Typ? Tony, oder?« Allmählich kam ich mir wirklich vor wie Hollys Gouvernante. Ich hatte das Gefühl, über die Einzelheiten ihres Lebens schon besser Bescheid zu wissen als sie selbst.

»Tony Manning. Warum?«

»Wo arbeitet er?«

»Keine Ahnung. Oder doch. Er hat gesagt, er baue einen neuen Wohnblock in der Nähe der Tate Modern. Anscheinend ist die Gegend groß im Kommen. Warum? Da ist nichts zu machen.

Man kann diese Typen nicht dazu bewegen, sich wie Gentlemen zu benehmen.«

Ich hatte keine Zeit, ihr darauf eine Antwort zu geben. Naomi schob den Kopf zwischen den Vorhängen durch und begrüßte uns mit einem fröhlichen »Hallo!«. Holly murmelte etwas und schloss die Augen.

»Ich glaube, sie ist ein bisschen müde«, erklärte ich.

»Ich wollte ihr die hier bringen.« Naomi legte eine braune Papiertüte auf Hollys Brust. Der Geruch von Hefegebäck erfüllte die Luft. »Safranbrötchen«, sagte sie. »Frisch aus dem Ofen. Sie sind noch ganz warm. Ihr müsst sie gleich probieren.«

Holly schüttelte den Kopf.

Ich mag Safran eigentlich nicht besonders, aber Naomi war so voller Eifer, dass ich ihre Gefühle nicht verletzen wollte. Ich nahm ein Brötchen und biss ein kleines Stück davon ab. »Köstlich.«

»Ich hab mir gedacht, Blumen und Obst hat sie schon genug.«

»Du bist Charlie und Holly eine große Hilfe«, sagte ich.

»Hauptsächlich Charlie«, murmelte Holly so leise, dass man es kaum verstehen konnte.

»Das mach ich doch gern«, antwortete Naomi. »Sie sind schließlich meine Freunde. Außerdem bin ich Krankenschwester. Ich weiß, was Holly durchgemacht hat. Immer noch durchmacht«, fügte sie hinzu. »Die anderen glauben ja alle, dass es ihr schon viel besser geht, aber man darf nicht vergessen, dass es sich bei dem, was sie hat, nicht um ein Virus handelt, und dass sie noch ganz schön tief drinsteckt. Stimmt’s, Holly?«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Sie wird noch eine ganze Weile auf die Hilfe von uns allen angewiesen sein, nicht?«

Holly wandte sich ab und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Ich beugte mich über sie und küsste ihre eingefallene Wange.

»Mach dir keine Sorgen mehr«, sagte ich leise. »Es wird alles gut.«

30

Bevor ich die Zeit fand, Vic Norris aufzuspüren, fand Rees den Weg zu mir. Am nächsten Tag, als ich gerade eine E-Mail schrieb, in der ich alle im Büro aufforderte, ihre Spesenrechnun-gen in angemessener Form einzureichen und nicht einfach nur mit Lippenstift auf ein Papiertuch zu schmieren, kam er durch unsere offene Bürotür herein, schlenderte auf mich zu und ließ einen dicken braunen Umschlag vor mir auf den Schreibtisch fallen. »Ich hab mir gedacht, Sie möchten sich vielleicht ein paar Schnappschüsse von Ihrer kleinen Freundin ansehen, bevor Sie sie das nächste Mal auf ein Polizeirevier schleppen«, erklärte er.

»Woher wissen Sie das?«

Er lächelte.

»Ich habe euch hineingehen und dann wieder herauskommen sehen. Ich bin aber nicht zum Verhör gebeten worden. Die Polizei wollte nichts davon wissen, hab ich Recht? Wer würde ihr auch nur ein Wort glauben, wenn das Ganze vor Gericht käme? Eine kleine Phantastin, unsere Holly. Schauen Sie sich auf jeden Fall diese Schnappschüsse an – es sind übrigens nur Abzüge.«

Er drehte sich um und verschwand. Ich starrte ihm benommen nach. Es dauerte eine Weile, bis mein Zorn richtig hochzuko-chen begann.

»Das war dieser Typ, oder?«, fragte Lola hinter mir. »Der Mistkerl, der Holly verfolgt hat.«

»Ja. Halt mal kurz die Stellung. Ich bin gleich wieder da.«

Ich musste fast lachen, weil sie vor Verblüffung wie eine Zeichentrickfigur den Mund aufriss, als ich an ihr vorbei zur Treppe stürmte. Er hatte gerade das Gebäude verlassen, als ich ihn einholte und am Ärmel packte.

»Hören Sie«, sagte ich.

»Was?«

»Ich weiß, was Sie getan haben.«

»Sie wissen nur, was Holly behauptet hat.«

»Ich weiß, was Sie getan haben«, wiederholte ich. »Und ich warne Sie: Wenn Sie sich je wieder in ihre Nähe wagen, werden Sie kein zweites Mal ungestraft davonkommen.«

»Warum sollte ich in ihre Nähe wollen? Sie ist doch bloß …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… Abschaum.« Sein Atem roch nach Bier.

»Halten Sie sich einfach von ihr fern. Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr sie auf Messers Schneide …« Ich verkniff mir den Rest.

»Doch, ich glaube schon. Sie hat versucht, sich umzubringen, stimmt’s? Schade.«

»Schade?«

»Dass sie es nicht geschafft hat.«

Wenn ich in dem Moment ein Messer gehabt hätte, dann hätte ich es Rees in die Brust gerammt, und sei es nur, um ihm dieses höhnische Grinsen auszutreiben.

»Und hören Sie auf, ihre Freunde zu belästigen.«

»Sie ist krank, nicht wahr? Krank im Kopf. Der arme alte Charlie. Na ja, meinetwegen kann er sie haben. Ich hätte sowieso keine Lust, eine Irre zu vögeln.«

Ich holte tief Luft und ballte die Fäuste, um nicht schreiend auf ihn loszugehen.

»Halten Sie sich von ihr fern«, sagte ich noch einmal und ließ ihn dann stehen.

Wieder im Büro, schob ich meinen Finger unter die gummierte Klappe des braunen Umschlags, den Rees mir auf den Schreibtisch geworfen hatte, und zog das oberste Foto heraus. Es zeigte Holly schlafend im Luigi’s. Er hatte es entweder ganz aus der Nähe aufgenommen oder ein Zoom benutzt. Sie lag halb mit dem Oberkörper auf dem Tisch, den Kopf in der Armbeuge, die Augen geschlossen. Wimperntusche und Lippenstift waren verschmiert; ihre Haut wirkte wächsern. Man konnte sogar sehen, dass ihr ein wenig Speichel aus dem halb offen stehenden Mund lief. Der Gedanke, dass Holly dieses Foto jemals zu Gesicht bekäme oder auch nur von seiner Existenz wüsste, war mir unerträglich. Schaudernd schob ich es zurück in den Umschlag, den ich ganz hinten in der untersten Schublade des Aktenschranks versteckte.

Um halb zwölf bog ich auf die Baustelle südlich des Flusses ein.

Trotz Hollys vager Angaben war sie ziemlich leicht zu finden gewesen. Ich fragte einen massigen Mann mit einer fleckigen Nase, ob er mir sagen könne, wo Anthony Manning zu finden sei.

»Tony?«

»Ja, Tony.« Ich bemühte mich um einen möglichst geschäftsmäßigen Ton, als würde ich erwartet.

»Der ist nicht da. Am Donnerstag ist er nie da. Das ist sein Klubtag.«

»Klubtag?«

»Golf. Kunden belabern.«

»In welchem Klub ist er denn da?«

»In Kingston.«

»Oh. Danke.«

Ich überlegte schon, ob ich aufgeben und einfach ins Büro zurückkehren sollte. Schließlich hatte ich es wirklich versucht.

Mehr konnte niemand von mir erwarten. Am Ende fuhr ich natürlich doch nach Kingston und erfragte mir den Weg zum Golfklub. Als ich schließlich dort ankam, versuchte ich so auszusehen, als würde ich mich ständig in Golfklubs herumtrei-ben. An der Bar, wo die Leute Gin Tonic tranken, fragte ich nach Anthony Manning, woraufhin ein Mann in einem hässlichen braunen Cordanzug nach draußen deutete und erklärte, er sei auf dem Platz.

Ich bestellte mir einen Tomatensaft, wurde aber darüber aufgeklärt, dass an dieser Bar nur Mitglieder etwas zu trinken bekämen. Und als ich mich daraufhin einfach in die Ecke setzen und auf ihn warten wollte, wies man mich darauf hin, dass sich in der Bar nur Mitglieder aufhalten dürften. Ich ging also zurück in den Eingangsbereich und blätterte in einem Katalog voller Bilder von karierten Hüten und Schuhen mit Quasten. Irgendwann hörte ich dann jemanden sagen: »Ja?«

Vor mir stand ein großer, kräftiger Mann, der mit dem Kleingeld in seiner Jackentasche klimperte. Wenigstens trug er nicht die dämlichen Klamotten, die die meisten Männer hier anhatten.

»Anthony Manning?«

»Ja.« Diesmal schwang in seiner Stimme eine Spur von Ungeduld mit.

»Ich bin Meg Summers, eine Freundin von Holly. Holly Krauss.« Er verzog keine Miene. Ich holte tief Luft. »Sie ist im Krankenhaus, es geht ihr gar nicht gut, und deswegen soll ich in ihrem Auftrag jemanden ausfindig machen. Um das mit ihren Schulden zu klären.«

Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Kümmert sie sich jetzt endlich darum?«

»Ja.«

»Und?«

»Wo finde ich ihn?«

»In seiner Hauptgeschäftsstelle.«

»Das klingt ja ziemlich nobel.«

»Es ist ein Laden in Kensington.« Er kritzelte eine Adresse auf einen Zettel und reichte ihn mir.

»Was für eine Art Laden?«

»Ach, man bekommt dort dieses und jenes«, antwortete er und wandte sich zum Gehen, fügte dann aber noch hinzu:

»Und versuchen Sie nicht, den Preis zu drücken. Er verhandelt aus einer Position der Stärke.«

Ich hatte das Gefühl, dass ich da nicht allein hinfahren sollte, weshalb ich Lola mitnahm. Dabei ist sie wirklich der letzte Mensch, den man mit einer Krisensituation belasten sollte. Sie ist klein, unschuldig, ängstlich und leichtgläubig. Aber sie vergöttert Holly. Ich wollte auch nur, dass sie draußen im Wagen sitzen blieb und auf mich wartete. Warum, konnte ich selbst nicht sagen.

Das Cowden-Brothers-Pfandhaus lag zwischen einem mit Brettern zugenagelten ehemaligen Reisebüro und einem Friseur.

Im Schaufenster waren ein Einrad, ein Saxophon, eine E-Gitarre, eine Standuhr und eine Menge Schmuck ausgestellt.

Auf einem kleinen Schild stand: KREDITE. GUTE KONDI-TIONEN. DISKRETION GARANTIERT. Als ich die Tür öffnete, ertönte eine laute Glocke. Hinter der Theke saß ein fetter Mann mit einem kleinen, zarten Gesicht. Er las eine Zeitschrift und rauchte. Hinter ihm verfolgte ein wesentlich älterer Typ auf einem Fernsehbildschirm ein Pferderennen. »Ich suche Vic Norris«, sagte ich.

»Und Sie sind?«

»Meg Summers. Eine Freundin von Holly Krauss.«

»Ich weiß weder, wer Sie sind, noch kenne ich diese andere Frau.«

»Ich nehme an, Vic Norris weiß, wer Holly ist.«

Er drückte in einem überquellenden Aschenbecher seine Zigarette aus. »Er arbeitet nicht hier«, sagte er.

»Mir ist aber diese Adresse genannt worden.«

Der Mann zog langsam eine neue Zigarette aus einem Päckchen und zündete sie sich an. »Worum geht es?«

»Angeblich schuldet meine Freundin Vic Norris Geld.«

»Du meine Güte. Und warum kommt sie dann nicht selbst?«

»Sie ist krank.«

Der Mann zog an seinem Glimmstängel und hustete dann keuchend. »Wie war noch mal ihr Name?«

»Holly Krauss.«

»Moment.« Er verschwand durch eine Tür hinter der Theke.

Der Alte sah mich einen Moment an, wandte sich dann aber wieder dem Rennen zu.

Als der fette Mann zurückkehrte, wirkte er freundlicher.

»Das ist richtig. Die Schulden der jungen Dame belaufen sich auf sechzehntausend Pfund.«

»Sechzehn? Ich dachte, es wären elf.«

»Der Rest sind Zinsen, meine Liebe«, erklärte er lachend.

»Ihre Freundin hat sich mit dem Zahlen zu lange Zeit gelassen.«