»Wenn es ihr nicht auf Anhieb gelungen wäre, hätte sie es bestimmt wieder versucht. Sie war ein schwieriges Mädchen, sehr starrsinnig, sehr bedürftig. Sie hatte eine schreckliche Kindheit hinter sich. Einmal meinte sie mir gegenüber: ›Zu mir hat noch nie ein Mensch gesagt, dass er mich lieb hat.‹«

»Was haben Sie geantwortet?«

»Dass ich sie lieb hätte, natürlich – aber das klingt nicht sehr glaubhaft, wenn es von einer Frau kommt, die man erst ein paar Wochen kennt und die dafür bezahlt wird, dass sie auf einen aufpasst.«

»Wenigstens haben Sie es gesagt.«

»Hmmm. Wie auch immer, Sie wollen von mir wissen, ob ich jemals eine von diesen Frauen gesehen habe. Ihr bin ich mal begegnet.« Sie legte eine Fingerspitze auf Liannes Gesicht. »Sie hat Daisy besucht. Sie sind zusammen in Daisys Zimmer gegangen. Das ist alles.«

»Keine von den anderen beiden?«

»Nein.«

»Warum, glauben Sie, hat sie es getan?«

»Sich umgebracht? Keine Ahnung. Sie hatte ein trauriges Leben hinter sich. Ich weiß von keinem besonderen Anlass, aber das heißt nicht, dass es keinen gegeben hat. Wahrscheinlich, weil es letztendlich einfacher war, als am Leben zu bleiben.«

36. KAPITEL

Am nächsten Tag fuhr ich in die Klinik, ließ eine Versammlung zum Thema Personalstrukturen über mich ergehen und tat anschließend so, als würde ich meinen Papierkram erledigen. In Wirklichkeit ließen mir die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden keine Ruhe. Ich dachte an die Liste der Namen, an Bryonys erschüttertes Gesicht, an Jeremys Tränen unter dem Apfelbaum.

Und ich wusste nicht, was ich wegen Will unternehmen sollte.

Würde er böse auf mich sein und mich nicht mehr sehen wollen? Wollte ich ihn überhaupt Wiedersehen? Um Viertel nach sechs rief ich ihn an. Gegen zehn vor neun warf ich einen raschen Blick auf meine Armbanduhr, ehe Will sie mir abnahm und auf den Boden neben seinem Bett legte. Als ich sie wieder überstreifte, kam ich gerade aus der Dusche. Inzwischen war es kurz nach zehn. Er lag im Bett. Ich legte mich neben ihn. Ich war noch feucht von der Dusche, er vom Schweiß und vom Sex. Ich roch nach seiner Seife, und er roch am ganzen Körper nach mir.

»Das war wundervoll«, erklärte ich, begann mich aber gleich zu entschuldigen. »Ich komme mir immer so blöd vor, wenn ich so was sage.« Ich setzte mich auf, schob mir ein Kissen in den Rücken und ließ den Blick über den Raum schweifen. Neben den Resten eines chinesischen Essens stand eine leere Flasche Wein. Eine zweite Flasche war noch zu einem Drittel gefüllt. Unsere Klamotten lagen im ganzen Zimmer verstreut.

»Das mit gestern Nachmittag tut mir Leid«, erklärte ich.

»Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte.«

»Macht doch nichts«, antwortete er. Er ließ seine Finger über meinen Körper gleiten, ohne mich dabei anzusehen.

»Genau das hat mich so überrascht«, sagte ich. »Du hast tatsächlich den Eindruck erweckt, als würde es dir nichts ausmachen. Ich habe oft Angst vor der Polizei, obwohl ich mit ihr zusammenarbeite. Du dagegen hast völlig cool gewirkt.«

»Ist das für dich ein Problem?«

»Vielleicht bekomme ich leichter Angst als du.«

»Das wäre kein Wunder.«

»Ach, du meinst das hier?« Ich hob die Hand und berührte meine Wange, meine Narbe.

»Was hast du denn erwartet?«, fragte er. »Hätte ich auf die Knie sinken und meine Unschuld beteuern sollen?«

»Wie meinst du das, deine ›Unschuld‹?«

»Das willst du doch von mir hören, oder etwa nicht? Du möchtest, dass ich dir in die Augen blicke und sage: ›Kit, ich bin unschuldig. So wahr mir Gott helfe!‹«

»Nein«, protestierte ich. »Aber …«

»Aha, also doch.« Er stand auf. »Ich gehe jetzt unter die Dusche.«

Ich blieb im Bett und dachte nach. Als er, eingehüllt in ein großes weißes Handtuch, wieder ins Zimmer kam, sagte ich:

»Weißt du, was das Problem ist?«

»Wessen Problem? Meins oder deins?«

»Du hast dich gestern auf dem Revier keine Sekunde aus der Ruhe bringen lassen. Du hattest die Situation völlig im Griff.«

»Und die Frage ist: Würde ein unschuldiger Mensch sich so verhalten?«

»Interessiert dich das Ganze denn gar nicht?«

»Was?« Er hob die Augenbrauen. »Was die Leute über mich denken? Warum sollte mich das interessieren?«

»Nein, nein, ich meine nicht, was die Leute über dich denken. Ich meine – na ja, das Ganze eben. Lianne und Philippa und Daisy, und jetzt auch noch Bryony.

Schließlich bist du irgendwie in die Sache verwickelt.

Auch wenn du genau genommen nicht das Geringste damit zu tun hast – du bist in die Sache verwickelt. Du hast zwei von diesen Frauen gekannt, Will. Du hast Lianne gekannt, sie war jung, einsam und hilfsbedürftig, und nun ist sie tot. Drei von diesen Frauen sind tot, und trotzdem hast du gestern bloß ironisch lächelnd dagesessen und den Überlegenen gespielt. Ich meine, ich weiß, dass es dir irgendwie tief in deinem Inneren nicht egal ist, weil du sonst diesen Job und das alles nicht machen würdest.«

»Nein, das weißt du nicht. Das lässt sich daraus nicht ableiten.«

»Na gut, dann eben nicht, vielleicht ist es dir tatsächlich scheißegal, aber das fände ich ziemlich beängstigend.«

Will lächelte gehässig. »Beängstigender als die Vorstellung, dass ich eines Mordes fähig sein könnte? Wer weiß …« Er ließ sein Handtuch auf den Boden fallen und schlüpfte in einen Bademantel, ehe er weitersprach:

»Vielleicht findest du den Gedanken ja sogar aufregend?

Gefällt dir die Vorstellung, dass ich dazu fähig sein könnte, einen Menschen zu töten? Ich kenne dich – du stellst dich deinen Ängsten gern, habe ich Recht? Die Angst spüren und es trotzdem tun, hm?« Seine Stimme klang spöttisch und grausam.

Ich setzte mich wieder auf. »Hör zu, Will, lass uns keine solchen Spielchen spielen. Bitte. Ich bin in meinem Leben schon vielen Mördern begegnet, ein paar Dutzend, würde ich sagen, vielleicht waren es sogar mehr. In all diesen Fällen gibt es dicke, fette Berichte, die erklären, wieso sie es getan haben. Ich kenne kein einziges Beispiel, wo jemand den Betreffenden schon vorher als potenziellen Mörder erkannt hat. Ganz im Gegenteil, mehrere dieser Täter wurden von Leuten wie mir laufen gelassen und haben dann jemanden umgebracht. Deswegen werde ich hier bestimmt nicht vor dir stehen und behaupten, du wärst nicht dazu fähig, eine Frau zu töten.«

»Sitzen.«

»Was?«

»Du stehst nicht, du sitzt.«

»O mein Gott! Genau das meine ich! Eigentlich wollte ich damit nur sagen, dass ich gestern Nachmittag, als ich dich da so sitzen sah, plötzlich das Gefühl hatte, dass es dir gar nicht unangenehm wäre, wenn die Leute dich verdächtigen würden. Im Grunde käme dir das in jeder Hinsicht entgegen. Dann wärst du nämlich einmal mehr das arme Opfer. Der große, missverstandene Will Pavic.

Und es würde zeigen, wie dumm die Polizei ist. Es wäre mehr oder weniger dein Lieblingszustand – du im Recht und alle anderen im Unrecht. Was ja im Wesentlichen deine Weltsicht ist.«

Will lächelte noch immer. »Dann ist es mir also nicht gelungen, dich zu täuschen?«

Ich nahm seine Hand und zog ihn neben mich aufs Bett, streichelte über sein stacheliges, kurzes Haar und küsste ihn auf die Stirn. Dann legte ich meine Handfläche auf seine Wange, und er lehnte sich einen Moment dagegen.

»Ich habe ein ziemlich schlimmes Jahr hinter mir«, erklärte ich. »Ich habe Albträume.«

»Kit …«

»Eine Weile hatte ich überhaupt kein Sexleben, aber gerade eben war es absolute Spitzenklasse, so richtig schön. Nein, schön ist das falsche Wort. Du weißt schon, was ich meine. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht gerade dabei bin, mich in dich zu verlieben.«

»Kit …«, sagte er noch einmal. Wenigstens machte er sich jetzt nicht mehr über mich lustig.

»Vielleicht hast du Recht«, fuhr ich fort. »Vielleicht fühle ich mich zu dir hingezogen, weil du immer so mürrisch und abweisend bist und mir auf irgendeine Weise Angst machst. Oder weil du unglücklich wirkst und ich mir einrede, dich wieder glücklich machen zu können – du weißt schon, diese typisch weibliche Fantasie. Jedenfalls hat mich allein schon das Gefühl, wieder begehrt zu werden, ziemlich glücklich gemacht. Es hat mir das Gefühl gegeben, wieder richtig zu leben. Aber ich möchte nicht mit jemandem zusammen sein, dem alles völlig egal ist und der sich niemandem öffnen kann. Leidenschaft ohne Zärtlichkeit ist auf Dauer nicht mein Ding. Dafür bin ich nicht abgebrüht genug. Und ich bin wirklich schlecht darin, Spielchen zu spielen – da, bitte, ich lege alle meine Karten auf den Tisch. Keine Asse, wie du sehen kannst.«

Ich stieß ein kurzes Lachen aus. Er schwieg noch immer.

»Vielleicht brauche ich jemanden, der nicht ganz so harte Knochen hat.«

Will schob mir eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr.

»Ich glaube, für mich wird es viel schlimmer sein als für dich, wenn wir uns nicht mehr sehen«, fuhr ich fort. »Ich bin ganz schlecht darin, jemanden zu verlassen. Das war noch nie meine Stärke. Du kannst das wahrscheinlich viel besser – ich wette, du vergeudest nicht viel Zeit damit zurückzublicken.«

»Ich möchte dich noch sehen, Kit.«

»Ja, aber nur zu deinen Bedingungen.«

»Wie sehen denn deine Bedingungen aus?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich mit einem leisen Schluchzen. »Aber das Problem ist, dass ich welche habe.«

Er lächelte. »Muss ich das jetzt verstehen? Klingt nämlich ziemlich verwirrend.«

»Ich weiß.« Er reichte mir ein Taschentuch. »Fest steht, dass ich jetzt gehen muss. Zumindest für heute Abend.

Aber vielleicht wäre das überhaupt das Beste.« Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Schsch, sag nichts.

Nicht jetzt.«

Ich stand auf und zog mich an.

»Ich halte es für keine gute Idee, wenn du um diese Zeit allein durch die Stadt läufst«, sagte Will.

»Keine Angst, mir passiert schon nichts«, antwortete ich.

»Mein Name stand nicht auf der Liste.«

Ich trat aus dem Haus und marschierte los, ohne mich noch einmal umzublicken. Der Vollmond schien so hell, dass die Ränder der Wolken wie Wellen schimmerten.

Mein Körper bebte vor Anspannung, und ich spürte, wie mir heiße Tränen über die Wangen liefen. Ich atmete tief durch und wischte mir übers Gesicht. So, nun fühlte ich mich schon besser. Ich hatte das Richtige getan, so viel war klar. Kein Grund, sich deswegen noch groß aufzuregen. Wahrscheinlich war die Sache sowieso gelaufen. Ich konnte trotzdem an nichts anderes denken.

Schluss jetzt, rief ich mich selbst zur Vernunft. Es gab schließlich noch andere Dinge, über die ich mir Gedanken machen musste.

Es war noch nie ein Problem für mich, nachts allein in einer Großstadt herumzulaufen. Ich glaube, dass man, wenn man flott und zielstrebig dahinmarschiert, relativ sicher ist. Ich habe einen großen Teil meines Berufslebens damit verbracht, mit kriminellen Männern zu sprechen, und sie oft danach gefragt, wie sie ihre Opfer auswählen.

Die Antwort lautet, dass sie sich Leute, hauptsächlich Frauen, aussuchen, die durch besondere Schwächen, mangelndes Urteilsvermögen oder offensichtliche Unsicherheit ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Zumindest versuche ich mir einzureden, dass man, wenn man nicht wirkt wie ein Opfer, auch nicht zum Opfer wird.

Vielleicht lüge ich mir da selbst in die Tasche, aber es ist irgendwie leichter, sich einzureden, dass die Leute für das, was ihnen zustößt, selbst verantwortlich sind.

Ich ging durch leere, dunkle Straßen, bis ich die Lichter und den Lärm der Hauptstraße und der U-Bahn-Station Kersey Town erreichte. Die Bremsen der Taxis quietschten, und am Zeitungsstand wurden bereits die Zeitungen des nächsten Tages verkauft. Normalerweise hätten mich die Bilder der nächtlichen Stadt fasziniert. Ich liebe es, Leuten zuzusehen, die zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein scheinen. Ich versuche mir dann immer vorzustellen, welche seltsamen Umstände und Irrwege sie dort hingeführt haben, denke mir Geschichten über sie aus. Jetzt aber waren andere Geschichten in meinem Kopf. Ich überquerte die belebte Straße und ging über den Platz, wo das geschäftige Treiben rasch nachließ.

Ich musste an Bryony denken, die spät nachts am Kanal spazieren ging. Das war dumm, wie Oban ganz richtig sagte, aber ich verstand trotzdem, was sie dazu trieb. Die Dunkelheit, die Ruhe, das sich kaum bewegende schwarze Wasser, eine seltsame, geheime Welt mitten in der Stadt.

Ich stellte mir Philippa vor, wie sie in Hampstead Heath am helllichten Tag auf einem überfüllten Kinderspielplatz stand.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich meinen Heimweg kaum mitbekam, obwohl ich einer komplizierten Route durch Seitenstraßen und kleine Gassen folgte. Keine hundert Meter von meiner Haustür entfernt, riss mich plötzlich etwas aus meiner Träumerei.

Erschrocken blickte ich mich um. War da irgendein Geräusch gewesen? Ich befand mich in einer ruhigen Straße mit einer Häuserreihe auf der einen und einem Friedhof auf der anderen Seite. Es war niemand zu sehen, aber dann nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich konzentrierte mich auf die Richtung, aus der ich gekommen war, konnte jedoch nichts entdecken. War vielleicht jemand in den Schatten eines Eingangs zurückgewichen? Bis zu meiner Haustür brauchte ich höchstens noch eine Minute. Ich setzte mich wieder in Bewegung, ging mit großen, energischen Schritten weiter, die Hand in meiner Jackentasche um meinen Schlüssel gelegt. Noch eine Minute, nein, weniger, dreißig Sekunden. Im Laufschritt erreichte ich die Tür. In dem Moment, als ich den Schlüssel ins Schloss schob, legte sich eine Hand auf meine Schulter, und ich stieß vor Schreck einen kleinen Schrei aus. Mit einem beklemmenden Gefühl drehte ich mich um. Es war Michael Doll. Ich spürte seinen süßsauren Atem auf meinem Gesicht.

»Jetzt habe ich Sie gerade noch eingeholt«, sagte er lächelnd.

Ich versuchte, klar zu denken. Ruhig bleiben. Die Situation entschärfen. Ihn zum Gehen zu bewegen. Aber als Erstes musste ich die Überraschte spielen. Ich durfte nicht den Eindruck erwecken, als fände ich seine Anwesenheit mitten in der Nacht ganz normal. »Was um alles in der Welt tun Sie denn hier?«

»Ich habe Sie vermisst«, antwortete er. »Sie haben mich nicht besucht.«

»Warum hätte ich Sie besuchen sollen?«

»Ich habe viel an Sie gedacht.«

»Sind Sie mir gefolgt?«, fragte ich.

»Nein, warum sollte ich?« Er trat einen Schritt zurück und wich meinem Blick aus.

Er war mir also gefolgt. Wie lange schon? Hatte er bereits vor Will Pavics Haus auf mich gewartet?

»Waren Sie bei einem anderen?«

Bei einem anderen? Was bildete er sich ein?

»Ich muss jetzt gehen, Michael«, sagte ich.

»Kann ich mit reinkommen?«

»Nein, das können Sie nicht.«

»Nur für ein paar Minuten!«

»Es ist zu spät. Außerdem ist meine Freundin da.«

Er sah nach oben.

»Es brennt kein Licht.«

»Sie ist schon im Bett.«

»Ich möchte reden.«

Ich konnte einfach nicht fassen, dass ich um halb ein Uhr nachts vor meiner Tür stand und mit Michael Doll darüber diskutierte, ob er noch mit reinkommen könne. »Ich muss jetzt gehen.«

»Andere Leute würden Sie reinlassen.«

»Michael, es ist schon spät. Sie müssen nach Hause gehen.«

»Ich hasse mein Zuhause.«

»Gute Nacht, Michael.« Ich sagte das mit einem freundlichen, aber keineswegs einladenden Lächeln und berührte ihn dabei leicht am Arm, womit ich mein Mitgefühl zum Ausdruck bringen wollte, ohne allzu herzlich zu wirken.

»Ich möchte mit zu Ihnen.« Seine Stimme klang nicht mehr ganz so drängend.

»Es ist schon spät«, antwortete ich. »Ich gehe jetzt rauf.«

So langsam und ruhig wie möglich schob ich mich rückwärts durch die Tür und versuchte, sie hinter mir zuzuziehen. Doll hatte seinen Fuß dazwischen. Er beugte sich vor, sodass ich im Türspalt sein Gesicht sehen konnte.

»Sie hassen mich?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Sie wollen, dass ich gehe. Am liebsten wäre es Ihnen, Sie brauchten mich nie wieder zu sehen.«

O ja, ich wollte, dass er ging. Ich wollte, dass er aus meinem Leben verschwand. Wenn er sich unbedingt an jemanden hängen musste, dann bitte nicht an mich. »So habe ich das überhaupt nicht gemeint«, sagte ich. »Ich bin bloß müde. Ich hatte einen harten Tag. Bitte.«

Sein Gesicht war jetzt ganz nah vor meinem. Jeder seiner Atemzüge wurde von einem pfeifenden Geräusch begleitet. Er streckte den Arm durch den Türspalt, und ich spürte seine Hand auf meiner Wange.

»Gute Nacht, Kit.«

Ich gab ihm keine Antwort. Die Hand zog sich zurück.

Ich spürte, wie der Druck gegen die Tür nachließ, und konnte sie endlich zuziehen. Mit einem plötzlichen Gefühl von Übelkeit lehnte ich mich dagegen. Ich spürte Michael Dolls Hand noch immer auf meinem Gesicht. Ich spürte Will Pavic noch in mir. Es kam mir vor, als würde ich nach diesen Männern riechen. Ich rannte nach oben, und obwohl ich bei Will schon geduscht hatte, stellte ich mich noch einmal unter die Dusche, bis kein warmes Wasser mehr kam. Dann stöberte ich in einem Schrank herum und fand eine Flasche Whisky, von dem ich ein Glas voll mit ins Schlafzimmer nahm. Im Bett sitzend, trank ich große Schlucke, die mein Inneres brennen ließen und mein Gehirn betäubten.

37. KAPITEL

Am nächsten Morgen rief ich Oban an und erzählte ihm von Michael Doll. Er schien das ziemlich lustig zu finden.

»Dann haben Sie also einen Bewunderer«, meinte er.

»Noch einen, besser gesagt.«

»Das ist nicht lustig«, erklärte ich. »Ich glaube, er ist mir gefolgt.«

»Warum?«

Ich zögerte. Er brauchte nicht zu wissen, dass Doll mir von Wills Haus aus gefolgt war. »Es wird immer schlimmer«, antwortete ich vage. »Mittlerweile hängt er schon vor dem Haus herum und beobachtet mich. Ich fühle mich nicht mehr sicher.«

Oban stieß ein Husten aus, das auch ein Lachen hätte sein können.

»Ich glaube das einfach nicht!«, sagte er. »Wir versuchen nun schon seit Wochen, Sie davon zu überzeugen, dass Doll gefährlich ist, während Sie nur immer das Gegenteil weismachen wollen – dass er nämlich ein lieber, missverstandener Junge ist.«

»Das habe ich nie behauptet.«

»Ich weiß, meine Liebe. Wo bleibt Ihr Sinn für Humor?

Aber Spaß beiseite, was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

»Das weiß ich auch noch nicht so genau, aber langsam fühle ich mich von ihm wirklich bedroht.«

»Oje!«, seufzte Oban. »Dabei fing ich gerade an, mich mehr für Ihren anderen Freund zu interessieren.«

»Was?«

»Das lässt sich kaum vermeiden. Ich habe nachgedacht.

Alle Wege scheinen zu Will Pavic und seinem verdammten Drogenhandelszentrum zu führen.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Vielleicht. Trotzdem müssen wir es in Betracht ziehen.

Wenn Sie wollen, kann ich jemanden zu Mickey Doll schicken, der ihm was ins Ohr flüstert.«

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Das ist gar keine so schlechte Idee«, erklärte ich. »Das Problem ist, dass ich zu ihm sagen kann, was ich will, egal, ob freundlich oder böse, es scheint ihn bloß noch mehr zu ermutigen. Ich möchte ihm wirklich keinen Ärger machen, aber langsam wird er mir einfach lästig.«

»Keine Angst, wir werden ihm ein wenig auf die Füße treten. Auf eine nette Art, versteht sich. Kommen Sie heute aufs Revier?«

»Vielleicht später«, antwortete ich. »Ich werde heute die meiste Zeit in der Klinik sein.«

Gegen Mittag saß ich in einem der Seminarräume der Klinik einem fünfzehnjährigen Mädchen namens Anita gegenüber. Sie war in Begleitung ihrer bleichgesichtigen, fassungslosen Mutter, außerdem waren eine Sozialarbeiterin und ein Anwalt anwesend. Ich blätterte gerade eine Akte durch. Das übliche Desaster. Nein, schlimmer als das: Termine bei der Betreuerin waren nicht eingehalten worden, Therapiestunden hatten nicht stattgefunden, Unterlagen waren verloren gegangen. All das wäre nicht weiter ungewöhnlich gewesen, hätte da nicht ein Schulgebäude gebrannt. Das hatte den Ausschlag gegeben. Obwohl Anita schon zwei Selbstmordversuche unternommen und sich mehrfach selbst Verletzungen zugefügt hatte, war ihr Fall bisher im Eingangsstapel hängen geblieben. Spätestens wenn man öffentliche Gebäude in Brand steckt, bekommt man die Aufmerksamkeit, die einem vorher versagt blieb.

Es klopfte, und die Tür wurde geöffnet. Es war die Dame vom Klinikempfang. »Telefon für Sie«, sagte sie.

Ich starrte sie ungläubig an.

»Ich rufe später zurück.«

»Es ist jemand von der Polizei. Er hat gesagt, er habe es schon auf Ihrem Handy versucht.«

»Das ist ausgeschaltet. Sagen Sie ihm, ich rufe ihn gleich zurück.«

»Er hat gesagt, ich soll Sie holen, egal, wo Sie gerade sind. Er ist noch am Apparat.«

Nachdem ich mich bei allen vielmals entschuldigt hatte, eilte ich im Laufschritt den Gang entlang und griff nach dem Telefon. »Wenn das jetzt nicht wirklich wichtig ist, dann …«

»Doll ist tot.«

»Was?«

»In seiner Wohnung. Wir treffen uns dort.«

Bei meinen früheren Besuchen bei Doll hatte ich seine Wohnung als das schmutzige, trostlose Zuhause eines seltsamen und einsamen Mannes empfunden. Doll schien mir der Typ Mensch zu sein, der niemandem auffiel, solange er lebte, und dessen Tod ebenfalls keiner mitbekommen würde. Das hatte sich inzwischen geändert.

Er war berühmt geworden. Vor der Tür standen drei Polizei- und ein Krankenwagen, weitere Fahrzeuge parkten in zweiter Reihe. Der Bereich rund um den Hauseingang war abgesperrt. Zwei Polizeibeamte standen vor der Tür, und hinter der Absperrung hatte sich eine kleine Gruppe von Leuten versammelt, die an einem normalen Wochentag in Hackney offenbar nichts Besseres zu tun hatte.

Entschuldigende Worte vor mich hinmurmelnd, bahnte ich mir einen Weg, und als ich auf die Polizisten zuging, sah ich, wie mich eine ältere, mit fahrbaren Einkaufskörben bewaffnete Frau mit ungewohntem Interesse musterte. Für wen ich wohl arbeitete? Für die Polizei? Ein Bestattungsunternehmen? Nachdem einer der Beamten hineingegangen war, hörte ich jemanden etwas rufen, und ein paar Augenblicke später tauchte Oban auf.

Er wirkte mehr als geschockt und ziemlich grün im Gesicht. Ich hörte mich mit besorgter Stimme fragen, wie es ihm gehe.

»Lieber Himmel!«, sagte er mit leiser Stimme. »Das ist unglaublich. Eine gottverdammte Sauerei. Sie müssen meine Ausdrucksweise entschuldigen.« Er warf einen schuldbewussten Blick zu der alten Frau hinüber.

»Was ist passiert?«, wollte ich wissen.

»Die Jungs von der Spurensicherung fangen gerade erst an«, antwortete er. »Ich wollte, dass Sie einen raschen Blick auf das Schlamassel werfen. Damit Sie es gesehen haben, bevor sie ihn wegbringen. Meinen Sie, Sie schaffen das?«

»Ich glaube schon.« Ich schluckte.

»Es ist kein schöner Anblick.«

Ich musste mir Dinger über die Schuhe ziehen, die aussahen wie kleine Haarnetze. Oban bat mich, nichts anzufassen. Der Aufstieg zu Dolls Wohnung gestaltete sich ein wenig beschwerlich, weil die Treppe mit einer Art Laken abgedeckt war. Am Treppenabsatz forderte mich Oban auf, tief durchzuatmen. Dann schob er die Tür auf und tat einen Schritt zur Seite, um mich als Erste eintreten zu lassen.

Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden – bloß dass sie kein Gesicht mehr hatte. Es sah aus wie ein Bild, bei dem der Kopf noch nicht fertig war. Ich erkannte die Klamotten vom Vorabend wieder. Seine Schuhsohlen wiesen in meine Richtung. Rechts war der Schnürsenkel aufgegangen. Braune Kordhose. Anorak.

Darüber nur dunkle Feuchtigkeit. Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund war so trocken, dass ich nichts herausbekam. Ich musste mehrmals schlucken.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Ganz ruhig, meine Liebe«, sagte Oban.

»Wo ist sein Kopf?«, fragte ich mit einer Stimme, die ich nicht als die meine erkannte.

»Im ganzen Zimmer verteilt«, antwortete Oban.

»Wiederholte heftige Schläge mit einem sehr schweren, sehr stumpfen Gegenstand, die meisten nach Eintritt des Todes. Da hat sich jemand richtig ausgetobt. Deswegen sieht es hier auch so aus.«

Ich blickte mich um. Es war das rote Zimmer. Das rote Zimmer aus meinen Albträumen. Bisher war er für mich nur eine Fantasie gewesen, ein Symbol, aber nun stand ich mittendrin. Wände und Zimmerdecke sahen aus, als hätte jemand mit einem Schlauch Blut verspritzt. An der Decke hingen dicke Klumpen, die aussahen, als würden sie jeden Moment herunterfallen, in Wirklichkeit aber schon geronnen waren.

»Sie wissen ja, wie das bei Kopfverletzungen ist«, meinte Oban und ließ seinen Blick über den Raum schweifen. »Das blutet immer sehr stark, nicht?«

Ich bemühte mich um eine möglichst sachliche Sichtweise, musste aber ständig daran denken, wie lästig und abstoßend ich Doll gestern Abend gefunden hatte.

Nun war sein ganzes widerliches Drängen auf dieses unglückliche Bündel dort am Boden reduziert. Ich hatte ihn mit einer Art Fluch belegt. Ich hatte mir gewünscht, er möge für immer aus meinem Leben verschwinden. Hatte ich mir seinen Tod gewünscht?

»Sehen Sie sich das an«, sagte Oban.

Er hielt mir eine Klarsichthülle mit einem Blatt Papier vor die Nase. Auf dem Blatt prangten in groben Großbuchstaben zwei Worte: MÖRDERISCHER

BASTAD.

»Das lag auf der Leiche«, erklärte er. »Sehen Sie sich das an. Die können nicht mal das Wort ›Bastard‹ richtig schreiben.«

»Dann haben sie ihn also doch noch gekriegt«, stellte ich fest.

Oban nickte. »Was für ein Saustall!«, meinte er. »Sie waren schon mal hier?«

»Ja.«

»Ich dachte mir, dass es vielleicht hilfreich ist, wenn Sie sich das ansehen. Lassen Sie sich Zeit, so lange Sie wollen. Oder so kurz.«

Ich hatte weiche Knie und wollte mich auf die Armlehne eines Sessels setzen, aber ein Mann trat vor und hielt mich zurück. Ich entschuldigte mich.

»Was für eine Sauerei!«, wiederholte Oban noch einmal.

»Es sieht aus wie ein Schlachthaus in einem Museum.«

»Michael Doll war ein Sammler«, erklärte ich. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich schluckte heftig und atmete dann flach durch den Mund.

Oban zog eine Grimasse. »Wirklich? Was hat er denn gesammelt?«

»Alles, was ihm unterkam, was er tragen konnte. Zeug vom Kanal. Das war fast schon krankhaft.«

»Die Leute, die das hier entsorgen müssen, beneide ich jedenfalls nicht …« Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr, weil ich auf der anderen Seite des Raums plötzlich etwas entdeckt hatte. Nachdem ich vorsichtig um Dolls Leichnam herumgegangen war, trat ich auf ein Regal zu und streckte die Hand danach aus. Es stand zwischen einem Marmeladenglas und einer Rolle rostigen Drahts.

Jemand rief etwas, und ich spürte, wie eine Hand mich zurückriss.

»Nicht anfassen!«, mahnte mich eine Stimme.

»Das!« Ich deutete darauf. »Das da!«

Der Mann trug Handschuhe. Er beugte sich vor und nahm sie ganz vorsichtig hoch.

»Was ist das?«, fragte Oban.

»Wofür halten Sie es denn?«, gab ich zurück.

»Für eine Schnabeltasse, wie man sie Kleinkindern gibt.

Was steht da?«

»Emily.«

Er starrte mich verblüfft an. »Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass Doll eine Tochter namens Emily hatte?«

»Nein«, entgegnete ich. »Aber Philippa Burton.«

38. KAPITEL

»Geht’s?«, fragte Oban, als wir auf seinen Wagen zusteuerten. Das Grüppchen, das vorher gaffend auf dem Gehsteig gestanden hatte, war inzwischen zu einer kleinen Menschenmenge angewachsen.

»Ja«, antwortete ich mit fester Stimme und lächelte. Ich zitterte nicht, meine Stimme klang gelassen, mein Atem ging ruhig. Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ mir den warmen Wind ins Gesicht blasen.

»Unglaublich, nicht wahr?« Sein Gesicht hatte wieder seinen normalen Ausdruck angenommen, seine Stimme klang jovial, fast fröhlich. So wach und zugleich entspannt hatte er schon seit Wochen nicht mehr gewirkt.

»Ja.«

»Harter Job für die Jungs von der Spurensicherung. Ein Albtraum. Trotzdem können die Leute, die das getan haben, mit einer Menge Sympathie rechnen. Eindeutiger Fall von Selbstjustiz. Da brauchen wir bei der Pressekonferenz viel Fingerspitzengefühl.«

Ich schloss für eine Minute die Augen und dachte an Dolls breiige Überreste, das Meer aus Blut. Überall Blut, ein ganzes Zimmer, dunkelrot vor Blut.

»Damit hat sich der Kreis geschlossen, Kit.«

»Was?«

»Es war doch Doll. Trotz allem.«

Ich antwortete mit einem unverbindlichen Laut und starrte aus dem offenen Fenster. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Sonne golden, die Leute auf der Straße farbenfroh gekleidet.

»Nun kommen Sie schon, Kit. Jetzt können Sie endlich einen Schlussstrich unter die Sache ziehen. Es ist vorbei, geben Sie es zu.«

»Nun, ja …«

»Lassen Sie mich raten. Sie sind noch immer nicht überzeugt. Mein Gott, wir haben Emilys Tasse mit ihrem Namen drauf in Dolls Zimmer gefunden – natürlich müssen wir uns das von Mr. Burton noch bestätigen lassen, aber ich glaube, das ist nur noch eine Formalität, glauben Sie nicht auch? Nein, Sie sind noch immer nicht überzeugt. Was wollen Sie eigentlich?« Letzteres fragte er mit einem Grinsen. Sein Ton klang eher amüsiert als genervt.

»Ich verstehe es einfach nicht.«

»Na und? Glauben Sie, wir verstehen es? Wir brauchen es nicht mehr zu verstehen, und Sie müssen vor Ihren Kollegen auch kein Seminar darüber abhalten, oder was immer Sie sonst tun. Unsere Aufgabe bestand nur darin, den Menschen zu finden, der diese Frauen umgebracht hat, und das haben wir Gott sei Dank geschafft.«

»Nein. Ich meine, es ergibt keinen Sinn.«

»Viele Dinge ergeben keinen Sinn.« Er wich einem Radfahrer in neonfarbenem Lycra aus, lehnte sich kurz auf seine Hupe.

»Aber Doll war der Mörder, Kit.«

Ich schwieg.

»Kit? Nun kommen Sie schon, sagen Sie es. Bloß ein einziges Mal. Es tut auch ganz bestimmt nicht weh.«

»Ich sage ja nicht, dass Sie Unrecht haben …«

»Aber Sie wollen auch nicht sagen, dass ich Recht habe.«

»Nein.«

Er lachte. Dann legte er eine Hand auf meine. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Kit. Auch wenn Ihr Instinkt Sie letztendlich getrogen hat. Glauben Sie bloß nicht, dass ich nicht weiß, wie schwer das für Sie gewesen sein muss

– nach allem, was passiert ist. Aber ohne Sie hätten wir völlig im Dunkeln getappt. Sie haben uns immer wieder auf die richtige Spur geführt.«

»Nein«, widersprach ich, selbst überrascht, wie entschieden meine Stimme klang. »Nein. Ich habe Sie damals, vor Wochen, davon abgehalten, Anklage gegen Doll zu erheben. Wenn Sie ihn damals vor Gericht gestellt hätten, ob schuldig oder nicht, dann wäre er jetzt noch am Leben. Vielleicht wäre er in einem Jahr bei mir im Market Hill Hospital gelandet. Ich habe zu ihm gesagt, ihm werde nichts passieren.«

»Solche Gedanken bringen nichts. Wir alle haben in diesem Fall unsere Fehler gemacht, aber Sie haben Verbindungen gesehen, die uns entgangen waren. Sie haben uns davor bewahrt, weitere Fehler zu machen.«

»Aber …«

»Lieber Himmel, Kit, lassen Sie es endlich gut sein.

Kein Aber mehr. Sie sind die sturste Frau, mit der zu arbeiten ich jemals das Vergnügen und die Ehre hatte.«

»Ich werde es in meinem Lebenslauf vermerken«, antwortete ich trocken.

»Und die ehrenwerteste«, fügte er hinzu. Ich sah ihn an, aber er starrte auf die Straße.

Ich legte ihm leicht die Hand auf den Arm. »Vielen Dank, Daniel.«

Meine Wohnung wirkte vernachlässigt, als würde dort niemand mehr wohnen. Alle Fenster waren geschlossen, die Vorhänge halb zugezogen, als wäre ich in Urlaub.

Sonst hatte ich immer frische Blumen in der Wohnung, aber jetzt stand nur eine Vase mit einem vertrockneten Strauß auf dem Fensterbrett in der Küche. Die Obstschale auf dem Küchentisch war leer, auf den Armlehnen des Sofas lagen keine aufgeschlagenen Bücher, an der Kühlschranktür klebten keine Nachrichten von Julie. Ich öffnete den Kühlschrank. Er war sauber und fast leer: Ein Karton Magermilch, ein Stück Butter, ein kleines, halb volles Glas Pesto, eine Tüte Kaffeebohnen.

Wann hatte ich Julie eigentlich das letzte Mal bewusst wahrgenommen? Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen stellte ich fest, dass ich mich nicht erinnern konnte. In der Hektik der letzten Tage war sie wie eine verschwommene Silhouette am Rand meines Gesichtsfelds gewesen, präsent, aber von mir meist ignoriert. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass sie irgendwann gesagt hatte, wir müssten reden, als ich an ihr vorbeigestürmt war, unterwegs zu irgendeinem dringenden Termin. Wann war das gewesen?

Die Tür zu dem Raum, den ich inzwischen als ihr Schlafzimmer betrachtete, stand offen. Ich streckte den Kopf hinein. Es sah viel zu ordentlich aus. Normalerweise ließ Julie immer ihre Klamotten auf dem Boden herumliegen, ihr Bett ungemacht und ihren Lippenstift und ihre Cremedosen offen auf dem Aktenschrank stehen, den sie zur Kommode umfunktioniert hatte. Einen Moment lang fragte ich mich, ob sie vielleicht schon ausgezogen war, aber ihr Koffer stand noch da, und der Schrank war voller Klamotten.

Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, öffnete die Fenster und wischte Staub. Dann lief ich zu dem Delikatessengeschäft an der Ecke und kaufte Ziegenkäse und ein großes Stück Parmesan, frische Pasta, Sahne, italienische Salami, Schinken, mit Sardellen gefüllte Oliven, kleine Mandelkekse, ein kleines Töpfchen Basilikum, Artischockenherzen, vier pralle Feigen. Dabei hatte ich keineswegs den Wunsch, diese Köstlichkeiten anschließend sofort zu verspeisen, nein, ich wollte sie bloß im Haus haben, als eine Art Willkommensgruß für jeden, der durch die Tür treten würde.

Danach ging ich zu dem Gemüsehändler ein paar Häuser weiter und kaufte rote und gelbe Paprikaschoten, grüne Äpfel, eine blass gestreifte Melone, Nektarinen, violette Pflaumen und schöne schwarze Weintrauben. Im Blumenladen erstand ich einen großen, knalligen Strauß aus gelben und orangefarbenen Dahlien. Schwer beladen schwankte ich nach Hause. Die Plastiktüten schnitten mir in die Finger, und die Blumen kitzelten meine Nase. Ich setzte den Wasserkessel auf, mahlte Kaffeebohnen, steckte die Blumen in eine Glasvase, räumte den Käse in den Kühlschrank, arrangierte das Obst und das Gemüse in einer großen Schale. Na, bitte. Wenn Julie jetzt kam, würde sie wissen, dass ich wieder zu Hause war.

Ich überlegte gerade, ob ich ein Bad nehmen sollte, als das Telefon klingelte.

»Ja?«

»Kit, ich hole Sie in ungefähr fünf Minuten ab, ja? Ich bin schon fast bei Ihnen.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, es sei vorbei, Daniel.«

»Ist es auch, ist es auch. Wir müssen nur noch was zu Ende bringen. Es wird Ihnen gefallen, das verspreche ich Ihnen.«

»Ich mag keine Überraschungen …«, setzte ich an, aber die Verbindung war bereits unterbrochen.

»Sie waren bei dieser Sache von Anfang an dabei. Ich dachte mir, Sie sollten auch das Ende miterleben.«

»Mich würde trotzdem interessieren, wo wir eigentlich hinfahren.«

Oban grinste. »Nun hören Sie endlich auf zu murren!«

Ein paar Minuten später standen wir vor der Haustür der Teales.

»Woher wollen Sie wissen, dass sie überhaupt da ist?«

»Ich habe vorher angerufen.«

Als Bryony die Tür öffnete, erschrak ich über ihr Aussehen. Ihr Gesicht wirkte bleich, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. In ihrer alten Jeans und dem übergroßen weißen Hemd wirkte sie viel dünner als beim letzten Mal, und das Lächeln, mit dem sie uns begrüßte, erreichte ihre Augen nicht.

»Kommen Sie herein.«

»Es wird nicht lang dauern, Mrs. Teale«, erklärte Oban, als wir im Wohnzimmer standen. »Ich wollte Sie bloß fragen, ob Sie das hier kennen.« Dann zog er einen dünnen Handschuh über die rechte Hand, beugte sich zu der Tasche hinunter, die er dabei hatte, und zog wie ein Zauberer mit einer schwungvollen Bewegung einen kleinen Lederbeutel heraus.

Bryony warf einen Blick darauf und schlug die Hände vor den Mund. »Ja«, flüsterte sie.

»Er wurde in Michael Dolls Wohnung gefunden.« Er warf mir einen triumphierenden Blick zu.

»Oh!«, keuchte sie, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Mit einer abrupten Bewegung ließ sie den Kopf in die Hände sinken und begann wimmernd zu weinen. Zwischen ihren Fingern quollen Tränen hervor.

Ich starrte zornig zu Oban hinüber, der sofort aufstand, zu ihr hinüberging und ihr ungelenk eine Hand auf die Schulter legte. »Ist ja gut! Schon gut! Es ist alles vorbei, Mrs. Teale, Bryony. Er ist tot, müssen Sie wissen. Sie sind jetzt in Sicherheit.«

»In Sicherheit?« Sie hob ihr tränennasses Gesicht und starrte ihn verdutzt an. »In Sicherheit?«

»Ja. Ich möchte über Einzelheiten noch nicht sprechen, kann Ihnen aber immerhin sagen, dass nach unserem derzeitigen Kenntnisstand Doll – der Mann, der bei dem Überfall auf Sie den Zeugen gespielt hat – der Mörder war. Wir hatten ihn von Anfang an in Verdacht, und nun ist er heute Morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. In seinem Besitz befanden sich Sachen von Ihnen beziehungsweise Philippa Burton. Dass dieser Beutel Ihnen gehört, wissen wir« – er hielt den Lederbeutel hoch und schüttelte ihn ein wenig, sodass sein Inhalt klirrte –,

»weil er unter anderem Ihre mit Ihrem Namen versehenen Hausschlüssel enthält. Vielleicht hatte Doll auch Sachen von Lianne, aber das werden wir wohl nie erfahren.« Er nickte ihr freundlich zu. »Trophäen, verstehen Sie?«

»Aber wie … was …?«

»Er war zuvor schon einmal das Ziel eines Versuchs von Selbstjustiz gewesen, deswegen gehen wir davon aus, dass sie ihn diesmal erwischt haben.«

»Mein Beutel«, sagte sie langsam. »Er hatte meinen Beutel.«

»Können Sie sich erinnern, wann Sie ihn verloren haben?«

»Nein. Keine Ahnung. Ich muss ihn in der Nacht des Überfalls verloren haben, aber ich wusste nicht … ich wusste, dass er weg war, aber ich konnte mich nicht erinnern, wann genau ich ihn das letzte Mal hatte. Ich war so durcheinander. Als ich hinfiel, muss ich … ich war der Meinung, er wollte mir helfen … wie bin ich bloß auf diese Idee gekommen?«

»Geht es wieder?«, fragte ich.

Sie drehte sich zu mir um. »Ich glaube schon, ja«, antwortete sie. »Mir ist nur ein bisschen übel. Jetzt wird doch alles wieder gut, oder? Ich glaube, das ist noch gar nicht richtig zu mir durchgedrungen.« Mühsam brachte sie ein Lächeln zustande.

»Das waren ein paar sehr aufregende Tage.«

Oban streckte ihr die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Mrs. Teale, wir werden uns sicher noch mal bei Ihnen melden. Bestimmt sind noch ein paar offene Fragen zu klären. Auch wenn es für Sie niemals klar genug sein wird, Kit.« Er grinste mich süffisant an.

»Auf Wiedersehen, Bryony.« Ich wollte ihr ebenfalls die Hand geben, aber sie nahm mich in den Arm und küsste mich auf beide Wangen. Sie roch sehr sauber und fühlte sich zart und zerbrechlich an. »Sie waren sehr lieb«, flüsterte sie mir ins Ohr.

»Danke.«

»Zufrieden?«, fragte mich Oban im Gehen.

»Seien Sie nicht so hämisch, Dan, das passt nicht zu Ihnen. Was ist denn Ihr nächster Programmpunkt?«

»Die Pressekonferenz. Ich hoffe, Sie kommen mit.«

»Sie verlieren keine Zeit, was?«

»Nicht wenn wir einen Fall zu Ende gebracht haben.

Springen Sie rein!« Er hielt mir die Beifahrertür auf.

»Es ist mir ein Rätsel, warum ich mir von Ihnen so viel gefallen lasse.«

Er lachte schallend. »Das soll wohl ein Witz sein!«

Ich weiß nicht, warum, aber ich hob die Hand an die Wange und fuhr mit den Fingern leicht über meine Narbe.

»Komisch«, sagte ich, »ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, dass ich früher nicht so ausgesehen habe.«

»Was meinen Sie?«

»Ich spreche von meiner Narbe.«

»Sie sehen immer noch gut aus«, antwortete er verlegen.

Dann fügte er hinzu: »Los, steigen Sie ein, wir können nicht den ganzen Nachmittag vor Mrs. Teales Haustür stehen und über Ihr Aussehen diskutieren.«

Als ich nach Hause kam, wurde es bereits dunkel. In der Wohnung brannte kein Licht, was bedeutete, dass Julie noch nicht da war. Oben angekommen, ließ ich mir sofort ein Bad einlaufen. Vor weniger als zwölf Stunden hatte ich auf Doll hinuntergestarrt. Gegen meinen Willen tauchte vor meinem geistigen Auge sein Gesicht auf, nicht nur die blutige Masse auf dem Teppich, sondern das Gesicht, das er mir zugewandt hatte, als er am Kanal beim Fischen saß. Dieses erwartungsvolle Lächeln. Er hatte zwei Frauen umgebracht, Lianne und Philippa. Er hatte versucht, eine dritte zu töten, Bryony. Trotz alledem empfand ich plötzlich heftiges Mitleid mit diesem Mann.

Er hatte nie eine Chance gehabt. Er war hinterhältig und abstoßend gewesen, ein perverser Mörder, aber er hatte nie eine Chance gehabt. Ich war schon zu vielen Menschen wie Doll begegnet.

»Hallo. Du hast Schaum im Haar.«

Ich setzte mich auf. »Ich habe dich gar nicht reinkommen hören.«

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass du unter Wasser warst. Die Wohnung sieht hübsch aus.«

»Gut. Ich habe sie in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt.«

»Ja.«

»Es ist vorbei.«

»Was?«

»Der Fall. Es ist vorbei. So wie es aussieht, ist es doch Michael Doll gewesen.«

»Doll? Der Mann, der hier in der Wohnung war?«

»Ja.«

»Du lieber Himmel! In Zukunft passe ich besser auf, wem ich die Tür öffne.«

»Was meinst du, Julie, sollen wir heute Abend ausgehen? Es sei denn, du hast was anderes vor.«

»Ich würde liebend gern, aber ich bin momentan ziemlich pleite, weil …«

»Du bist eingeladen. Ich habe jede Menge Geld, aber nichts, wofür ich es ausgeben könnte.«

»Oh, im Ausgehen bin ich ganz groß!«

Ich bestellte klare Brühe, thailändischen Fischkuchen, Satay mit Schwein und Huhn, Nudeln und Reis, gedämpfte Klößchen mit allerlei Gewürzen, Riesengarnelen in Chilisauce, Tintenfisch mit Zitronellgras und Koriander, Spareribs, eine Flasche südamerikanischen Wein. Julie schien beeindruckt, aber auch beunruhigt.

»Und zwei Gläser Champagner«, fügte ich hinzu.

»Wieso das alles?«

»Was?«

»Du hast genug für sechs bestellt. Du bist doch nicht etwa schwanger?«

Der Champagner wurde serviert, und ich stieß mit Julie an.

»Ich feiere heute Silvester.«

»Wir haben August, Kit.«

»Das neue Jahr kann jederzeit beginnen.«

»Mir ist nicht ganz klar, ob du deine Sorgen ertränken oder feiern willst.«

»Ein bisschen von beidem. Ich bin froh, dass es vorbei ist und dass Doll keinen Schaden mehr anrichten kann.

Aber ich verstehe nicht, wie das alles geschehen ist, nichts passt zusammen oder ergibt einen Sinn. Und deswegen fühle ich mich irgendwie …«

»Frustriert?«, schlug Julie vor.

»Mehr als das. Als hätte ich sie im Stich gelassen.

Philippa und Lianne. Klingt ziemlich verrückt, was?«

»Ja, allerdings. Du hast mir schon richtig Sorgen gemacht mit deiner …«

»Heute bei der Pressekonferenz hat mich Oban entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten sehr gelobt. Er war richtig überschwänglich. Dabei komme ich mir vor wie eine Mogelpackung.«

»Weshalb?«

»Weil ich das Gefühl habe, ich hätte sie noch nicht wirklich zur Ruhe gebettet. Hört sich blöd an, stimmt’s?«

»Sie sind tot, also ruhen sie schon. Die Hauptsache ist doch, dass ihr Mörder gefasst ist.«

»Er ist tot.«

»Oh.« Sie starrte mich irritiert an.

»Ermordet von Mitgliedern irgendeiner Selbstschutzgruppe, die sich völlig im Recht fühlen werden, wenn sie erfahren, was er getan hat. Da kommt unser Essen.«

Ich aß die ganze Schale Suppe aus. Sie war so scharf, dass ich glaubte, Stecknadeln zu verschlucken.

Anschließend aß ich drei von den würzigen Klößchen. Ich kaute endlos auf ihnen herum und brachte den letzten nur mit Mühe hinunter.

»Tut mir Leid, dass ich so fanatisch war.«

»Das ist schon okay. Mich würde bloß noch interessieren, wie das mit Will Pavic weitergegangen ist.«

»Ich denke, es ist vorbei.«

»Wirklich? Das ging aber schnell. Andererseits ist es vielleicht besser so. Er war ein ziemlich grimmiger Typ, oder?«

»Ich glaube, mich hat gerade das angesprochen.« Ich biss in meine Spareribs und spülte mit einem großen Schluck Wein nach. Dolls zu Brei geschlagenes Gesicht tauchte wieder vor meinen Augen auf, und dieser Raum voll von seinem Blut. Meinem Blut.

»Warum hast du es dann beendet?«

»Was? Oh, weil es einfach nicht mein Ding ist. Na ja, ich denke, ich sollte lieber versuchen, glücklich zu sein.«

»Das hört sich gut an.«

Ich spießte mit der Gabel einen Tintenfischring auf, der aussah wie Gummi. Oder wie ein Stück Eingeweide. Ich legte ihn zurück auf den Teller, starrte auf den beigefarbenen Reis und nahm dann einen Schluck Wein.

Ich fühlte mich plötzlich sehr merkwürdig.

»Ich muss dir etwas erzählen«, hörte ich Julie gerade durch den Nebel vor meinen Augen sagen.

Ich blinzelte. »Was denn?«

»Ich werde ausziehen.«

»Ich weiß, du bist auf der Suche nach einer eigenen Wohnung.«

»Nein, ich gehe wieder ins Ausland. Ich halte es hier einfach nicht aus, fühle mich wie in einer Falle. Ich will nicht mehr vor einer Schulklasse stehen, für eine Plattenfirma arbeiten oder jeden Tag in einem langweiligen Kostüm mit Strümpfen und Lederschuhen in einem Büro erscheinen. Klingt das für dich nach einer Frau, die mit dem wirklichen Leben nicht so ganz zurechtkommt?«

»Ich habe noch nie was gegen das Aussteigen gehabt.«

Meine Stimme schien von ganz weit her zu kommen.

»Ich möchte auch bloß glücklich sein. Genau wie du.«

Ich hob mein Glas. »Auf dein Glück.«

»Nicht weinen, Kit! Wir können doch beide glücklich sein. Gleichzeitig.« Mit Tränen in den Augen kicherten wir einander zu. »Und weil du gerade so schön betrunken und sentimental bist«, fügte sie hinzu, »sollte ich dir vielleicht gleich noch beichten, dass ich mir dein schwarzes Samtkleid ausgeliehen habe, ohne dich zu fragen. Hinterher habe ich es zu heiß gewaschen, und nun sieht es ziemlich seltsam aus. Der Saum schlägt richtig Wellen. Tut mir Leid.«

39. KAPITEL

Am nächsten Morgen weckte mich das Geräusch des Windes, der mit lautem Tosen durch die Bäume fuhr und die Fenster erzittern ließ. Einen schrecklichen Moment lang konnte ich mich an gar nichts erinnern: nicht, welchen Tag wir hatten, wo ich war oder wer ich war. In meinem Kopf herrschte völlige Leere. Ich lag da und wartete, dass sich das Vakuum wieder mit Erinnerungen füllte. Und tatsächlich begannen sie kurz darauf hereinzufluten: Als Erstes sah ich Doll vor mir, wie er ohne Gesicht in seinem eigenen Blut lag, um ihn herum die blutverschmierten Wände. Eine Folterkammer. Dann Doll mit Gesicht, den Arm erhoben, das gezackte Porzellan in der Hand, das in alle Richtungen spritzende Blut, das diesmal das meine war. Fest gegen das Kissen gepresst, lag ich mit offenen Augen da, sah aber trotzdem die Bilder in meinem Kopf. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich all die Monate nur davongelaufen. Ich hatte mir eingebildet, das rote Zimmer hinter mir lassen zu können, aber in Wirklichkeit war ich die ganze Zeit im Kreis gelaufen und nun wieder genau an meinem Ausgangspunkt angekommen.

Ich fuhr von Market Hill direkt nach Kersey Town, wo ich mir einen Parkplatz suchte. Einem Impuls folgend, lief ich los, um noch rasch ein paar Blumen zu besorgen. Ich hatte keine Ahnung, welche Blumen sie, wenn überhaupt, gemocht hatte, aber ich kaufte einen dicken Strauß Anemonen, violette, rote und rosafarbene, die noch taufeucht glänzten und wie weiche Edelsteine aussahen.

Dann sprintete ich den Gehsteig entlang, weil ich nicht zu spät kommen wollte. Pünktlich zu sein war das Mindeste, was ich tun konnte. Ich wollte ihr die letzte Ehre erweisen, wollte ihr sagen, dass es mir Leid tat.

Ich weiß nicht, warum Lianne mich so tief berührt hatte.

Ich kannte sie nicht, aber sie war ohne Mutter aufgewachsen, genau wie ich. Ich hatte ihr Gesicht erst gesehen, als sie tot war, ein rundes Gesicht mit Sommersprossen auf der Nase. Ich wusste nichts über ihr Leben, ich kannte nicht mal ihren richtigen Namen.

Niemand kannte ihn. Vielleicht hatte sie in Wirklichkeit Lizzie oder Susan, Charlotte oder Alex geheißen. Wie auch immer. Sie war ein unbekanntes Mädchen, das in einem städtischen Grab beerdigt wurde, und womöglich würde ich, eine fremde Frau, ihr einziger Trauergast sein.

Als ich eintraf, kamen gerade die Leute aus der vorherigen Beisetzung – Orgelmusik vom Band geleitete sie hinaus, und anschließend, nach ein paar Minuten der Stille, begleitete mich dieselbe Musik hinein. Der Raum war ziemlich lang und cremefarben gestrichen. Im hinteren Teil reihten sich neue Holzbänke aneinander. Vor den Bänken stand Liannes Sarg. Außer mir war niemand gekommen. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Blumen tun sollte. Ich blickte mich einen Moment ratlos um, dann legte ich sie auf den hellen, glänzenden Sarg mit den goldfarbenen Griffen, setzte mich anschließend in die vorderste Reihe und lauschte der Musik. Nach einer Weile hörte ich hinter mir ein Rascheln, und eine Frau nahm neben mir Platz. Sie hatte ihr Haar mit einem Tuch zurückgebunden und sagte im Flüsterton zu mir: »Hallo, ich bin Paula Mann, von der Stadt.« Sie wartete einen Moment, ehe sie weitersprach: »Ich habe sie nicht gekannt, aber ich bin diejenige, die diese Bestattung organisiert hat. Sie ist in unserem Distrikt gestorben, und da sie sonst niemanden hat … die arme Kleine. Jedenfalls fällt diese Aufgabe dann uns zu. Wenn unsere Zeit es erlaubt, schauen wir vorbei und erweisen den Verstorbenen die letzte Ehre. Manchmal schaffen wir es nicht, aber es ist einfach nicht richtig, sie ganz allein auf den Weg zu schicken.«

»Kit Quinn«, stellte ich mich vor, und während wir uns die Hand gaben, dachte ich: Nicht nur eine, sondern gleich zwei Frauen, die um dich trauern.

»Ich nehme an, Sie haben sie auch nicht gekannt?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir. Wenn es Angehörige oder Freunde gibt, treiben wir sie in der Regel auf«, erklärte sie. »Es ist erstaunlich, wie viele Menschen ganz allein sterben. Bei den meisten weiß man nicht mal, wo sie herkommen. Das sagt etwas über unsere Art zu leben aus, denke ich. So viel Einsamkeit.« Ihr Gesicht verzog sich.

»Sie haben also versucht herauszufinden, wer sie war?«

»Das ist mein Job. Im Grunde bin ich fast so eine Art Detektivin, bloß dass es sich in der Regel nicht um ein Verbrechen handelt. Ich bekomme die Leichen, für die sich niemand gemeldet hat, und muss herausfinden, ob es nahe Angehörige oder auch Freunde gibt. Wenn nicht, organisiere ich die Beerdigung und kümmere mich um die Habseligkeiten der Verstorbenen. In den meisten Fällen muss ich die Sachen wegwerfen. Manchmal fühle ich mich dabei ganz schrecklich, beispielsweise, wenn ich auf Fotos, Briefe oder andere Dinge stoße, die mal jemandem sehr viel bedeutet haben müssen. Wir packen alles zusammen, bewahren es ein paar Monate auf und werfen es dann weg oder verbrennen es.«

»Was haben Sie mit Liannes Sachen gemacht?«

»Bei ihr war es anders – wir wissen nicht mal, ob sie irgendwelche Sachen besaß. Alles, was wir bekamen, war eine Leiche, die man am Kanal gefunden hatte.«

»Kommt so etwas nicht häufiger vor?«

»Nur hin und wieder – obwohl es natürlich öfter passiert, als man meinen möchte.«

Die Orgelmusik wechselte, und der Kaplan kam herein, sodass wir beide verstummten. Er sah uns mit ernster Miene an und legte die Hand auf Liannes schlichten Sarg, aber bevor er etwas sagen konnte, wurde es hinter uns laut.

Ich blickte mich um und sah vier junge Leute mit verlegener Miene den Raum betreten. Ich erkannte sie sofort wieder, obwohl sie ganz anders gekleidet waren.

Alle vier trugen merkwürdige schwarze Klamotten, die sie sich wahrscheinlich von Freunden ausgeliehen hatten. Da war Sylvia mit den grünen Augen, Carla, das schüchterne schwarze Mädchen, das Lianne als Letzte aus der Gruppe lebend gesehen hatte, Spike mit dem geschorenen Schädel und der haarige Laurie. Jeder von ihnen hatte einen Blumenstrauß in der Hand, auch wenn der von Sylvia aussah, als hätte sie ihn im Vorbeigehen aus einem Vorgarten gerupft. Carla hatte langstielige, wächserne Lilien dabei, die bestimmt eine Menge gekostet hatten und so stark dufteten, dass ich sie von meinem Platz aus riechen konnte. Ich lächelte den vieren zu, aber sie lächelten nicht zurück. Vielleicht erinnerten sie sich nicht an mich. Sie wirkten noch immer sehr verlegen, und Spike stupste Laurie kichernd in die Seite, als sie nach vorn zu dem Sarg schlurften und ihre Blumen neben meine legten.

Dann setzten sie sich in die Bank uns gegenüber.

Die Beisetzung begann. Wenigstens tat der Kaplan nicht so, als hätte er Lianne gekannt oder könnte etwas über sie sagen, sondern beschränkte sich darauf, rasch das erforderliche Ritual hinter sich zu bringen. Als er etwa bei der Hälfte angelangt war, hatte ich mit einem Mal das Gefühl, als würde mich jemand anstarren, und drehte mich um. Ich spürte einen leichten Stich in der Brust. Er war da.

Will. In seinem strengen, schwarzen Anzug erinnerte er mich mehr denn je an eine Krähe. Er saß ganz hinten, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte mich. Nein, das stimmte nicht, er starrte durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da. In seinem hageren, stoppeligen Gesicht wirkten seine Augen wie Höhlen. Sein Haar war frisch geschoren, und ich konnte eine kleine weiße Narbe auf seiner Kopfhaut erkennen. Ich wandte mich wieder nach vorne, hatte aber das Gefühl, als würde mir sein Blick ein Loch in den Nacken brennen.

Als der Sarg davonglitt, stellte ich mir Liannes Körper vor, der nun gleich verbrennen würde. Aus dem Kühlschrank ins Feuer. Ich sah ihr liebes, kleines Gesicht, ihre abgekauten Nägel, ihr Herz-Medaillon: »Beste …«

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Auf der anderen Seite des Ganges hörte ich jemanden schluchzen. Als ich hinübersah, stellte ich fest, dass es nicht eines der Mädchen war, sondern Laurie. Laurie, der einmal von Lianne geküsst worden war. Die schüchterne Carla hielt seine Hand. Spike starrte auf seine großen, schwarzen Stiefel hinunter, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Nur Sylvia blickte mit ihren ruhigen, meergrünen Augen nach vorn.

Die Musik vom Band setzte wieder ein, und wir erhoben uns. Will saß noch immer in der letzten Bank. Sein Blick war auf die Stelle gerichtet, wo eben noch der Sarg gestanden hatte. Ich dachte, dass ihn das Ganze ziemlich kalt ließ, aber dann sah ich plötzlich, dass sein Gesicht tränennass war. Er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen oder zu verbergen. Ich ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm«, sagte ich. Er sah mich an, als wäre ich eine Fremde. »Komm schon, gleich beginnt die nächste Beisetzung.« Blinzelnd schob ich ihn ins Sonnenlicht hinaus. Seine Hand war kalt, und er bewegte sich steif.

»Geht es dir nicht gut, Will?«

Er gab keine Antwort, sah mich aber endlich mit seinen tränennassen Augen an. Ich wischte ihm mit einem Taschentuch das Gesicht ab. Er stand reglos da und ließ es geschehen. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, hatte dabei aber das Gefühl, ein Brett zu berühren. »Will? Will, soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nein.« Er entzog mir seinen Arm.

»Wo steht dein Wagen?«

»Ich bin zu Fuß da«, stieß er hervor. Er wirkte benommen, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt.

»Lass mich dir helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe.«

Ich betrachtete sein verschlossenes Gesicht, seine Verzweiflung, und die alte Zärtlichkeit stieg wieder in mir auf. Er brauchte mehr Hilfe als sonst ein Mensch, den ich kannte.

»Komm«, sagte ich und schob meinen Arm unter seinen.

»Wir gehen ein Stück.«

Schweigend ließen wir das Krematorium hinter uns. Er ging, wohin ich ihn führte, war völlig abwesend. Nach einer Weile aber spürte ich, wie er sich entspannte. Am liebsten hätte ich ihn mit nach Hause genommen, ihm den Nacken massiert, ein Bad für ihn eingelassen, ihm etwas gekocht, ihn zum Lächeln gebracht, ihn festgehalten und geküsst – nicht, um Sex mit ihm zu haben, sondern um seine Nähe zu spüren, zu fühlen, dass man in dieser kalten Welt jemanden neben sich hatte. Aber er würde das nie zulassen. Nicht auf diese Weise.

»Hier steht mein Wagen. Ich fahre dich nach Hause.«

Er widersetzte sich nicht. Ich öffnete die Beifahrertür und schob ihn hinein. Er sah mich an und schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Ich fuhr die Strecke schweigend und setzte ihn vor seiner Haustür ab. Im Rückspiegel sah ich, dass er noch immer dastand wie ein Fremder, der nicht wusste, wo er war. Er wirkte so einsam und verloren.

Ich rief Poppy an. Sie begrüßte mich ziemlich kühl.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Nichts«, antwortete sie in beleidigtem Ton, fügte dann aber hinzu: »Ich habe dich nur immer wieder angerufen und bei dieser Julie Nachrichten für dich hinterlassen, aber du hast es nie der Mühe wert gefunden, mich zurückzurufen.«

»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Ich hatte so viel zu tun.«

»Schön für dich. Aber man kann Menschen nicht einfach so auf Eis legen.«

»Oh, Poppy, es tut mir wirklich Leid. Soll ich bei dir vorbeikommen?«

»Nein. Seb und ich gehen was trinken. Wir wollen uns aussprechen – nicht, dass es was helfen wird.« Sie lachte bitter.

»Was ist los? Habt ihr Probleme?«

»Ach, du weißt schon, das Übliche. Erfolgreicher Mann und Heimchen am Herd.«

»Du meinst …«

»Ich weiß nicht, Kit. Lass uns später darüber reden, ja?

Ich muss unbedingt noch ein bisschen Make-up auflegen.

Ich sehe zur Zeit aus wie eine hässliche, alte Matrone.«

»Aber nein!«

»Doch. So ist es nun mal.«

»Nein, das stimmt nicht. Du siehst gut aus.«

»Sei nicht albern. Ich passe in keins von meinen Kleidern mehr rein.«

»Nein, ich meine das ehrlich. Du bist eine hübsche, wundervolle Frau, und dein Mann weiß gar nicht, was für ein Glückspilz er ist.«

Sie schniefte. »Tut mir Leid, dass ich so unfreundlich zu dir war.«

»Nein, mir tut es Leid.«

Ich setzte einen Topf Nudelwasser auf. Viel schöner hätte ich es gefunden, mich auf mein Sofa zu setzen und jemanden zu haben, der mir Tee und Gebäck servierte, mich ein bisschen verwöhnte, sich um mich kümmerte.

Einen Moment lang gestattete ich mir, dem Traum nachzuhängen, meine Mutter würde kommen, mir übers Haar streicheln und zu mir sagen, ich könne mich jetzt ausruhen. Die Beisetzung hatte mich emotional sehr mitgenommen, ich fühlte mich ganz schwach und zittrig.

Ich musste wieder daran denken, wie Liannes Sarg seinen Weg in die Flammen angetreten hatte. Ich stellte mir Poppy vor, wie sie verzweifelt vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer stand, ein Kleid nach dem anderen anprobierte und voller Enttäuschung auf ihr Spiegelbild starrte. Dann stellte ich mir Will vor, ganz allein in seinem leeren Haus.

Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich schlüpfte in meine Wildlederjacke und rannte zum Wagen. Ich fuhr sehr schnell, schimpfte über jede rote Ampel. Als er mir die Tür öffnete, trug er noch immer seinen schwarzen Anzug. Er trat zur Seite, um mich hereinzulassen. Ich führte ihn zum Sofa, zwang ihn mit sanfter Gewalt zum Hinsetzen und ließ mich neben ihm nieder, nahm seine kalten Hände zwischen meine und wärmte sie. Dann öffnete ich die obersten Knöpfe seines Hemds und zog ihm seine steifen schwarzen Schuhe aus.

»Ich mache dir eine Tasse Tee.« Er erhob keinen Widerspruch.

In der Küche toastete ich zwei Scheiben Brot und bestrich sie mit der Marmelade im Kühlschrank.

»Du bemutterst mich ja richtig«, stellte er fest, biss aber trotzdem ein großes Stück Toast ab.

Ich fragte ihn nicht, warum er so traurig gewesen war, sah ihm bloß zu, wie er den Toast aß und den Tee trank.

Dann führte ich ihn nach oben, zog ihn wie ein Kind aus, setzte mich neben ihn aufs Bett und streichelte seinen stacheligen Kopf. Als er schließlich die Augen schloss, nahm ich meine Hand weg.

»Ich schlafe nicht«, sagte er leise.

»Ich wollte nur, dass es dir gut geht.«

»Ja, ja. Du solltest dir nicht so viele Sorgen um andere machen, Kit.«

»Ich kann nichts dagegen tun.«

»Aha.« Ich spürte, wie er mir entglitt. »Denke mehr an dich selbst.«

»Warum?«

»Als gute Ärztin solltest du das eigentlich wissen.«

»Will?«

»Mmm.«

»Was ich gesagt habe …«

Aber er war bereits eingeschlafen. Sein müdes Gesicht wirkte plötzlich weicher. Ich blieb noch eine Weile bei ihm sitzen, dann stand ich auf, zog die Vorhänge zu und ging.

40. KAPITEL

Der Mann, mit dem ich verabredet war, ließ auf sich warten, deswegen holte ich mir ein Bier und stellte mich draußen auf die Treppe, um zu beobachten, wie die Theatergänger eintrudelten. Gabe Teales Theater, das Sugarhouse, war eine ehemalige Lagerhalle, die zwischen dem großen Gaswerk und dem Kanal auf einem Eisenbahngrundstück stand. Reste eines Gerüsts und Bautoiletten wiesen darauf hin, dass ein eiliger Umbau stattgefunden hatte, aber die Leute, die zum Teil schöne Abendgarderobe und hohe Absätze trugen, mussten noch immer zwischen Schutthaufen hindurchgehen, um zum Eingang zu gelangen. Bis zum West End war es zu Fuß nur eine Viertelstunde, aber man hatte den Eindruck, auf einem anderen Kontinent zu sein. Das mochte ich so an London. Egal, auf welch sicherem und vertrautem Terrain man sich zu bewegen schien, man war nie weiter als einen fünfminütigen Fußmarsch von Seltsamem entfernt.

Die ehrenwerten Bürger wanderten bis zum provisorischen Haupteingang, blieben dort fast ohne Ausnahme stehen, blickten sich einen Moment um und begannen dann mit kindlicher Freude zu lächeln, wahrscheinlich, weil sie etwas ihnen Vertrautes an solch einem ungewöhnlichen, fast schon unheimlichen Ort taten.

Oder es gewagt hatten, hierher zu kommen.

Die Leute im Eingangsbereich bewegten sich langsam zu ihren Platzen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr.

Zwanzig nach. Er würde mich hoffentlich nicht versetzen.

Aber da war er auch schon, leicht keuchend. Als er mich erblickte, unternahm er einen ziemlich lächerlichen Versuch, im Zeitlupentempo zu joggen, um mir zu demonstrieren, wie sehr er sich beeilte.

»Ich komme doch nicht zu spät, oder?«, fragte Oban und blickte sich unsicher um.

»Wir haben noch ein paar Minuten. Soll ich Ihnen einen Drink holen?«

Er spitzte die Ohren. »Gibt’s hier eine Bar?« Als Antwort hielt ich mein Bier hoch. »Einen doppelten Scotch, bitte.«

Ich kämpfte mich durch die Menge. Als ich ihm schließlich seinen Drink in die Hand drückte, hatte bereits die Glocke geläutet. »Jetzt müssen wir uns aber sputen«, erklärte ich. Er kippte den Scotch in einem Zug hinunter.

»Das hab ich jetzt gebraucht«, erklärte er mit heiserer Stimme.

»Ich bin so was einfach nicht gewöhnt.«

»Ich auch nicht«, gab ich zurück. »Ich war schon seit Monaten, nein, seit Jahren nicht mehr im Theater. Ich habe mir nur gedacht, dass es nett wäre, sich das hier mal anzuschauen. Sozusagen als Abschlussfeier.«

Oban sah mich skeptisch an. »Ich glaube, mein letztes Mal war 1985. So eine Art Musical. Auf Rollschuhen.

Danach hatte ich nie wieder das Bedürfnis, in so was reinzugehen. Worum geht’s denn heute?«

Ich warf einen Blick auf das Programm. »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Anscheinend hat es was mit der Geschichte der Gegend zu tun.«

Oban starrte wehmütig in sein leeres Glas. »Ich wusste gar nicht, dass die Gegend eine Geschichte hat, abgesehen von einer kriminellen.«

Eine Lautsprecherstimme verkündete, dass die Vorstellung gleich beginne. Wir begaben uns an unsere Plätze, aber wie sich herausstellte, gab es keine.

Markttag war ebenso wenig ein normales Theaterstück, wie das Sugarhouse ein normales Theater war. Man hatte eher den Eindruck, sich auf einem überdachten Volksfest zu befinden. Es gab Jongleure, Clowns, Artisten auf Stelzen, Redner, die auf Apfelsinenkisten Ansprachen hielten. Gruppen von Kindern spielten, sangen und schrien. Erwachsene unterschiedlichen Alters führten Sketche auf. Die Kostüme, die sie dafür brauchten, holten sie aus einer Kiste, die in der Mitte der Arena stand.

Überall war etwas los und man musste herumwandern, um möglichst viel mitzubekommen. Anfangs war ich leicht genervt, weil ich das Gefühl hatte, auf der anderen Seite der Halle etwas zu verpassen, aber nach einer Weile entspannte ich mich und behandelte das Ganze wie einen Spaziergang durch eine fremde, exotische Stadt. Oban murrte erst ein bisschen vor sich hin, dass das Stück ja gar keine richtige Handlung habe, aber dann wurde er plötzlich von einer bildhübschen jungen Zauberin aus der Menge gezogen. Sie fragte ihn nach seinem Namen und was er beruflich mache. Als er gestand, dass er Polizist sei, wurde das von den Umstehenden mit lautem Gelächter quittiert. Er lief knallrot an und schaute verblüfft, als sie aus der Innenseite seiner Jackentasche ein Ei herauszog.

Ich fand das Ganze großartig – nicht zuletzt deshalb, weil es mir auf seltsame Weise Gelegenheit zum Nachdenken bot. Ich ging die Ereignisse der letzten Monate im Geist noch einmal durch und versuchte eine Ordnung hineinzubringen, natürlich ohne Erfolg, aber inmitten dieser fröhlichen Menschenmenge erschien mir das gar nicht so schlimm.

In der Pause verschwanden die Künstler nicht in ihre Garderoben, sondern wanderten herum, stellten sich den Leuten vor und plauderten mit ihnen. Oban und ich sprachen mit einem der Jongleure, einem Akkordeonspieler und einer Gruppe von Kindern, die die nahe gelegene Grundschule besuchten. Als Oban schließlich in hoffnungsvollem Ton vorschlug, ein wenig mit der jungen Frau hinter der Bar zu sprechen, gingen wir ins so genannte Foyer hinaus, das in Wirklichkeit nur ein weiterer Bereich der alten Lagerhalle war. Oban lud mich auf einen Gin Tonic ein und gönnte sich selbst noch einen doppelten Scotch. Das Mädchen, das ihn bediente, war noch im Teenageralter. Sie hatte sehr kurzes, blond gefärbtes Haar und jede Menge Piercings, an den Ohren, der Nase, der Unterlippe. Ich fragte sie, wie lange sie schon an der Theaterbar arbeite.

»Ein paar Wochen«, antwortete sie.

»Sind Sie von hier?«

»Hmm.«

»Es muss schön sein, solch einen Ort in der Nähe zu haben.«

»Hmm.« Als ein Mann hinter mir in ziemlich barschem Ton eine Flasche mexikanisches Bier bestellte, räumten wir das Feld.

»Prost!«, sagte ich zu Oban, und wir stießen an. »Mit diesem Theater tut Gabe wirklich was für die Leute hier«, stellte ich fest. »Irgendwie kommt es mir fast ein bisschen vor wie Will Pavics Jugendhaus.«

Oban nippte mit sichtlichem Genuss an seinem Drink.

»Ich glaube, er macht das ein bisschen besser als Will Pavic«, meinte er. »Diese Show ist zwar nicht so ganz mein Ding, ich habe lieber eine richtige Handlung, das meiste habe ich nicht kapiert, aber ich sehe durchaus, dass es gut gemacht ist. Ja hallo, schauen Sie mal, wen wir da haben!«

Er nickte in eine bestimmte Richtung, und als ich mich umdrehte, sah ich Gabe Teale, im Gespräch mit einem sehr trendy aussehenden jungen Paar. »Lassen Sie uns zu ihm rübergehen«, schlug ich vor.

»Er sieht recht beschäftigt aus.«

»Dann stören wir ihn eben ein bisschen.«

Nachdem wir uns einen Weg durch die Menge gebahnt hatten, stupste ich Gabriel am Arm. Er wandte den Kopf und zuckte erschrocken zusammen, was ja nicht weiter verwunderlich war. »Überraschung, Überraschung!«, sagte ich.

»In der Tat«, erwiderte er.

Er stellte uns den beiden Leuten vor, mit denen er gerade sprach. Ich bekam ihre Namen nicht richtig mit, aber das war nicht weiter schlimm, denn nachdem uns die beiden einen Moment lang neugierig gemustert hatten, schlenderten sie zu einer anderen Gruppe von Leuten hinüber, die ebenfalls recht hip aussahen.

»Sie haben uns wohl kein kulturelles Interesse zugetraut«, meinte ich.

Er starrte uns an. Irgendetwas schien ihn ernstlich zu verwirren. Hielt er uns womöglich für ein Paar? Ob das wohl an mir lag? Egal, welch seltsamen Kauz ich an meiner Seite hatte, die Leute gingen anscheinend sofort davon aus, dass ich mit ihm zusammen war.

»Nun ja …«, begann er.

»Es ist fantastisch!«, sagte ich. »Was für eine ungewöhnliche Show! Mir war nicht klar, dass das so riesig ist und so viele Leute aus der Gegend hier arbeiten.«

Hör auf zu plappern, Kit, ermahnte ich mich.

»Dafür bin ich nicht allein verantwortlich«, entgegnete er.

»Ich bin nur der künstlerische Leiter. Es gibt einen Vorstand und alle möglichen anderen wichtigen Leute.«

»Sie sind zu bescheiden«, erwiderte ich. »Ist Bryony auch da?«

»Sie arbeitet nicht hier«, antwortete er. »Sie ist zu Hause. Es geht ihr noch immer nicht besonders.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Tja«, sagte ich dann, »Sie haben wahrscheinlich noch einiges zu tun.«

»Ja«, antwortete er. »Ich muss mich tatsächlich noch um ein paar Dinge kümmern.«

Wir reichten uns förmlich die Hand. Es war einer dieser seltsamen Abschiede, bei denen man im Grunde schon weiß, dass man sich kaum mehr Wiedersehen wird. Zwar hatten Gabriel und Bryony nicht gerade Auswanderungspläne, aber so, wie London nun mal war, würden wir uns wahrscheinlich nie wieder über den Weg laufen.

Nachdem er gegangen war, sah Oban mich grinsend an.

»Sie wirken recht fröhlich«, stellte ich fest.

»Das bin ich auch. Ich habe schon anderthalb Stunden mit Ihnen verbracht, ohne dass Sie gesagt haben, ich hätte mit allem Unrecht.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, erklärte ich. Die Glocke läutete den zweiten Teil ein. Ich nahm einen Schluck von meinem Drink. »Ich habe heute nämlich auch gute Laune. Es ist ein schöner Abend, und ich bin endlich mal wieder unter Leuten. Das Problem ist nur, dass ich, sobald ich fröhlich bin, sofort anfange, mir Sorgen zu machen. Ich glaube, die Menschen sind nur deswegen glücklich, weil es irgendwo irgendwas gibt, das sie noch nicht wissen.«

»Mit der Einstellung werden Sie nie glücklich werden«, meinte Oban.

»Ja, das bekomme ich ständig zu hören. Ich muss auch nur noch eine einzige Sache loswerden, dann halte ich den Mund.

Ich weiß, wir sollten zufrieden mit uns sein, weil wir unseren Job gut gemacht haben und all das, aber etwas nagt noch an mir – es ist, wie wenn man ein Hemd kauft und, egal, wie gewissenhaft man es absucht, immer noch eine Nadel übrig bleibt, die einen sticht.«

Oban starrte mich erstaunt an. »Und darüber wollten Sie unbedingt noch mit mir sprechen? Über Hemden?«

»Nein, hören Sie mir erst mal zu. Bei Michael Doll wurden doch diese Trophäen gefunden.«

»Das ist nicht weiter ungewöhnlich, oder? Sie sind doch diejenige, die sich mit solchen Sachen auskennt. Mörder behalten solche Dinge, nicht?«

»Ja, das tun sie«, gab ich ihm Recht. »Das kommt sehr häufig vor. Sie machen das, um weiter Macht über ihre Opfer zu haben, die Erfahrung immer wieder neu durchleben zu können. Aber offensichtlich handelt es sich hier nicht um die übliche Art von Trophäen. Die Schnabeltasse gehörte dem kleinen Mädchen, das nicht sein Opfer war.«

»Ja, aber die Tasse war trotzdem eine Trophäe, oder etwa nicht? Sie erinnerte ihn daran, dass er die Mutter der Kleinen umgebracht hat. Vielleicht war ja in dem Müllhaufen, in dem er lebte, noch was anderes, das Philippa Burton gehört hat.«

»Möglich«, antwortete ich. »Aber der Lederbeutel von Bryony war genauso wenig eine normale Trophäe. Schon allein deshalb, weil Bryony gar nicht tot ist.«

»Er hat den Beutel während des Kampfes an sich genommen und behalten. Praktischerweise steckte darin ja auch noch der Schlüssel zu Bryonys Haus. Er hätte Gebrauch davon machen können.«

»Ja«, antwortete ich. »Ich erwähne jetzt nur noch zwei Punkte, die mir seltsam vorkommen, und dann gehen wir wieder hinein, sehen uns die Show zu Ende an und reden nicht mehr darüber, in Ordnung? Also, wir nehmen inzwischen ja an, dass es sich bei dem Mann, der Bryony Teale auf dem Treidelpfad überfallen hat, um Michael Doll handelte. Das würde jedenfalls den seltsamen Zufall erklären, dass er erneut am Tatort war. Aber was ist mit dem anderen Mann?«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.«

Oban nahm einen weiteren Schluck von seinem Drink.

»Wir haben das Ganze anfangs aus dem falschen Blickwinkel betrachtet. Statt Terence Mack und Mickey Doll, die Bryony vor einem unbekannten Mann retten, haben wir nun Terence Mack und einen unbekannten Mann, die Bryony vor Mickey Doll retten. Nachdem die verschiedenen Versionen von Mack und Bryony sowieso total nutzlos waren, verwundert es auch nicht weiter, dass beide nicht kapiert haben, worum es da eigentlich ging.«

»Und dieser unbekannte Held ist davongelaufen, weil er zu bescheiden war, um sich mit all dem Ruhm zu schmücken?«

»Es gibt genug Leute, die nichts mit der Polizei zu tun haben wollen, nicht einmal als Zeuge. Vielleicht hatte er Drogen bei sich, irgendwas in der Art.«

»Also gut«, sagte ich. »Letzte Frage. Was ist mit Philippa Burtons Liste? Was ist mit den Telefonaten mit dem Jugendhaus?«

Oban leerte sein Glas und stellte es auf die Bar. »Fakt ist, dass wir das nun nicht mehr zu wissen brauchen. Wenn ein Mörder stirbt, bevor ihm der Prozess gemacht werden kann, dann bleiben immer ein paar Fragen offen. In diesem Fall könnte es alle möglichen Erklärungen geben.

Vielleicht … vielleicht …« Er überlegte. »Vielleicht hat Bryony ein Foto von Lianne gemacht, und … und Philippa hat es bei einer Ausstellung gesehen und wollte einen Abzug und …«

»Bryony behauptet, keine von beiden gekannt zu haben.

Und warum hätte sie dann im Jugendhaus anrufen sollen?

Und wieso hätte das Michael Doll dazu veranlassen sollen, sie alle umzubringen?«

»War ja bloß ein erster Versuch«, gab Oban gereizt zurück.

»Wenn Sie mir ein bisschen Zeit lassen, fällt mir vielleicht was Besseres ein.«

»Bereitet Ihnen das kein Kopfzerbrechen?«

»Was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist das halbe Dutzend Mordfälle, bei denen ich nie zu einem Ergebnis gekommen bin. An diese Fälle muss ich jeden Abend vor dem Schlafengehen denken. Einmal im Jahr grabe ich die alten Akten aus und frage mich, ob wir etwas übersehen haben, oder ob es inzwischen neue Ermittlungsmethoden gibt, die wir vielleicht anwenden könnten. Dieser Fall dagegen ist abgeschlossen, und darüber bin ich froh. Mit den paar offenen Fragen habe ich kein Problem.

Vergessen Sie nicht, die Realität ist immer schlauer als wir. Man darf nicht erwarten, alles zu verstehen.«

Ich hätte gern noch etwas gesagt, aber ich hatte ihm versprochen, nach meinen zwei Fragen den Mund zu halten, und außerdem hatte drinnen ein Blasorchester zu spielen begonnen.

41. KAPITEL

Lottie und Megan saßen im Gras, vertieft in ein kompliziertes, nur ihnen verständliches Spiel. Eine Stunde zuvor hatte ich Lottie einen violetten Gummisaurier und Megan eine rotweiße Gummischlange geschenkt, und beide Tiere spielten jetzt eine wichtige Rolle. Amy hatte ich eine grün-blaue Krabbe mitgebracht. Sie war gerade damit beschäftigt, den Hügel hinunterzurollen und die Krabbe zu ermutigen, es ihr gleichzutun. Hinter ihnen lag London, das an diesem schwülen Nachmittag von Primrose Hill aus recht dunstig aussah.

Ich lag auf einer Decke, den Kopf auf den Ellbogen gestützt, und trank gekühlten Weißwein.

»Ich möchte alles darüber hören«, sagte Poppy.

»Natürlich hat mir Seb schon einiges erzählt …« Sie warf erst einen Blick zu Megan, dann zu Amy hinüber.

»Megan, lass das! Oder ich nehme es dir weg! Aber Sebs Version der Geschichte unterscheidet sich wahrscheinlich ziemlich von der deinen.« Ihr Ton klang sarkastisch.

Ich legte mich auf den Rücken.

»Ich weiß gar nicht, ob ich sie zusammenhängend erzählen kann«, antwortete ich. »Noch dazu an einem Nachmittag wie diesem, mit zwei Glas Weißwein intus.«

Es war ein reines Frauenpicknick. Drei Mädchen spielten im Gras, während zwei Mütter und eine Nichtmutter auf der Decke lagen. Die zweite Mutter war Ginny, eine alte Freundin von Poppy. Die Väter waren anderweitig beschäftigt. Ginnys Mann spielte irgendwo Kricket, und Seb saß in einem Fernsehstudio.

»Worüber spricht er denn zurzeit?«, fragte ich. »Noch immer über den Philippa-Burton-Fall?«

»Ich glaube schon. Er macht Werbung für sein neues Buch, das schon fast fertig ist.«

»Über den Fall? Das ging aber schnell!«

»Er hat es praktisch parallel zum Fall geschrieben.«

»Ist zwischen euch wieder alles in Ordnung?«

»Nicht wirklich.« Sie sah wieder zu den Mädchen hinüber.

»Aber ich kann jetzt nicht darüber sprechen.«

»Natürlich. Später.«

»Was das Buch angeht – da wirst du dich bestimmt sehr geschmeichelt fühlen. Rate mal, warum?«

»Die Idee dazu hat er teilweise aus dieser Gutenachtgeschichte, die du den Mädchen erzählt hast, als du vor Monaten mal bei uns zum Abendessen warst.

Danach konnten sie wochenlang nicht mehr schlafen.

Irgendwas über ein Schloss.«

»Welchen Titel hat das Buch?«

» Das rote Zimmer, glaube ich. Kann das sein?«

»Ja, das kann sein. Das war ein Albtraum, der mich damals quälte. Darum ging es in der Geschichte.«

»Oh, verstehe. Seb hat bestimmt mit dir darüber gesprochen.«

Ich schwieg, weil ich gerade von einer Welle des Selbstmitleids überrollt wurde. Man hatte mir das Gesicht zerschnitten, und danach schlug ich mich lange Zeit mit einem Albtraum herum. Nun hatte ich das Gefühl, als wäre ich auch noch überfallen und meines Albtraums, eines ganz persönlichen, privaten Albtraums beraubt worden. Ich leerte mein Glas und dachte: Na und, verdammt noch mal? Wen interessiert das?

Über unsere Decke verstreut lagen Sandwiches, Obst, Brausedrinks für die Kinder und ein paar Sachen, die im Supermarkt in meinem Einkaufskorb gelandet waren: Plastikbehälter mit Kichererbsencreme und Taramasalat, Pitta-Brot, Oliven, Grissini, kleine Schweinepasteten, Babymöhren, mundgerecht zerteilte Blumenkohlröschen.

Ich tauchte die Spitze einer Babykarotte in einen rosafarbenen Dip und nagte vorsichtig daran.

Während ich so dalag und nagte, nippte und plauderte, fühlte ich mich – auf fast angenehme Weise – betäubt, merkte aber trotzdem, dass die beiden anderen Frauen nie ganz bei der Sache waren. Egal, ob sie mir gerade etwas Wichtiges erzählten oder auf einem Blumenkohlröschen herumkauten, sie blickten sich ständig um oder hielten über meine Schulter hinweg nach den Kindern Ausschau.

Ich legte mich zurück und schloss die Augen. Direkt neben meinem Ohr rief Poppy zu den Mädchen hinüber, sie sollten jetzt zum Essen kommen, und zwar sofort! Es gab ein lautes Geschrei, weil eines von ihnen auf uns zugestürmt kam, ohne auf die anderen zu warten, und plötzlich spürte ich etwas Kaltes auf meiner Jeans.

Erschrocken setzte ich mich auf und stellte fest, dass Megan bei dem Versuch, zu den Hühnchenschenkeln hinüberzuklettern, die Weinflasche umgestoßen hatte. Als sie sah, was passiert war, begann sie noch lauter zu schreien als ihre kleine Schwester. Poppy nahm sie in den Arm.

»Das macht doch nichts, Megan, mein Liebling. Nicht weinen! Das ist überhaupt nicht schlimm. Kit, könntest du Megan bitte sagen, dass es nicht schlimm ist?«

»Es ist nicht schlimm, Megan«, wiederholte ich gehorsam.

»Tut mir Leid, Kit«, meinte Poppy, »aber Megan regt sich bei solchen Sachen immer schrecklich auf.«

Dabei schien sich Megan inzwischen längst beruhigt zu haben, denn sie nagte bereits an einem Hühnerbein.

»Zum Glück«, sagte Ginny fröhlich, »gibt Weißwein keine Flecken. Man verwendet ihn sogar, um Rotweinflecken zu entfernen, stimmt’s?«

»Es ist bloß ein bisschen nass«, erklärte ich, während ich mit einem Blatt Küchenrolle meine Hose abtupfte.

Eigentlich hätten sie es mir überlassen müssen, zu sagen, dass es nicht so schlimm sei.

»Mein Gott«, lachte Poppy, »sei froh, dass es nur Wein ist. Was meinst du, was für Flecken ich schon auf meinen Sachen hatte!«

Ich lächelte leicht genervt und schenkte mir noch einmal ein Glas voll ein.

»Weißt du«, sagte Ginny, »ich glaube, deine Morde haben vielen Müttern ziemlich zugesetzt.«

»Es waren nicht meine«, wandte ich ein.

»Dieses arme Mädchen, deren Mutter entführt wurde, während sie auf dem Spielplatz war. Seit das passiert ist, habe ich Lottie kaum mehr aus den Augen gelassen. Ich weiß, das ist irrational.«

Ich murmelte zustimmend.

»Hat dich das nicht schrecklich runtergezogen, Kit?«

Ich stellte mein Weinglas auf die Decke, überlegte es mir dann aber anders und nahm es wieder in die Hand.

»Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist«, sagte ich.

»Es hat mich traurig gemacht.«

»Ich persönlich fühle mich jedenfalls sicherer, seit es den Mann, der das getan hat, nicht mehr gibt. Ich habe den Detective im Fernsehen gesehen. Er hat so nette Dinge über dich gesagt.«

»Das Ende des Falls war nicht so befriedigend, wie ihr vielleicht denkt«, erklärte ich. »Dieser Mann – er hieß Michael Doll – wurde einfach tot aufgefunden …«

»Getötet von Leuten einer Selbstschutzgruppe«, unterbrach mich Poppy.

»Natürlich würde ich so was nicht gutheißen«, meinte Ginny, »aber ich muss zugeben, dass ich, als ich davon las, erst mal dachte: großartig!« Sie zog Lottie zu sich heran und nahm sie in den Arm. »Es mag sich vielleicht um Selbstjustiz handeln, aber wenigstens kann dieser Mann jetzt nichts mehr Böses anstellen.«

»Oder Gutes«, fügte ich hinzu.

»Aber du weißt bestimmt eine Menge über ihn«, sagte Poppy in aufmunterndem Tonfall, weil sie meine Unzufriedenheit spürte.

»Zumindest habe ich ihn gekannt.«

»Hu!«, machte Ginny. »Wie unheimlich. Wie war er?«

»Er war unheimlich«, antwortete ich. »Ein gestörter Mensch, in vieler Hinsicht abstoßend, aber auch ein bisschen Mitleid erregend.«

»Was ist das für ein Gefühl, jemanden gekannt zu haben, der so schreckliche Dinge getan hat?«, fragte Poppy.

»Ich weiß nicht so recht«, antwortete ich. »Vielleicht solltest du das besser Seb fragen. Außerdem wusste ich zu dem Zeitpunkt ja noch nicht, dass er die Morde begangen hatte. Und dann ist er umgebracht worden, bevor der Fall richtig geklärt war.«

»Aber es gab eindeutige Beweise. Hat die Polizei zumindest gesagt.«

»Das stimmt. Es gab eindeutige Beweise. Viele Beweise.

Leider fügen sie sich trotzdem nicht zu einem klaren Bild zusammen. Aber das wollt ihr bestimmt gar nicht hören.«

Ich musterte sie. Sie wollten es tatsächlich nicht hören.

Die Mädchen forderten ganz und gar ihre Aufmerksamkeit. Waren die Kleinen gestürzt? Waren sie davongelaufen? Waren sie verdächtig ruhig? Waren sie ermordet worden? Ich musste an die kleine Emily denken, die wahrscheinlich im Sandkasten gespielt hatte, während ihre Mutter entführt und ermordet wurde. Ich stellte mir die Szene vor, wie ich es schon so viele Male zuvor getan hatte, mit Michael Doll in der Rolle des psychopathischen Mörders. Das war es. Ich sprang auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Poppy. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Vielleicht hab ich das. Tut mir Leid. Ich muss sofort weg. Mir ist etwas …«

»Darf ich in die Sonne schauen?«, fragte Megan.

»Nein!«, rief Poppy. »Du darfst niemals in die Sonne schauen!«

»Warum nicht?«

»Weil du dir sonst die Augen verbrennst.«

»Und wenn ich die Augen zumache?« Sie schloss die Augen.

»Geht es, wenn ich die Augen zumache?«

»Ich glaube schon. Aber dann siehst du nichts.«

»Es ist gar nicht dunkel«, berichtete Megan. »Es ist rot.

Wo kommt das Rot her?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Poppy. »Ich nehme an, vom Blut in deinen Augenlidern.«

»Blut?«, rief Megan. »Yippie! Ich sehe mein Blut!

Kommt, jetzt sehen wir uns alle unser Blut an!«

Und während die kleinen Mädchen blind auf dem sonnigen Hügel herumstolperten und sich ihr Blut ansahen, rannte ich davon, als wäre der Teufel hinter mir her.

42. KAPITEL

Atemlos traf ich in meiner Wohnung ein. Mein Kopf brummte von zu viel Weißwein und Sonne, aber ich griff sofort nach dem Telefon und rief Oban an. Er war irgendwo unterwegs. Im Hintergrund konnte ich Verkehrslärm und Stimmen hören. »Störe ich Sie bei der Arbeit?«, fragte ich.

»Wir haben Wochenende, Kit«, sagte er. »Worum geht’s? Wollen Sie mit mir in die Oper gehen?«

»Ich wollte Sie bloß vorwarnen, dass ich noch einmal mit dem kleinen Mädchen sprechen werde, Emily Burton.«

»Was?«

»Sie wissen schon, Philippa Burtons Tochter.«

»Ich weiß verdammt genau, wer sie ist. Das … das …«

Er schien nach Luft zu schnappen. »Das halte ich für keine gute Idee.«

»Ich muss ihr nur noch eine einzige Frage stellen.«

»Kit, Kit«, sagte er in besänftigendem Ton, als stünde ich gerade sprungbereit auf einem Fensterbrett, »es gibt immer noch eine einzige weitere Frage. Überlegen Sie doch mal, was Sie da tun. Sie versetzen diese arme Familie erneut in Aufregung, wühlen alles wieder auf. Sie treiben sich selbst in den Wahnsinn. Und Sie treiben mich in den Wahnsinn. Lassen Sie es gut sein.«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie es für sinnvoll halten, wenn mich eine Beamtin begleitet.«

»Nein, definitiv nein. Der Fall ist abgeschlossen. Dies ist ein freies Land, Sie können besuchen, wen Sie wollen, aber mit uns hat das nichts mehr zu tun. Ehrlich, Kit, ich habe Sie sehr gern, aber Ihnen fehlt irgendwas, ich weiß nicht genau, was Sie brauchen …«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Entweder war Oban in einen Tunnel gefahren, oder er hatte einfach entnervt aufgegeben. Ein Kassettenrekorder. Das war es, was ich brauchte. Irgendwo musste ich einen haben.

Nachdem ich ein paar Minuten herumgestöbert hatte, zog ich unten aus einem Schrank ein schmuddeliges kleines Gerät hervor. In einer Schublade voller alter Stöpsel, Gummibänder, Stifte ohne Kappe und einer langen Gänseblümchenkette aus Büroklammern fand ich dann auch noch eine alte Kassette, eine Partykassette aus meiner Collegezeit. Das würde reichen. Ich rief bei den Burtons an. Eine Frau nahm ab.

»Hallo. Spreche ich mit Pam Vere?«

»Ja.«

»Hier ist Kit Quinn. Erinnern Sie sich an mich? Ich bin die …«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Ich wollte fragen, ob ich vielleicht nochmal vorbeikommen und mit Emily sprechen dürfte.«

»Sie ist im Moment nicht da.«

»Geht es vielleicht später?«

»Aber ich dachte, es wäre vorbei …«

»Es sind nur noch ein paar kleine Fragen zu klären.

Außerdem wollte ich sehen, wie es Emily geht.«

»Besser, glaube ich. Wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen ist, macht sie einen recht glücklichen Eindruck.

Außerdem haben wir jetzt ein Au-pair-Mädchen.«

»Darf ich kommen? Es dauert wirklich nur fünf Minuten.«

»Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ist das wirklich nötig?«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, antwortete ich in entschiedenem, unnachgiebigem Ton.

Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment Schweigen. »Sie wird kurz nach vier wieder hier sein.

Vielleicht könnten Sie vor dem Tee mit ihr sprechen.«

»Ich komme pünktlich.«

Es war förmlicher als bei den vorherigen Malen. Ich war vor Emily eingetroffen und fand einen Platz in der Küche, wo ich meinen Kassettenrekorder einstecken konnte.

Neurotisch, wie ich war, testete ich ihn zweimal, indem ich »eins-zwei, eins-zwei« sagte und wieder zurückspulte.

Emily platzte wie ein kleiner plappernder Kobold in den Raum. Sie trug eine rote, mit Farbe bekleckerte Hose. Ihr folgte ein blondes Au-pairmädchen, das Schwierigkeiten hatte, mit ihr Schritt zu halten. Sie wirkte so glücklich. Ich stellte sie mir fünf Jahre später vor. Dann würde sie keine Erinnerung mehr an ihre Mutter haben, nichts, was sich von Schnappschüssen und den halb erfundenen Geschichten trennen ließ, die ihr andere über Philippa erzählten. Sie stürmte auf ihre Großmutter zu und schlang die Arme um ihre Knie. Als sie mich erblickte, verstummte sie. Ich ging zu ihr und kniete mich neben sie.

»Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich. Sie schüttelte ernst den Kopf und wandte den Blick ab. »Ich habe was mitgebracht, das ich dir zeigen möchte.«

Ihre Neugier war stärker als ihre Schüchternheit. Sie gab mir die Hand, und wir gingen zum Küchentisch hinüber, wo mein Kassettenrekorder stand. Pam, die uns nicht aus den Augen ließ, nahm uns gegenüber Platz.

»Sieh dir das an«, sagte ich.

»Was?«, fragte sie.

Ich drückte auf den Aufnahmeknopf.

»Sag was.«

»Ich will aber nichts sagen.«

»Was spielst du denn im Kindergarten für Spiele?«

» Alle Spiele«, antwortete sie in bestimmtem Ton.

Ich drückte auf Aus, spulte zurück und spielte ihr das gerade Aufgenommene vor. Sie riss staunend den Mund auf.

»Nochmal!«, bat sie.

»Ja.« Ich drückte auf den Aufnahmeknopf und rückte noch ein wenig näher an sie heran. Sie roch nach Seife und Farbe.

»So«, sagte ich, »worüber sollen wir reden?«

Emily zog kichernd die Nase kraus. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Das ist deine Narbe!« Sie deutete auf mein Gesicht.

»Stimmt«, sagte ich. »Siehst du? Du erinnerst dich doch!«

»Tut es noch weh?«

»Nicht mehr schlimm«, antwortete ich. »Es ist besser geworden.«

»Darf ich sie anfassen?«

»Ja.«

Ich beugte mich vor, und Emily streckte ihren kurzen, dicken Zeigefinger aus und fuhr damit von meinem Ohr über meine Wange bis zu meinem Kinn. Es juckte ein bisschen, schmerzte aber nicht mehr.

»Als wir uns das erste Mal unterhalten haben, hast du gerade mit deiner Freundin gespielt, und wir haben über den Spielplatz geredet. Du hast auf dem Spielplatz gespielt, als deine Mami wegging. Erinnerst du dich?«

»Ja«, antwortete sie.

»Viele Leute haben mit dir darüber gesprochen, nicht wahr?«

»Bollizisten.«

»Stimmt«, sagte ich. »Und diese Polizisten und Polizistinnen haben dich gefragt, ob du gesehen hast, wie deine Mami mit jemandem weggegangen ist, und du hast Nein gesagt.«

Emily kratzte auf dem Tisch herum. Ich spürte, dass sie mir entglitt. Die kurze Spanne Aufmerksamkeit, die man von einer knapp Vierjährigen erwarten konnte, war fast zu Ende. Ich warf einen Blick auf den Kassettenrekorder. Die Spulen drehten sich. Ich war mit nur einem Schuss im Lauf gekommen. Nun würde ich ihn abfeuern, und wenn nichts dabei herauskam, würde ich wirklich einen Schlussstrich unter die Sache ziehen. Ich streckte die Hand aus und legte sie um Emilys kleine, warme, klebrige, drückte sie leicht, um mir ihre Aufmerksamkeit zu sichern.

Sie sah mich an.

»Ich möchte dich was anderes fragen, Emily. Kannst du mir ein bisschen von der netten Frau erzählen?«

»Was?«, sagte Emily.

»Worauf wollen Sie …?«, fragte Pam.

»Schsch«, unterbrach ich sie mit einer abrupten Handbewegung. »Emily, was hat sie dir gegeben?«

»Nix.«

»Nichts?«

»Einen Lolly.«

»Das ist aber nett.« Ich spürte das Pochen meines Herzens im ganzen Körper, sogar im Kopf. »Was hat sie gemacht? Hat sie dich auf der Schaukel angeschubst?«

»Ein bisschen. Dann ist sie mit mir zum Sandkasten gegangen.«

Ich versuchte mir den Spielplatz vorzustellen. Ja, natürlich. Der Sandkasten war am weitesten von der Stelle entfernt, wo Philippa gestanden und ihrer Tochter zugesehen hatte.

»Das hat bestimmt Spaß gemacht«, sagte ich. »Und dann ist sie gegangen. Hat sie dich dort allein gelassen?«

»Weiß nicht.«

»Wie hat die Frau denn ausgesehen?«

»Mir ist la-angweilig«, sagte Emily laut.

»War sie dick?«

»La-a-angweilig.«

»Danke, Emily«, sagte ich. »Vielen Dank.« Ich legte den Arm um sie und drückte sie an mich. Rasch befreite sie sich aus meiner Umarmung und rannte in den Garten hinaus. Nachdem ich den Kassettenrekorder ausgeschaltet hatte, sah ich zu Pam hinüber. Sie schien beunruhigenden Gedanken nachzuhängen.

»Aber …«, sagte sie. »Es war doch dieser Mann. Was hat sie …«

Ich hatte eigentlich vorgehabt, einfach aufzustehen und zu gehen, aber ich schuldete ihr etwas.

»Ich hätte schon vor einer Ewigkeit darauf kommen müssen«, erwiderte ich. »Man kann eine Frau in einer dunklen Nacht entführen, an einem einsamen Ort. Man kann es auch an einem belebten Ort schaffen, obwohl es dann ein bisschen mehr Mühe erfordert. Aber man kann keine Mutter dazu bringen, ihr Kind allein zu lassen, nicht einmal auf einem Spielplatz, nicht einmal für eine Minute.

Es sei denn, jemand würde auf das Kind aufpassen. Dieser Gedanke ist mir plötzlich gekommen, und dann habe ich mir überlegt, dass es sich um eine Frau handeln müsste.

Emily hat immer erzählt, ihre Mutter komme zurück, nicht wahr?« Pam starrte mich an und nickte. »Wahrscheinlich war das das Letzte, was Philippa zu ihr gesagt hat. So was wie: ›Du brauchst keine Angst zu haben, ich komme gleich wieder.‹ Und Emily wartet immer noch.«

Nachdem ich den Kassettenrekorder ausgesteckt hatte, stand ich auf und drückte das Gerät fest an mich, als könnte es mir jemand stehlen. »Ich muss jetzt gehen.«

»Dann hatte er also eine Komplizin«, bemerkte Pam.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kannte Michael Doll. Ich glaube nicht, dass es in seinem Leben eine Frau gegeben hat, mit der er wirklich sprechen konnte.« Außer mir vielleicht, dachte ich. Der Gedanke versetzte mir einen Stich ins Herz. Als ich ging, saß Philippas Mutter noch immer am Küchentisch. Sie hatte die Hände gefaltet, als betete sie.

43. KAPITEL

Als ich von meinem Handy aus im Tyndale Centre anrief, war ich nur noch ein paar Fahrminuten von dort entfernt.

Eine Frau ging ran. Nachdem ich von ihr erfahren hatte, dass Will nicht da war, legte ich den Rest der Strecke zurück, parkte direkt vor dem Haus und läutete.

»Ist Sylvia zufällig da?«, fragte ich die junge Frau am Empfang, die kurz geschorenes Haar hatte, eine Spinnennetz-Tätowierung auf der Wange trug und nicht viel älter aussah als die jungen Leute, die im Haus wohnten.

»Nein.« Das Spinnennetz bewegte und dehnte sich, wenn sie sprach.

»Was meinen Sie, wann sie wiederkommt?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo ich sie finden könnte?«

»Kann ich nicht sagen.« Sie zog eine Zigarette hinter dem Ohr hervor und steckte sie sich zwischen die Lippen.

»Vertraulich«, erklärte sie. Sie zündete die Zigarette an.

»Oh. Natürlich. Wenn Sie sie sehen, könnten Sie ihr bitte ausrichten, dass Kit Quinn sie etwas fragen möchte?

Ich lasse Ihnen meine Telefonnummer da.« Die junge Frau gab mir keine Antwort, sah mich bloß argwöhnisch an.

»Sie kennt mich«, fügte ich hinzu. Ich zog meinen Notizblock aus der Tasche, notierte die Nummer und reichte ihr den Zettel. Sie legte ihn vor sich hin, ohne einen Blick darauf zu werfen. Ich hatte wenig Hoffnung, dass sie in dieser Sache irgendwie aktiv werden würde.

»Vielen Dank für Ihre Mühe.«

Aber gerade als ich mich umdrehen und gehen wollte –

ziemlich ratlos, weil ich nicht wusste, was ich als Nächstes unternehmen sollte –, hörte ich von irgendwoher eine Stimme: »Sie könnten es auf dem Volksfest versuchen.«

Ich drehte mich um. Neben der Eingangstür kauerte ein Junge, der aussah wie zehn, aber eine Zigarette im Mund hatte und mit einem Schnappmesser spielte.

»Auf dem Volksfest? Dem auf Bibury Common?« Ich war auf dem Herweg daran vorbeigefahren und hatte mit einem Gefühl von Nostalgie daran gedacht, welchen Spaß mir früher die Schwindel erregenden Fahrten mit der Achterbahn gemacht hatten, die billigen Plüschtiere und riesigen Plastikhämmer, die man bekam, wenn man mit einem schlecht eingestellten Luftgewehr alle Ziele traf.

»Ja.« Er zögerte. »Hätten Sie vielleicht ein paar Kippen für mich, Miss?«

»Tut mir Leid, ich rauche nicht.«

»Dann vielleicht ein bisschen Geld?« Er legte mit einer selbstironischen Geste des Bettelns die Hände aneinander.

Ich warf dem Mädchen am Empfang einen raschen Blick zu und gab ihm dann ein paar Münzen. »Cool! Danke.«

Es dämmerte bereits, und das Volksfest begann langsam in Schwung zu kommen. Männer mit Lederjacken, öligen, nach hinten gekämmten Haaren und schlechten Zähnen hantierten mit Schraubenschlüsseln. Die Achterbahn kreiste gemächlich durch die Dämmerung, obwohl noch alle Plätze unbesetzt waren. Es gab eine Rutschbahn, ein Karussell mit überdimensionalen Teetassen, ein zweites mit Tieren, Autoskooter, bewacht von Kaugummi kauenden, schlanken jungen Männern in engen Jeans, eine Geisterbahn, ein wackelig aussehendes Spiegelkabinett, dessen letztes Segment gerade an seinen Platz gerollt wurde, Stände, wo man Reifen über Flaschen werfen musste und Delphine gewinnen konnte, Stände, wo man Tüten mit Lakritzmischungen und hässliche Vasen gewann, wenn man mit einem Spicker ins Schwarze traf, außerdem mehrere Wagen, die fettige Burger und dicke orangefarbene Würstchen verkauften. Und es gab Schlamm, glucksenden, braunen Schlamm, wässrige Ströme von Schlamm, wo die Räder der Caravans durchgedreht hatten. Überall Schlamm.

Ich hielt nach Sylvia Ausschau. Die Leute begannen gerade erst einzutrudeln. Blecherne Musik setzte ein. Ein Luftballon, der einem plärrenden Kleinkind entwischt war, schwebte in den Himmel hinauf. Der Geruch nach Gebratenem und Zigarettenrauch erfüllte die Luft.

Vielleicht war sie gar nicht da. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch den Schlamm, suchte jedes Grüppchen von Leuten nach Sylvia ab und wollte schon aufgeben, als ich sie plötzlich entdeckte. Sie kletterte gerade mit einem etwa sechzehnjährigen Jungen in einen Autoskooter.

Sobald sie saßen, legte er ihr einen Arm um die Schulter, aber sie schob ihn mit verächtlicher Miene weg. Sie hatte ihr Haar zu albernen Strähnen zusammengebunden, sah viel jünger aus, als ich sie in Erinnerung hatte, und machte einen glücklichen Eindruck, als gebe es in ihrem Leben nichts, weswegen sie sich Sorgen machen müsste. Ich beobachtete sie, wie sie auf Kollisionskurs im Kreis fuhr, jedes Mal vor gespielter Angst aufschrie, wenn jemand in sie hineinkrachte, und ihrerseits laut johlte, wenn sie ihren Wagen herumriss, um einen anderen zu rammen.

Als sie ausstiegen, ging ich zu ihr. »Hallo, Sylvia.«

»Hallo.« Es schien sie kein bisschen zu überraschen, mich zu sehen.

»Ich hab dich gesucht.«

»Und?«

»Ich wollte dich was fragen. Aber ich möchte auf keinen Fall deinen Abend stören. Vielleicht könnten wir uns später treffen?«

»Es geht auch jetzt. Ich habe sowieso kein Geld mehr.

Bis dann, Robbie.« Mit diesen Worten entließ sie den Jungen an ihrer Seite, der gehorsam abzog, seine weiten, überlangen Hosenbeine im Schlamm hinter sich herschleifend.

»Möchtest du etwas zu essen? Oder zu trinken?«

»Egal.«

»Wie wär’s mit …?«

»Okay. Einen Burger mit Zwiebeln und Ketschup, Pommes und eine Cola.«

Wir gingen zu einem der Wagen hinüber, und ich besorgte das Essen für sie. »Da drüben ist eine Bank, da können wir reden«, schlug ich vor.

»Klar«, antwortete sie freundlich. Sie schien nicht neugierig zu sein, hatte aber definitiv Hunger. Bis wir saßen, hatte sie das meiste bereits verschlungen. Sie hatte Fett am Kinn und Ketschup an den Lippen. Zufrieden seufzend, wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

»Ich hätte da noch eine Frage, die du mir vielleicht beantworten könntest«, begann ich.

»Über Lianne?«

»Gewissermaßen. Und über Daisy. Liannes Freundin.«

»Die, die sich umgebracht hat.«

»Ja. Hast du sie auch gekannt?«

»Vom Sehen. Sie ist ab und zu mit Lianne rumgehangen.

Sie wissen schon. Man kennt sich eben.«

»Weißt du, ob Will Pavic sie auch gekannt hat?«

»Anzunehmen. Würde mich wundern, wenn nicht.« Ihr Blick schweifte ab. »Meinen Sie, ich könnte noch Zuckerwatte haben?«

»Aber sicher. Gleich. Das ist jetzt eine schwierige Frage, Sylvia, aber weißt du – hast du eine Ahnung, ob Will Pavic jemals, na ja, ob er jemals mit einer von den jungen Frauen in seiner Obhut liiert war?«

»Liiert?«, wiederholte sie, als hätte sie das Wort noch nie gehört.

»Na ja. Ob er mit einer von ihnen eine sexuelle Beziehung hatte.«

»Oh, Sie meinen, ob er sie gevögelt hat?« Sie klopfte mir kichernd auf die Schulter. »›Sexuelle Beziehung‹«, äffte sie mich nach.

»Hat er?«

»Haben Sie eine Kippe für mich?«

»Nein.«

»Schade.« Sie holte ihre eigenen Zigaretten aus ihrer Jeanstasche und zündete sich eine an. »Ich glaube nicht.«

»Bist du sicher?«

»Sicher? Natürlich nicht. Bei so was kann man nie sicher sein. Aber nicht dass ich wüsste.« Sie zog ihre kleine Nase kraus und inhalierte tief. »Ein Grabscher ist er jedenfalls nicht.«

»Ein Grabscher?«

»Manche legen einem die Hand auf die Schulter oder aufs Knie und tätscheln einen, wenn sie mit einem reden.

Bäh!« Sie schauderte. »Widerliche Typen. Als ob wir nicht wüssten, was sie da machen. Will macht das nicht.

Er bleibt auf Abstand.«

»Gut. Was ist mit Gabriel Teale? Hat Daisy je seinen Namen erwähnt?«

»Gabriel? Was ist denn das für ein blöder Name für einen Mann? Nie von ihm gehört.«

»Er betreibt das Sugarhouse

»Ach, das. Das kenn ich natürlich.«

»Ist Daisy da jemals gewesen?« Ich bemühte mich, meine Stimme nicht allzu drängend klingen zu lassen.

»Klar. Viele von uns haben schon mal dort gearbeitet.

Ich nicht. Nicht mein Ding. Daisy schon, da bin ich ganz sicher. Sie musste lernen, Räder zu schlagen.« Sie lächelte. »Zum Schluss hatte sie das richtig gut drauf. Sie konnte es total gerade, viele Räder am Stück, sogar durch die Tür in einen Raum hinein.«

Vor Aufregung lief es mir kalt über den Rücken. Ich zog das Theaterprogramm aus meiner Tasche und hielt ihr die Rückseite hin. »Erinnerst du dich, dass ihr mir bei unserem ersten Treffen erzählt habt, es habe schon mal jemand Fragen über Lianne gestellt? Ist das der Mann?«

Ich deutete auf das Foto von Gabe.

Sie warf einen Blick darauf. »Nein, ganz bestimmt nicht!«

Sie kicherte. »Die Person, die hinter Lianne her war, war eine Frau.«

Ich erstarrte. »Das habt ihr mir gar nicht gesagt«, stieß ich hervor.

»Sie haben uns nicht danach gefragt.«

Ich zog Bryonys Bild aus der Tasche. »Dann war es vielleicht die hier?«

Sylvia kniff im Dämmerlicht die Augen zusammen.

»Nö.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Sie hat ihr überhaupt nicht ähnlich gesehen. Die Frau, die ich meine, war blond.«

Benommen zog ich ein anderes Foto heraus. »So wie die hier?«

»Ja. Ja, das ist sie. Da bin ich ganz sicher. Sie hat herumgeschnüffelt und mit ihrer vornehmen Stimme Fragen gestellt. Wer ist das?«

Ich blickte auf das Gesicht hinunter, berührte es sanft mit einem Finger.

»Philippa Burton.« Sylvia sah sich das Foto an. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht, eine Spur von Härte.

»Hat sie Lianne umgebracht?«

»Nein«, antwortete ich. Dann: »Ich weiß es nicht.«

»Sie schauen so komisch, geht es Ihnen nicht gut?«

»Ich bin bloß durcheinander, Sylvia. Möchtest du jetzt deine Zuckerwatte?«

»Nehmen Sie auch eine?«

»Nein.«

»Warum nicht? Warum lassen Sie sich nicht mal ein bisschen gehen?« Sie wandte mir ihr zartes, gewitztes Gesicht zu und musterte mich prüfend. »Sie sollten sich mal so richtig entspannen!«

Ein seltsames Gefühl von Ausgelassenheit bemächtigte sich meiner. »Also gut, ich nehme eine riesige rosa Zuckerwatte.«

»Cool. Und hinterher fahren wir mit dem da.« Sie deutete zur Krake hinüber, deren Arme sich so schnell drehten, dass ich die Gesichter der schreienden Fahrgäste kaum erkennen konnte.

»Ich überleg’s mir.«

»Lassen Sie das Überlegen. Kommen Sie!«

Ich aß die Zuckerwatte. Sie blieb in meinem Haar kleben und Schmolz auf meiner Wange. Dann bestiegen Sylvia und ich die Krake.

»Ich will das eigentlich gar nicht.«

Sylvia kicherte. Die Krakenarme setzten sich in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller, und jeder Wagen drehte sich zusätzlich mit Schwindel erregendem Tempo um die eigene Achse. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber meine Wangenmuskeln schienen völlig erschlafft zu sein. Die Welt sauste verschwommen vorbei.

Die Zentrifugalkraft drückte mich nach hinten in meinen Sitz, mein Magen befand sich irgendwo anders, mein klebriges Haar peitschte gegen mein Gesicht.

»Verdammt!«, brachte ich schließlich keuchend heraus.

»Schreien Sie!«, rief mir Sylvia ins Ohr. »Schreien Sie sich die Seele aus dem Leib!«

Ich legte den Kopf zurück und öffnete den Mund. Ich schrie, bis meine Stimme alle anderen übertönte. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib.

44. KAPITEL

Wieder fummelte ich mit meinem Kassettenrekorder herum, was der skeptische, unverhohlen missbilligende, von verächtlichem Schnauben begleitete Blick von Detective Inspector Guy Furth und der enttäuschte, peinlich berührte von Detective Chief Inspector Oban nicht gerade leichter machten. Beide Männer waren längst mit anderen Dingen, neuen Fällen beschäftigt und mussten sich nun mit einer fanatischen Frau herumschlagen, die nicht aufhören konnte – nein, noch schlimmer, einer Frau, die in Obans Büro unter einem Tisch kauerte und es nicht schaffte, einen einfachen Stecker in eine Steckdose zu schieben. Erst fluchte ich nur in Gedanken vor mich hin, dann auch laut. Es war doch bloß ein verdammter Stecker, mehr nicht!

Endlich hatte ich es geschafft und brachte das Gerät auf Obans Schreibtisch in Position.

»Sie müssen genau hinhören«, erklärte ich. »Die Aufnahme hat nicht gerade die beste Qualität. Es handelt sich um eine alte Kassette, die ich in irgendeiner Schublade gefunden habe.«

Die beiden Detectives wechselten einen viel sagenden Blick, während ich auf den Playknopf drückte. Es war ein bisschen peinlich, weil ich nicht richtig zurückgespult hatte, sodass man mich erst mal »eins-zwei, eins-zwei«

sagen hörte. Ich sah Oban an. Er biss sich auf die Lippe, als müsste er ein Lachen unterdrücken. Es wurde nicht viel besser, denn nun folgte unser endlos scheinendes Geplapper über Emilys Kindergarten und meine Verletzung. Oban rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her.

»Hat es gerade gehagelt, als Sie das Interview aufgenommen haben?«, fragte Furth mit einem spöttischen Grinsen.

»Ich weiß, dass das Band ein bisschen rauscht«, gab ich zu.

»Tut mir Leid, dass sich das so hinzieht, aber ich wollte, dass Sie das Ganze hören, damit Sie den Zusammenhang haben.«

Er murmelte etwas vor sich hin.

»Was haben Sie gesagt?«, wollte ich wissen.

»Nichts.«

Ich schaltete das Band aus und spulte es ein wenig zurück.

»Um Gottes willen!«, rief er. »Wir müssen es uns doch kein zweites Mal anhören, oder?«

»Ich möchte nur sicherstellen, dass Sie alles mitbekommen.«

Er stöhnte. Als sich das Gespräch den Geschehnissen auf dem Spielplatz zuwandte, runzelte er konzentriert die Stirn. Plötzlich verkündete Emily, ihr sei langweilig, es klickte und krachte, und dann waren wir mitten in Hotel California – es war eine Partykassette aus den Achtzigerjahren. Die beiden Männer grinsten.

»Der Teil gefällt mir«, meinte Furth. »Da ist die Klangqualität auch besser.«

»Also, was halten Sie davon?«, fragte ich ungeduldig.

»Spielen Sie es noch mal vor«, antwortete Oban. »Nur das letzte Stück«, fügte er hastig hinzu.

Nach kleineren technischen Schwierigkeiten schaffte ich es, die Kassette zurückzuspulen und ihnen Emilys Aussagen über die Frau ein zweites Mal vorzuspielen.

Noch bevor die Aufnahme zu Ende war, beugte sich Oban vor und schaltete das Gerät aus. Dann lehnte er sich zurück. Aus seiner Miene sprach leichtes Unbehagen.

»Nun?«, fragte ich.

Er schaute aus dem Fenster, als hätte er draußen gerade etwas Faszinierendes entdeckt, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Nach einer Weile blickte er sich um, als wäre er überrascht, dass ich noch da war.

»Entschuldigen Sie«, begann er. »Ich musste nur gerade daran denken, dass es erst ein paar Wochen her ist, dass wir Ihnen eine Kassette vorgespielt haben. Es ist schon komisch, wie sich die Kreise schließen.«

»Das finde ich eigentlich nicht«, antwortete ich.

»Was wollen Sie denn jetzt von mir hören?«, fragte er.

Ich hatte schon die ganze Zeit das ungute Gefühl gehabt, dass es nicht so lief, wie ich mir das vorstellte. »Ich glaube nicht, dass ich was Bestimmtes hören wollte«, antwortete ich. »Ich dachte eher, Sie würden vielleicht vor Aufregung einen Luftsprung machen.«

»Weswegen sollte ich in Aufregung geraten?«

Ich sah die beiden an. Furth s Miene wirkte seltsam gütig, was mein schlechtes Gefühl noch verstärkte.

»Hören Sie denn nicht, was ich höre? Daran hätten wir schon vor einer Ewigkeit denken müssen. Man kann eine Mutter nicht so mir nichts, dir nichts entführen, während sie, umgeben von einer Menge anderer Leute, auf ihr Kind aufpasst. Da war eine andere Frau im Spiel, eine Frau, die ein paar Minuten auf Emily aufgepasst hat, während Philippa Burton zu dem Auto gelockt und umgebracht wurde.«

»Das höre ich aber nicht«, meinte Oban.

»Was hören Sie dann?«

Er schnaubte verächtlich. »Ich höre, wie ein dreijähriges Mädchen vage auf Suggestivfragen antwortet. Ich meine,

›die nette Frau‹, was soll das sein? Das könnte jede Frau sein, die ihr im letzten Jahr einen Lutscher gekauft hat.«

»Dann glauben Sie Emily also nicht?«

»Erstens wissen Sie genau, dass ein solches Band vor Gericht auf keinen Fall als Beweismaterial zugelassen würde. Und zweitens halte ich das Ganze für Blödsinn.

Tut mir Leid, Kit, aber ich glaube, diesmal ist wirklich Ihre Fantasie mit Ihnen durchgegangen. Langsam fangen Sie an, mir meine Zeit zu stehlen.«

»Dann werden Sie die Möglichkeit, dass eine Frau mit im Spiel war, also nicht in Betracht ziehen?«

»Denken Sie da an eine bestimmte Frau?«

»Ja.«

»Wen?«

»Bryony Teale.«

»Wie bitte?«

»Hören Sie mir fünf Minuten zu, dann können Sie mich rauswerfen.«

»Und er hat dir zugehört?«, fragte Julie und nippte an ihrem Drink.

Wir saßen in Soho in einer neuen Kneipe namens Bar Nothing. Anscheinend waren harte Kanten und gerade Linien zurzeit out. Die Einrichtung bestand aus pastellfarbenen Sofas und großen Kissen auf dem Boden.

Wir saßen an der Bar, die nicht aus weichem Material bestand. Eine Bar durfte nicht weich sein, weil sonst die Drinks runterfielen. Immerhin war sie sanft geschwungen.

Ich hatte Julie am frühen Abend in der Wohnung angetroffen, hatte geschrien und getobt, hatte – im übertragenen Sinn – meinen Kopf gegen die Wand geknallt. Julie hatte mich eine Weile gewähren lassen und dann darauf beharrt, dass unser Abend nur noch dadurch zu retten sei, dass wir uns anzogen und zusammen die Stadt unsicher machten. Sie hatte inzwischen ein bisschen zugenommen und sah in einem weiteren meiner Kleider, einem schwarzen mit Chiffonärmeln, absolut umwerfend aus. Ich trug mein knallenges rosa Kleid für spezielle Gelegenheiten, das ich mir mal gekauft hatte, weil ich mich darin wie die Hauptperson aus einem jener Bluessongs fühlte, in denen sich der Sänger darüber beklagt, von einer teuflischen Frau von zu Hause weggelockt worden zu sein. Ich hoffte irgendwie, jemand würde auf uns zukommen und uns erklären, dass wir mit unserem Outfit gegen die städtischen Verordnungen verstießen.

Ich glaube, ich brachte Julie sofort in Verlegenheit, indem ich zwei Margaritas bestellte, was wahrscheinlich typisch für die Neunziger-, wenn nicht sogar für die Achtzigerjahre war, aber ich brauchte dringend etwas schnell Wirkendes.

»Weißt du, Rosa ist wirklich deine Farbe«, erklärte Julie, nachdem wir den ersten Schluck getrunken hatten. »Das passt irgendwie gut zu deinen grauen Augen.«

»Und zu meiner Narbe.«

»Sag doch so was nicht!«

»Ich denke, es wird langsam besser«, meinte ich. »Vor nicht allzu langer Zeit habe ich noch vom Phantom der Oper gesprochen, erinnerst du dich? Inzwischen fürchte ich mich nicht mehr davor, dass die Leute mich so sehen könnten. Eher glaube ich, dass sie mich für das Opfer einer missglückten Schönheitsoperation halten.«

Julie gab mir keine Antwort. Stattdessen berührte sie mein Gesicht, drehte es so hin, dass die betroffene Seite ganz im Licht war. Sie musterte sie, als würde sie einen dekorativen Gegenstand in meiner Wohnung in Augenschein nehmen. Ich musste daran denken, wie die kleine Emily die Narbe mit dem Finger nachgezeichnet hatte. Nachdem Julie mit ihrer Analyse fertig war, lächelte sie.

»Sie sieht aus, als könnte sie eine Geschichte erzählen.«

»Die einzige Geschichte, die diese Narbe erzählt, ist, wie wenig Zeit er hatte.«

Julie verzog das Gesicht, und ich entschuldigte mich.

Nachdem wir uns beide noch einen zweiten Drink bestellt hatten, lenkte ich das Gespräch auf sie. Sie sprach über Reisen, über schreckliche und ein paar nette Männer, über ihre Pläne. Plötzlich fragte sie mich, ob ich mitkommen wolle, und ich überraschte mich selbst mit dem Gedanken: Tja, warum eigentlich nicht? Warum nicht alles stehen und liegen lassen und weggehen? Als mein zweiter Drink zur Neige ging, dachte ich bereits: Warum nicht alles stehen und liegen lassen und noch heute Abend aufbrechen?

Wir fanden einen Tisch und bestellten eine Flasche Wein und jede einen Salat, aber dann erschien mir das nicht mehr genug. Ich hatte plötzlich Heißhunger auf rotes Fleisch. Julie schien ein wenig blass zu werden, als es serviert wurde: dünne Scheiben rohes Rindfleisch mit feinen Parmesanraspeln, beträufelt mit Olivenöl und Zitronensaft. »Eigentlich bin ich eine richtige Fleischfresserin«, erklärte sie. »Aber ich glaube, ich mag es einfach lieber, wenn das Fleisch einen schönen Braunton hat.«

Ich versuchte, beim Thema zu bleiben und weiter über Julie und ihr Leben zu sprechen. Aber es half nichts. Ich war wie ein rauchender Vulkan, und noch während wir in unseren Salaten herumstocherten, brach der Vulkan aus, und ich begann mit einem feurigen Bericht über die letzten zwei Tage.

»Ja, Oban hat mir zugehört«, erklärte ich, nachdem ich unsere Gläser ein zweites Mal gefüllt hatte. »Zumindest hat er sich angehört, was ich zu sagen hatte. Das trifft es wohl am ehesten. Dann hieß es sinngemäß bloß: Der Fall ist abgeschlossen, verschwenden Sie nicht unsere Zeit, versuchen Sie ja nicht, uns davon zu überzeugen, dass das Leben komplizierter ist, als wir dachten, und zwingen Sie uns nicht, unseren Job gewissenhaft zu machen.«

Lachend hielt ich inne. Ich hatte mich dabei ertappt, wie ich mit dem Zeigefinger wild in Julies Richtung gestikulierte und sie ein wenig zurückgewichen war.

»Ich bin nicht Oban«, meinte sie, ebenfalls lachend.

»Mich musst du nicht überzeugen. Oder doch, eigentlich schon. Ich muss nämlich zugeben, dass ich noch nicht so ganz verstehe, wovon du eigentlich sprichst. Willst du wirklich darauf hinaus, dass die nette Fotografin diesem seltsamen Doll dabei geholfen hat, Leute umzubringen?«

»Nein, nein, Doll hatte nichts damit zu tun. Sie hat ihrem Mann geholfen, Gabriel.«

Julie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Rotwein.

»Ich weiß nicht«, meinte sie. »Wahrscheinlich hätte ich dir diese Frage schon vor unseren drei Drinks stellen sollen.

Ich meine, das sind doch nette Leute. Er arbeitet für ein Theater. Warum um alles in der Welt hätten sie diese Frauen umbringen sollen?«

»Und Doll.«

»Wie bitte? Doll ist doch von anderen Leuten umgebracht worden, oder nicht?«

»Nein.«

»Aber du hast mir erzählt, dass sie sogar eine Nachricht hinterlassen haben.«

»Ja, das stimmt. ›Mörderischer Bastard‹, Letzteres mit einem lächerlichen Fehler. Das war absolut erbärmlich, aber ich war von Dolls Anblick so geschockt, dass ich nicht weiter darüber nachdachte. Glaubst du, jemand, der nicht mal ›Bastard‹ richtig schreiben kann, würde ein Wort wie ›mörderisch‹ gebrauchen? Weißt du noch, was ich über die Leichen von Lianne und Philippa gesagt habe? Ihre Verletzungen sahen aus, als hätte jemand ohne große Überzeugung den Psychopathen gespielt. Du solltest mal sehen, was ein richtiger Psychopath mit einem Frauenkörper anstellt.«

»Ich glaube, darauf kann ich verzichten«, erwiderte Julie.

»Demnach waren das also nette Mörder?«

»Sie haben es zumindest nicht aus Spaß an der Freude getan, sondern weil sie das Gefühl hatten, es tun zu müssen.«

»Aber warum, zum Teufel?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, aber das macht nichts. Das ist das Gute daran. Vorher passte nichts zusammen, jetzt passt alles. Wie sich herausgestellt hat, gab es eine Verbindung zwischen diesem armen Mädchen, Daisy, und Gabe Teale. Ich habe mich gestern mit einer Freundin von ihr getroffen, die mir erzählt hat, Daisy habe im Sugarhouse gearbeitet. Lianne hat sich wegen Daisy Gedanken gemacht und wird bald darauf ermordet.

Außerdem habe ich herausgefunden, dass Philippa Burton auf der Suche nach Lianne war.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Die Notiz, die ich in ihrem Zimmer gefunden habe, beweist, dass sie auf eine Verbindung zwischen Lianne und Bryony gestoßen war. Prompt wird auch sie ermordet. Jetzt habe ich den Beweis erbracht, dass Bryony an Philippas Entführung beteiligt war.«

»Hast du das wirklich?«, fragte Julie skeptisch.

»Absolut. Wo war ich vorhin stehen geblieben?«

»Weiß nicht.«

»Michael Doll. Der so genannte Überfall auf Bryony hat nie einen Sinn ergeben. Nach den vielen Zeitungsberichten über Michael Doll waren die meisten Leute davon überzeugt, dass er Lianne umgebracht hatte. Für Gabriel und Bryony aber bedeutete es nur, dass er am Tatort gewesen war. Vielleicht hatte er etwas gesehen. Vielleicht hatte er sich sogar mit ihnen in Verbindung gesetzt und sie erpresst. Sie unternahmen einen halbherzigen Versuch, ihn zu überfallen, ihm eine über den Kopf zu ziehen und ihn in den Kanal zu werfen, was auch immer, vielleicht wollten sie es wirklich so aussehen lassen, als wären es Leute von einer Selbstschutzgruppe gewesen, aber dann taucht plötzlich dieser Terence Mack auf, Bryony landet in seinen Armen, Gabe sucht das Weite, und Doll hat keinen blassen Schimmer, was eigentlich vor sich geht, sodass es für alle nach einem Überfall auf Bryony aussieht. Kein Wunder, dass sie in einem so traumatisierten Zustand war.«

»Und …«

»Und deswegen begeben sie sich – nein, wahrscheinlich nur Gabe, denn Bryony gilt ja inzwischen als gefährdet und steht unter Polizeischutz – in Dolls Wohnung, um es beim zweiten Mal richtig zu machen. Seit die beiden Philippa dazu gebracht hatten, Gabe auf einen kurzen Plausch zu seinem Auto zu begleiten, war Bryony ja im Besitz von Emilys Schnabeltasse. Nun bringt Gabe Doll um und lässt die Tasse zurück. Doll ist tot, endgültig erledigt, und der Fall ist abgeschlossen.«

Julie verteilte die letzten Tropfen Wein auf unsere Gläser.

»Noch eine?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete ich. »Ich bin schon am Ausnüchtern.«

»Klingt aber nicht danach«, meinte sie. »Mir geht das alles ein bisschen zu schnell. Es war doch nicht nur die Schnabeltasse, oder? Da war auch noch dieser Lederbeutel.

Glaubst du wirklich, dass er den absichtlich zurückgelassen hat? Da wäre er aber ein ziemliches Risiko eingegangen.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, entgegnete ich.

»Ich glaube nicht, dass das Absicht war. Du hättest diesen Raum sehen sollen. Überall nur Blut. Gabe selbst muss von oben bis unten bespritzt gewesen sein.«

»Falls er wirklich dort war«, fügte Julie hinzu.

»Er war dort. Er ist voller Blut, zieht sich aus, um sich im Bad zu waschen, vergisst den Beutel. Das Ding wird gefunden, aber wie sich herausstellt, ist das nicht weiter schlimm, weil die Polizei es für eine weitere von Dolls Trophäen hält.«

Julie schwieg einen Moment. Sie sah aus, als müsste sie die vielen Informationen erst mal auseinander dividieren.

»Und das alles hast du Oban in fünf Minuten reingedrückt?«, fragte sie schließlich.

»Er hat die Kurzversion bekommen.«

»Kein Wunder, dass er dich rausgeschmissen hat.«

»Du bist nicht überzeugt?«

»Ich weiß nicht. Das muss sich in meinem Kopf erst mal ein bisschen setzen. Fest steht, dass ich noch einen Drink brauche, egal, was du dazu sagst.«

Sie bestellte uns zwei Brandys. Als sie gebracht wurden, nahm sie sofort einen Schluck und verzog das Gesicht.

»Also, was wirst du jetzt unternehmen? Hast du vor, es noch mal bei Oban zu versuchen?«

Ich schnippte mit einem Finger gegen mein Glas. Es klirrte leise.

»Nein«, antwortete ich nachdenklich. »Ich glaube, sein guter Wille mir gegenüber ist aufgebraucht. Keine Ahnung, was ich jetzt machen werde. Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Weißt du, dass Paul McCartney, nachdem er sich ›Yesterday‹ ausgedacht hatte, tagelang grübelte, wo er den Song schon gehört hatte? Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er tatsächlich von ihm war. Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich vielleicht Muster sehe, wo gar keine sind.« Ich griff nach meinem Glas und nahm einen Schluck. »Vielleicht sollte ich sie einfach besuchen und darauf ansprechen.«

»Wen?«

»Bryony und Gabe.«

»Wie bitte? Du willst ihnen sagen, dass du sie für Massenmörder hältst?«

»Nein, ich würde nur eine kleine Andeutung machen, sie ein wenig beunruhigen. Vielleicht unternehmen sie dann was.«

Julie leerte ihr Glas. »Wenn sie unschuldig sind, werden sie gar nichts unternehmen«, antwortete sie. »Und wenn nicht – vielleicht einen weiteren Mordversuch. An dir.«

»Etwas Besseres fällt mir nicht ein.«

Nun war es an Julie, mit dem Finger auf mich zu deuten.

Ihre Hand zitterte ein bisschen. »Wie viel hast du getrunken?«, fragte sie.

»Zwei Margaritas. Ungefähr eine Flasche Wein. Und diesen Brandy.« Ich kippte den letzten Schluck hinunter.

»Genau«, sagte Julie. »Deswegen hoffe ich, dass nur der Alkohol aus dir spricht. Trotzdem macht mir der letzte Teil unseres Gesprächs Sorgen. Ich bin völlig sicher, dass sich morgen früh keine von uns beiden an die Einzelheiten dieses Abends erinnern wird. Ich jedenfalls nicht.

Trotzdem möchte ich, dass du mir versprichst, nichts wirklich Dummes zu tun. Versprichst du mir das?«

»Ich versprech’s«, antwortete ich lächelnd.

»Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll.« Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und schüttelte mich, als wollte sie mich aufwecken. »Kit, merkst du denn nicht, dass das, was du da tust, absoluter Wahnsinn ist? Ich meine das wirklich ernst!«

»Nein, ich …«

»Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, sich in Gefahr zu bringen, wenn es dafür einen guten Grund gibt.

Selbst dann würde ich es nicht empfehlen.« Sie legte eine kurze Pause ein und holte tief Luft, ehe sie fortfuhr: »Aber du sprichst davon, dich völlig grundlos in Gefahr zu bringen. Als ob das Leben dieser zwei toten Frauen irgendwie wichtiger wäre als dein eigenes. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja. Aber ich sehe das nicht so.«

»Klar, du siehst das Ganze von hinten nach vorn und von innen nach außen. Du versuchst, Tote zu retten. Das kannst du nicht.«

»Ich weiß.«

Sie schob ihr Gesicht noch näher an meines heran und wiederholte voller Nachdruck: »Du kannst keine Toten retten, Kit. Du kannst sie nicht wieder lebendig machen.

Lass es sein!«

45. KAPITEL

Als ich noch ein Teenager war, ließ mich mein Vater immer ein großes Glas Milch trinken, bevor ich zu einer Party ging. Er sagte, das kleide den Magen aus. Ich hätte gestern ein Glas Milch trinken sollen, dachte ich, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Das Licht, das durch meine halb zugezogenen Vorhänge hereinschien, tat meinen Augen weh, noch bevor ich sie geöffnet hatte, und mein Mund fühlte sich trocken an. Vorsichtig spähte ich auf den Wecker. Halb sieben. Ich würde mir noch fünf Minuten gönnen. Nur fünf, mehr nicht. Nie hatten sich mein Kissen so weich, meine Gliedmaßen und Augenlider so schwer angefühlt.

Aus Julies Raum drang heftiges Schnarchen. Ich öffnete ein Auge. Zwanzig vor sieben. Als ich mich aufsetzte, hatte ich einen Moment das Gefühl, als würde mein Kopf gleich zerspringen, aber daraus wurde rasch ein leichtes, erträgliches Pochen. War doch gar nicht so schlimm. Ich ging ins Bad und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Dann zog ich mich so schnell und leise wie möglich an.

Bevor ich aufbrach, trank ich drei Glas Wasser. Ich lechzte nach starkem schwarzem Kaffee, wagte aber keinen zu machen, weil ich damit womöglich Julie aufgeweckt hätte. Sie würde wahrscheinlich die Tür absperren und den Schlüssel zum Fenster hinauswerfen, wenn sie mitbekäme, wo ich hinwollte. Aber ich hatte mir alles genau überlegt.

Es war ein dunstiger Morgen. Die Häuser am Ende der Straße waren nur verschwommen zu erkennen, und die Autos fuhren mit Licht. Später würde es wahrscheinlich sonnig und warm werden, aber noch war es eisig kalt. Ich hätte eine Jacke mitnehmen oder statt meines dünnen Baumwollshirts einen Pulli anziehen sollen. Es herrschte schon relativ viel Verkehr. In London wird es nie ganz dunkel, nie ganz ruhig. Trotzdem schaffte ich es bis halb acht. Das war gut. Bestimmt standen Theaterdirektoren nie vor acht Uhr auf.

Die Vorhänge im Haus der Teales waren alle noch zugezogen, und es schien nirgendwo Licht zu brennen.

Gut. Ich versuchte es mir auf meinem Autositz bequem zu machen, da ich nicht wusste, wie lange ich hier würde sitzen müssen. Ich hätte mir wenigstens unterwegs eine Tasse Kaffee besorgen und etwas zu lesen kaufen sollen.

Das Einzige, was ich hatte, war die Betriebsanleitung des Wagens und eine zehn Tage alte Zeitung. Ich las all die bereits wieder vergessenen Geschichten über ein Model hier und einen Krieg dort, einen toten Jungen und einen Internet-Millionär. Mir war kalt, und mein ganzer Körper fühlte sich steif an. Ich fuhr mir durchs Haar, drehte es im Nacken zu einem Knoten zusammen. Dann schaute ich in den Rückspiegel und zog beim Anblick meines verkaterten Gesichts angewidert eine Grimasse. Ich rutschte nervös auf meinem Platz herum. Die Vorhänge der Teales blieben geschlossen. Ich hätte doch länger schlafen können.

Um Viertel vor neun ging oben ein Licht an. Mein Mund war trocken. Warum bin ich eigentlich hergekommen?

Was um alles in der Welt mache ich hier?

Um fünf vor neun wurde der Vorhang aufgezogen, und einen kurzen Moment sah ich Gabriel am Fenster stehen.

Ich glitt ein Stück tiefer in den Sitz und spähte mit müden Augen zum Haus hinüber. Ich musste dringend aufs Klo.

Ein paar Minuten später wurden auch unten die Vorhänge aufgezogen. Ich sah zwei Gestalten. Sie waren also beide auf. Ich stellte sie mir in ihrer schönen Küche vor, wie sie Kaffee machten, Brot toasteten, miteinander über ihre Pläne für den Tag sprachen, sich mit einem Kuss verabschiedeten. Die Haustür blieb geschlossen. Ich könnte nach Hause fahren, dachte ich, und mich wieder ins Bett legen. Julie schlief wahrscheinlich noch.

Endlich ging die Tür auf, und Gabriel erschien. Er blieb einen Moment auf der Treppe stehen, fasste an seine Jackentaschen, um sicherzugehen, dass er seine Schlüssel dabeihatte, und rief seiner Frau über die Schulter noch etwas zu. Er trug eine schwarze Jeans und eine graue Wolljacke und sah aus wie die Leute, die ich kannte, wie einer von meinen Freunden.

Ich musste noch ein bisschen warten. Ich starrte auf die Uhr im Wagen. Nach zehn Minuten stieg ich aus. Es war noch nicht zu spät, ich konnte es mir nach wie vor anders überlegen. Es war erst zu spät, als ich lauter als nötig an die Haustür klopfte und drinnen Schritte hörte.

»Ja?«

Bryony war noch im Bademantel. Sie hielt ihn oben mit einer Hand zu, genau, wie ich es immer tat. Benommen starrte sie mich an, als hätte ich sie aus dem Bett geholt.

Sie schluckte heftig. »Bryony«, sagte ich in herzlichem Ton, »ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich war gerade auf dem Weg zu einem Patienten, und wie ich so dahinfahre, sehe ich plötzlich das Schild mit dem Namen Ihrer Straße vor mir, und nachdem ich noch viel zu früh dran bin, habe ich mir gedacht, ich schaue einfach auf gut Glück bei Ihnen vorbei.«

»Kit?«, murmelte sie.

»Und um ehrlich zu sein, könnte ich vor meinem Termin noch ein Klo und eine Tasse Kaffee gebrauchen. Ich habe Sie doch hoffentlich nicht geweckt?«

»Nein, nein, entschuldigen Sie.« Sie bemühte sich sichtlich um Fassung. »Ich habe nur nicht damit gerechnet

– aber kommen Sie doch herein. Ich setze gleich Wasser auf. Die Toilette ist hier den Gang entlang.« Sie deutete mit der Hand in die entsprechende Richtung. Ich registrierte ihre abgekauten Nägel. Wie die von Lianne.

»Danke.«

Als ich zurückkam, gab sie gerade Kaffeebohnen in eine Mühle. »Sie sehen müde aus«, sagte ich. Sie sah mehr als müde aus. Sie schien stark abgenommen zu haben. Ihre Schlüsselbeine traten scharf hervor. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, ihr schönes Haar ungepflegt. An der linken Wange hatte sie einen leichten Ausschlag. Als sie nach dem Wasserkessel griff, um den Kaffee aufzugießen, sah ich, dass sich rund um ihr Handgelenk ein rotes Ekzem zog. »Wie geht es Ihnen?«, fragte ich.

»Nicht so besonders.«

»Ja, das hat Gabriel schon gesagt. Hat er Ihnen erzählt, dass ich kürzlich im Sugarhouse war?«

»Nein.«

»Hat Sie die Angst krank gemacht?«, fragte ich.

»Vielleicht«, antwortete sie langsam. Sie füllte zwei Tassen mit Kaffee und stellte sie auf den Tisch. »Möchten Sie etwas dazu essen – oder müssen Sie schon zu Ihrem Termin?«

»Ich habe noch jede Menge Zeit«, gab ich fröhlich zurück. »Aber danke, ich möchte nichts essen. Mit dem Kaffee bin ich wunschlos glücklich.« Obwohl er noch sehr heiß war, nahm ich einen Schluck. »Waren Sie schon beim Arzt?«

»Weshalb?«

»Nun ja, wegen Ihres Zustands.«

»Das wird schon wieder. Jetzt ist ja alles wieder in Ordnung, nicht?«

»Wirklich?«

»Ich meine, es ist vorbei. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen.« Ich sah sie an. Sie fingerte nervös an ihrer Tasse herum. »Zumindest haben die von der Polizei das gesagt.«

»Ich weiß. Polizisten haben es gern, wenn ein Fall abgeschlossen ist. Aufgeklärt und abgeschlossen. Das wird im Pub groß gefeiert. Und dann geht’s weiter zum nächsten Fall.«

»Da kenne ich mich nicht so aus.«

»Aber für Sie und mich ist es anders, stimmt’s?«

»Vielleicht sollte ich mich jetzt besser anziehen.« Sie stand auf, hielt wieder ihren Bademantel zu. »Es ist schon spät. Ich habe heute einiges zu erledigen.«

»Sie können nicht vergessen, was Sie durchgemacht haben. Die Erinnerungen stecken in Ihrem Kopf.« Ihre Lider wirkten schwer, als kostete es sie größte Mühe, die Augen offen zu halten. »Und was mich angeht, kann ich einfach nicht aufhören, mir bestimmte Fragen zu stellen.

Warum hat ein Opfer den Namen eines weiteren Opfers aufgeschrieben, bevor sie starb? Wie konnte ein Mörder eine Frau am helllichten Tag, noch dazu vor den Augen ihres Kindes, aus einem öffentlichen Park entführen?

Warum hat ein verlässlicher Zeuge Michael Doll für einen unbeteiligten Zuschauer gehalten?«

»Da kann ich Ihnen auch nicht helfen …« Bryonys Lippen wirkten blutleer. »Ich weiß es nicht.«

»Warum hat sich eine Frau von einem Spielplatz entführen lassen, ohne zu schreien oder um Hilfe zu rufen, und warum hat das Kind kein Theater gemacht, als seine Mutter verschwand?«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Die Polizei hat das alles nicht besonders interessiert. Schon gar nicht mehr, seit Michael Doll tot ist. Ich habe ein Problem damit, die Dinge schnell loszulassen. Das sagen alle, die mich kennen. Wie auch immer, in diesem Fall habe ich lauter Bruchstücke einer Geschichte und versuche schon die ganze Zeit, sie zusammenzusetzen. Stört es Sie, wenn ich Ihnen davon erzähle?« Sie reagierte nicht. »Da war ein Mädchen namens Daisy. Daisy Gill. Vierzehn Jahre alt, auch wenn sie vielleicht älter ausgesehen hat. Ich bin ihr nie persönlich begegnet. Ich habe nur ihr Foto gesehen und mit ihren Freunden gesprochen. Sie hatte eine unglückliche Kindheit, so viel weiß ich. Eltern, die sie nicht haben wollten, Pflegeeltern, die sie im Stich ließen.

Oder ihr noch Schlimmeres antaten. Sie brauchte dringend Freunde. Sie brauchte Erwachsene, denen sie vertrauen konnte und die die Welt für sie ein bisschen sicherer machen würden, Leute wie Sie oder ich können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, wie ihr Leben gewesen sein muss. Sie war oft wütend und immer einsam, immer voller Angst.«

Mit einem schabenden Geräusch zog Bryony ihren Stuhl wieder heran und setzte sich. Sie legte das Kinn in die Hände, und zum ersten Mal an diesem Tag sahen mich ihre karamellfarbenen Augen direkt an. Die Farbe bildete einen starken Kontrast zu ihrer bleichen Haut.

»Daisy hatte eine Freundin. Lianne. Ich weiß nicht, wie Lianne in Wirklichkeit geheißen hat oder wo sie hergekommen ist, aber ich weiß, dass auch sie eine unglückliche Kindheit hinter sich hatte. Dass sie oft sehr verzweifelt gewesen sein muss. Aber wenigstens hatten Lianne und Daisy einander. Vielleicht war das ihre Rettungsleine. Sie planten, miteinander zu leben und ein Restaurant aufzumachen, wenn sie beide alt genug wären.

Sie wollten Pasta kochen, Makkaroni mit Käse und solche Sachen. Das habe ich von ihren Freunden erfahren.«

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Daisy hat sich umgebracht. Sie hat sich in dem Heim, das ihr Zuhause war, in ihrem tristen, kleinen Zimmer aufgehängt. Ein paar Monate später wurde dann Lianne unten am Kanal ermordet, kurz darauf Philippa Burton –

beide von derselben Person. Philippa kannte Lianne – wir wissen nicht, woher oder warum sie sich kannten. Lianne kannte Daisy. Und wie der Zufall so spielt, hat Daisy im Sugarhouse gearbeitet. Es hängt also alles miteinander zusammen.«

»Es hängt nicht wirklich zusammen«, antwortete Bryony.

»Das hier ist nun mal ein kleiner Stadtteil. Außerdem war ich ja auch ein Opfer.«

»Michael Doll.« Einen kurzen Moment blitzten vor meinem geistigen Auge die letzten Bilder von ihm auf.

Michael Doll noch am Leben. Michael Doll tot. »Er ist bloß zufällig in die Geschichte hineingestolpert. Mehr war es nicht. Er saß einfach nur dort unten am Kanal, wo ihn niemand störte, und fing seine armen Fische, um sie hinterher wieder ins Wasser zu werfen.«

»Er hat diese Frauen umgebracht.« Sie stützte die Hände vor sich auf den Tisch und setzte sich aufrechter hin.

»Er war schrecklich zugerichtet«, entgegnete ich. »Ich habe seine Leiche gesehen, müssen Sie wissen.«

»Ich wollte immer schon fotografieren«, sagte Bryony mit leiser Stimme. »Seit ich mit neun Jahren von meinem Onkel eine billige kleine Sofortbildkamera zum Geburtstag bekommen hatte. Es ist seltsam, wie man das plötzlich weiß – auf jeden Fall hatte ich immer das Gefühl, die Welt klarer zu sehen, wenn ich sie durch eine Kamera betrachtete, als würde sie dann mehr Sinn ergeben. Durch eine Kamera können sogar hässliche Dinge schön aussehen. Sinnlose Dinge ergeben plötzlich einen Sinn.«

Sie blickte zum Foto des kleinen Zigeunernmädchens auf.

»Und ich bin gut darin. Es geht ja nicht nur darum, das eigentliche Foto zu machen, man muss erst mal wissen, wonach man sucht. Oft passiert wochenlang gar nichts, und dann sehe ich eines Tages plötzlich etwas. Ein Gesicht. Irgendwas Besonderes. Die Art, wie das Licht fällt. Das ist dann, als würde es in meinem Kopf Klick machen. Irgendwie gibt mir das Fotografieren außerdem das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Eine Art Zeitzeugin zu sein.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die bleichen Lippen. »Für die Gesellschaft, aber auch für mich selbst.

Wie Gabe mit seinem Theater. Er ist auch sehr gut in seinem Job.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich habe es gesehen.« In der Küche war es sehr still, als hätte die Welt draußen aufgehört zu existieren.

»Wir sind auch in die Geschichte hineingezogen worden«, erklärte sie mit einem langen Seufzer. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, oder? Es ist vorbei. Die Polizei hat gesagt, dass es vorbei ist und dass mir nichts mehr passieren kann. Sie haben das auch gesagt.

Irgendwann wird es mir wieder besser gehen. Aber ich bin noch so müde. Ich bin so müde, dass ich hundert Jahre lang schlafen könnte.«

Hinter uns klickte es leise, und im Raum wurde es noch eine Spur stiller. Alles schien plötzlich klar und deutlich hervorzutreten: die Topfpflanze auf dem Fensterbrett, die Tassen an ihren Haken, die winzige Spinnwebe an der Glühbirne, die Sonne, die von den Kupferpfannen reflektiert wurde und geometrische Muster an die Wand warf, meine Hände, die ich friedlich im Schoß gefaltet hatte. Die einzigen Geräusche, die ich noch wahrnahm, waren mein eigenes Atmen und das leise Ticken meiner Uhr. Es war zweiundzwanzig nach zehn. Bryony saß völlig reglos da.

Schließlich drehte ich mich um. Gabriel stand im Türrahmen.

Mit einem zweiten leisen Klicken zog er die Tür hinter sich zu und starrte uns an. Erst Bryony, dann mich, dann wieder sie. Niemand sagte ein Wort. Die Sonne schien durchs Fenster herein.

Ich wollte etwas sagen, ließ es dann aber bleiben. Was sollte das bringen? Ich hatte nichts mehr zu sagen.

Stattdessen legte ich einen Finger an meine Wange und zeichnete meine Narbe nach, vom Haaransatz bis hinunter zum Kinn. Irgendwie tröstete mich das. Es rief mir in Erinnerung, wer ich war.

»Ich habe meine Tasche vergessen«, erklärte Gabriel.

»Ich gehe jetzt wohl besser«, bemerkte ich, rührte mich aber nicht von der Stelle.

»Sie war gerade in der Gegend«, meldete sich Bryony mit ihrer neuen, matten Stimme zu Wort. Gabriel nickte.

»Ich muss mich wieder hinlegen«, murmelte sie und stand unsicher auf. »Ich bin krank.«

»Ich wollte bloß mal vorbeischauen«, sagte ich. »Wir haben uns ein bisschen unterhalten.«

»Worüber?« Er sah seine Frau an.

»Sie hat über das gesprochen, was passiert ist«, antwortete Bryony. »Sie hat ein Mädchen erwähnt. Wie war noch mal ihr Name?«

»Daisy«, sagte ich. »Daisy Gill.«

»Sie hat sich umgebracht. Sie war eine Freundin von Lianne. Und sie hat im Sugarhouse gearbeitet.«

»Was soll denn der Blödsinn?«, entgegnete Gabriel müde.

»Es hat doch geheißen, dass alles vorbei sei. Was sagt denn die Polizei dazu?«

»Es ist bloß sie«, antwortete Bryony fast lautlos. »Sie ist allein.«

Er kam auf mich zu. »Was wollen Sie?«, fuhr er mich an und streckte die Hand aus. Erst berührte er mich nur leicht an der Schulter, aber dann packte er mich plötzlich am TShirt und zog mich hoch.

»Gabe!«, rief Bryony erschrocken.

Ich blickte in sein erschöpftes Gesicht, seine blutunterlaufenen Augen. Hinter ihm sah ich Bryonys bleiches Gesicht, hinter ihr eine geschlossene Tür. Ich saß in der Falle.

»Wollen Sie die ganze Welt umbringen?«, fragte ich ihn.

Seine Hände fühlten sich warm an, als er sie mir um den Hals legte. Ich musste an das Gesicht meiner Mutter denken, deren Foto ich immer dabeihatte, als könnte sie mich beschützen. Ich dachte daran, wie sie lächelnd im Gras saß. Gabriels Gesicht war inzwischen ganz nahe vor meinem, und ich hörte ihn flüstern: »Wir wollten das nicht.« Sein Gesicht war zu einer furchtbaren Grimasse verzogen, seine Augen halb geschlossen, als könnte er den Anblick dessen, was er tat, nicht ertragen. Ich schlug nach ihm, aber sein Körper war hart und unnachgiebig wie eine Mauer. Also ließ ich locker, und er begann zu drücken.

Die Welt bestand nur noch aus Rot und Schwarz und Schmerz und einer weinenden Stimme im Hintergrund.

Dann, nachdem ich meinen Körper so schlaff gemacht hatte, wie ich nur konnte, als würde ich gleich bewusstlos, riss ich die rechte Hand mit aller Kraft hoch, spreizte meine Finger zu einem V und stach damit nach seinen Augen. Ich spürte etwas Weiches, Feuchtes und hörte ihn aufschreien. Seine Finger ließen für einen Moment locker, dann schlossen sie sich wieder um meinen Hals. Ich fuhr mit meinen Fingernägeln über seine Wange, spürte, wie seine Haut zu bluten begann, hakte meine Finger dann in seinen schreienden Mund und riss sie zurück, so fest ich konnte. Sein Brüllen dröhnte in meinen Ohren, der Schmerz pulsierte durch meinen Kopf, und alles, was ich sehen konnte, war rot. Blut, nichts als Blut. Ich stieß ihm die Finger immer wieder ins Gesicht, traf auf etwas Weiches, spürte sein klebriges Blut, seinen Speichel, das Nass seiner Augen.

»Bryony. Gib ihr den Rest, verdammt noch mal! Bryony!«

Etwas Schwarzes kam durch den roten Nebel auf mich zu.

Ich schloss die Augen, hörte wenige Zentimeter von mir entfernt ein lautes Krachen, das wie ein Schuss klang. Seine Finger lösten sich von meinem Hals. Ich landete auf dem Boden, spürte das raue Holz der Dielen an meiner Wange.

Ich hörte erneut ein Geräusch und sah schemenhaft ein schwarzes Fotostativ ein weiteres Mal durch die Luft sausen. Dann landete Gabriel auf mir. Sein Körper deckte meinen zu, sein Blut lief mir übers Gesicht. Ich hörte ihn keuchen und Bryony schreien. Nachdem ich ihn von mir runtergeschoben hatte, stand ich mühsam auf, obwohl die Welt um mich herum noch immer laut zu brüllen schien und der Boden unter meinen Füßen gefährlich schwankte.

Gabriel lag in seinem eigenen Blut. Er hatte eine klaffende Wunde am Kopf, sein Gesicht war aufgerissen und ein Auge völlig rot. Seine Brust aber hob und senkte sich noch.

Ich nahm Bryony das Stativ aus der Hand und führte sie, halb auf sie gestützt, zum Tisch, wo ich sie mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl drückte.

»Ich bin kein schlechter Mensch«, schluchzte sie. »Ich bin kein schlechter Mensch. Ich bin gut. Gut. Ein guter Mensch.

Das war alles bloß ein Irrtum. Ein schrecklicher Irrtum.«

46. KAPITEL

Der Besuchsraum im Untersuchungsgefängnis Salton Hill wirkte wie eine schmuddelige Cafeteria in einer sehr schlechten Gegend. Auf einer Seite befand sich sogar eine Durchreiche, an der eine Frau, die selbst wie eine Gefängnisinsassin aussah, Papptassen mit künstlich aussehendem Orangensaft oder Tee aus einem großen Metallbehälter füllte. Dazu gab es auf Plastiktellern Kekse mit Marmeladeklecksen in der Mitte. Kinder liefen schreiend heraus, Stuhlbeine kratzten über den Boden, und über allem hing Zigarettenrauch und der Geruch der Armut.

In Männergefängnissen sind alle möglichen Sorten von Verbrechern versammelt: Raubmörder, Psychopathen, Vergewaltiger, professionelle Betrüger, Drogendealer. In einem Frauengefängnis hingegen machen die meisten Insassinnen einen traurigen, hoffnungslosen, leicht verrückten Eindruck. Es gibt so gut wie keine Bankräuberinnen, es gibt keine Vergewaltigerinnen, und es gibt auch keine weiblichen Berufsbösewichte, die ein Jahr im Knast als eine Art Urlaub betrachten. Es handelt sich vielmehr um verzweifelte, verwirrte Frauen, die Ladendiebstähle begangen haben, weil sie nicht genug Geld hatten, oder ihr Baby mit einem Kissen erstickt haben, weil irgendwelche Stimmen ihnen den Befehl dazu gaben. Sie saßen um die Tische, eine Zigarette zwischen den Lippen, denn ohne Zigarette ging es nicht, und sprachen mit ihren scheuen, bestürzt dreinblickenden Müttern und Vätern, mit Freunden, mit ihren nervös herumzappelnden Kindern.

Die Frau, die am Eingang meinen Besucherschein kontrollierte, erklärte mir, dass Bryony bereits unterwegs sei, deswegen holte ich uns zwei Tassen Tee und eine Minipackung Kekse, außerdem zwei Päckchen Zucker und einen dieser kleinen Plastikspatel – als ob ein Plastiklöffel schon zu viel Luxus gewesen wäre. Nichts von dem, was ich schließlich auf ein Tablett aus fester Pappe lud, konnte als Waffe oder – nachdem es sich hier um ein Frauengefängnis handelte – zur Selbstverstümmelung verwendet werden.

Ich setzte mich an den mir zugewiesenen Tisch, Nummer vierundzwanzig, und nahm einen Schluck von meinem Tee, der so heiß war, dass ich mir die Oberlippe verbrannte. Noch ehe ich mich zurücklehnen und ein wenig sammeln konnte, erschien sie auch schon. Sie hatte natürlich ihre eigenen Sachen an, einen braunen Pullover mit rundem Ausschnitt, eine marineblaue Hose, dazu Tennisschuhe ohne Socken. Ich sah, dass sie noch immer ihr silbernes Fußkettchen trug. Ihren Ehering hingegen hatte man ihr abgenommen. An der entsprechenden Stelle war ihre Haut ein wenig heller. Ihr ungewöhnliches Haar war streng nach hinten gekämmt und im Nacken zusammengebunden, fiel aber immer noch auf. Sie war nicht geschminkt. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sorgfältig sie sich sonst immer hergerichtet hatte, auch an dem Morgen nach dem Überfall. Rund um ihre Augen entdeckte ich neue Falten, und sie sah extrem blass aus.

Wortlos nahm sie mir gegenüber Platz.

»Ich habe schon mal Tee für Sie geholt«, sagte ich und schob eine Tasse über den Tisch.

»Danke.«

Sie lehnte sich vor und griff nach den zwei Beuteln Zucker, riss sie nacheinander auf und sah fasziniert zu, wie er in die Tasse rieselte. Dann rührte sie den Tee mit hektischen Bewegungen um. Bei der Gelegenheit sah ich die Verbände an ihren Handgelenken. »Ich habe davon gehört«, bemerkte ich.

Sie schaute auf ihre Hände. »Ich habe es falsch gemacht«, sagte sie. »Jemand hat es mir erklärt. Die Leute schneiden alle quer, weil sie es im Fernsehen so gesehen haben. Aber da machen die Adern zu schnell wieder dicht.

Ich hätte längs schneiden sollen. Sie sind gekommen, um sich bei mir zu bedanken, nehme ich an.«

Der schnelle Themenwechsel überraschte mich. »Ich bin gekommen, weil Oban mir ausgerichtet hat, Sie wollten mich sehen. Aber ich schulde Ihnen tatsächlich Dank.

Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich gestorben. Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Das wird man mir doch bestimmt anrechnen, nicht?

Dass ich Ihnen das Leben gerettet habe.«

»Man wird es ganz sicher berücksichtigen«, antwortete ich.

»Ich habe kooperiert«, fuhr sie fort. »Ich habe der Polizei alles gestanden. Haben Sie die Zigaretten dabei?«

Ich griff in meine Jackentasche und zog vier Schachteln heraus. Nachdem ich mich kurz umgeblickt hatte, schob ich sie zu ihr hinüber. »Ist das in Ordnung?«, fragte ich.

»Solange sie noch original verpackt sind, ist es kein Problem. Sie befürchten bloß, dass man etwas hereinschmuggeln könnte.« Sie nahm eine Zigarette aus ihrer eigenen, bereits offenen Schachtel und zündete sie sich an. »Vorher habe ich nur noch eine Zigarette pro Woche geraucht, aber seit ich hier bin, denke ich mir: Warum nicht mehr? Es gibt hier nicht viel anderes zu tun.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Sie sah sich um und lächelte. »Ein ziemlicher Tapetenwechsel«, meinte sie. »Man rechnet nicht damit, eine Frau wie mich an einem solchen Ort anzutreffen, stimmt’s?«

Ich musterte sie, die Frau, die Lianne, Philippa und Michael Doll auf dem Gewissen hatte, und betrachtete dann die anderen Mitleid erregenden Frauen, die aus irgendeinem Grund einen Zusammenbruch erlitten hatten oder in Panik geraten und durchgedreht waren, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten.

»Ich lernte Gabe am College kennen. Er war jedermanns Liebling. Ich hatte vor ihm erst zwei Freunde gehabt und verliebte mich Hals über Kopf in ihn. Ich hielt mich für das glücklichste Mädchen der Welt. Eine Ironie des Schicksals, nicht wahr? Wäre ich nicht das Mädchen gewesen, das sich Gabe Teale geschnappt hat, dann säße ich jetzt nicht hier.«

»Ich nehme an, so könnte man immer argumentieren«, entgegnete ich. »Das ist nun mal der Lauf der Welt. Eins führt zum anderen.«

»Damit kann ich schlecht leben. Ich habe eher das Gefühl, in diese Lage gedrängt worden zu sein. Ich glaube, ein guter Mensch zu sein. Und ich habe Gabe geliebt, stand unter seinem Einfluss, und unter diesem Einfluss habe ich eine Entscheidung getroffen, das heißt, ich geriet in eine bestimmte Situation, und dann geriet ich in eine andere, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Endlich kämpfte ich dagegen an. Das war bei der Sache mit Ihnen.

Und jetzt bin ich hier.«

Sie schwieg einen Moment, wartete auf eine Antwort, aber ein Gefühl von Abscheu schnürte mir die Kehle zu, sodass ich kein Wort herausbrachte. »Wissen Sie, was das Komischste daran ist?«, fuhr sie fort. »Als ich Sie kennen lernte, nun ja, nicht im Krankenhaus, aber am nächsten Tag, als Sie zu uns kamen, da hatte ich das Gefühl, dass Sie die Sorte Frau wären, die ich gern als Freundin hätte.

Mit der ich gern zum Essen gehen und über alles reden würde.«

Ich bekam kaum Luft. Trotzdem musste ich irgendetwas sagen. Es kostete mich bereits große Anstrengung, einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Haben Sie das bei Lianne nicht so empfunden?«, fragte ich. »Oder bei Philippa?

Dass sie Ihre Freundinnen hätten sein können? Dass sie menschliche Wesen mit Hoffnungen und Ängsten waren, genau wie Sie? Mit einer Zukunft?«

Sie drückte ihre Zigarette in den kleinen Aschenbecher aus Alufolie, der vor ihr auf dem Tisch stand. In diesem Raum gab es nichts, was man packen und jemandem an den Kopf werfen konnte. »Ich wollte Sie sehen, weil mir sonst niemand eingefallen ist, mit dem ich sprechen könnte. Ich dachte, Sie würden mich verstehen, mich nicht verurteilen. Wie geht es übrigens Gabe? Haben Sie ihn gesehen?«

»Tut mir Leid«, antwortete ich. »Ich habe strikte Anweisungen, mit Ihnen nicht über Gabe zu sprechen. Das hat natürlich juristische Gründe. Aber es geht ihm besser.

Körperlich, meine ich.«

»Gut«, sagte sie. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei Ihnen. Sie kennen sich doch mit solchen Dingen aus, nicht wahr? Ich habe über alles genau nachgedacht. Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Das zählt doch als mildernder Umstand, oder?«

»Möglich«, erwiderte ich. »Aber vielleicht bin ich da nicht unvoreingenommen genug.«

»Ich finde es unfair, dass wir beide wie Mörder behandelt werden, als wären wir beide in gleichem Maß für das verantwortlich, was passiert ist. Sie sind eine Frau und noch dazu vom Fach, ich hatte gehofft, Sie würden verstehen, dass das Gabes Morde waren. Ich stand gewissermaßen unter seinem Einfluss, seiner Kontrolle.

Ich dachte, die Leute würden das verstehen. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, bin ich im Grunde auch eines seiner Opfer. Indem ich Sie gerettet habe, ist es mir endlich gelungen, mich dagegen aufzulehnen. Ich bin sozusagen wieder ich selbst geworden.«

Nach diesen Worten sah sie mir zum ersten Mal an diesem Tag richtig in die Augen. Wollte sie damit sagen, dass ich ihr etwas schuldete? Ihr Leben für meines?

»Was ist passiert?«, fragte ich. »Mit Daisy?«

»Nichts«, antwortete sie. »Sie hat sich umgebracht. Das wissen Sie doch.«

»Sie hatte etwas mit Ihrem Mann.«

»Darüber ist mir nichts bekannt. Tatsache ist, dass schon immer eine Menge junger Mädchen verrückt nach Gabriel waren. Das soll keine Rechtfertigung sein. Ich will auch gar nicht behaupten, dass es mir nichts ausgemacht hat, aber nach allem, was ich gehört habe, war dieses Mädchen ziemlich labil. Sie hat keine Anzeige bei der Polizei erstattet, oder?«

»Nein.«

»Na also. Das ist doch alles Blödsinn.«

»Sie war erst vierzehn, Bryony. Vierzehn

»Wie gesagt, davon weiß ich nichts. Tatsache ist aber, dass dieses andere Mädchen, Lianne, irgendwann total hysterisch bei uns aufgetaucht ist. Sie hatte völlig falsche Vorstellungen, was Daisy betraf. Sie hat sich aufgeführt, als stünde sie unter Drogen.«

»Ich habe ihren Autopsiebericht gelesen«, entgegnete ich.

»In ihrem Blut wurden keinerlei Spuren von Drogen gefunden.«

»Ich wollte damit ja auch nur sagen, dass sie völlig durchgeknallt war. Zuerst hat sie nur mit Gabe gesprochen. Ich kam dazu, als sie gerade anfing, um sich zu schlagen. Ich wusste erst gar nicht, was los war. Sie schrie herum und schlug nach Gabe und mir, und im nächsten Moment war sie auch schon hingefallen und dabei wohl mit dem Kopf gegen eine Kante geknallt. Es war ein richtiger Albtraum. Mir war überhaupt nicht klar, was eigentlich vor sich ging. Ich weiß bloß, dass sie plötzlich tot war und ich in Panik geriet. Wir haben versucht, sie wiederzubeleben.«

»Sie sind in Panik geraten«, griff ich ihre Formulierung auf.

»Und deswegen haben Sie und Gabe ihrer Leiche zahlreiche Stichwunden zugefügt. Rund um die Brüste und am Bauch. Und dann haben Sie sie am Kanal abgeladen.

Das war vielleicht Ihre Idee. Sie kannten die Gegend ja von Ihren vielen Spaziergängen.«

»Nein«, erwiderte sie gedankenverloren. »Nein, es war Gabes Idee. Er war hysterisch. Er hat gesagt, wir müssten es nach einem Mord aussehen lassen, einer Art von Mord, die niemand mit Leuten wie uns in Verbindung bringen würde. ›Uns‹, hat er gesagt. Er hat gesagt, wir würden da gemeinsam drinhängen. Die Sache hätte unser ganzes Leben ruinieren können, aber nun seien wir sicher. Er hat gesagt, er werde mich nicht gehen lassen.«

»Aber Sie waren noch immer nicht sicher, oder?«

»Nein, das waren wir nicht. Diese Frau …«

»Philippa Burton. Sie hatte einen Namen.«

»Ja, sie besaß unsere Adresse von Lianne. Sie ist zu uns gekommen und hat nach Lianne gefragt. Sie hat gewusst, dass sie bei uns gewesen war.«

»Warum?«

»Lianne hatte ihr von Gabe erzählt. Das hat sie zumindest behauptet.«

»Nein, ich meine, warum hat sie nach Lianne gefragt?«

»Was spielt das für eine Rolle? Gabe war völlig aufgelöst, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich versuche Ihnen nur zu erklären, warum das alles als Ganzes genommen so schlimm aussieht, aber wenn man es in einzelne Teile zerlegt, dann gibt es eine … eine Erklärung dafür.«

»Wollten Sie gerade sagen, eine harmlose Erklärung?«

Bryony schwieg einen Moment. Sie war inzwischen bei der dritten Zigarette angelangt. »Ja, das wollte ich, aber es hätte herzlos geklungen. Ich möchte nicht, dass Sie mich für herzlos halten, Kit. Die Meinung der meisten anderen Leute ist mir egal, aber ich möchte, dass Sie mich verstehen.«

»Wie ist das mit Philippa dann weitergegangen?«

»Gabe hat gesagt, er habe eine Idee. Er wolle mit ihr reden, sie zur Vernunft bringen. Wir haben ein Treffen mit ihr vereinbart.«

»In Hampstead Heath.«

»Ja. Ich wusste nicht, was passieren würde. Er hat zu mir gesagt, dass er mit ihr reden, ihr eine Geschichte auftischen wolle, die sie zufrieden stellen würde. Ich bin am Spielplatz geblieben und habe auf das kleine Mädchen aufgepasst. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte. Ich bin nicht mal sicher, ob er es selbst wusste. Er hat mir später erzählt, er sei in Panik geraten und auf sie losgegangen.«

»Er hat sie mit einem Hammer erschlagen und sie dann auf der anderen Seite der Heide abgeladen. Es ist also anzunehmen, dass er den Hammer dabeihatte.«

»Anzunehmen«, stimmte Bryony mir zu. »Das wird man ihm zur Last legen, nicht wahr?«

»Ja. Und Sie waren währenddessen bei Emily und haben mit ihr auf die Rückkehr ihrer Mutter gewartet?«

»Nach einer Weile bekam ich es mit der Angst zu tun.

Weder die Frau noch Gabriel kamen zurück. Deswegen habe ich mich aus dem Staub gemacht. Es waren jede Menge Leute da, ich wusste, dass ihr nichts passieren würde. Trotzdem empfinde ich deswegen die größten Schuldgefühle: weil ich ein kleines Mädchen einfach allein gelassen habe.«

»Verstehe«, sagte ich. »Und dann waren Sie schrecklich geschockt, als Sie nach Hause kamen und Gabe Ihnen erzählte, was passiert war.«

»Er war nicht da. Er ist einen ganzen Tag nicht nach Hause gekommen. Als er dann endlich auftauchte, hat er mir gestanden, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, sich umzubringen.«

»Außerdem musste er ja noch den Wagen reinigen.«

»Daran habe ich nie gedacht. Das Einzige, was ich tun konnte, war, das Ganze zu verdrängen. Ich fühlte mich wie im Fegefeuer. Am liebsten hätte ich es laut hinausgeschrien, es allen Leuten erzählt. Es tut schon gut, es bloß Ihnen zu erzählen. Ich habe mir die ganze Zeit so gewünscht, endlich jemandem die ganze Wahrheit sagen zu können.«

»Dann kam Michael Doll ins Spiel. Er hatte ebenfalls Pech. Genau wie Sie, meine ich. Der Ort, an dem Sie Liannes Leiche abgeladen haben, war zufällig der Ort, wo Mickey Doll den ganzen Tag beim Fischen saß. Das wussten Sie ja aus der Zeitung.«

»Richtig.«

»Was hatte er gegen Sie in der Hand? Hat er etwas gesehen?«

»Ich glaube nicht. Keine Ahnung. Gabe hat die Leiche dort abgeladen. Er hat niemanden gesehen.«

»Hat Gabe dabei etwas fallen lassen, das Doll fand?«

»Nein.«

»Was war es dann?«

»Nichts.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich glaube nicht, dass er etwas gewusst hat. Aber Gabe war mittlerweile völlig besessen von dem Gedanken, dass dieser Mann dort gewesen war und etwas wissen könnte.

Er hat gesagt, nur durch ihn könnten wir noch auffliegen.«

»Deswegen sind Sie nachts zum Kanal gegangen. Sie können nicht leugnen, dass Sie diesmal mit von der Partie waren.«

»Nein, ich war dabei, ich gebe es ja zu. Inzwischen hätte ich alles getan, um Gabe zu helfen, damit das alles endlich vorbei wäre.«

»Was war Ihr Plan? Ihm eine über den Kopf zu ziehen und in den Kanal zu werfen?«

Sie begann zu weinen. Darauf war ich vorbereitet. Ich reichte ihr ein paar Papiertaschentücher.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.

»Aber Sie sind dabei erwischt worden«, fuhr ich fort.

»Sie waren wirklich brillant. Die Täterbeschreibung, die Sie abgeliefert haben, nachdem Sie sich von Ihrem Trauma erholt hatten, war ein besonderer Geniestreich.

Der mysteriöse Verbrecher, der sich gerade so weit von den anderen Beschreibungen unterschied, dass plötzlich alle Zeugen unzuverlässig erschienen. Was für eine schauspielerische Leistung!«

»Es war nicht gespielt. Ich hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.«

»Und dann haben Sie Doll doch noch erwischt.«

»Das war Gabriel. Er hat gesagt, wenn es Doll nicht mehr gäbe und man ihm die Morde zur Last legen würde, wäre alles vorbei.«

»Was haben Sie dazu gesagt?«

»Ich hatte keinen eigenen Willen mehr. Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist.«

»Als Sie es am Spielplatz mit der Angst zu tun bekamen und Emily allein zurückließen, da nahmen Sie ihre Tasse mit. Das stellte sich später als sehr hilfreich heraus. Einer von Ihnen beiden, oder vielleicht sollte ich besser sagen Gabriel, ließ die Tasse in Dolls Wohnung zurück.

Natürlich ließ er auch einen Lederbeutel liegen, aber das spielte keine Rolle. Das Ding belastete Mickey Doll nur noch zusätzlich. Welcher Mörder würde schon absichtlich etwas zurücklassen, das seine Identität preisgab? Für Doll war es allerdings ein bisschen hart.«

Sie putzte sich die Nase. »Ich weiß«, antwortete sie.

»Der Gedanke quält mich auch, aber ich weiß nicht, was ich hätte tun sollen.«

»Und dann kam ich.«

»Ich war kurz davor, es Ihnen zu erzählen«, sagte sie.

»Das haben Sie bestimmt gemerkt. Nein, Sie sind nicht sicher, ich sehe es an Ihren Augen. Sie sind nicht sicher, ob Sie mir glauben sollen. Aber ich habe nicht zugelassen, dass er Sie tötet. Das zumindest wissen Sie bestimmt.«

»Ja, das weiß ich bestimmt. Sie haben sich plötzlich gegen ihn aufgelehnt. Wie kam das?«

Nachdenklich zündete sie sich eine weitere Zigarette an.

»Ich dachte, es würde immer so weitergehen, und wir würden niemals sicher sein, zumindest nicht sicher genug für Gabe. Vielleicht war ich auch einfach nur müde.«

Ich nahm einen Schluck von meinem Tee. Er war inzwischen kalt und schmeckte irgendwie metallisch, was aber auch an meinem trockenen Mund liegen konnte.

Bryony beugte sich mit eindringlicher Miene vor. »Ich habe die letzten Tage viel gelesen«, erklärte sie. »Ich glaube, ich war geistig krank. Es ist ein Syndrom emotionaler Abhängigkeit. Ein häufig vorkommendes Verhaltensmuster. Frauen geraten unter den Einfluss dominanter Männer und werden hilflos. Ich bin jahrelang von Gabe misshandelt worden. Er ist ein schwieriger Mann. Ein gewalttätiger Mann. Hinzu kommt, dass es keine eindeutige Schwarz-Weiß-Situation war. Der erste Todesfall war ein Selbstmord, eine Tragödie. Dann passierte der Unfall. Als wir schließlich mitten in der Sache drinsteckten, hatte ich bereits jedes Gefühl von Identität verloren.« Sie zog wieder an ihrer Zigarette und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Was meinen Sie, werden mir die Leute das glauben?«

»Sehr wahrscheinlich«, antwortete ich. »Ich habe festgestellt, dass Menschen die seltsamsten Dinge glauben.

Außerdem sind Sie jung und hübsch und gehören der Mittelklasse an, was immer hilfreich ist.«

»Sie kennen sich mit so was aus«, sagte sie. »Sie waren die wichtigste Person in diesem Fall. Die Polizei vertraut Ihnen. Werden Sie mir helfen?«

Ich holte tief Luft und schob die Hände in die Taschen, vielleicht um zu verbergen, dass sie zitterten. »Ich glaube, ich war in den Fall zu sehr involviert, um als psychologische Gutachterin vor Gericht auszusagen.«

Ihre Miene verhärtete sich. »Kit«, sagte sie, »ich hätte Sie sterben lassen können. Ich habe Sie gerettet. Gabe und ich könnten jetzt zu Hause sitzen, und Sie wären tot. Ich habe Sie gerettet.«

Ich stand auf. »Ich bin froh, dass ich noch am Leben bin«, erklärte ich. »Tut mir Leid, wenn Ihnen das nicht enthusiastisch genug ist. Ich muss immer wieder an Emily und die toten Frauen denken. Sie gehen mir einfach nicht aus dem Sinn. Diese Frauen haben gelebt, und Sie haben sie getötet. Wie es aussieht, haben Sie sich das ohne größere Schwierigkeiten verziehen. Es verblüfft mich immer wieder, wie die Leute es schaffen, sich selbst von jeder Schuld freizusprechen.«

»Aber haben Sie mir denn nicht zugehört?«, fragte Bryony.

»Ich bin genauso am Boden zerstört wie alle anderen!«

»Ich habe nur gehört, dass nichts davon Ihre Schuld war«, erwiderte ich, »dass das alles Gabe war und nicht Sie. Sie hätten wohl gern, dass ich mit Ihnen genauso viel Mitleid empfinde wie mit Daisy, Lianne, Philippa und Michael.«

»Ich brauche Hilfe.« Ihre Stimme war nur noch ein Heulen.

»Ich habe immer Hilfe gebraucht.«

Oban wartete draußen auf dem Parkplatz. Es ging ein böiger, kalter Herbstwind. Ich schloss die Augen und wandte mein Gesicht dem Sturm zu. Ich wollte, dass er die letzte Stunde aus mir herauswehte. Oban lächelte.

»War es so, wie Sie vermutet haben?«, fragte er. »Hat sie sich als eines von Gabriel Teales Opfern dargestellt?«

»So ungefähr.«

»Glauben Sie, sie wird damit durchkommen?«

»Nicht wenn ich dabei etwas zu sagen habe«, antwortete ich schaudernd. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Als Oban mich am Ende meiner Straße absetzte, begann es bereits zu dämmern. Trotzdem sah ich schon aus der Ferne, wer vor meiner Tür stand. Er hatte die Hände in die Taschen seines langen Mantels geschoben und die Schultern hochgezogen. Er sah aus, als stünde er auf einem einsamen Felsen, umtost von bissigen Winden.

Einen Moment überlegte ich, ob ich weglaufen sollte.

Oder auf ihn zulaufen und die Arme um seine grimmige Gestalt schlingen. Natürlich tat ich weder das eine noch das andere. Ich ging so lässig wie möglich den Gehsteig entlang, und als er mich schließlich kommen hörte und den Kopf umwandte, brachte ich sogar ein Lächeln zustande.

»Ich komme gerade aus Salton Hill«, sagte ich.

»Oh.« Er zog ein Gesicht. »Von ihr.«

»Ja.«

»Wenigstens wird es jetzt keine von seinen beschissenen Stücken mehr geben«, meinte er und schob die Hände noch tiefer in die Taschen.

»Ich wusste gar nicht, dass du dir welche angesehen hast.«

»Das war auch gar nicht nötig.« Einen Moment lang schwiegen wir. Will sah aus, als wäre er von jemandem beauftragt worden, vor meiner Tür Wache zu stehen. Er schniefte ein wenig. »Ich nehme an, du erwartest von mir, dass ich dir gratuliere.«

»Na ja …«

»Wahrscheinlich möchtest du, dass ich ausführlich darüber spreche, wie Recht du doch hattest und wie Unrecht der Rest der Welt, einschließlich mir. Stimmt’s?

Du möchtest, dass ich dir eine gottverdammte Medaille oder so was in der Art überreiche.«

Ich kicherte. »Nichts dagegen einzuwenden.«

Ich schob die Tür auf und stieß das Bündel Post weg, das auf der Matte lag. »Möchtest du mit reinkommen?« Er zögerte.

»Auf ein Glas Wein? Ein Bier? Komm schon!«

Er folgte mir die Treppe hinauf. In der Küche reichte ich ihm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und schenkte mir selbst ein Glas Rotwein ein. Nachdem ich die Vorhänge zugezogen hatte, zündete ich eine Kerze an und stellte sie zwischen uns auf den Tisch. Er nahm einen Schluck. »Wie geht es deinem Hals?«, fragte er. »Oder was er sonst an dir …«

»Gut«, antwortete ich. Ich betrachtete sein Gesicht, das halb im Schatten, halb im flackernden Kerzenlicht lag. Ich wusste, dass er sich nicht ändern würde: Ich würde die ganze Zeit auf mehr hoffen, immer um etwas bitten, das er nicht geben konnte.

»Will …«, begann ich.

»Bitte«, unterbrach er mich. Er schloss für einen Moment die Augen. »Bitte.« Ich fragte mich, an wen diese Bitte wohl gerichtet war. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht mehr mit mir sprach, sondern mit jemandem in seinem Kopf. Ich lehnte mich über den Tisch und legte meine Hand auf seinen Arm. Es war, als würde ich Stahl berühren. Am liebsten hätte ich sein Gesicht in meine Hände genommen und ihn geküsst. Ich wünschte mir, von ihm ganz fest in den Arm genommen zu werden. Aber er blieb reglos sitzen.

»Das ist nicht fair von dir«, sagte ich schließlich.

»Nein, wahrscheinlich nicht.« Er kippte den Rest seines Biers hinunter und stand auf. Sein Stuhl scharrte über den Boden. Er blickte sich um.

»Ziehst du von hier weg?«

»Warum sollte ich?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Schlimme Assoziationen. Ein Trauma.«

Ich schüttelte den Kopf. »Was für schlimme Assoziationen? Ich bleibe.«

»Das ist gut«, sagte er, bremste sich aber sofort wieder.

»Ich meine, es ist eine interessante Gegend. In mancherlei Hinsicht.«

»Das finde ich auch.«

»Gut.« Er beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Wange. Ich spürte seinen Atem, seine Bartstoppeln. Einen Moment lang blieben wir so stehen, im Kerzenlicht eng aneinander geschmiegt. Dann löste er sich von mir.

»Du hast dich sehr tapfer geschlagen«, sagte er. »Das habe ich schon erwähnt, oder?«

»Nicht mit diesen Worten.«

»Ich kann noch immer nicht glauben, dass du dich da ganz allein hingewagt hast«, erklärte er. »Du solltest besser auf dich aufpassen.«

Dann ging er, in seinen wehenden, langen Mantel gehüllt, und ich blieb stehen, wo ich war, und blickte ihm nach.

47. KAPITEL

Ich half Julie beim Packen. Unsere ohnehin schon melancholische Stimmung wurde durch das milde Herbstwetter draußen noch verstärkt. Die Buchen und Kastanien leuchteten inzwischen gelb, golden und rostrot, und ein warmer Wind wehte durch ihre Äste und ließ immer wieder bunte Blätterschauer durch die Luft wirbeln.

Im Garten türmten sich Berge braunen Laubs, in die hin und wieder ein paar Kinder hineinsprangen und dabei vor Vergnügen jauchzten. Die Sonne schien durch einen dünnen Wolkenschleier. Der Sommer, der nie ein richtiger Sommer gewesen war, machte sich zum Aufbruch bereit, genau wie Julie. Ich würde zurückbleiben.

»Hier, das gehört dir.« Sie warf mir ein lavendelfarbenes Oberteil zu, das ich selbst erst ein paar Mal getragen hatte.

»Und das auch.« Eine dünne Strickjacke segelte mit flatternden Ärmeln durch die Luft. »Mein Gott, mir war gar nicht bewusst, wie viele von deinen Sachen ich mir im Lauf der Monate ausgeliehen habe! Ich bin wie eine Elster.« Sie kicherte. Ihre Augen strahlten, und sie glühte vor Energie und Aufregung.

Wir sortierten nun schon den ganzen Vormittag ihre Sachen, ließen uns dabei aber viel Zeit und legten jede halbe Stunde eine Teepause ein. Wir teilten ihre Habseligkeiten in drei Stapel auf: einen für die Sachen, die sie mitnehmen würde, einen, den sie bis zu ihrer Rückkehr bei mir einlagern wollte, und einen für die Mülltonne, die Kleidersammlung oder mich. Der dritte Stapel war der bei weitem größte – sie war mit Freude dabei, sich von ihren Besitztümern zu trennen, ihr ganzes belastendes Gepäck wegzuwerfen.

Sie deponierte ein Paar schwarze Riemchenschuhe auf den grellgelben Regenmantel, den sie sich vor lauter Frust über den ewigen Regen erst vor ein paar Wochen gekauft hatte. Es folgten eine beige Baumwollhose, von der sie behauptete, ihr Hintern habe darin eine komische Form, eine Jacke, die sie nie wirklich gemocht hatte, drei oder vier Sweatshirts, Strumpfhosen mit Laufmaschen, eine mit Glasperlen bestickte Tasche, ein schwarzer Rock, den sie für ihren kurzfristig ins Auge gefassten Bürojob erstanden hatte und den sie nun zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, als würde er stinken, des Weiteren ein limonengrünes T-Shirt und einen lila Rollkragenpulli.

»Hier, dein rotes Kleid.« Sie nahm es vom Bügel und reichte es mir.

»Behalte es.«

»Was? Sei nicht blöd. Es gehört dir, und du siehst darin sehr schön aus.«

»Ich hätte gern, dass du es behältst.«

»Es ist nicht gerade sehr praktisch.« Sie kam trotzdem in Versuchung und streichelte es, als würde es leben.

»Stopf es ganz unten in deinen Rucksack. Es wiegt doch fast nichts.«

»Was, wenn ich es ruiniere oder verliere?«

»Es gehört dir. Du kannst damit machen, was du willst.

Nun zier dich nicht so, schließlich sortierst du gerade Zeug aus, als gäbe es kein Morgen. Lass mich doch auch mal!«

»Na gut.« Sie beugte sich herüber und küsste mich auf die Wange. »Jedes Mal, wenn ich es trage, werde ich an dich denken.«

»Tu das.« Bestürzt stellte ich fest, dass ich Tränen in den Augen hatte, und machte mich rasch daran, irgendwelche Kleidungsstücke zusammenzulegen.

»Du warst so lieb.«

»Wohl kaum. Die Hälfte der Zeit habe ich mich ungesellig und mürrisch verhalten, die andere Hälfte neurotisch.«

»A propos mürrisch, was läuft eigentlich mit Will?«

»Gar nichts.«

»Du meinst, es ist vorbei?«

»Ich weiß nicht. ›Vorbei‹ ist so ein großes Wort. Ich habe es in meinem Leben kaum jemals geschafft, etwas zu beenden, selbst wenn ich es wollte. Vielleicht überlasse ich es einfach ihm, die Sache zu beenden, indem er sich nicht mehr bei mir meldet. Oder er meldet sich doch, und dann – keine Ahnung, was ich dann machen werde. Auf jeden Fall tut er mir nicht gut. Er ist zu hart, wie ein Fels, an dem ich mich immer verletzen würde.«

»Wahrscheinlich hast du Recht. Bestimmt lernst du bald jemand Neuen kennen, du wirst schon sehen.«

»Was ist mit diesen Shorts hier?«

»Weg damit! Deine Blutergüsse sind blasser geworden, gelb und braun, nicht mehr so unglaublich lila. Tut es noch weh?«

»Nicht besonders – ein bisschen.« Ich strich vorsichtig mit den Fingern darüber.

»Seltsamer Sommer.«

»Das kannst du laut sagen. Inzwischen erscheint mir das alles so irreal, wie ein Geschichte, die jemand anderem passiert ist.«

»Hast du auch manchmal das Gefühl, das Erwachsensein bloß zu spielen?«

Ich richtete mich auf und griff nach einem knallblauen, westenartigen Oberteil. »Das solltest du mitnehmen.«

»Ich meine, ich fühle mich überhaupt nicht erwachsen«, fuhr Julie fort. »Es ist, als hätte ich mich gerade mal einen Schritt vom Kindsein entfernt. Allerdings lebe ich auch nicht gerade auf eine sehr erwachsene Weise, stimmt’s?

Ich lasse mich treiben, werde nirgendwo sesshaft, habe weder einen festen Job noch Zukunftspläne, und trage Klamotten für Teenager – wie dieses Oberteil«, fügte sie hinzu, griff nach der blauen Weste und legte sie zu den Sachen, die sie mitnehmen wollte. »Du dagegen hast diesen tollen Beruf und eine Wohnung, die Lichtjahre von unseren Studentenbuden entfernt ist – du hältst sogar Vorträge auf Konferenzen! Aber fühlst du dich auch so?«

»Nein.« Ich warf mit einem Seidenslip nach ihr. Sie stopfte ihn in den Rucksack. »Ich empfinde das alles wie eine Art Fassade, hinter der ich mich verstecke. Aber ich glaube, das geht jedem so. Wir haben das Gefühl, dass alle anderen ihr Leben besser im Griff haben. Wahrscheinlich werden wir uns auch noch mit hundert so fühlen.«

»Vielleicht.« Sie grinste. »Aber ich bin wirklich so.

Deswegen laufe ich jetzt auch wieder davon. Ich mag das wirkliche Leben nicht.«

»Wer hat behauptet, dass ich es mag?«

Sie sah mich nachdenklich an. Eine Nixe in einem farbenprächtigen Meer aus Klamotten. »Dann solltest du mitkommen.«

»Dafür ist es jetzt zu spät.«

»Es ist nie zu spät.«

»Das stimmt nicht.«

Das Telefon klingelte.

»Ich geh ran.« Julie rappelte sich hoch. »Setz du schon mal den Kessel auf.«

Aber es war für mich. »Die Polizei«, flüsterte sie fast lautlos, während sie mir mit einem Schulterzucken den Hörer reichte.

»Kit Quinn?«

»Am Apparat.«

»DCI Oban hat mich gebeten, Sie anzurufen. Es geht um eine Mrs.

Dear, die sich anscheinend mit Ihnen in Verbindung setzen möchte.«

»Mrs. Dear? Nie gehört.«

»Es hat irgendwas mit ihrer Tochter zu tun, Philippa Burton.«

»Pam Vere?«

»Jedenfalls möchte sie mit Ihnen reden.«

»In Ordnung, geben Sie mir die Nummer.«

»Wahrscheinlich möchte sie, dass ich ihr von den Teales erzähle«, sagte ich zu Julie, nachdem ich aufgelegt hatte.

»Obwohl Oban längst mit Jeremy Burton gesprochen hat.

Da gibt es eigentlich nichts mehr zu reden.«

»Die arme Frau.«

»Übermorgen ist die Beerdigung – endlich. Philippa war ihr einziges Kind. Jetzt hat sie nur noch Emily.«

»Gehst du hin?«

»Wahrscheinlich. Obwohl bestimmt ganze Völkerscharen kommen werden.«

»Bis dahin bin ich schon in der Luft. Weit weg.«

»Ich würde so gern wissen, warum sie sterben musste.

Irgendwie ist das Ganze für mich noch immer nicht abgeschlossen. Es lässt mich einfach nicht los, und für ihre Familie muss es noch viel, viel schlimmer sein – so gar nichts zu wissen.«

Pam Vere klang am Telefon sehr steif und angespannt. Sie wolle sich noch vor der Beerdigung mit mir treffen, sagte sie. Heute, wenn möglich. Sie habe den ganzen Tag Zeit.

Ich erklärte, ich könne in einer halben Stunde bei ihr sein.

»Mir wäre es lieber, wenn wir uns irgendwo draußen treffen könnten.«

»Wie Sie wollen.« Ich warf einen prüfenden Blick zum Himmel. »Irgendwo bei Ihnen in der Nähe?«

»Ich habe mir gedacht, wir könnten einen kleinen Spaziergang am Kanal machen.«

»Am Kanal?«

»Wo das Mädchen getötet worden ist.«

»Lianne.« Es störte mich, dass niemand sie bei ihrem selbst gewählten Namen nannte. Sogar in den Zeitungen war sie immer nur »das obdachlose Mädchen«, »die Stadtstreicherin«. Ebenso nervten mich die banalen Adjektive, mit denen die einfallslose Presse sie belegte: Philippas Tod war tragisch, der von Lianne nur traurig.

»Ja. Können wir uns dort treffen?«

Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen.

»Natürlich. Wie Sie möchten.«

Als ich die Treppe erreichte, die zum Kanal hinunterführte, begann es zu regnen. Einzelne große Tropfen platschten ins Wasser, das kleine kreisförmige Wellen schlug. Der Anblick erschien mir unheilverkündend – nur dass das Unheil bereits passiert war und der Vergangenheit angehörte.

Pam Vere wartete schon auf mich, eingehüllt in einen Kamelhaarmantel und einen Schal. Sie lächelte nicht, streckte mir aber die Hand entgegen, als ich auf sie zuging. Ihr Händedruck war fest, ihr Blick ruhig, ihr Gesicht kalkweiß. Mir fiel auf, dass sie ungewöhnlich nachlässig geschminkt war – an der Seite ihrer Nase klebte überschüssiger Puder, auf einem ihrer faltigen Augenlider ein Klecks Wimperntusche. »Danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßte sie mich sehr förmlich.

»Es war mir ein Bedürfnis«, antwortete ich.

»Sie kommen bestimmt auch zur Beerdigung.«

»Natürlich.«

»Ich wollte Ihnen vorher noch etwas erzählen. Dort hätte ich keine Gelegenheit dazu gehabt.«

Sie sah sich um, ließ den Blick über das Gestrüpp aus dornigen Sträuchern, den mit Chipstüten übersäten Weg, das schmutzige, von Regentropfen gesprenkelte Wasser schweifen. »War es hier?«

»Bei der Brücke.« Ich deutete mit der Hand in die Richtung.

»Hat sie gelitten?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. »Ich glaube nicht. Die Teales waren keine Serienkiller, Mrs. Vere, nicht wie die Wests. Sie hatten keinen Spaß am Morden. Bestimmt haben sie es so schnell wie möglich hinter sich gebracht.

Das Schlimmste für Ihre Tochter war wahrscheinlich das Wissen, dass sie Emily allein zurückgelassen hatte.«

Sie räusperte sich. »Ich habe das andere Mädchen gemeint.«

Ich starrte sie an. »Wen? Lianne?«

»Ja.« Sie wich meinem Blick nicht aus. »Musste sie große Schmerzen leiden?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich glaube, es ist sehr schnell gegangen.«

Mrs.

Vere nickte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme plötzlich sehr heiser: »Ich habe gehört, dass sie am ganzen Körper Stichwunden hatte.«

»Die haben sie ihr erst zugefügt, als sie schon tot war.«

»Das arme Mädchen.« Ein Regentropfen klatschte auf ihre Wange und lief langsam zum Mund hinunter. Sie wischte ihn nicht weg.

»Ja.« Ich fragte mich, was Pam Vere wohl dazu veranlasste, sich im Regen mit mir am Kanal zu treffen.

Sie kehrte mir den Rücken zu und blickte aufs Wasser hinaus.

»Philippa war ein braves Mädchen«, sagte sie.

»Vielleicht haben wir sie zu sehr unter Druck gesetzt – sie war unser einziges Kind, müssen Sie wissen. Wenn ich mir jetzt manchmal Fotos von uns dreien anschaue, fällt mir auf, wie klein und allein sie zwischen uns wirkte.

Zwei Erwachsene und ein kleines Kind. Dann, als sie elf war, starb ihr Vater, und es waren nur noch sie und ich übrig. Sie war immer noch ein braves Mädchen, ordentlich, rücksichtsvoll, hilfsbereit. Vielleicht sogar zu hilfsbereit. Sie war nicht unbeliebt, hatte aber trotzdem nicht allzu viele Freunde, als sie klein war. Sie spielte gern allein, mit ihrer geliebten Puppe. Oder sie war mit mir zusammen, half mir beim Kuchenbacken, Einkaufen und Putzen. Sie hat mir nie irgendwelchen Kummer bereitet.

In der Schule war sie genauso – eine sehr fleißige Schülerin, stand in all ihren Zeugnissen. Sie war nicht überragend, aber sehr fleißig, eine Freude für jeden Lehrer. Sobald sie von der Schule nach Hause kam, machte sie ihre Hausaufgaben. Ein wirklich braves Kind.

Sie setzte sich an den Küchentisch, aß ihren Toast mit Butter und Marmite und machte dann ihre Hausaufgaben, mit blauer Tinte und ihrer ordentlichen Handschrift, ihrem schwungvollen Y. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in ihrer marineblauen Schuluniform mit gerunzelter Stirn dasaß und ihre Heftseite nach jeder Zeile mit einem Löschblatt abtupfte. Oder wie sie ihre Landkarten für Erdkunde farbig schraffierte, das Meer blau und die Wälder grün. Das machte sie besonders gern.

Vor ein paar Tagen habe ich ihre Schulsachen aus der Kiste geholt und durchgesehen, all die Übungshefte mit dem Namen des jeweiligen Fachs in der rechten oberen Ecke, gefolgt von ihrem Namen und ihrer Klasse, was sie beides immer sauber mit dem Lineal unterstrich. Es kommt mir vor, als wäre das alles erst gestern gewesen.

An manches konnte ich mich noch genau erinnern, zum Beispiel die Bilder, die sie als ganz kleines Mädchen von sich selbst gezeichnet hat, mit krakeligem gelbem Haar und einem rosa Halbkreis als Mund. Kinder zeichnen sich immer lächelnd, nicht wahr, obwohl Philippa eigentlich nie viel gelächelt hat. Später dann die Bleistiftzeichnungen von allen möglichen Blumen, mit ihren Stempeln und Staubgefäßen. Planeten. Die sechs Frauen von Henry VIII.

Algebra. Je m’appelle Philippa Vere et j’ai onze ans.«

Pam Veres französische Aussprache war tadellos. »Und ihre Schultagebücher. Sie haben am Montagmorgen immer Tagebuch geschrieben – was ich am Wochenende gemacht habe, in diesem Stil. Kennen Sie das?« Ich nickte nur, weil ich nicht wollte, dass sie zu erzählen aufhörte.

»Ich habe alle Eintragungen gelesen. Und wissen Sie, was? Ich bin in allen vorgekommen. Sie hat immer darüber berichtet, was sie mit Mummy gemacht hat.

Mummy und ich waren einkaufen, Mummy und ich waren am Spielplatz, Mummy hat mir ein Kätzchen geschenkt, es heißt Blackie, Mummy ist mit mir ins Museum gegangen.

Mir ist plötzlich klar geworden, dass in ihren Tagebucheintragungen außer mir und ihr fast niemand vorkommt. Erst als ich diese Eintragungen gelesen habe, ist mir bewusst geworden, wie einsam sie gewesen sein muss. Sie hat sich nie beklagt.«

Sie wandte mir ihr Gesicht zu. »Sie fragen sich bestimmt, warum um alles in der Welt ich Ihnen das erzähle, nicht wahr?«

»Ich nehme an, Sie hatten einfach das Bedürfnis, einmal mit jemandem darüber zu reden.«

»Ich bin mittlerweile eine alte Frau. Oh, ich weiß, ich bin noch nicht wirklich alt, erst Anfang sechzig und könnte noch dreißig Jahre leben, aber ich fühle mich plötzlich alt. Ich fühle mich doppelt so alt wie noch vor einem Jahr. Sie haben keine Kinder, oder?«

»Nein.«

»Lebt Ihre Mutter noch?«

»Nein. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein kleines Kind war.«

»Also deswegen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Deswegen hatte ich das Gefühl, mit Ihnen darüber sprechen zu können. Meine Tochter war auch noch als Teenager ein braves Mädchen. Inzwischen hatte sie ein paar Freunde mehr, ging manchmal am Samstagabend aus und gönnte sich hin und wieder ein paar Drinks, aber nicht viele. Sie hat weder geraucht noch irgendwelche Drogen genommen. Sie sah sehr hübsch aus, aber das war ihr selbst nicht bewusst, und ich glaube, deswegen ist es auch den meisten anderen Leuten nicht aufgefallen. Sie gab nicht an und flirtete kaum. Ich fand immer, dass sie das hübscheste Mädchen war, das ich kannte, aber ich war schließlich ihre Mutter, da ist das wahrscheinlich ganz normal, oder? Und fünfzehn-, sechzehnjährige Jungs schauen ja noch nicht so genau hin. Dafür war ich dankbar

– ich habe immer zu ihr gesagt, sie solle sich nicht darum kümmern, was ihre Freundinnen so trieben, sie habe für das alles noch genügend Zeit. Zeit.« Sie lächelte bitter.

»Wie wir inzwischen wissen, hatte sie gar nicht so viel Zeit.« Sie hielt abrupt inne.

»Und dann?«, fragte ich leise.

»Dann lernte sie jemanden kennen. Einen Jungen. Nein, eigentlich einen Mann, er war älter als sie. Sie war erst vierzehn, als er ihr über den Weg lief. Im Gegensatz zu den anderen hat er genau hingesehen. Plötzlich kam sie mir nicht mehr vor wie ein junges Mädchen, sie schien an der Schwelle zur Frau zu stehen. Ich dachte, es läge daran, dass sie einfach erwachsen wurde. Rückblickend kann ich es besser nachvollziehen, aber damals hatte ich wirklich keine Ahnung, was vor sich ging. Ich fand es erst hinterher heraus. Sie war so unschuldig, meine stille kleine Tochter.

Sie war in ihn verliebt und bildete sich ein, dass er ihre Liebe erwiderte. Wäre mir das damals klar gewesen, hätte ich sie warnen können.«

Sie lächelte mich an. »Jetzt ahnen Sie bestimmt schon, dass ich Ihnen das nicht einfach nur erzähle, weil ich mit jemandem über Philippa sprechen wollte. Ein Geheimnis ist etwas Schreckliches. Die einzige Möglichkeit, ihm seinen Schrecken zu nehmen, besteht darin, es jemandem zu erzählen, aber das darf man ja nicht. Natürlich hat er sie verlassen, die Sache dauerte nur ein paar Wochen. Es hat ihr das Herz gebrochen, auch wenn ich noch immer nichts davon wusste.«

Den Blick wieder auf den Kanal gerichtet, fügte sie hinzu:

»Und sie war schwanger.«

Ich starrte wie sie auf das Wasser, in dessen Tiefen Dolls Fische lauerten. »Sie hat das Baby bekommen?«

»Als ich herausfand, dass sie schwanger war, befand sie sich bereits in der achtundzwanzigsten Woche. Also bekam sie das Baby. Ich sorgte dafür, dass alles geheim blieb. Niemand wusste davon, nur Philippa und ich.«

»Ein Mädchen?«

»Ja. Ein Mädchen, das vor ein paar Monaten achtzehn geworden wäre.«

»Lianne?« Dann war sie älter gewesen, als ich gedacht hatte.

»Ich habe der Schule mitgeteilt, Philippa habe Drüsenfieber. Wir fuhren gemeinsam nach Frankreich. Sie war sehr still, als stünde sie unter Schock, aber sie tat, was ich ihr sagte. Ihr blieb im Grunde gar keine andere Wahl.

Man nahm ihr das Baby sofort nach der Geburt weg.

Philippa wollte es unbedingt einen Moment im Arm halten, aber ich ließ sie nicht. Ich wollte nicht, dass sie eine Bindung zu dem Kind entwickelte. Sie konnte kein Kind haben, um Gottes willen, sie war doch selbst noch eins. Sie sollte ein glückliches Leben haben, einen Ehemann, all die Dinge, die ich für sie geplant hatte. Sie weinte zwei Tage lang ununterbrochen. Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen, es war wie ein Dammbruch, als würden plötzlich all die Tränen aus ihr herausquellen, die sie ihr Leben lang nicht geweint hatte, weil sie zu selbstlos gewesen war, zu bemüht, es allen recht zu machen. Dann schien sie sich wieder zu fangen. Ihre Milch versiegte, ihr Bauch wurde langsam wieder flach.

Sie kehrte in die Schule zurück, machte ihre Prüfungen und ging ans College. Sie hat nie wieder darüber gesprochen.«

»Mrs. Vere …«

»Aber ich habe das Baby im Arm gehalten, ein winziges Ding mit schrumpeliger Haut und verklebten blauen Augen. Sie hat ihre Faust um meinen Finger gelegt und wollte ihn nicht mehr loslassen, als wüsste sie es.«

»Was?«

»Dass ich ihre Großmutter war. Ihre Familie. Ihr Zuhause. Ihre letzte Chance. Ich löste ihre kleinen Finger, einen nach dem anderen, und übergab sie einer Schwester.«

»Und dann wurde sie weggebracht, freigegeben zur Adoption?«

»Ja, zur Adoption, zumindest nehme ich das an. Ich wollte nicht, dass Philippa Einzelheiten erfuhr. Ich hielt es für das Beste, die Tür zu dieser Episode fest zu schließen.

Natürlich hatte das Mädchen selbst die Möglichkeit, die Wahrheit über ihre Herkunft herauszufinden, als sie vor ein paar Monaten achtzehn wurde.«

»Die Telefongespräche.«

»Ich wusste nichts davon, bis ich von den Telefongesprächen hörte, den Gesprächen zwischen Philippa und … und ihr. Ich wollte kein Beweismaterial zurückhalten. Sie würden wahrscheinlich sagen, dass ich es einfach nicht wissen wollte, aber glauben Sie mir, es ist in den letzten achtzehn Jahren keine einzige Woche vergangen, in der ich nicht daran gedacht habe, wie dieses Neugeborene meinen Finger umklammerte und mich anstarrte. Und ich frage mich, ob eine einzige Stunde vergangen ist, ohne dass Philippa daran dachte. Wir haben nie darüber gesprochen, nicht einmal nach Emilys Geburt haben wir über unsere Gefühle geredet.«

Endlich sah sie mir in die Augen. »Deswegen wollte ich mich mit Ihnen treffen. Um zu erfahren, ob meine Enkelin leiden musste.«

Dann war es bei dieser ganzen traurigen Geschichte also um eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter gegangen, um eine Mutter auf der Suche nach ihrer Tochter.

»Ich frage mich, ob sie einander gefunden haben, bevor sie umgebracht wurden«, sagte ich schließlich.

»Manchmal tröste ich mich mit dem Gedanken, dass es so war. Dass es Philippa endlich vergönnt war, ihr Baby im Arm zu halten. Aber wir werden es nie wissen, nicht wahr?«

»Nein, das werden wir nicht.«

Wir hatten uns bereits verabschiedet, als Pam Vere plötzlich die Hand auf meinen Arm legte.

»Ich wollte Sie noch fragen«, sagte sie, »ob es wohl möglich wäre, dass meine Enkelin im selben Grab beerdigt wird wie meine Tochter. Glauben Sie, das ginge?«

»Lianne ist eingeäschert worden«, antwortete ich. »Ihre Asche wurde verstreut.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Pam. »Dann hat sich das wohl erledigt.«

Ich ging zu Fuß nach Hause. Die Stufen vom Kanal hinauf, die tristen Straßen entlang. Durch die Fenster konnte ich Leute sehen, die alle ihr eigenes Leben führten: einen Mann mit einer Geige, den Bogen bereit zum Spiel, eine Frau, die angeregt in ein Telefon sprach, die freie Hand in der Luft, einen nackten kleinen Jungen, der im ersten Stock am Fenster saß und mit trauriger Miene auf die Straße hinausblickte. Ich betrachtete die Gesichter der mir entgegenkommenden Menschen. Kein Gesicht ist gewöhnlich. Jedes Gesicht ist irgendwie schön, wenn man es nur auf die richtige Weise betrachtet.

Julie wartete schon auf mich. Aus der Küche wehte mir Knoblauchduft entgegen, und auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen gelben Rosen. Ihr Rucksack lehnte neben der Tür, prall gefüllt, für die Abreise bereit und mit dem Adressanhänger einer Fluglinie versehen. Ich setzte mich an den Tisch, holte das Foto meiner Mutter heraus und legte es vor mich hin. Sie lächelte mir über all die Jahre hinweg zu, die ich sie vermisst hatte. Ihre klaren Augen leuchteten. Die Sonne schien auf ihr junges, glückliches Gesicht. Mir war plötzlich sehr friedlich und sehr traurig zumute. Ich war noch nie gut im Abschiednehmen.

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