Nicci French

Das rote

Zimmer

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Die junge Ärztin Kit kümmert sich voller Idealismus um die Opfer unserer Wohlstandsgesellschaft – bis sie von einem ihrer Schutz-befohlenen attackiert und schwer verletzt wird.

Wenig später bittet die Polizei Kit um Mithilfe in einem brutalen Mordfall. Der Verdächtige ist jener psychisch gestörte Mann, der Kit angegriffen hat. Nach längerem Zögern ist sie bereit der Polizei zu helfen. Die erfahrene Psychiaterin weiß, dass sie sich den eigenen Ängsten stellen muss. Doch sie ahnt nicht, welche Dämonen sie damit heraufbeschwört.

ISBN: 3-570-00589-5

Original: The Red Room

Deutsch von Birgit Moosmüller

Verlag: C. Bertelsmann Verlag

Erscheinungsjahr: 2002

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Eines Abends erhält Kit Quinn Besuch von der Londoner Mordkommission. Ein junges Mädchen wurde tot an einem Kanal aufgefunden. Die Leiche der Unbekannten ist übel zugerichtet. Die Polizei hat einen Verdächtigen und bittet die erfahrene Psychiaterin um Mithilfe. Kit kennt den Mann

– er hat sie vor drei Monaten während einer Therapie-sitzung tätlich angegriffen. Trotz ihrer Ahnung, in etwas Bedrohliches hineingezogen zu werden. entschließt sich Kit zur Mitarbeit. Für den leitenden Ermittler Inspektor Oban ist die Sache klar: Michael Doll, verwahrlost, vorbestraft, verhaltensaufällig. hat den Mord begangen. Doch Kit, die zwischen Mitleid und Angst hin und her gerissen ist. zwingt die Polizei, ihr schnelles Urteil zu revidieren. Die Beweise gegen Doll sind fadenscheinig. Mit ihrer anderen Sicht des Falles stößt Kit auf ein wichtiges Detail und auf einen weiteren Frauenmord, der auf das Konto desselben Täters geht. Kit fühlt, dass sie der Lösung nahe ist. Aber erst ihre schwierige Liebesbeziehung zu Will Pavic, dem vom Leben tief enttäuschten Leiter eines Hauses für verwahrloste Jugendliche, bringt sie auf die richtige Spur. Doch dann geschieht etwas, das Kits immer wiederkehrenden Alp-traum von einem roten Zimmer blutige Wirklichkeit werden lässt … Nicci French konfrontiert ihre eigenwillige Ermittlerin Kit Quinn nicht nur mit der Einsamkeit jener Menschen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft ihr Leben fristen, sondern auch mit ihrem persönlichen Lebenstrauma, dem frühen Verlust der Mutter. Kit sucht nicht nur einen brutalen Frauenmörder. In ihrem Mitgefühl für jene Abgeschobenen, die das Kainsmal der Ungeliebten nie loswerden, erkennt sie auch die eigene Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit.

FÜR KARL, FIONA UND MARTHA

Prolog

Man hüte sich vor schönen Tagen. An schönen Tagen passieren oft schlimme Dinge. Vielleicht liegt es daran, dass man leichtsinnig wird, wenn man glücklich ist. Man hüte sich auch davor, zu viel zu planen, denn dann konzentriert man seinen Blick auf das Geplante, und genau in dem Moment beginnt dort, wo man gerade nicht hinsieht, irgendetwas schief zu laufen.

Ich habe mal meinem Professor bei einer Studie über Unfälle geholfen. Ein Team von uns sprach mit Leuten, die überfahren, in Maschinen hineingezogen oder unter Autos hervorgezerrt worden waren. Andere waren von einem Brand überrascht worden, eine Treppe hinuntergefallen oder von einer Leiter gestürzt. Seile und Kabel waren gerissen, Fußböden hatten nachgegeben, Wände waren umgekippt, Zimmerdecken herunterge-kracht. Es gibt keinen Gegenstand auf der Welt, der sich nicht gegen einen wenden kann. Wenn das Ding es nicht schafft, dir auf den Kopf zu fallen, dann kann es rutschig werden oder dich schneiden, oder du kannst es verschlucken. Und wenn bestimmte Gegenstände in menschliche Hände geraten, dann ist das noch mal eine ganz andere Geschichte.

Die Studie erwies sich in mancherlei Hinsicht als problematisch. Zum einen handelte es sich um Unfallopfer, die für unsere Fragen nicht zur Verfügung standen, weil sie tot waren. Hätten sie eine andere Geschichte zu erzählen gehabt? In dem Moment, als der Korb kippte und die Fensterputzer, den Schwamm noch in der Hand, aus dem zwanzigsten Stock in die Tiefe stürzten, dachten sie da noch etwas anderes als: O

verdammt!? Unter den Übrigen gab es Leute, die zum Zeitpunkt ihres Missgeschicks erschöpft, überglücklich, depressiv, betrunken, mit Drogen voll gepumpt oder abgelenkt waren. Andere hatten einfach nur Pech gehabt.

Eins aber war ihnen allen gemeinsam: Zum betreffenden Zeitpunkt waren sie mit den Gedanken nicht bei der Sache gewesen. Aber das ist ja wiederum die Definition eines Unfalls: Irgendetwas bricht gewaltsam in das ein, worauf man gerade seine Gedanken konzentriert, wie ein Räuber, der einen auf einer unbelebten Straße überfällt.

Als es schließlich darum ging, die Ergebnisse zusammenzufassen, war das zugleich einfach und schwer.

Einfach deshalb, weil die meisten Schlussfolgerungen auf der Hand lagen. Wie schon auf dem Arzneifläschchen zu lesen steht, sollte man unter dem Einfluss von Medikamenten keine schweren Maschinen bedienen.

Ebenso wenig sollte man die Schutzvorrichtung von der Kleiderpresse entfernen, selbst wenn sie einen stört, und es ist auch nicht ratsam, einen fünfzehnjährigen Lehrling mit der Bedienung des Geräts zu betrauen. Vor dem Überqueren einer Straße sollte man in beide Richtungen sehen.

Doch sogar Letzteres war problematisch. Wir versuchten, Dinge zu fassen zu bekommen, die die Leute irgendwo am Rand registriert hatten. Das Problem dabei ist, dass kein Mensch es schafft, alles, was er wahrnimmt, auch bewusst in sein Denken einzubeziehen. Sobald wir uns einer Gefahrenquelle zuwenden, bekommt etwas anderes Gelegenheit, sich von hinten an uns heranzuschleichen. Wenn wir nach links sehen, hat irgendetwas rechts von uns die Chance, uns zu kriegen.

Vielleicht ist es das, was uns die Toten erzählt hätten.

Und vielleicht wollen wir manche dieser Unfälle ja auch gar nicht missen. Wenn ich mich in meinem Leben verliebt habe, dann nie in den Menschen, den ich eigentlich hätte mögen sollen, den netten Kerl, mit dem meine Freunde mich verkuppeln wollten. Was nicht heißen soll, dass es jedes Mal der Falsche war, aber in der Regel doch jemand, der in meinem Leben eigentlich gar nichts verloren gehabt hätte. Ich habe mal einen wunderschönen Sommer mit jemandem verbracht, den ich kennen lernte, weil er der Freund eines Freundes war, der meiner besten Freundin beim Umzug in ihre neue Wohnung half, weil der andere Freund, der eigentlich kommen und helfen wollte, bei einem Fußballspiel einspringen musste, weil ein anderer sich das Bein gebrochen hatte.

Das alles ist mir bekannt, aber dieses Wissen bringt nichts. Es hilft einem lediglich, das Geschehene im Nachhinein zu verstehen. Und manchmal nicht einmal das.

Trotzdem ist es passiert, daran besteht kein Zweifel. Ich nehme an, das Ganze begann damit, dass ich in die andere Richtung schaute.

Es war an einem sonnigen Vormittag im Mai. An meiner Zimmertür klopfte es, und noch ehe ich etwas sagen konnte, ging sie auf, und ich sah das lächelnde Gesicht von Francis vor mir. »Dein Termin ist abgesagt worden«, erklärte er.

»Ich weiß.«

»Dann hast du ja Zeit …«

»Also …«, begann ich. In der Welbeck-Klinik war es immer gefährlich zuzugeben, dass man Zeit hatte, denn dann wurde einem sofort irgendeine Arbeit aufs Auge gedrückt. In der Regel handelte es sich dabei um die Dinge, mit denen sich die älteren Kollegen nicht herumschlagen wollten.

»Kannst du eine Beurteilung für mich übernehmen?«, fragte Francis rasch.

»Also …«

Sein Lächeln wurde breiter. »Was ich eigentlich sagen will, ist natürlich: ›Übernimm eine Beurteilung für mich!‹, aber ich formuliere es aus Gründen der Höflichkeit auf die konventionelle, weniger direkte Art.«

Das ist einer der Nachteile, die man in Kauf nehmen muss, wenn man in einem therapeutischen Umfeld arbeitet: Man hat mit Leuten wie Francis Hersh zu tun, der erstens nicht einmal guten Morgen sagen konnte, ohne es in Anführungszeichen zu setzen und anschließend sofort zu analysieren, und zweitens … Aber lassen wir das. Im Fall von Francis könnte ich mich über zweitens und drittens locker bis zu zehntens vorarbeiten.

»Worum geht’s?«

»Eine Polizeisache. Sie haben jemanden aufgegriffen, der auf der Straße herumgebrüllt hat oder so was in der Art. Wolltest du gerade gehen?«

»Ja.«

»Das passt ja wunderbar. Du brauchst auf dem Heimweg nur schnell auf dem Revier in Stretton Green vorbeizuschauen und einen Blick auf den Typen zu werfen, damit sie ihn schnell wieder loskriegen.«

»In Ordnung.«

»Frag nach DI Furth. Er erwartet dich.«

»Wann?«

»Vor ungefähr fünf Minuten.«

Ich rief Poppy an, mit der ich auf einen Drink verabredet war, und erwischte sie gerade noch rechtzeitig, um ihr zu sagen, dass ich mich ein paar Minuten verspäten würde.

Wenn jemand wegen öffentlicher Ruhestörung auffällig wird, kann es recht schwierig sein zu beurteilen, ob der oder die Betreffende bösartig, betrunken, geisteskrank, körperlich krank, verwirrt, missverstanden, grundsätzlich ein Ekel, aber harmlos oder – in Einzelfällen – eine echte Bedrohung ist. Normalerweise verfährt die Polizei mit solchen Fällen recht willkürlich. In der Regel rufen sie uns nur, wenn extreme und eindeutige Gründe vorliegen. Vor einem Jahr aber war ein bereits festgenommener, dann jedoch wieder auf freien Fuß gesetzter Mann ein paar Stunden später mit einer Axt bewaffnet in der nächsten Hauptstraße aufgetaucht und hatte zehn Personen verletzt, von denen eine alte Frau ein paar Wochen später starb. Es hatte eine Meinungsumfrage gegeben, deren Ergebnis seit einem Monat vorlag, was zur Folge hatte, dass uns die Polizei zurzeit ständig um Rat bat.

Ich war schon mehrmals auf dem Revier gewesen, mit Francis oder allein. Das Komische daran war, dass wir, indem wir nach bestem Wissen und Gewissen herauszufinden versuchten, was mit diesen meist recht traurigen, verwirrten und übel riechenden Gestalten, die uns in einem Raum in Stretton Green gegenübersaßen, los war, in erster Linie der Polizei ein Alibi verschafften.

Wenn dann das nächste Mal etwas schief ging, konnten sie die Verantwortung auf uns abwälzen.

Detective Inspector Furth war ein gut aussehender Mann, nicht viel älter als ich. Er begrüßte mich mit einem amüsierten, fast unverschämten Gesichtsausdruck, der mich veranlasste, nervös an meinen Kleidern hinunterzusehen, ob alles richtig saß. Aber schon einen Moment später wurde mir klar, dass das sein ganz normaler Gesichtsausdruck war, sein Schutzschild gegen die Welt. Er trug sein blondes Haar streng nach hinten gekämmt, und sein Kinn war kantig wie mit dem Lineal nachgezogen. Seine Haut wirkte leicht narbig. Vielleicht hatte er als Kind unter Akne gelitten.

»Dr. Quinn«, sagte er mit einem Lächeln und streckte mir die Hand entgegen. »Nennen Sie mich Guy. Ich bin neu hier.«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er drückte meine Hand so fest, dass ich das Gesicht verzog.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie noch so …

ähm … jung sind.«

»Tut mir Leid«, begann ich, brach aber gleich wieder ab.

»Wie alt sollte ich denn Ihrer Meinung nach sein?«

»Treffer!«, antwortete er, noch immer lächelnd. »Und Sie heißen Katherine – Kit abgekürzt. Das weiß ich von Dr. Hersh.«

Früher sagten nur meine Freunde Kit zu mir. Die Kontrolle darüber war mir schon vor Jahren entglitten, aber ich zuckte immer noch leicht zusammen, wenn ein Fremder mich so nannte.

»Wo ist er?«

»Diese Richtung. Möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee?«

»Danke, aber ich bin ein wenig in Eile.«

Er führte mich durch das Großraumbüro. An einem der Schreibtische blieb er kurz stehen und griff nach einer wie ein Rugbyball geformten Tasse, bei der der Deckel gekappt war wie bei einem Frühstücksei.

»Meine Glückstasse«, erklärte er, während ich ihm durch eine Tür am hinteren Ende des Raums folgte. Vor dem Verhörraum blieb er stehen.

»Mit wem habe ich es zu tun?«, fragte ich.

»Einer Ratte namens Michael Doll.«

»Und?«

»Er hat sich auf dem Gelände einer Grundschule rumgetrieben.«

»Hat er Kinder belästigt?«

»Nicht direkt.«

»Wieso ist er dann hier?«

»Die Eltern dort haben eine Aktionsgruppe gegründet.

Sie verteilen Handzettel. Dabei ist er ihnen aufgefallen, und die Situation wurde ein wenig unangenehm.«

»Versuchen wir es doch mal anders herum: Wieso bin ich hier?«

Furth wich meinem Blick aus. »Sie kennen sich doch mit solchen Sachen aus, oder? Man hat mir gesagt, Sie arbeiten in Market Hill.«

»Hin und wieder, ja.« In der Tat teile ich meine Zeit auf zwischen Market Hill, einem Krankenhaus für geisteskranke Verbrecher, und der Welbeck-Klinik, die der Mittelklasse therapeutischen Beistand bietet.

»Jedenfalls ist er ein seltsamer Typ. Er hat recht komisches Zeug geredet. Murmelt die ganze Zeit vor sich hin. Wir haben uns schon gefragt, ob er vielleicht schizophren ist oder so.«

»Was wissen Sie über ihn?«

Furth rümpfte die Nase, als könnte er den Gestank des Mannes durch die Tür riechen. »Neunundzwanzig Jahre alt. Tut nicht viel. Ein bisschen Taxifahren.«

»Ist er früher schon mal wegen sexueller Belästigung aufgefallen?«

»Nicht wirklich. Leichter Hang zum Exhibitionismus.«

Ich schüttelte den Kopf. »Finden Sie das alles nicht ein bisschen vage?«

»Was, wenn er trotzdem gefährlich ist?«

»Sie meinen, wenn er der Typ Mensch ist, der irgendwann in der Zukunft gewalttätig werden könnte?

Genau solche Fragen habe ich meiner Betreuerin gestellt, als ich in der Klinik anfing. Sie hat mir geantwortet, das würden wir jetzt wahrscheinlich nicht feststellen können und uns hinterher alle ganz schrecklich fühlen.«

Furth runzelte die Stirn. »Ich bin solchen Scheißkerlen wie Doll begegnet, nachdem sie ihr Verbrechen begangen hatten. Dann findet die Verteidigung immer jemanden, der vor Gericht über die schwierige Kindheit dieser Leute faselt.«

Michael Doll hatte volles Haar, das ihm in Locken bis auf die Schultern fiel, und ein hageres Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen. Seine Züge wirkten seltsam zart. Insbesondere seine Lippen erinnerten mit ihrer ausgeprägten Herzform an die einer jungen Frau.

Allerdings hatte er ein auswärts schielendes Auge, und es war schwer zu sagen, ob er mich ansah oder knapp an mir vorbei. Seiner Bräune nach zu urteilen, verbrachte er einen Großteil seiner Zeit im Freien. Ich hatte den Eindruck, dass der Raum auf ihn beklemmend wirkte. Seine großen, schwieligen Hände hielten einander umklammert, als versuchten sie, sich gegenseitig am Zittern zu hindern.

Er trug Jeans und eine graue Windjacke, die nicht weiter seltsam gewirkt hätte, wäre darunter nicht der dicke orangefarbene Pulli gewesen, den sie nicht ganz verdeckte. In einem anderen Leben, einer anderen Welt wäre er vielleicht ein attraktiver Typ gewesen, so aber hatte er etwas Unheimliches an sich, das ihn umgab wie ein übler Geruch.

Als wir den Raum betraten, sprach er gerade schnell und nahezu unverständlich auf eine gelangweilt wirkende Beamtin ein. Ihr war anzusehen, wie erleichtert sie über unser Erscheinen war. Nachdem sie mir Platz gemacht hatte, setzte ich mich gegenüber von Michael Doll an den Tisch und stellte mich vor. Ich verzichtete darauf, ein Notizbuch herauszuholen. Wahrscheinlich würde das gar nicht nötig sein.

»Ich werde Ihnen ein paar einfache Fragen stellen«, erklärte ich.

»Die haben es auf mich abgesehen«, murmelte Doll.

»Sie wollen mich dazu bringen, irgendwelche Sachen zuzugeben.«

»Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über das zu sprechen, was Sie getan haben. Ich möchte bloß herausfinden, wie es Ihnen geht. Ist das in Ordnung?«

Er blickte sich argwöhnisch um. »Ich weiß nicht. Sind Sie von der Polizei?«

»Nein. Ich bin Ärztin.«

Seine Augen weiteten sich. »Glauben Sie, ich bin krank?

Oder verrückt?«

»Was glauben Sie denn?«

»Mir fehlt nichts.«

»Dann ist es ja gut.« Ich fand selbst, dass meine Stimme widerlich herablassend klang. »Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?« Er starrte mich verwirrt an. »Tabletten?

Oder Tropfen?«

»Ich nehme was für meine Verdauung. Ich bekomme immer solche Schmerzen. Nachdem ich gegessen habe.«

Er klopfte gegen seine Brust.

»Wo wohnen Sie?«

»Ich habe ein Zimmer. Drüben in Hackney.«

»Sie leben allein?«

»Ja. Irgendwas dagegen einzuwenden?«

»Nicht das Geringste. Ich lebe auch allein.«

Dolls Lippen verzogen sich zu einem kleinen Grinsen.

Es sah nicht besonders nett aus. »Haben Sie einen Freund?«

»Sie?«

»Ich bin doch keine Schwuchtel!«

»Ich meine, haben Sie eine Freundin?«

»Sie zuerst!«, gab er in scharfem Ton zurück.

Er war durchaus schlagfertig. Versuchte mich sogar zu manipulieren. Was aber noch lange nicht hieß, dass er verrückter war als die übrigen im Raum Anwesenden.

»Ich bin hier, um etwas über Sie zu erfahren«, antwortete ich.

»Sie sind genau wie die anderen.« In seiner Stimme schwang jetzt ein wütendes Zittern mit. »Sie wollen mich in eine Falle locken. Etwas aus mir rauskitzeln.«

»Was könnte ich denn aus Ihnen rauskitzeln?«

»Ich weiß nicht, ich … ich …« Er fing zu stammeln an.

Seine Hände umklammerten die Tischkante. An seiner Schläfe pulsierte eine Ader.

»Ich will Sie nicht in eine Falle locken, Michael.« Ich stand auf und sah zu Furth hinüber.

»Ich bin fertig.«

»Und?«

»Ich sehe keine Probleme.«

Neben mir hörte ich Doll weiterplappern wie ein Radio, das jemand auszuschalten vergessen hatte.

»Wollen Sie ihn denn nicht fragen, was er bei der Schule zu suchen hatte?«

»Warum?«

»Weil er ein Perverser ist, darum!« Inzwischen war das Lächeln aus Furths Gesicht verschwunden. »Er ist eine Gefahr für andere, und wir dürfen nicht zulassen, dass er sich in der Nähe von Kindern rumtreibt.« Dieser Teil war an mich gerichtet. Nun begann er an mir vorbei mit Doll zu sprechen. »Glauben Sie bloß nicht, dass Ihnen das irgendwas bringt, Mickey. Wir wissen über Sie Bescheid.«

Ich warf einen Blick zu Doll hinüber. Sein Mund stand offen wie bei einem Frosch oder Fisch. Ich wandte mich zum Gehen. Ab diesem Zeitpunkt bekam ich die Dinge nur noch bruchstückhaft mit. Ein klirrendes Geräusch. Ein Schrei. Ein Stoß von der Seite. Ein reißendes Gefühl an der einen Hälfte meines Gesichts, von oben nach unten.

Ich konnte es fast hören. Rasch gefolgt von einem warmen Schwall auf meinem Gesicht und meinem Hals. Der Boden, der mir entgegenkam. Linoleum, das hart gegen meinen Körper schlug. Ein Gewicht auf mir. Schreie.

Andere Menschen um mich herum. Ich versuchte, mich hochzustemmen, glitt aber aus. Meine Hand war nass. Ich starrte sie an. Blut. Überall Blut. Alles war rot.

Unglaubliche Mengen von Blut überall. Ich wurden über den Boden gezerrt, hochgehoben.

Es war ein Unfall. Ich war der Unfall.

1. KAPITEL

»Und ich hab gesagt: ›Ja, ja, ich glaube an Gott, aber Gott kann auch der Wind in den Bäumen und der Blitz am Himmel sein.‹«

Er beugte sich vor und deutete mit seiner Gabel auf mich. Der Mann, mit dem ich am Ende des Abends nicht nach Hause gehen, dessen Telefonnummer ich verlieren würde. »Gott kann das eigene Gewissen sein. Oder ein anderer Name für die Liebe. Oder der Urknall. ›Ja‹, hab ich gesagt, ›ich bin der Überzeugung, dass sogar der Urknall eine Bezeichnung für den Glauben eines Menschen sein kann.‹ Darf ich Ihnen nachschenken?«

Das war der Stand der Dinge, den wir an diesem Abend erreicht hatten. Sechs Flaschen Wein für acht Leute, und das, obwohl wir erst beim Hauptgang angelangt waren.

Labberiger Fisch mit Erbsen. Poppy ist eine der schlechtesten Köchinnen, die ich kenne. Sie produziert riesige Mengen, die wie misslungene Babynahrung schmecken. Ich warf einen Blick zu ihr hinüber. Sie war gerade in irgendeine Diskussion mit Cathy verwickelt, fuchtelte dabei übertrieben dramatisch mit den Armen herum und saß so weit nach vorn gebeugt, dass ihr ein Ärmel in den Teller hing. Trotz ihrer herrischen Art war sie im Grunde ein ängstlicher und unsicherer, vielleicht sogar unglücklicher Mensch, aber stets großzügig – sie gab diese kleine Party anlässlich meiner Genesung und bevorstehenden Rückkehr in die Arbeit. Offenbar spürte sie meinen Blick, denn sie schaute zu mir herüber und lächelte mich an. Plötzlich sah sie wieder so jung aus wie die Studentin, die ich zehn Jahre zuvor kennen gelernt hatte.

Kerzenlicht schmeichelt jedem. Die Gesichter rund um den Tisch schienen auf geheimnisvolle Weise zu strahlen.

Ich betrachtete Seb, Poppys Ehemann. Er war Arzt, genauer gesagt Psychiater. Unsere Reviere grenzten aneinander, zumindest hatte er das irgendwann mal so ausgedrückt. Ich hatte mich nie als Besitzerin eines Reviers gesehen, aber Seb wirkte manchmal wirklich wie ein Hund, der in seinem Garten patrouillierte und jeden anbellte, der sich zu nahe heranwagte. Seine scharfen Züge wurden durch das freundliche, flackernde Licht etwas gemildert. Cathy wirkte nicht mehr dunkel und schwer, sondern golden und weich. Ihr Mann saß am anderen Tischende in geheimnisvolles Dämmerlicht gehüllt, während der Mann zu meiner Linken nur aus Licht- und Schattenflächen zu bestehen schien.

»Ich hab zu ihr gesagt: ›Wir haben alle das Bedürfnis, an irgendetwas zu glauben. Gott kann auch für unsere Träume stehen. Wir alle brauchen Träume.‹«

»Das stimmt.« Ich schob mir eine Gabel voll Kabeljau in den Mund.

»Liebe. ›Was ist das Leben ohne Liebe?‹, hab ich gesagt.

Ich hab gesagt« – er sprach jetzt lauter, an den ganzen Tisch gewandt – »›Was ist das Leben ohne Liebe?‹«

»Auf die Liebe«, meinte Olive und hob lachend ihr leeres Glas. Ihr Lachen klang wie das Geläut einer gesprungenen Glocke. Sie war eine große, dunkle, an einen Raubvogel erinnernde Frau, deren blauschwarzes Haar sich auf ihrem Kopf dramatisch türmte. Auf mich wirkt sie seit jeher eher wie ein Model, nicht wie eine Geriatrieschwester. Sie lehnte sich vor und platzierte einen schmatzenden Kuss auf den Mund ihres neuen Freundes, der zurückgelehnt neben ihr saß und einen leicht benommenen Eindruck machte.

»Gibt es jemanden in Ihrem Leben?«, murmelte mein Nachbar. Er war wirklich ziemlich beschwipst.

»Jemanden, den Sie lieben?«

Blinzelnd versuchte ich mich zu erinnern. An eine andere Party, ein anderes Leben, bevor ich fast gestorben und als eine Frau ins Leben zurückgekehrt war, deren Gesicht von einer Narbe zweigeteilt wurde: Albie in einem ungenutzten Schlafzimmer in einem fremden Haus, mit einer anderen Frau, die Hände auf ihrem erdbeerroten Kleid. Er streifte ihr die Träger von den Schultern, berührte ihre cremeweißen Brüste. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelegt. Ihr kräftig roter Lippenstift war verschmiert. Betrunken nuschelte er:

»Nein, nein, wir dürfen das nicht!«, ließ sie aber trotzdem gewähren, blieb völlig locker und passiv, während ihre Finger sich an seinem Reißverschluss zu schaffen machten. Ich hatte auf dem Treppenabsatz gestanden und zu ihnen hineingespäht, unfähig, mich zu bewegen oder einen Laut von mir zu geben. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Dingen, die man beim Sex tun kann, dachte ich damals, während ich auf diese Szene starrte. All die Gesten, von denen wir glauben, es seien unsere ganz persönlichen, gehören genauso anderen Leuten. Die Art, wie sie mit dem Daumen über seine Unterlippe strich. Ich mache das auch so. In dem Moment entdeckte mich Albie, und ich dachte: Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Arten, wie man seinen Geliebten mit einer anderen erwischen kann. Es erschien mir so abgedroschen. Sein schönes Hemd hing an ihm herunter.

Wir hatten einander angestarrt, die sich rekelnde Frau zwischen uns. Ich konnte meinen Herzschlag hören. Was ist das Leben ohne Liebe?

»Nein«, antwortete ich. »Zurzeit nicht.«

Poppy klopfte mit dem Messer gegen ihr Glas. Oben im ersten Stock hörte ich ein Kind kreischen. Über unseren Köpfen schlug etwas dumpf auf den Boden. Seb runzelte die Stirn.

»Ich möchte einen Toast aussprechen.« Poppy räusperte sich.

»Warte noch einen Moment, lass mich erst die Gläser nachfüllen.«

»Vor drei Monaten passierte Kit diese schreckliche …

Sache …«

Mein Tischnachbar wandte sich zu mir um und starrte auf mein Gesicht. Ich hob die Hand, um die Narbe zu bedecken, als könnte sein Blick sie zum Brennen bringen.

»Sie ist von einem Wahnsinnigen angegriffen worden.«

»Also …«, begann ich zu protestieren.

»Alle, die wie ich an ihrem Krankenbett gestanden …

die gesehen haben, was er ihr angetan hatte … wir waren völlig entsetzt.« Der Alkohol und die Rührung ließen Poppys Stimme schwanken. Verlegen starrte ich auf meinen Teller. »Aber niemand sollte sie nach dem äußeren Schein beurteilen.« Sie lief rot an und sah erschrocken zu mir herüber. »Ich meine nicht die … du weißt schon.«

Wieder hob ich die Hand ans Gesicht. Ich ertappte mich jetzt ständig bei dieser Geste des Selbstschutzes, zu der ich damals nicht fähig gewesen war. »Sie mag ja einen sehr sanften Eindruck machen, aber in Wirklichkeit ist sie eine starke, mutige Frau. Sie war schon immer eine Kämpferin, und deswegen sitzt sie jetzt auch hier bei uns und fängt am Montag wieder zu arbeiten an. Dieser Abend ist für sie, und ich möchte, dass ihr alle eure Gläser hebt, um ihre Genesung zu feiern und … na ja, das war’s eigentlich schon. Ich war noch nie besonders gut im Redenhalten.

Jedenfalls trinken wir jetzt auf unsere liebe Kit!«

»Auf Kit!«, riefen alle im Chor. Ihre Gläser stießen über den Resten des Essens klirrend aneinander. Alle Gesichter um mich herum leuchteten, lächelten mich an, verschwammen für ein paar Momente im Kerzenlicht, um dann von neuem Gestalt anzunehmen. »Kit!«

Ich brachte ein Lächeln zustande. Eigentlich wollte ich das alles gar nicht und fühlte mich deswegen schlecht.

»Komm schon, Kit, du musst auch eine Rede halten!«

Seb grinste mich an. Wahrscheinlich kennen Sie sein Gesicht oder seine Stimme. Sie haben bestimmt schon seine Meinung über alles Mögliche gehört, angefangen von Serienkillern bis hin zu kindlichen Albträumen oder kollektivem Massenwahn. Er macht mir oft Komplimente, lächelt mich an und tut sein Bestes, um mich aufzubauen, aber ich nehme an, im Grunde hält er mich für eine hoffnungslose Anfängerin in seinem Beruf. »Du kannst nicht nur schüchtern dasitzen und lieb schauen, Kit. Sag was!«

»Also gut.« Ich musste an Michael Doll denken, wie er sich mit erhobener Hand auf mich stürzte. »Eigentlich bin ich gar keine Kämpferin. Im Gegenteil, ich –« Von oben drang ein Schrei, gefolgt von lautem Geheul.

»Herrje!«, seufzte Poppy und stand auf. »Andere Kinder liegen um halb elf im Bett und schlafen. Unsere tragen noch Ringkämpfe aus. Bin gleich wieder da.«

»Nein, lass mich gehen!« Rasch schob ich meinen Stuhl zurück.

»Sei nicht blöd!«

»Nein, wirklich, ich möchte gern. Ich habe die Kinder den ganzen Abend nicht gesehen. Ich möchte ihnen gute Nacht sagen.«

Ich rannte praktisch aus dem Zimmer. Während ich die Treppe hinaufstieg, hörte ich Kinderfüße den Gang entlangrennen, begleitet von leisem Wimmern. Als ich schließlich in ihr Zimmer trat, lagen Amy und Megan bis zum Hals zugedeckt in ihren Betten. Megan, mit ihren sieben Jahren die Ältere der beiden, stellte sich schlafend, auch wenn mir ihre zitternden Lider verrieten, welche Anstrengung es sie kostete, die Augen geschlossen zu halten. Die fünfjährige Amy hatte die Augen weit offen.

Neben ihr auf dem Kissen lag ein Plüschhase mit Knopfaugen und abgewetzten Ohren.

»Hallo, ihr zwei!« Ich ließ mich auf dem Fußende von Amys Bett nieder. Im Licht des Nachtlämpchens konnte ich sehen, dass sie einen roten Fleck auf der Wange hatte.

»Kitty«, sagte sie. Abgesehen von Albie waren diese beiden die einzigen Menschen, die mich Kitty nannten.

»Megan hat mich geschlagen.« Megan setzte sich entrüstet auf. »Lügnerin! Sie hat mich gekratzt! Schau her! Man kann es noch genau sehen!« Sie hielt mir ihre Hand hin.

»Sie hat Spatzenhirn zu mir gesagt!«

»Hab ich nicht!«

»Ich bin gekommen, um euch gute Nacht zu sagen.«

Beide saßen jetzt mit zerzausten Haaren, leuchtenden Augen und geröteten Wangen in ihren Betten. Ich legte eine Hand auf Amys Stirn. Sie fühlte sich heiß und feucht an. Ein sauberer Geruch nach Seife und Kinderschweiß stieg von ihr auf. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase und ein spitzes Kinn.

»Es ist schon spät«, sagte ich.

»Amy hat mich aufgeweckt«, erklärte Megan.

»Oh!«, sagte Amy voller Entrüstung.

Von unten drang Stimmengemurmel und das Geklapper von Besteck herauf. Jemand lachte.

»Wie bringe ich euch zwei jetzt zum Einschlafen?«

»Tut es noch weh?« Amy stupste mit einem Finger gegen meine Wange. Ich zuckte zurück.

»Inzwischen nicht mehr.«

»Mummy sagt, es ist eine Schande«, erklärte Megan.

»Ja?«

»Und sie hat gesagt, dass Albie nicht mehr bei dir ist.«

Albie hatte sie oft gekitzelt und ihnen Lutscher geschenkt.

Oder die Hände vor den Mund gelegt und hineingeblasen, was dann wie der Schrei einer Eule klang.

»Das stimmt.«

»Wirst du jetzt keine Babys bekommen?«

»Schsch, Amy, so was sagt man nicht!«

»Eines Tages vielleicht schon«, antwortete ich. Ich spürte ein leichtes, sehnsüchtiges Ziehen in meinem Bauch. »Aber jetzt noch nicht. Soll ich euch eine Geschichte erzählen?«

»Ja!«, antworteten beide mit triumphierender Stimme.

Nun hatten sie erreicht, was sie wollten.

»Eine kurze.« Ich durchforstete mein Gedächtnis nach einer geeigneten Geschichte. »Es war einmal ein Mädchen, das lebte mit seinen zwei hässlichen Schwestern

…«

Aus den Betten ertönte einstimmiges Stöhnen. »Nein, die nicht!«

»Lieber Schneewittchen? Die sieben Raben? Rapunzel?«

»La-angweilig! Erzähl uns eine, die du dir selbst ausgedacht hast«, forderte Megan mich auf. »Eine Geschichte aus deinem Kopf.«

»Über zwei Mädchen …«, schlug Amy vor.

»… die Amy und Megan heißen …«

»… und ein Abenteuer in einem Schloss erleben.«

»Also gut, also gut! Mal sehen.« Ich begann zu sprechen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie ich weitermachen würde.

»Es waren einmal zwei kleine Mädchen namens Megan und Amy. Megan war sieben und Amy fünf. Eines Tages verirrten sich die beiden.«

»Wie?«

»Sie machten einen Spaziergang mit ihren Eltern. Es war am frühen Abend, und plötzlich kam ein schlimmes Gewitter, mit Donner und Blitz und wilden Sturmböen.

Die Mädchen versteckten sich in einem hohlen Baum, aber als der Regen aufhörte, merkten sie, dass sie ganz allein in einem großen Wald waren und keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden.«

»Gut«, meinte Megan.

»Deswegen sagte Megan, sie sollten losmarschieren und nach einem Haus suchen.«

»Und was habe ich gesagt?«

»Amy sagte, sie sollten die Brombeeren an den Büschen rundherum essen, um nicht vor Hunger zu sterben. Die beiden gingen und gingen. Immer wieder fielen sie hin und schürften sich die Knie auf. Es wurde dunkler und dunkler, am Himmel zuckten Blitze, und immer wieder flogen große schwarze Vögel ganz knapp an ihnen vorbei und gaben dabei schreckliche kreischende Geräusche von sich. Aus den Büschen starrten sie Augen an …

Tieraugen.«

»Panther.«

»Ich glaube nicht, dass es in dem Wald Panther –«

»Panther«, wiederholte Megan in bestimmtem Ton.

»Also gut, Panther. Plötzlich sah Megan ein Licht durch die Bäume schimmern.«

»Und was habe ich –«

»Amy sah es im selben Moment. Sie gingen darauf zu.

Als sie es erreichten, stellten sie fest, dass es von einer Öllampe stammte, die über einer hölzernen Rundbogentür hing. Die Tür gehörte zu einem großen, halb verfallenen Haus. Es war Furcht erregend, ein unheimlicher Ort, aber inzwischen waren die Mädchen so müde und ausgefroren, dass sie beschlossen, das Wagnis einzugehen. Als sie an die Tür klopften, hörten sie das Geräusch drinnen wie einen Trommelschlag widerhallen.« Ich legte eine Pause ein. Inzwischen saßen die Mädchen mucksmäuschenstill und mit offenem Mund da. »Aber niemand kam, und immer mehr große schwarze Vögel flatterten kreischend um sie herum, bis eine ganze Wolke von ihnen den Himmel verdunkelte. Schwarze Vögel, zuckende Blitze, Donnergetöse und dazu noch die Äste der Bäume, die sich gespenstisch im Wind wiegten. Schließlich drückte Megan fest gegen die Tür, bis sie quietschend aufschwang. Amy nahm die Öllampe vom Eingang, und zusammen betraten sie das halb verfallene Haus. Sie hielten sich an den Händen und spähten in jeden Winkel. Sie befanden sich in einem Gang, an dessen Wänden Wasser herunterlief. Sie folgten dem Gang, bis sie in einen Raum gelangten. Er war ganz blau gestrichen, sogar die hohe Zimmerdecke, und in der Mitte blubberte ein kalter blauer Brunnen. Sie konnten das Geräusch von Wellen hören, die an einen Strand klatschten. Es war ein Raum des Wassers, der Ozeane und fernen Länder, der ihnen das Gefühl gab, ihrem Zuhause ferner zu sein als je zuvor. Rasch gingen sie ein Stück weiter und kamen in einen zweiten Raum. Es war ein grünes Zimmer voller Farne und Topfpflanzen, und es erinnerte sie an die Parks, in denen sie so gern spielten. Plötzlich hatten sie schlimmer Heimweh als je zuvor. Deswegen gingen sie erneut weiter und kamen zu einem dritten Raum. Die Tür zu diesem war geschlossen.

Von außen war sie rot gestrichen. Aus irgendeinem Grund hatten sie große Angst vor diesem Raum, noch ehe sie die Tür geöffnet hatten.«

»Warum?«, fragte Megan. Sie streckte mir die Hand hin, und ich nahm sie fest in die meine.

»Hinter der roten Tür lag das rote Zimmer. Sie wussten, dass in diesem Zimmer alles war, wovor sie am meisten Angst hatten. Das waren für Megan andere Dinge als für Amy. Wovor hast du am meisten Angst, Megan?«

»Ich weiß nicht.«

»Hast du nicht Angst davor, in großer Höhe zu sein?«

»Ja. Und davor, aus einem Boot zu fallen und zu sterben.

Und vor der Dunkelheit. Und vor Tigern. Und Krokodilen.«

»Alles das war für Megan in dem roten Zimmer. Und für Amy?«

»Amy hasst Spinnen«, erklärte Megan genüsslich. »Sie schreit schon, wenn sie eine bloß von weitem sieht.«

»Ja, und Giftschlangen. Und Feuerwerksraketen, die in meinem Haar explodieren.«

»Ok. Was haben Megan und Amy als Nächstes getan?«

»Sie sind davongelaufen.«

»Nein, das sind sie nicht. Sie wollten das Innere dieses Raums sehen. Sie wollten die Tiger und Boote und Krokodile sehen –«

»Und die Giftschlangen –«

»Und die Giftschlangen. Sie schoben also die Tür auf, betraten das rote Zimmer, sahen sich darin um und stellten fest, dass alles darin rot war. Die Decke war rot, die Wände waren rot, sogar der Boden war rot.«

»Aber was war in dem Zimmer?«, fragte Megan. »Wo waren die Krokodile?«

Ratlos hielt ich inne. Was war tatsächlich in dem Zimmer? Über diesen Teil der Geschichte hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Einen Moment lang dachte ich an einen echten wilden Tiger, der sie beide auffressen würde.

»Da war ein kleiner Plüschtiger«, antwortete ich. »Und ein Plüschkrokodil.«

»Und eine Plüschschlange.«

»Ja, und ein kleines Spielzeugboot, und außerdem leckeres Essen und ein großes, schönes weiches Bett. Und die Eltern von Megan und Amy, die die zwei kleinen Mädchen ins Bett brachten, liebevoll zudeckten und ihnen einen dicken Gutenachtkuss gaben, woraufhin beide sofort einschliefen.«

»Mit einem Nachtlicht?«

»Mit einem Nachtlicht.«

»Ich möchte noch eine Geschichte hören!«, erklärte Megan.

Ich beugte mich zu ihnen hinunter und küsste ihre krause Stirn. »Nächstes Mal«, antwortete ich und wandte mich zum Gehen.

»Der Schluss war ein bisschen abrupt, fand ich.«

Erschrocken fuhr ich herum. Seb stand in der Tür und lächelte. »Wo hast du die Geschichte her? Aus der Bruno-Bettelheim-Sammlung von Gutenachtgeschichten?«

Er begleitete seine Frage mit einem Grinsen, aber ich meinte es ernst, als ich antwortete: »Das war ein Traum, den ich im Krankenhaus hatte.«

»Ich nehme an, in deinem roten Zimmer gab es weder Spielsachen noch ein warmes Bett.«

»Nein.«

»Was war in dem Zimmer?«

»Ich weiß es nicht.« Das war gelogen. Ich spürte, wie mein Magen sich verkrampfte.

Später machte mir mein betrunkener Freund, der daran glaubte, dass Gott der Urknall war, das Angebot, mich nach Hause zu fahren. Ich lehnte dankend ab und ging zu Fuß. Von Poppy und Seb bis zu meiner Wohnung in Clerkenwell waren es nur gut eineinhalb Kilometer. Der kühle, feuchte Wind blies mir ins Gesicht, und meine Narbe kribbelte leicht. Der Halbmond schwebte zwischen dünnen Wolken über den orangefarbenen Straßenlampen.

Ich fühlte mich zufrieden und zugleich traurig, auf jeden Fall ein wenig beschwipst. Ich hatte meine Rede dann doch noch gehalten – darüber, wie sehr mir der Beistand meiner Freunde in dieser schlimmen Zeit geholfen habe und dass ich das Leben jetzt noch mehr schätzte. Ich hatte all die abgedroschenen, aber wahren Phrasen von mir gegeben und anschließend Apfelkuchen gegessen. Dann hatte ich mich entschuldigt und war aufgebrochen. Nun war ich endlich allein.

Meine Schritte hallten in den leeren Straßen wider, wo Wasserlachen glitzerten und der Wind klirrende Blechdosen in die Hauseingänge trieb. Eine Katze schmiegte sich um meine Beine und verschwand dann im Schatten einer Seitenstraße.

Zu Hause fand ich eine Nachricht von meinem Vater auf dem Anrufbeantworter vor. »Hallo«, sagte er mit klagender Stimme. Er hielt inne, wartete einen Moment.

»Hallo? Kit? Hier ist dein Vater.« Das war’s.

Es war zwei Uhr morgens, und ich fühlte mich hellwach.

Mir schwirrte richtig der Kopf. Ich machte mir eine Tasse Tee – nichts leichter als das, wenn man alle ist. Ein Beutel, kochendes Wasser darüber, dazu ein paar Tropfen Milch.

Manchmal esse ich im Stehen vor dem Kühlschrank oder während ich in der Küche herumstöbere. Eine Scheibe Käse, einen Apfel, ein altes Brötchen aus der Tüte, einen Keks, auf dem ich geistesabwesend herumkaue.

Orangensaft trinke ich meistens gleich aus dem Karton.

Als Albie noch da war, gab es immer große, aufwändige Mahlzeiten – überkochende Pfannen voller Fleisch mit Unmengen von Kräutern und Gewürzen. Seltsame, unförmige Käse auf dem Fensterbrett. Entkorkt bereitstehende Weinflaschen. Lautes Lachen, das durch sämtliche Räume hallte. Ich ließ mich auf dem Sofa nieder und nippte an meinem Tee. Und weil ich allein war und in sentimentaler Stimmung, holte ich ihr Foto heraus.

Sie war damals in meinem Alter, das wusste ich, aber sie sah unglaublich jung aus, als wäre die Aufnahme vor langer, langer Zeit entstanden. Wie ein weit entferntes Kind oder jemand, den man durch ein Tor am Ende des Gartens erspäht. Sie saß in ausgefransten Jeansshorts und einem roten T-Shirt auf einem Flecken Gras, einen Baum im Rücken. Ihre nackten runden Knie waren vom Sonnenlicht gesprenkelt. Sie hatte ihr langes hellbraunes Haar hinter die Ohren geschoben, aber eine vorwitzige Strähne war entwischt und fiel ihr über ein Auge. Sie hatte ein weiches, rundes, mit winzigen Sommersprossen übersätes Gesicht und graue Augen und sah aus wie ich.

Das sagte jeder, der sie gekannt hatte: »Du bist wirklich das Ebenbild deiner Mutter. Armes Mädchen«, fügten sie dann meist hinzu. Damit meinten sie wohl mich. Oder sie.

Wahrscheinlich uns beide.

Sie starb, bevor ich alt genug war, um sie im Gedächtnis zu behalten, auch wenn ich oft versucht habe, mich durch den Nebel der ersten Lebensjahre hindurchzukämpfen, um zu sehen, ob ich sie an den ausgebleichten Rändern meiner Erinnerung finden konnte. Alles, was ich besaß, waren Fotos wie dieses und die Geschichten, die mir andere über sie erzählt hatten. Ich kannte sie nur durch die Worte anderer Menschen. Deswegen war das, was mir jetzt so sehr fehlte, auch nicht wirklich meine Mutter, sondern meine unglaublich zärtliche Vorstellung von ihr.

Dank des Datums, das mein Vater so gewissenhaft auf die Rückseite geschrieben hatte, wusste ich, dass sie zu dem Zeitpunkt bereits schwanger war, auch wenn man es noch nicht sah. Ihr Bauch war flach, aber ich war schon da. Für niemanden sichtbar. Deshalb liebte ich dieses Foto so: Es war ein Bild von uns beiden. Von mir und ihr und einer Zukunft voller Liebe. Ich berührte sie mit meinem Zeigefinger. Ihr Gesicht leuchtete. Ich muss immer noch weinen, wenn ich sie anschaue.

2. KAPITEL

Ich habe dem Silvesterabend immer mit einer gewissen Nervosität entgegengeblickt. Es gelingt mir einfach nicht, an einen wirklichen Neustart zu glauben. Eine Freundin hat mal zu mir gesagt, das bedeute, dass ich eigentlich mehr eine Protestantin als eine Katholikin sei. Sie meinte wohl damit, dass ich mein Leben hinter mir herschleppe: meine schmutzige Wäsche und mein unerwünschtes Gepäck. Trotzdem wollte ich mit meiner Rückkehr zur Arbeit einen neuen Anfang machen. In meiner Wohnung befanden sich noch jede Menge Sachen, die Albie zurückgelassen hatte. Obwohl unsere Trennung nun schon sechs Monate zurücklag, hingen immer noch ein paar von seinen Hemden im Schrank, und ein altes Paar Schuhe stand unter meinem Bett. Ich hatte ihn nicht richtig hinausgeworfen. Immer wieder tauchten Sachen von ihm auf. Wie Wrackteile, die nach einem Unwetter an den Strand gespült wurden.

An diesem Sonntagabend schlüpfte ich in eine weiße Baumwollhose und ein orangefarbenes Oberteil mit Dreiviertelärmeln, das am Ausschnitt wie eine feine Weste mit Spitze eingefasst war. Ich tuschte mir die Wimpern, gab etwas Gloss auf die Lippen und tupfte einen Hauch von Parfüm hinter die Ohren. Dann bürstete ich mein Haar und steckte es hoch, obwohl es noch leicht feucht war. Es spielte keine Rolle. Er würde kommen, und ein wenig später würde er wieder gehen, und ich würde wieder bei weit geöffneten Fenstern und zugezogenen Vorhängen in meiner Wohnung allein sein, ein Glas kalten Wein trinken und Musik hören, irgendwas Ruhiges. Ich stellte mich vor den hohen Spiegel in meinem Schlafzimmer. Die Frau darin wirkte recht gefasst. Ich lächelte, und sie lächelte zurück, hob ironisch die Augenbrauen.

Natürlich kam er zu spät. Er kommt immer ein bisschen zu spät. Normalerweise trifft er völlig atemlos, aber lachend ein und beginnt zu reden, kaum dass die Tür richtig offen ist. Ich hörte ihn schon lachen, bevor ich ihn das erste Mal sah. Ich drehte mich um, und da war er, zufrieden mit sich selbst. Beneidenswert, dachte ich damals.

Heute war er stiller, sein Lächeln wirkte vorsichtig.

»Hallo, Albie.«

»Du siehst sehr gut aus«, sagte er und betrachtete mich, als wäre ich ein Kunstwerk an einer Wand, über das er sich noch nicht recht schlüssig war. Er beugte sich vor und küsste mich auf beide Wangen. Seine Bartstoppeln kratzten über meine Haut, meine Narbe. Seine Arme ruhten fest auf meinen Schultern. Er hatte schwarze Tinte an den Fingern.

Ich erlaubte mir, ihn einen Moment anzusehen, ehe ich mich aus seiner Umarmung befreite. »Komm rein.«

Er schien mein geräumiges Wohnzimmer ganz auszufüllen.

»Wie geht’s dir denn, Kitty?«

»Gut«, antwortete ich mit fester Stimme.

»Ich hab dich im Krankenhaus besucht, nachdem ich davon erfahren hatte. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht daran. Natürlich nicht. Du hast wirklich schlimm ausgesehen.« Lächelnd hob er einen Finger, um damit über meine Verletzung zu fahren. Das schien den Leuten Spaß zu machen. »Es heilt gut. Ich finde, Narben können durchaus schön sein.«

Ich wandte mich ab. »Sollen wir loslegen?«

Wir fingen in der Küche an. Er nahm sein spezielles Pilzmesser, bei dem am Griffende eine Bürste zum Wegfegen von Erdresten angebracht war, sein Fondueset mit den sechs langen Gabeln, seine gestreifte Schürze und die lächerliche Kochhaube, ohne die er nicht an den Herd trat, außerdem drei Kochbücher. Ich erinnerte mich noch genau an den gedünsteten Aal. Das Passionsfruchtsoufflé, das so stark aufgegangen war, dass es oben am Herd klebte. Die mexikanischen Tacos, gefüllt mit Minze, Sauerrahm und Zwiebeln. Er aß auch mit Genuss, wobei er gleichzeitig mit der Gabel herumfuchtelte, sich Essen in den Mund stopfte, mit mir diskutierte und sich über die Kerzen auf dem Tisch zu mir herüberbeugte, um mich zu küssen. Letztes Jahr Weihnachten hatte er so viel vom Gänsebraten gegessen und ihn mit so viel kräftigem Rotwein hinuntergespült, dass er anschließend in die Notaufnahme musste, weil er sich einbildete, einen Herzinfarkt zu haben.

»Was ist damit?« Ich hielt eine Kupferpfanne hoch, die wir gemeinsam gekauft hatten.

»Behalte sie.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

»Und all die spanischen Teller, die wir –«

»Sie gehören dir.«

Aber er nahm seinen Morgenmantel mit, seine südamerikanische Gitarrenmusik, seine Gedichtbände und Physikbücher, seine auberginenfarbene Krawatte. »Ich glaube, das ist alles.«

»Möchtest du ein Glas Wein?«

Er zögerte einen Augenblick, ehe er den Kopf schüttelte.

»Ich muss zurück.« Er griff nach seiner Tasche.

»Seltsame alte Welt, nicht wahr?«

»Das ist alles?«

»Was?«

»Deine Grabrede auf unsere Beziehung. Seltsame alte Welt.«

Er starrte mich mit gerunzelter Stirn an. Über seiner Nase bildeten sich zwei vertikale Falten. Ich gab ihm mit einem beruhigenden Lächeln zu verstehen, dass es nicht wirklich eine Rolle spielte. Ich lächelte, als er aufstand, um mit seinen Kartons aufzubrechen, lächelte, als er mich zum Abschied küsste, lächelte, als er die paar Stufen zu seinem Auto hinunterging, und lächelte auch noch, als er davonfuhr. Ab jetzt würde ich nur noch nach vorn blicken, nicht mehr zurück.

Die Welbeck-Klinik steht in einem ruhigen Wohngebiet in King’s Cross. Als sie Ende der Fünfziger gebaut wurde, ging es in erster Linie darum, nicht den Eindruck zu vermitteln, dass es sich um eine Institution handelte, vor der die Leute Angst haben mussten. Das bedeutete im Grunde nur, dass das Gebäude nicht viktorianisch aussehen sollte, mit gotischen Türmchen und kleinen, winkligen Fenstern. Schließlich sollten darin Psychiater die Probleme ihrer Patienten lösen und sie als glückliche Menschen wieder in die Welt entlassen.

Leider kam die Architektur der Klinik so gut an, dass sie von allen Seiten mit Lob überschüttet wurde und mehrere Preise gewann. Das hatte zur Folge, dass sie das Erscheinungsbild neuer städtischer Schulen, Krankenhäuser und Altersheime beeinflusste, und die Welbeck-Klinik inzwischen sehr wohl wie eine Institution aussah. Normalerweise nahm ich das Gebäude gar nicht mehr richtig wahr. Es war der Ort, wo ich tagtäglich zur Arbeit ging, mir den Mund fusslig redete, Unterlagen studierte und Kaffee trank. Als ich das Haus jetzt nach mehreren Wochen der Abwesenheit das erste Mal wieder betrat, fiel mir auf, dass es bereits Spuren des Alters zeigte, der Beton Flecke und Risse aufwies. Die Eingangstür schabte über den steinernen Treppenabsatz und gab ein kratzendes Geräusch von sich, als ich sie aufzog.

Als ich Rosas Büro erreichte, kam sie sofort heraus und umarmte mich fest und lang. Dann hielt sie mich ein Stück von sich weg, um mich mit einem halb scherzhaften, prüfenden Blick zu betrachten. Sie trug eine anthrazitfarbene Hose und dazu einen schlichten marineblauen Pulli. Ihr Haar war mittlerweile ziemlich grau, und wenn sie lächelte, schien ihr Gesicht vor lauter feinen Fältchen zu schimmern. Was ging ihr jetzt durch den Kopf? Als ich sie vor fast sieben Jahren kennen gelernt hatte, war mir ihre außergewöhnliche Arbeit auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung bereits bekannt gewesen. Diese große Kinderexpertin, die selbst kinderlos geblieben war, hatte mir des Öfteren Rätsel aufgegeben, und manchmal fragte ich mich, ob wir anderen an der Klinik vielleicht darum wetteiferten, ihr klügster Sohn oder ihre gescheiteste Tochter zu sein. Die Art, wie sie die Welbeck-Klinik leitete, mochte etwas Mütterliches haben, aber es war trotzdem nicht ratsam, immer auf die Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit einer Mutter zu zählen. Sie konnte durchaus Härte beweisen.

»Du hast uns gefehlt, Kit«, erklärte sie. »Schön, dass du wieder da bist.« Ich sagte nichts, zog nur ein Gesicht, von dem ich hoffte, dass es meine Zuneigung für sie zum Ausdruck brachte. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch, fühlte mich wie an meinem ersten Tag am Gymnasium.

»Lass uns rausgehen und ein bisschen plaudern«, fügte sie forsch hinzu. »Ich glaube, es hat zu regnen aufgehört. Ist das Wetter zurzeit nicht verrückt?«

Wir steuerten auf den Garten hinter dem Haus zu und trafen unterwegs auf Francis. Er war ebenfalls lässig gekleidet, in Jeans und einem dunkelblauen Hemd. Wie üblich war er unrasiert, sein Haar zerzaust – ein Mann, der nicht so sehr wie ein Wissenschaftler, sondern mehr wie ein Künstler wirken wollte. Als er mich sah, schloss er mich in die Arme.

»Wie schön, dass du wieder da bist, Kit! Fühlst du dich wirklich schon fit genug?«

Ich nickte. »Ich brauche die Arbeit. Es ist bloß …

irgendwie fühlt es sich an, als würde ich nach einem schlimmen Sturz vom Pferd das erste Mal wieder in den Sattel steigen.«

Francis verzog das Gesicht. »Glücklicherweise war ich noch nie auch nur in der Nähe eines Pferdes. Am besten, man steigt gar nicht erst auf so ein großes Vieh.«

Vor einer Weile hatte es noch geregnet, aber inzwischen war die Sonne herausgekommen, und die feuchten Steinplatten glitzerten und dampften. Die Bänke waren zu nass zum Hinsetzen, sodass wir ein wenig linkisch beieinander standen.

»Erinnere mich daran, dass wir deinen Terminplan für heute durchsprechen«, erklärte Rosa, um etwas zu sagen.

»Als Erstes werde ich heute Morgen nach Sue sehen.«

Sue war eine magersüchtige Dreiundzwanzigjährige, die aussah, als könnte das Licht durch sie hindurchscheinen.

Ihre schönen Augen wirkten in ihrem kleinen Gesicht wie Teiche. Sie sah aus wie ein Kind oder wie eine alte Frau.

»Gut«, antwortete sie in forschem Ton. »Lass dir Zeit.

Und sag uns, wenn wir dir irgendwie helfen können.«

»Danke.«

»Eins noch.«

»Ja?«

»Du hättest im Grunde Anspruch auf Schmerzensgeld.«

»Oh.«

»Ja. Francis ist definitiv der Meinung, dass du gerichtliche Schritte einleiten solltest.«

»Der Fall ist eindeutig«, mischte sich Francis ein. »Was zum Teufel hat sich dieser Polizist nur dabei gedacht? Die Tatwaffe war seine eigene gottverdammte Tasse!«

Ich sah zu Rosa hinüber. »Wie denkst du darüber?«

»Ich würde lieber hören, wie du selbst darüber denkst.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es war alles so ein Durcheinander. Ihr wisst ja, dass die Staatsanwaltschaft

…« – ich versuchte mich an den Wortlaut des Schreibens zu erinnern, das ich erhalten hatte – »… darauf verzichtet hat, Anklage gegen Mr. Doll zu erheben. Vielleicht war es wirklich ein Fehler der Polizei. Vielleicht auch meiner –

oder einfach nur ein Unfall. Ich weiß nicht recht, worauf ich klagen sollte.«

»Ein paar Hunderttausend, schätze ich mal.« Francis lächelte.

»Ich bin nicht sicher, dass Doll wirklich jemanden verletzen wollte. Wahrscheinlich hat er bloß voller Panik um sich geschlagen, nach der Tasse gegriffen, sie gegen die Wand geknallt und erst sich selbst und dann mich damit geschnitten. Er war schon am Ende, bevor die Polizei mit ihm fertig war. Ihr wisst, was mit Menschen in Gefängniszellen geschieht. Sie drehen durch. Sie bringen sich um oder gehen auf andere Leute los. Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen.« Ich sah Rosa und Francis an.

»Seid ihr jetzt geschockt? Sollte ich eurer Meinung nach wütender sein? Auf Rache sinnen?« Ich schauderte. »Die von der Polizei haben ihn ziemlich unsanft zusammengeschlagen, bevor sie ihn in eine Zelle warfen.

Sie waren wohl der Meinung, mir damit einen Gefallen zu tun. Bestimmt sind sie fuchsteufelswild, weil er ungeschoren davongekommen ist.«

»Das sind sie in der Tat«, bemerkte Rosa trocken.

»Dabei war es Furths Fehler, auch wenn er das natürlich niemals zugeben wird. Und meiner. Vielleicht war ich einfach nicht konzentriert genug. Wie auch immer, ich sehe einfach keinen Sinn darin, gerichtliche Schritte gegen sie einzuleiten. Wem würde das helfen?«

»Die Leute sollten für ihre Fehler zur Verantwortung gezogen werden«, meinte Francis. »Du hättest sterben können.«

»Ich bin aber nicht gestorben. Es geht mir gut.«

»Denk wenigstens darüber nach.«

»Ich denke die ganze Zeit darüber nach«, gab ich zurück.

»Ich träume nachts davon. Irgendwie erscheint mir die Vorstellung, jemanden dazu zu bringen, mich mit Geld zu entschädigen, im Moment einfach nicht relevant.«

»Wenn du meinst«, erwiderte Francis in einem Ton, der in mir den Wunsch weckte, ihm eins auf die Nase zu geben.

Als ich abends nach Hause fuhr, regnete es wieder.

Warmer Sommerregen klatschte gegen meine Windschutzscheibe und ließ funkelnde, bogenförmige Wasserfontänen von den Reifen der vorbeidonnernden Lastwagen hochspritzen. Der Berufsverkehr wurde langsam dichter. Meine Augen fühlten sich müde an, und mein Hals war ein wenig entzündet.

Als ich vor meiner Wohnung am Straßenrand parkte, sah ich einen Mann vor der Haustür stehen. Er trug einen Regenmantel, hatte die Hände in den Taschen vergraben und blickte am Haus hinauf. Als er meine Wagentür zufallen hörte, drehte er sich um. Sein blondes Haar glänzte im Regen, und seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ich starrte ihn lange an. Er erwiderte meinen Blick, ohne etwas zu sagen.

»Detective Inspector Guy Furth«, brachte ich schließlich heraus.

Ich spürte seinen prüfenden Blick und bemühte mich, keine Miene zu verziehen.

»Sie sehen gut aus, Kit«, erklärte er und lächelte, als wären wir alte Bekannte.

»Was soll dieser Besuch?«

»Kann ich einen Moment reinkommen?«

Ich zuckte mit den Achseln. Es erschien mir leichter, einfach zuzustimmen.

3. KAPITEL

»Ich bin noch nie hier gewesen«, erklärte er und blickte sich um.

Ich musste über diese Bemerkung lachen. »Warum um alles in der Welt hätten Sie hier sein sollen? Wir sind uns erst ein einziges Mal begegnet. Erinnern Sie sich?«

»Es kommt mir öfter vor.« Er spazierte herum, als hätte er vor, die Wohnung zu kaufen. Schließlich trat er an das hintere Fenster, das auf ein Stück Wiese hinausging.

»Schöner Blick«, sagte er. »Das sieht man von vorn gar nicht.«

Ich schwieg. Er drehte sich zu mir um, ein Lächeln auf den Lippen, das aber von seinen Augen Lügen gestraft wurde. Sein Blick wanderte gehetzt und misstrauisch im Raum herum, wie bei einem Tier, das befürchtete, von hinten angegriffen zu werden. Ich hatte immer das Gefühl, dass sich meine Wohnung mit jedem neuen Menschen, der sie betrat, veränderte. Ich sah sie dann durch die Augen der betreffenden Person – beziehungsweise so, wie ich mir vorstellte, dass diese sie sah. Auf Furth wirkte diese Wohnung bestimmt karg und ungemütlich. Es gab ein Sofa und einen Teppich auf einem lackierten Holzboden.

In der Ecke stand eine alte Stereoanlage, daneben türmten sich meine CDs. Die Bücherregale quollen über, die Bücher lagen zum Teil auf dem Boden. Die Wände waren weiß gestrichen und fast kahl. Die meisten Bilder beunruhigten mich oder, noch schlimmer, hörten irgendwann auf, mich zu beunruhigen. Es schmerzte mich, wenn ich ein Bild, das mich anfangs aufgewühlt hatte, nach Wochen oder Monaten immer weniger wahrnahm, bis es irgendwann nur noch ein gewöhnlicher Dekorationsgegenstand war. Wenn mir ein Bild nicht mehr auffiel, hängte ich es ab oder trennte mich ganz von ihm, bis ich am Ende nur noch zwei besaß. Das eine war ein Gemälde von zwei Flaschen auf einem Tisch. Mein Vater schenkte es mir, als ich einundzwanzig war. Ein ziemlich durchgeknallter Freund von ihm, ein entfernter Cousin, hatte es gemalt. Ich konnte nie daran vorbeigehen, ohne von dem Bild in Bann gezogen zu werden. Das andere war ein Foto vom Vater meines Vaters, auf dem er zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester vor einem Vorhang in irgendeinem Fotostudio posierte. Das Bild musste Mitte der Zwanzigerjahre entstanden sein.

Mein Großvater trug einen Matrosenanzug. Alle drei hatten ein seltsam starres Lächeln aufgesetzt, als müssten sie das Lachen unterdrücken. Es war eine sehr hübsche Aufnahme. Eines Tages würde jemand dieses Bild an der Wand hängen haben, sich an seinem Anblick erfreuen und fragen: Wer wohl diese Kinder waren?

Ich sah zu Furth hinüber. Für ihn hatte das Foto natürlich keinerlei Bedeutung. Vielleicht lag in seinem Blick eine Spur von Überraschung oder Verachtung. Ist das alles? In diese Wohnung kommt Kit Quinn jeden Abend zurück?

Er trat ganz nahe an mich heran und sah mir mit einem so besorgten Ausdruck in die Augen, dass sich mir der Magen umdrehte. »Wie geht es Ihnen inzwischen?«, fragte er. »Ist mit Ihrem Gesicht alles in Ordnung?«

Bevor er über meine Narbe streichen konnte, trat ich einen Schritt zurück. »Ich dachte nicht, dass wir uns jemals wiedersehen würden«, erklärte ich.

»Wir hatten Ihretwegen ein sehr schlechtes Gefühl, Kit.«

Rasch fügte er hinzu: »Auch wenn niemand etwas dafür konnte. Er hat getobt wie ein Wahnsinniger. Es waren vier Mann von uns nötig, um ihn zu bändigen. Sie hätten besser aufpassen sollen. Schließlich hatte ich Ihnen gesagt, dass es sich um einen Perversen handelt.«

»Sind Sie deswegen gekommen? Um mir das zu sagen?«

»Nein.«

»Warum dann?«

»Um ein wenig mit Ihnen zu plaudern.«

»Worüber?«

Er wich meinem Blick aus. »Wir wollten einen Rat von Ihnen.«

»Wie bitte?« Ich war über diese unerwartete Antwort dermaßen verblüfft, dass es mir nur mit Mühe gelang, ein Kichern zu unterdrücken. »Sie sind wegen eines Falls hier?«

»Ja, richtig. Wir wollten mit Ihnen reden. Haben Sie was zu trinken da?«

»An was haben Sie denn gedacht?«

»Ein Bier vielleicht?«

Ich ging in die Küche, fand hinten in meinem Kühlschrank etwas bayerisch Aussehendes und brachte es ihm.

»Stört es Sie, wenn ich rauche?«

Ich holte ihm aus der Küche eine Untertasse. Er schob das Glas, das ich ihm gegeben hatte, zur Seite und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dann zündete er sich eine Zigarette an und zog mehrmals daran. »Ich arbeite gerade an einem Mordfall«, erklärte er schließlich. »Dem Regent’s-Canal-Mord. Sie haben davon gehört?«

Ich überlegte einen Moment. »Ich hab vor ein paar Tagen in der Zeitung davon gelesen. Eine Leiche, die am Kanal gefunden wurde?«

»Ja, genau, das ist der Fall. Was war Ihr Eindruck?«

»Hat sich traurig angehört.« Ich zog eine Grimasse. »Ein kleiner Artikel ganz unten auf der Seite. Dass es ihn überhaupt gab, lag einzig und allein daran, dass die Leiche ein paar üble Verletzungen aufwies. Ihr Name war zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt, stimmt’s?«

»Wir wissen ihn immer noch nicht. Aber wir haben einen Verdächtigen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Da habt ihr ja gute Arbeit geleistet. Aber –«

Er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Fragen Sie mich nach dem Namen des Verdächtigen.«

»Wie bitte?«

»Nun machen Sie schon!« Er lehnte sich mit verschränkten Armen und einem breiten Grinsen in seinem Stuhl zurück und wartete.

»Also gut«, antwortete ich gehorsam. »Wie lautet der Name des Verdächtigen?«

»Sein Name ist Anthony Michael Doll.«

Ich starrte ihn an, musste seine Worte erst verdauen. Er erwiderte meinen Blick mit triumphierender Miene.

»Verstehen Sie jetzt, warum Sie die Kandidatin für diesen Job sind? Perfekt, was?«

»Eine Gelegenheit, mich zu rächen«, sagte ich langsam.

»Ich habe mir die Chance durch die Lappen gehen lassen, in der Zelle auf ihn einzutreten, aber dafür kann ich jetzt vielleicht mithelfen, ihn wegen Mordes in den Knast zu schicken. So in etwa stellt ihr euch das vor, oder?«

»Nein, nein«, widersprach er in besänftigendem Ton.

»Mein Boss hätte einfach gern, dass Sie für uns arbeiten.

Keine Angst, Sie kommen dabei schon auf Ihre Kosten.

Und vielleicht macht es Ihnen sogar Spaß. Fragen Sie Ihren Freund Seb Weller.«

»Spaß«, sagte ich. »Wie könnte ich da widerstehen?

Schließlich hatten wir beim letzten Mal schon so viel Spaß miteinander.«

Ich ging zum Kühlschrank und zog eine offene Flasche Weißwein heraus. Ich schenkte mir ein Glas ein und hielt es ins dämmrige Licht. Dann nahm ich einen Schluck, spürte, wie die eiskalte Flüssigkeit meine Kehle hinunterlief. Ich starrte aus dem Fenster, auf die rote Sonne, die tief am türkisfarbenen Himmel stand. Es hatte zu regnen aufgehört und versprach ein schöner Abend zu werden. Ich drehte mich wieder zu Furth um.

»Warum glauben Sie, dass es Doll war?«

Er wirkte einen Moment überrascht, dann erfreut.

»Sehen Sie? Die Sache interessiert Sie. Doll verbringt seine Tage mit Fischen am Kanal. Er hält sich jeden gottverdammten Tag dort auf. Nachdem wir unseren üblichen Aufruf an alle gerichtet hatten, die zur betreffenden Zeit in der Gegend waren, hat er sich bei uns gemeldet.« Furth sah mich scharf an. »Überrascht Sie das?«

»Was?«

»Dass sich ein solcher Mann freiwillig meldet?«

»Nicht notwendigerweise«, antwortete ich. »Wenn er unschuldig ist, tut er besser daran, sich zu melden. Und wenn er schuldig ist …« Ich hielt inne. Ich wollte mich nicht in ein Beratungsgespräch hineinziehen lassen, das auf Furths grober Skizze von einem Verdächtigen basierte.

Er zwinkerte mir trotzdem zu, als hätte er mich bereits fest an der Angel. »Wenn er schuldig ist«, griff er meine letzten Worte auf, »dann möchte er womöglich auf irgendeine Weise bei den Ermittlungen mitmischen, wenn auch vielleicht nur ganz am Rand. Oder was meinen Sie?«

»So was ist schon vorgekommen.«

»Natürlich ist so was schon vorgekommen. Solche Leute fahren da voll drauf ab. Sie möchten nahe am Geschehen sein, um zu spüren, wie clever sie sind. Als kleinen Extrakick. Diese kranken Scheißkerle!«

»Was hat er denn überhaupt gesagt?«

»Wir haben noch nicht mit ihm gesprochen.«

»Warum nicht?«

»Wir werden ihn ein bisschen schmoren lassen. Aber wir haben auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Bei uns gibt es eine junge Beamtin namens Colette Dawes. Ein nettes Mädchen. Sehr clever. Sie hat sich mit ihm angefreundet.

In Zivil natürlich. Ihn zum Reden gebracht. Sie kennen so was ja. Ein bisschen Alkohol, ein paar Schmeicheleien, hin und wieder die Beine kokett übereinander geschlagen, wenn er gerade hinsieht, das Gespräch geschickt in die gewünschte Richtung gelenkt. Dabei hat sie die ganze Zeit ein Mikrofon getragen, und wir haben die Bänder.

Stundenlange Gespräche.«

»Und das nennen Sie ermitteln?«, fragte ich verblüfft.

»Eine Beamtin, die mit ihm flirtet?«

Furth beugte sich vor und starrte mich mit eindringlicher Miene an. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete er in verschwörerischem Tonfall. »Wir möchten nur Ihre professionelle Meinung über ihn hören. Ganz inoffiziell.

Es würde auch nicht lange dauern. Sie brauchten nur einen Blick in seine Akte werfen und dann kurz mit ihm sprechen. Sie wissen ja, wie so was läuft – einfach eine erste Beurteilung.«

»Ich soll mit ihm reden?«

»Ja, klar. Haben Sie damit ein Problem?«

Natürlich hatte ich damit ein Problem, und nun, da ich mir dessen bewusst geworden war, konnte ich nicht mehr Nein sagen. »Kein Problem«, antwortete ich. »Diese Frau, Colette Dawes, weiß sie, was sie tut?«

Furth zog ein Gesicht. »Sie kann gut auf sich selbst aufpassen. Wir sind sowieso immer in der Nähe. Hören Sie, Kit, ich verstehe durchaus, dass Sie Bedenken haben.

Wir dachten bloß, das Ganze würde Ihnen vielleicht gut tun.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier. Und gleichzeitig wolltet ihr sicherstellen, dass ich euch nicht auf Schmerzensgeld verklage, schoss mir durch den Kopf.

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte ich laut. »Vielleicht würde es mir tatsächlich gut tun.«

»Also, was meinen Sie?«

Ich stand auf, ging zum Fenster und sah auf die zwischen den Rückseiten von Bürogebäuden verborgene Rasenfläche hinaus. Es war inzwischen Abend geworden, aber längst nicht dunkel. Das Licht wechselte gerade von hartem Gelb zu Gold.

»Es ist eine Pestgrube, müssen Sie wissen«, erklärte ich.

»Was?«

»Während der Zeit der Pest wurden dort Leichen in eine Grube geworfen. Mit ungelöschtem Kalk bedeckt.

Begraben. Vergessen.«

»Ganz schön gruselig.«

»Nein, überhaupt nicht.« Ich drehte mich wieder zu ihm um.

»Bis jetzt kann ich nur sagen: Ich weiß nichts über Ihren Fall. Dass diese Frau für Sie Mata Hari spielt, halte ich für eine Schwachsinnsidee. Ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist, und ich will es auch gar nicht wissen.

Mir erscheint das Ganze reichlich verantwortungslos. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es illegal ist, aber letztendlich bin ich Ärztin, keine Juristin.«

»Lassen Sie mich Ihre Entscheidung trotzdem wissen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Reicht es in ein paar Tagen? Ich muss vorher noch mit jemandem sprechen.«

»Sie rufen mich an?«

»Ja.«

Nachdem er gegangen war, starrte ich noch lange Zeit aus dem Fenster. Nicht aus dem vorderen, Furth hinterher.

Nein, ich starrte auf das Gras hinaus, sah, wie sich im Abendlicht sein Grün veränderte, immer blasser wurde.

Leichen. Überall Leichen.

4. KAPITEL

Ich rief Rosa sofort zu Hause an. Ich konnte nicht warten.

»Ich hatte Besuch von Furth«, informierte ich sie.

»Von wem?«

»Dem Detective, der damals dabei war, als es passierte.

Als ich angegriffen wurde.«

Ich erzählte ihr die ganze Geschichte, und während ich redete, erschien sie mir selbst immer bizarrer und unwahrscheinlicher.

»Und was hast du geantwortet?«, fragte sie schließlich.

»Ich war völlig perplex.«

»Aber neugierig.«

»Neugierig? Ich fühlte mich magisch angezogen.«

»Was bedeutet das, Kit?«

»Ich wache nachts auf. Manchmal wache ich auch nicht auf, es scheint kaum einen Unterschied zu machen. In meinem Kopf erlebe ich es immer wieder, als würde es mir gerade erst passieren. Oder als stünde es mir kurz bevor, und ich könnte etwas tun, um es zu verhindern, die Uhr zurückdrehen. Es ist, als wäre ich wieder in diesem Raum, und um mich herum überall frisches rotes Blut.

Meines. Seines.«

»Und deswegen möchtest du Doll Wiedersehen und ihn auf seine normale menschliche Größe reduzieren?«

»Du bist einfach eine kluge Frau.«

»Weißt du, ich bin immer der Meinung gewesen, dass es gar nicht so wichtig ist, klug zu sein. Hör zu, Kit, ich werde dir jetzt einfach zwei Dinge sagen, die dir wahrscheinlich schon klar waren, als du beschlossen hast, mich anzurufen. Erstens: Tust du dir wirklich etwas Gutes, wenn du diesen Mann triffst? Und zweitens: Spielt es überhaupt eine Rolle, ob du dir damit etwas Gutes tust oder nicht? Man hat dich gebeten, einen Job zu machen.

Fühlst du dich dazu im Stande?«

»Ja. Ich glaube schon.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzes Schweigen.

»Es ist gefährlich, jemanden um Rat zu fragen, Kit. Man bekommt nicht immer den, den man wollte.« Sie seufzte.

»Tut mir Leid. Meiner Meinung nach solltest du es nicht tun. Warum werde ich bloß das Gefühl nicht los, dass du nicht auf mich hören wirst?«

»Es muss an der schlechten Telefonverbindung liegen.«

»Ja, das wird’s wohl sein.«

Ich legte den Hörer auf. Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Wieder klatschten Regentropfen gegen die Fensterscheiben, und der Wind rüttelte an den nassen Bäumen. Ein stürmischer Juli voller Wärmegewitter. Ich trat ans Fenster und blickte versonnen auf den Garten hinaus.

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner Träumerei.

»Kit, bist du es?«

Die Stimme klang sehr weit entfernt. In der Leitung knackte es. Ein Gespräch aus dem Ausland? Vielleicht auch nicht. New York kann näher klingen als Süd-London.

»Ja?«

»Hier ist Julie.« Ratloses Schweigen meinerseits. Julie.

Julie. Julie. Mir fiel niemand ein. »Julie Wiseman.«

»Oh , Julie. Aber ich dachte, du wärst …« Sie war weggegangen. Aus meiner Welt verschwunden.

»Ich bin zurück. Wieder in London.«

Zurück von wo? Sollte ich das wissen? Ich versuchte sie mir vorzustellen, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

Dunkles, lockiges Haar – hatte sie es damals nicht hochgesteckt getragen? Plötzlich erinnerte ich mich wieder. Ich musste lächeln. Lange Abende in billigen Restaurants, eingehüllt in Wolken von Zigarettenqualm.

Eines Abends waren wir alle so lange sitzen geblieben, dass irgendwann die Köche aus der Küche kamen und eine Flasche Wein mit uns tranken. Das Bemerkenswerteste war, dass Julie etwas getan hatte, wovon wir alle behaupteten, es auch tun zu wollen, insgeheim aber wussten, dass wir nie den Mut aufbringen würden. Sie war Mathelehrerin an einer Realschule gewesen, aber eines Tages hatte sie ihre Kündigung eingereicht und war zu einer Reise um die Welt aufgebrochen oder nach Südamerika, genau wusste ich es nicht mehr. Ich spürte, wie mir warm ums Herz wurde. Ich sagte ihr, dass sie uns gefehlt habe und wir uns freuen würden, sie wiederzusehen. Sie antwortete, sie würde mich am liebsten gleich besuchen, und im weiteren Verlauf unseres Gesprächs stellte sich heraus, dass sie ihren Besuch gern ein wenig ausdehnen würde. Nun fiel es mir wieder ein.

Sie hatte ihre Wohnung aufgegeben, bevor sie aus England verschwunden war. Was hatte sie damals eigentlich mit ihren ganzen Sachen gemacht? Alles verschenkt, wie ich sie kannte. So war Julie, großzügig mit ihren eigenen Sachen, aber auch großzügig mit denen anderer Leute. Ob sie ein, zwei Tage bleiben könne? Ich zögerte einen Moment, aber mir fiel kein einziger Grund ein, warum sie nicht ein paar Tage bei mir wohnen sollte.

Als sie zur Tür hereinkam, brachte sie einen Hauch der großen, weiten Welt mit. Ein großer Rucksack und eine braune Leinentasche landeten so heftig auf dem Boden, dass sie Staub aufwirbelten. Sie trug braune Lederschuhe, eine khakifarbene Hose aus einem groben Stoff und eine blaue Steppjacke, die irgendwie tibetanisch aussah. Julies Gesicht war nicht nur braungebrannt, es wirkte wie sandgestrahlt, von Wind und Wetter poliert. Auch ihre Hände und Handgelenke waren braun, und ihre Augen funkelten.

»Lieber Himmel, Kit, was um alles in der Welt ist mit deinem Gesicht passiert?«

»Na ja, weißt du, es war …«

Aber sie hatte sich bereits wieder abgewandt und wühlte in einer Plastiktüte herum.

»Ich hab dir was mitgebracht«, erklärte sie. Ich rechnete damit, dass sie irgendeinen alten, handgeschnitzten Buddha herausziehen würde, aber es war eine Flasche Gin aus dem Dutyfreeshop. »Vielleicht hast du ein bisschen Tonic zum Mischen«, meinte sie. »Ansonsten kann ich auch schnell lossausen und welches besorgen.«

Offenbar stand außer Frage, dass diese Flasche auf der Stelle geöffnet werden musste.

»Kein Problem«, sagte ich. »Ich habe welches da.«

»Und könnte ich mir auch rasch was zu essen machen?

Ich hab im Flugzeug ungefähr dreizehn Stunden geschlafen.«

»Wo kommst du denn gerade her?«

»Ich habe ein paar Wochen Zwischenstation in Hongkong eingelegt«, antwortete sie. »Eine erstaunliche Stadt. Vielleicht ein paar Spiegeleier.«

»Mit Speck?«

»Das wäre großartig. Und Brot, wenn du hast. Während der letzten paar Monate habe ich immer wieder davon geträumt, nach England zurückzukommen und mir so ein richtig schönes altes Pfannenfrühstück zu genehmigen –

Eier und Speck und Tomaten und Brot, alles zusammen gebraten.«

»Ich werde ein paar Tomaten besorgen. An der nächsten Ecke ist ein Laden, der rund um die Uhr geöffnet hat.«

»Ich hab noch was für dich.« Sie zog eine große Stange Zigaretten heraus.

»Ehrlich gesagt, rauche ich nicht.«

»Irgendwie war mir so«, meinte Julie mit einem Lächeln.

»Stört’s dich, wenn ich mir eine anzünde?«

»Überhaupt nicht.«

Fünfzehn Minuten später saß sie Julie gegenüber am Küchentisch und nippte an meinem Gin Tonic. Julie machte sich über den großen Teller mit dem ziemlich späten Frühstück her und trank dazu abwechselnd kleine Schlucke Gin und große Schlucke Tee, der die braune Farbe von Baumrinde besaß. Während sie aß, erzählte sie mir Bruchstücke von Geschichten: über anstrengende Klettertouren in großer Höhe, Kanus, Anhalter, Lagerfeuer, seltsames Essen, eine Flutkatastrophe, Kriegsgebiete, kurze sexuelle Begegnungen, eine handfeste Affäre in einem Apartment am Hafen von Sydney, einen Job an Bord einer Jacht und einen anderen als Kellnerin in San Francisco, auf Hawaii und in Singapur, oder war es Sao Paulo und Santo Domingo?

Und all das – daran bestand kein Zweifel – war wie eine Vorschau auf kommende Attraktionen. Die kompletten Geschichten würde sie mir in Gänze erzählen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war.

»Ich mag diese Wohnung«, erklärte sie. »Ich hab sie früher schon gemocht.«

Einen Moment lang starrte ich sie verblüfft an.

»Habe ich überhaupt schon hier gewohnt, als du damals weggegangen bist?«

»Natürlich«, antwortete sie und tunkte mit einem Stück fettigem Brot eine große Eidotterpfütze auf. »Ich war schon öfter hier. Einmal hast du mich zum Abendessen eingeladen.«

Sie hatte Recht, nun fiel es mir wieder ein. Ich empfand ihre Worte fast als Vorwurf. Sie hatte so vieles erlebt, so viele »Erfahrungen« gemacht und all diese Dinge gesehen, während ich die ganze Zeit nicht aus Clerkenwell herausgekommen war. Meine Arbeit war mir so wichtig erschienen, dass ich in all den Jahren, in denen Julie ihren Horizont erweitert hatte, kein einziges Mal im Urlaub gewesen war. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild. Ich sah schrecklich blass aus.

»Aber in einem Punkt bist du wirklich zu beneiden«, erklärte sie, klang dabei aber gar nicht neidisch. »Ich bin von der Leiter gestiegen. Der Karriereleiter, meine ich.

Jetzt muss ich einen Weg zurück finden. Sieh mich an.

Hier bin ich, wieder im Lande, aber für keinen Job geeignet.« Lachend wandte sie mir das Gesicht zu. Sie war offensichtlich – und völlig zu Recht, wie ich fand – sehr stolz auf sich. »Und du?« Vor diesem Moment hatte ich mich gefürchtet. »Was hast du so getrieben? Wie bist du zu dieser unglaublich erotischen Narbe gekommen?«

»Ein Typ ist in einer Polizeizelle auf mich losgegangen.«

»O mein Gott!« Sie war entsprechend beeindruckt.

»Warum?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich, weil er in Panik geraten ist.«

»Wie schrecklich.« Sie kaute laut vor sich hin. »Und du warst so richtig schlimm verletzt?«

»Ziemlich schlimm. Das Ganze ist vor drei Monaten passiert, und ich bin erst seit heute wieder in der Arbeit.«

»Seit heute? Ist dir das dann nicht zu viel?« Ihre Miene wirkte besorgt. »Dass ich mich einfach so bei dir einquartiere?«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Solange es nicht allzu –

«

»Was hat sich denn sonst noch ereignet? Außer dass du von einem Irren attackiert worden bist und fast gestorben wärst, meine ich.«

Ich zermarterte mir das Gehirn nach irgendeinem bedeutenden Ereignis. »Albie und ich haben uns getrennt«, erklärte ich.

»Endgültig.«

»Tja.« Julies Stimme klang mitfühlend. »Ich erinnere mich, dass du damals schon von Problemen gesprochen hast.« O verdammt, dachte ich. Wirklich? Vor drei Jahren schon? Anscheinend führte ich ein Leben wie einer von diesen altmodischen Tiefseetauchern, die mit schweren Eisenstiefeln ganz langsam am Meeresgrund dahinstapften. »Gibt es jemand Neuen?«

»Nein. Wir haben uns erst vor kurzem getrennt.«

»Oh«, sagte sie. »Und deine Arbeit?«

»Ich bin noch immer in der Klinik.«

»Oh.«

Ich musste irgendetwas Interessantes aus dem Ärmel schütteln. Unbedingt.

»Man hat mich gebeten, für die Polizei zu arbeiten. Es könnte sich sogar etwas Längerfristiges daraus entwickeln.

Als eine Art Beraterin.« Mit einer Außenstehenden darüber zu sprechen, ließ das Ganze plötzlich real erscheinen.

Sie nahm einen großen Schluck Gin und gähnte dann.

Ich sah ihre weißen Zähne, ihre rosa Zunge.

»Erstaunlich«, sagte sie. »Hab ich dir eigentlich schon von diesem seltsamen Typen erzählt, der mich und einen Freund mitgenommen hat, als wir auf dem Weg zu den Drakensburg-Bergen waren?«

Sie hatte mir noch nicht davon erzählt, aber wir zogen auf die Couch um, und sie holte es nach. Diesmal bekam ich die ganze Version zu hören. Ein beruhigendes Gefühl, Julie wie eine Katze auf dem Sofa ausgestreckt, genussvoll diese nun vergangenen Gefahren schildernd, während ich alle paar Minuten an meinem Drink nippte und es draußen langsam Nacht wurde. Als Julie schließlich verstummte und ich hochblickte, war sie eingeschlafen, ihren Drink noch in der Hand. Offenbar hatte ihr Gehirn ihrem Körper mitgeteilt, dass sie sich noch in Thailand oder Hongkong befinde und es in Wirklichkeit drei Uhr morgens sei. Vorsichtig nahm ich ihr das Glas aus der Hand, woraufhin sie etwas Unverständliches murmelte. Dann holte ich eine Bettdecke und breitete sie über ihr aus. Seufzend kuschelte sie sich hinein wie ein Hamster in sein Nest. Ich musste lächeln.

Dieser Zugvogel fühlte sich in meiner Wohnung bereits wohler als ich selbst.

Ich ging ins Schlafzimmer und zog mich aus. Es war ein sehr seltsamer Tag gewesen – voller hektischer Betriebsamkeit nach so vielen Wochen der Rekonvaleszenz. Die Gedanken schwirrten nur so durch meinen Kopf. Meine Haut fühlte sich kalt und nackt an, wie ein Zweig, den man aus seiner Rinde geschält hatte.

Ich schlüpfte ins Bett und versuchte es mir unter meiner eigenen Bettdecke gemütlich zu machen, was mir aber nicht so richtig gelingen wollte. Ich musste an das Mädchen denken, das tot am Kanal gefunden worden war.

Lianne, so hatte sie geheißen, zumindest hatte sie sich selbst so genannt. Einfach nur Lianne. Ein verlorenes Mädchen ohne richtigen Namen. Bald würde ich mehr über sie wissen. Jetzt wollte ich schlafen, um am nächsten Tag einen klaren Kopf zu haben, denn ich musste mich mit Doll treffen. Ich berührte meine Narbe. Schloss die Augen.

5. KAPITEL

Michael Dolls Einzimmerwohnung lag über einem Hundesalon in Homerton, in einer Straße voller seltsamer, schmuddeliger Läden, bei denen ich mich immer fragte, wie sie überhaupt existieren konnten. Beispielsweise der Tierpräparator, aus dessen Schaufenster ein ausgebleichter Eisvogel starrte. Wem es wohl in den Sinn gekommen war, einen Eisvogel auszustopfen? Außerdem gab es einen Klamottenladen, der Blumenschürzen und Trevirahosen mit Gummibandsteg feilbot, einen Laden, in dem alles weniger als ein Pfund kostete, sowie ein rund um die Uhr geöffnetes Lebensmittelgeschäft, wo eingedellte Dosen pyramidenförmig in den Regalen gestapelt waren und hinter der Kasse ein fetter Mann gelangweilt in der Nase bohrte. Nummer 24a. Eines der Fenster war mit einem sich blähenden Streifen Plastik abgedeckt. In der Wohnung brannte Licht.

Ich wandte mich an Furth. »Wissen Sie, eigentlich sollte es andersherum laufen. Sie sollten sich den Fall ansehen, eine Theorie entwickeln und anhand dieser Theorie einen Verdächtigen finden, statt sich einen Verdächtigen zu greifen und zu sehen, ob der sich irgendwie in Ihren Fall einpassen lässt. Ich helfe Ihnen auch nur deshalb, weil Sie’s bereits vermasselt haben, indem Sie Ihre verkabelte Colette mit dem hübschen Gesicht und den schlanken Beinen in die Schlacht geschickt haben.«

»Natürlich, Kit«, antwortete er in sanftem Ton, den Blick auf die trostlose Straße gerichtet. »Aber Ihnen geht’s gut, oder?«

»Bestens.« Ich würde ihm bestimmt nicht erzählen, dass ich seit drei Uhr morgens wach gelegen und mich auf diesen Moment vorbereitet hatte.

Als wir aus dem Wagen stiegen, spürte ich, wie sich mein Körper vor Angst verkrampfte. Ich ballte die Fäuste und hoffte, meine Nervosität unter meiner schwarzen Jeans, meinem langärmeligen weißen Shirt und meiner alten Wildlederjacke verbergen zu können. Mein Haar war locker zurückgebunden. Ich wollte lässig und entspannt wirken, zugleich aber auch geschäftsmäßig. Ich war die freundliche Ärztin, aber keine Freundin.

Ich drückte auf den Klingelknopf, konnte aber nicht hören, ob es oben läutete. Keine Reaktion. Ich klingelte noch einmal und wartete. Als sich nichts rührte, drückte ich gegen die Tür und stellte fest, dass sie offen war. Ich trat ins Haus und rief:

»Hallo? Michael?« Meine Stimme hing in der muffig riechenden Luft.

Das Treppenhaus war eng und kahl. Auf den Stufen lagen Staubflusen. Die Wände waren krankenhausgrün gestrichen. Das lackierte Geländer fühlte sich klebrig an, als hätten sich vor mir schon viele Menschen mit schwitzenden Fingern daran festgehalten. Furth und ich hatten kaum nebeneinander Platz, deswegen ging ich voraus, und er folgte, als würden wir eine Wendeltreppe in den Turm eines Schlosses hinaufsteigen. Während ich mich der Tür am Ende der Treppe näherte, stieg mir ein starker Fleischgeruch in die Nase. Schlagartig wurde mir bewusst, dass das alles völlig falsch war. »Wir dürfen das nicht tun«, sagte ich mit leiser Stimme zu Furth.

»Was meinen Sie?«, zischte Furth. »Hat Sie der Mumm verlassen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich muss allein mit ihm sprechen.«

»Wovon reden Sie überhaupt? Das kann ich auf keinen Fall zulassen!«

»Verstehen Sie denn nicht? Sie und ich und er, dieselbe Konstellation wie damals. Was soll er da denken?«

Furth blickte sich verzweifelt um, als stünde hinter ihm jemand, der ihm die Verantwortung abnehmen würde.

»Sie werden auf keinen Fall allein da hineingehen!«

»Sie haben mir doch gesagt, dass er ein kleiner Perverser ist. Wo liegt das Problem?«

»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich ihn für einen Mörder halte.«

Ich überlegte. »Sie bleiben auf der Treppe. Ich werde ihm sagen, dass Sie da sind. Das ist eine gute Lösung.«

Furth schwieg einen Moment. »Ich werde direkt vor der Tür warten. Sie brauchen nur zu rufen, und ich bin drin.

Haben Sie verstanden? Wenn Sie auch nur eine Sekunde lang Bedenken haben, dann schreien Sie, Kit.«

»Gut.« Ich holte tief Luft. »Warten Sie ein paar Stufen weiter unten, bis ich drin bin. – Michael?« Ich rief noch einmal Dolls Namen und klopfte dann fest gegen die Tür, die im gleichen deprimierenden Grünton gestrichen war wie die Wände.

Drinnen hantierte jemand mit einem Vorhängeschloss und öffnete die Tür dann einen Spalt weit. »Was wollen Sie?«

Ein schmaler Streifen von Dolls Gesicht spähte zu mir heraus. Seine Augen wirkten leicht blutunterlaufen, seine blasse Stirn zierten Dutzende winziger Pickel. Der Geruch war jetzt noch stärker wahrzunehmen.

»Ich bin’s, Kit Quinn, Michael. Dr. Quinn. Die Polizei hat bei Ihnen angerufen und Ihnen gesagt, dass ich vorbeikomme.«

»Aber ich habe Sie noch nicht erwartet, ich habe nicht

… Hier drin sieht’s fürchterlich aus. Sie kommen zu früh.

Es sieht wirklich schrecklich aus.«

»Das macht doch nichts.«

»Warten Sie. Warten Sie.« Die Tür ging zu, und ich hörte ihn drinnen hantieren. Dinge wurden über den Boden gezerrt, Schubladen zugeschlagen, ein Wasserhahn aufgedreht.

Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür wieder, diesmal ganz. Doll starrte mich an. Ich zwang mich zu einem Lächeln, das er erwiderte. Ich zwang mich, einen Schritt vorzutreten.

Er hatte sein strähniges Haar nach hinten gebürstet und sich mit irgendetwas einparfümiert. Der süßliche Duft, kombiniert mit dem Fleischgeruch, stieg mir unangenehm in die Nase.

Ich zwang mich, die Hand auszustrecken. Meine Finger schienen nicht zu zittern. Er schüttelte sie vorsichtig, als handelte es sich um eine Bombe, die jeden Moment explodieren könnte. Seine Handflächen fühlten sich weich und feucht an. Er konnte mir nicht in die Augen sehen.

»Hallo, Michael.« Er trat einen Schritt zurück, um mich in die Wohnung zu lassen. Als ich den Raum betrat, hörte ich ein leises Knurren, dann stürzte sich etwas Dunkles auf mich. Ich sah gelbe Zähne, eine rote Zunge und funkelnde Augen, roch den scharfen Atem des Hundes, bevor Doll ihn von mir wegziehen konnte.

»Platz, Kenny!« Kenny war groß, schwarzbraun und hatte ziemlich viel von einem Schäferhund. »Tut mir Leid.

Tut mir wirklich Leid!«

»Schon gut. Er hat mich nicht mal berührt.« Dabei schoss noch das Adrenalin der Angst durch meine Adern.

Aus der Kehle des Hundes drang weiterhin ein leises Knurren.

»Nein. Es tut mir so Leid! So Leid!«

»Ach so, Sie meinen das hier.« Ich berührte mein Gesicht. Er starrte auf meine Narbe.

»Es tut mir Leid«, sagte er noch einmal. »Wirklich, sehr, sehr Leid. Ich wollte nicht … Es war nur die Art, wie die einen dort behandeln … Es war nicht wirklich meine Schuld, Sie waren bloß gerade da, und die haben solche Dinge gesagt.«

»Ich bin nicht gekommen, um über diese Sache zu sprechen, Michael.«

»Sie gehören auch zu denen.«

»Nein, ich gehöre nicht zu denen. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Ich bin Ärztin, ich führe Gespräche mit Leuten, die Probleme haben oder die jemanden zum Reden brauchen. Und ich gebe der Polizei Ratschläge. Ein Beamter hat mich hergebracht, aber ich habe ihm gesagt, dass er draußen warten soll. Ich wollte, dass wir unter vier Augen sprechen können, nur Sie und ich.«

»Ja. Mich haben sie auch zusammengeschlagen, müssen Sie wissen. Es hat nicht nur Sie getroffen. Uns beide.«

Ich sah ihn an und fragte mich, woran es wohl lag, dass jemand wie Michael Doll nie einen normalen Job bekommen würde, und warum er die meisten Frauen abschreckte. Es gab dafür keine simple Erklärung.

Wahrscheinlich lag es daran, dass alles an ihm ein bisschen schief war. Ich musste an die Art und Weise denken, wie Betrunkene oft versuchen, nüchtern zu wirken, dabei aber niemanden hinters Licht führen können, auch wenn sie im Grunde alles richtig machen.

Doll imitierte ein normales, integriertes Mitglied der Gesellschaft. Er hatte sich anlässlich meines Besuches sogar besondere Mühe gegeben, indem er sein Hemd bis obenhin zugeknöpft und sich eine Krawatte umgebunden hatte. Die Krawatte an sich war nicht weiter ungewöhnlich, aber er hatte sie zu einem unglaublich festen, kleinen Knoten zusammengezogen, der aussah, als ließe er sich nie wieder lösen. Seine abgetragene Kordjacke war ihm eine Spur zu groß, er hatte den einen Ärmel nach innen, den anderen nach außen umgeschlagen, sodass man auf einer Seite das Futter sehen konnte. Sein Gürtel war an einer Stelle mit Kreppband umwickelt, anscheinend war er ausgefranst oder eingerissen. Er hatte sich rasiert, dabei aber eine ziemlich große Fläche ausgelassen, eine Insel aus Bartstoppeln an der Unterseite seines Kinns.

Ich wusste nicht, ob er ein böser Mensch oder ein Psychopath war. Ich wusste nur, dass er nichts besaß, nie etwas besessen hatte. Ich wusste, dass er allein lebte. Mir ist schon öfter durch den Kopf gegangen, dass die wichtigsten Worte, die jemand zu uns sagen kann, nicht

»Ich liebe dich« sind, sondern:

»In diesem Aufzug kannst du unmöglich das Haus verlassen.«

Solange wir Kinder sind, bekommen wir diese Worte immer wieder zu hören, sodass wir sie im Laufe der Zeit verinnerlichen und als Erwachsene schließlich zu uns selbst sagen. Während wir heranwachsen, lernen wir, das Gleiche zu tun und zu sagen wie die anderen, damit wir uns in der Welt bewegen können, ohne aufzufallen.

Menschen wie Michael Doll haben das nie gelernt, oder zumindest nicht auf die richtige Art und Weise. Sich so zu verhalten wie alle anderen ist für sie eine Fremdsprache, die sie ihr Leben lang mit einem seltsamen Akzent sprechen.

»Tee? Kaffee?« Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißperlen.

»Eine Tasse Tee wäre schön.«

Er nahm zwei Tassen aus einem ansonsten leeren Schrank. Auf der einen prangte ein Bild von Prinzessin Diana, bei der anderen war der Rand angeschlagen.

»Welche möchten Sie?«

»Vielleicht die Diana-Tasse?«

Er nickte, als hätte ich einen Test bestanden. »Sie war etwas ganz Besonderes. Diana.«

Einen Moment lang sah er mich an, dann wandte er nervös den Blick wieder ab. Er schob eine Hand unter sein Hemd und begann sich heftig zu kratzen. »Ich hab sie sehr gern gehabt. Möchten Sie … ähm …« Er deutete auf das Sofa.

Ich ließ mich vorsichtig darauf nieder und antwortete:

»Ja, viele Leute haben sie sehr gern gehabt.«

Er runzelte die Stirn, als suchte er nach den richtigen Worten, und wiederholte dann resigniert, weil ihm nichts anderes einfiel: »Sie war etwas ganz Besonderes.«

In einer Ecke des voll gestopften Zimmers, das zugleich als Wohnzimmer und Küche fungierte, lagen zwei große Knochen. Ein Schwarm von Fliegen summte laut um sie herum, ebenso wie um eine Schüssel auf dem Boden, die halb voll mit Hundefutter war, Fleisch in Gelee. An der Wand über dem kleinen, fettverschmierten Herd hing einer von den Kalendern, die ausschließlich nackte Frauen mit riesigen Brüsten und Schlafzimmerblick präsentieren. Auf dem Kochfeld stand eine Pfanne mit eintrocknendem Bohnengemüse. In der Ecke lief ein kleiner Fernseher, bei dem der Ton abgedreht war. Eine weiße Linie flackerte horizontal über den Bildschirm. Das Sofa zierten Hundehaare und eine Menge Flecken, über deren Herkunft ich nicht nachdenken wollte. Auf dem Boden lagen Bierdosen, Chipstüten und überquellende Aschenbecher herum. Durch die Tür konnte ich einen Teil von Dolls Schlafzimmer sehen. Die ganze Wand war mit Bildern behängt, die er aus Zeitungen und Zeitschriften gerissen hatte. Soweit ich es beurteilen konnte, reichten sie vom halb nackten Pin-up-Girl mit Schmollmund bis hin zu pornographischen Zeichnungen.

An der Wand waren Regale angebracht, aber nicht für Bücher, sondern für allerlei Krimskrams, der recht willkürlich zusammengewürfelt wirkte: eine Plastikballerina, bei der ein Bein am Knie abgebrochen war, sechs oder sieben alte, lädierte Radios, eine Fahrradklingel, mehrere schlammbeschmierte Stöcke, ein Hundehalsband, ein Notizbuch mit einem Tiger vorne drauf, ein Jo-Jo ohne Schnur, ein Glaskrug mit Sprüngen, ein pinkfarbenes Haarband, an dem eine Rose befestigt war, eine hellblaue Sandale, eine Haarbürste, ein Stück von einer Kette, eine Zinnschüssel, ein Knäuel Schnur, ein Häufchen farbige Büroklammern, mehrere alte Glasflaschen. Mir ging durch den Kopf, dass wahrscheinlich gut fünfzig Prozent der britischen Bevölkerung Michael Doll allein schon wegen der Verbrechen, die er dieser Wohnung angetan hatte, der Todesstrafe würdig befunden hätten.

Er bemerkte meinen Blick und erklärte halb stolz, halb abwehrend: »Das sind bloß Sachen, die ich gesammelt habe. Aus dem Kanal. Sie glauben gar nicht, was die Leute alles wegwerfen.«

Ich sah ihm zu, wie er je einen Teebeutel in die Tassen hängte und dann in die seine vier Löffel Zucker gab.

Dabei zitterte seine Hand so, dass ein Teil des Zuckers auf der Arbeitsfläche landete.

»Ich mag ihn süß«, erklärte er. »Möchten Sie einen Keks dazu?«

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich nichts hinunterbringen würde, worauf er auch nur einen Blick geworfen hatte. »Nein, danke. Aber tun Sie sich keinen Zwang an.«

Er nahm zwei Kekse aus einer Packung und tauchte beide so tief in seine Tasse, dass der Tee seine Fingerspitzen berührte. Als er sie wieder herauszog, waren sie so durchweicht und labberig, dass er sie auf der anderen Hand ablegen musste. Er hob sie an den Mund und leckte sie genüsslich ab. Seine Zunge war dick und gräulich. »Tut mir Leid«, sagte er mit einem Grinsen.

Ich führte meine Tasse ganz nah an die Lippen und tat, als würde ich nippen. »Also, Michael«, begann ich. »Sie wissen, warum ich hier bin?«

»Die von der Polizei haben zu mir gesagt, ich soll Ihnen von dem Mädchen erzählen.«

»Ich bin Ärztin und habe schon ein paar Mal mit Leuten gearbeitet, die Verbrechen dieser Art begehen.«

»Welcher Art?«

»Gewalttaten gegen Frauen. Die Polizei hat mich gebeten, sie in dem Kanalfall zu beraten.« In seinem gesunden Auge blitzte eine Spur von Interesse auf. Er sah mich zum ersten Mal richtig an. »Und deswegen«, fuhr ich fort, »bin ich sehr daran interessiert, mit jedem zu sprechen, der etwas gesehen haben könnte. Sie gehören zu den Leuten, die sich gemeldet haben. Sie waren in der Gegend.«

»Ich fische«, erklärte er.

»Ich weiß.«

»Ich sitze jeden Tag am Kanal. Wenn ich nicht arbeite.

Da unten ist es so friedlich, man ist weg von all dem Lärm. Irgendwie ist es ein bisschen wie auf dem Land.«

»Essen Sie die Fische, die Sie fangen?«

Doll starrte mich entsetzt an. »Ich kann Fisch nicht ausstehen«, erklärte er mit angewidertem Gesichtsausdruck. »Dieses schleimige, stinkende Zeug.

Außerdem, wer möchte schon etwas essen, das aus diesem Wasser kommt? Einmal hab ich meinem Hund einen mitgebracht. Er hat ihn nicht angerührt. Seitdem lasse ich sie einfach in meinem Netz und werfe sie am Ende des Tages zurück ins Wasser.«

»Sie waren ganz in der Nähe der Stelle, wo das Opfer gefunden wurde.«

»Stimmt.«

»Wissen Sie, was passiert ist?«

»Ich hab verfolgt, was in der Zeitung stand, aber das war nicht sehr viel. Ihr Name war Lianne. Ich hab ein altes Foto von ihr gesehen. Sie war noch ein richtiger Teenager.

Ungefähr siebzehn, heißt es. Mit siebzehn ist man noch ein Teenager. Schrecklich.«

»Haben Sie sich deswegen gemeldet?«

»Die Polizei hat dazu aufgerufen. Sie wollte mit jedem reden, der in der Gegend war.«

»Wie weit waren Sie von der Stelle entfernt?«

»Nur ein paar hundert Meter. Richtung Fluss. Ich war den ganzen Tag dort. Beim Fischen, wie ich schon gesagt habe.«

»Wenn Lianne dort vorbeigekommen wäre, dann hätten Sie sie gesehen.«

»Ich hab sie nicht gesehen. Aber vielleicht ist sie trotzdem vorbeigegangen. Ich bin beim Fischen immer ganz in Gedanken. Haben Sie sie gesehen?«

»Wie bitte?«

»Haben Sie die Leiche gesehen?«

»Nein.«

»Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«

»Stimmt.«

»Ist das ein schneller Tod?«

»Wenn man die Hauptschlagader durchschneidet, schon.«

»Das würde stark bluten, nicht wahr? Der Täter wäre voller Blut.«

»Wahrscheinlich. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen, denn da kenn ich mich nicht so genau aus. Haben Sie sich Gedanken über den Tathergang gemacht?«

»Ja, natürlich. Die Sache geht mir nicht aus dem Kopf.

Deswegen wollte ich ja auch hören, was die Polizei unternimmt.«

Ich nahm einen Schluck von meinem Tee. »Sie interessieren sich für die Ermittlungen?«

»Ich habe mit so was noch nie zu tun gehabt und mir gedacht, ich könnte vielleicht nützlich sein. Ich wollte mithelfen.«

»Sie haben gesagt, die Sache geht Ihnen nicht aus dem Kopf.«

Er setzte sich anders hin und nahm noch einen Keks aus der Packung, aß ihn aber nicht. Stattdessen brach er ihn in immer kleinere Stücke, bis schließlich nur noch Brösel auf dem Tisch lagen. »Ich gehe es immer wieder durch.«

»Sie gehen was durch?«

»Wie dieses Mädchen da am Kanal entlangspaziert und ihr plötzlich jemand die Kehle durchschneidet und sie stirbt.«

Ich zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche, die ich extra zu diesem Zweck aus Julies Vorrat entwendet hatte.

Er blickte hoch. Ich bot ihm eine an. Nachdem er sich eine genommen hatte, kickte ich meine Zündholzschachtel quer über den Tisch zu ihm hinüber, als wäre ich bei einem alten Freund zu Gast.

»Die von der Polizei haben Sie bestimmt schon gefragt, ob Sie sich an irgendwas erinnern können.«

»Stimmt.«

»Ich möchte von einem anderen Blickwinkel an die Sache herangehen. Vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein. Ich würde gern ein bisschen was über die Gefühle erfahren, die das Ganze bei Ihnen ausgelöst hat.«

»Was meinen Sie damit?«

»Liannes Ermordung.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich denke viel darüber nach.«

»Weil Sie in der Nähe waren?«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Was genau geht Ihnen durch den Kopf?«

»Ich gehe es im Geiste durch.«

»Was?«

»Es. Es.« Sein Ton klang beharrlich. »Ich denke darüber nach, wie es wohl war.«

»Was glauben Sie denn, wie es war, Michael?«

Er lachte. »Ist das nicht eigentlich Ihr Job? Versuchen Sie sich nicht vorzustellen, wie es wohl ist, eine Frau umzubringen?«

»Sie haben gesagt, die Sache gehe Ihnen nicht aus dem Kopf.«

»Ich habe nichts gesehen. Deswegen stelle ich es mir vor.«

»Genau das interessiert mich«, erklärte ich. »Wenn Sie nichts gesehen haben, warum haben Sie sich dann gemeldet?«

»Weil ich in der Gegend war. Die Polizei hat dazu aufgerufen.«

»Geht es Ihnen gut, Michael? Haben Sie mit jemandem darüber geredet?«

»Sie meinen, mit einem Arzt?«

»Ja.«

»Wozu?«

»Manchmal hilft es, darüber zu sprechen.«

»Ich habe darüber gesprochen.«

»Mit wem?«

»Einer Freundin.«

»Und?«

Er zuckte mit den Achseln. »Wir haben darüber geredet.«

Nachdem wir beide einen Moment geschwiegen hatten, fuhr ich fort: »Sie sind an dem Fall interessiert. Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie gern wissen möchten?«

Er wich meinem Blick aus. »Ich interessiere mich für die Vorgehensweise der Polizei. Ich würde gern erfahren, wie sie vorankommt. Es ist ein seltsames Gefühl, dort gewesen zu sein und nicht Bescheid zu wissen.«

»Wenn Sie über die Sache nachdenken, was sehen Sie dann vor Ihrem geistigen Auge?«

Er überlegte einen Moment. »Es ist, als würde ganz kurz ein Licht aufblitzen. Ich sehe die Frau.«

»Welche Frau?«

»Irgendeine Frau. Ich sehe sie den Treidelpfad entlanggehen. Plötzlich ist jemand hinter ihr, packt sie, schneidet ihr die Kehle durch. Ich sehe das alles im Bruchteil eines Augenblicks. Ich sehe es immer wieder.«

»Was empfinden Sie dabei?«

Er schüttelte sich, fast schaudernd. »Ich weiß nicht. Gar nichts. Ich bekomme es bloß nicht aus dem Kopf. Es ist einfach da. Ich wollte nur helfen.« Seine Stimme klang jetzt klagend und hoch, wie die eines kleinen Jungen.

Ich musste an die einzelnen Stationen seines Lebens denken, über die ich gestern in den Akten gelesen hatte, als ich aufs Revier gefahren war, um mit Furth zu sprechen: Mit acht Jahren war er ins Heim gekommen, nachdem er von seiner trinkenden Mutter vernachlässigt und von seinem Stiefvater geschlagen worden war. Mit sechzehn hatte er zwanzig verschiedene Heime und zehn Pflegeeltern hinter sich. Eine Geschichte des Bettnässens und Ausreißens. In der Schule war er gepiesackt worden, bis er schließlich angefangen hatte, selbst zu piesacken.

Während er bei wechselnden Pflegeeltern war, hatte er einmal eine Katze gequält, ein anderes Mal seine Bettwäsche in Brand gesteckt. Mit dreizehn war er in ein Spezialheim für gestörte Kinder gekommen, wo sein gewalttätiges Verhalten eskaliert war. Als er schließlich volljährig wurde, in eine schmuddelige Frühstückspension zog, durch die Straßen wanderte und im Park die Mädchen beobachtete, war er eine Bombe, die nur darauf wartete, hochzugehen.

»Niemand hört richtig zu«, fuhr er in klagendem Ton fort.

»Das ist das Problem. Niemand hört richtig zu. Man sagt etwas, aber die Leute hören einen gar nicht, weil sie einen für Abschaum oder sonst was halten. So nennen sie einen.

Sie hören gar nicht, was man sagt. Deswegen gehe ich zum Fischen an den Kanal, wo ich niemanden treffen muss. Ich kann den ganzen Tag dort verbringen, sogar wenn es regnet. Der Regen macht mir nichts aus.«

»Hat Ihnen denn wirklich nie jemand zugehört?«

»Kein Mensch«, antwortete er. »Nie. Und ganz bestimmt nicht sie.« Ich nahm an, dass er seine Mutter meinte. »Ihr hat nie was an mir gelegen. Nachdem man mich weggebracht hatte, ist sie mich nie besuchen gekommen.

Kein einziges Mal. Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt.

Wenn ich jemals einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen habe« – an dieser Stelle wurde sein Ton mehr als sentimental –, »dann werde ich sie immer knuddeln und streicheln und niemals gehen lassen.« Eine Säule aus Asche fiel auf seine Hose.

»Und die Leute in den Heimen?«, fragte ich. »Haben Ihnen die denn auch nicht zugehört?«

»Die? Das ist ein Witz, ein echter Witz! Manchmal habe ich schlimme Sachen gemacht, ich konnte nicht anders, ich war innerlich total voll gestopft und musste es rauslassen. Dann haben sie mich geschlagen und eingesperrt und nicht mehr rausgelassen, auch wenn ich noch so viel weinte.« Seine Augen füllten sich auch jetzt mit Tränen. »Niemand hört einen.«

»Was ist mit Ihren Freunden?«, fragte ich vorsichtig.

Achselzuckend drückte er seine Zigarette aus.

»Freundinnen?«

Nun wurde Doll leicht hektisch. Er zupfte an seiner Hose herum und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Es gibt jemanden«, antwortete er. »Sie mag mich, zumindest hat sie das gesagt. Ich habe ihr einiges erzählt.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Was ich so empfinde. Sie wissen schon.«

»Sie haben mit ihr über Ihre Gefühle gesprochen?«

»Gefühle, ja. Und andere Dinge. Sie wissen schon.«

»Gefühle, die Frauen in Ihnen auslösen?«

Er murmelte etwas Unverständliches.

»Die Gefühle, die Frauen bei Ihnen auslösen, machen die Sie nervös, Michael?«

»Ich weiß nicht.«

»Mögen Sie Frauen?«

Er kicherte nervös. »Natürlich. Auf dem Gebiet ist mit mir alles in Ordnung.«

»Ich meine, als Menschen. Sind Sie mit Frauen befreundet?«

Er schüttelte den Kopf, zündete sich eine neue Zigarette an.

»Wenn Sie an das ermordete Mädchen denken, was empfinden Sie dann?«

»Diese Lianne war ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist. Ich kann das gut verstehen. Ich bin auch davongelaufen, müssen Sie wissen. Ich habe immer geglaubt, meine Mom würde mich irgendwann zurückholen. Inzwischen würde ich ihr das Gesicht einschlagen, wenn sie sich blicken lassen würde. Mit einer ihrer Flaschen, bis nichts mehr davon übrig wäre. Das würde ihr eine Lehre sein.«

»Sie wollten also der Polizei helfen, weil Sie wussten, dass Sie in der Gegend gewesen waren?«

»Ja, genau. Ich gehe es immer wieder im Geist durch, ich kann einfach nicht damit aufhören. Ich denke mir Geschichten darüber aus.« Er sah mich an, wandte den Blick aber gleich wieder ab. »Ich gehe zum Kanal, setze mich hin und denke: Es könnte wieder passieren. Könnte es ja auch, oder? Es könnte wieder passieren, genau an der Stelle, wo ich sitze.«

»Macht Ihnen das Angst?«

»Irgendwie schon. Es …« Er leckte sich über die Lippen.

»Es macht mich irgendwie nervös und irgendwie, na ja

…«

»Aufgeregt?«

Er stand auf und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. »Glauben Sie mir?«

»Was soll ich Ihnen glauben, Michael?«

»Mir glauben«, wiederholte er in beharrlichem Ton.

Ich zögerte einen Moment, ehe ich ihm antwortete. »Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören, Michael. Um Ihre Sicht der Geschichte zu hören. Das ist mein Job: Ich höre mir die Geschichten an, die die Leute zu erzählen haben.«

»Werden Sie wiederkommen? Ich dachte, Sie wären total böse auf mich, nach allem, was … na ja, was passiert ist. Aber Sie behandeln mich gar nicht wie einen Nichtsnutz.«

»Natürlich nicht.«

»Und Sie sind hübsch. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich versuche nicht – Sie wissen schon, Sie anzumachen.

Sie sind eine Dame. Ich mag Ihre Augen. Grau. Wie der Himmel. Ich mag es, wenn Sie mich mit diesen grauen Augen ansehen.«

Furth saß mit finsterer Miene auf der Treppe. Fast wäre ich über ihn gestolpert.

»Also, was hatten Sie für einen Eindruck?«, fragte er, als käme ich gerade aus dem Insektenhaus im Zoo. Wir verließen das Gebäude und stiegen in den Wagen. Doll spähte wahrscheinlich durchs Fenster zu uns heraus. Was ihm wohl durch den Kopf ging, wenn er mich mit Furth sah? Ich drehte das Autofenster herunter und ließ den warmen Wind über mein Gesicht streichen. Ein paar dicke Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe, während der Himmel immer dunkler wurde.

»Ein armer Kerl.«

»Ist das alles? Ihr ganzes Psychogramm von ihm? Ein armer Kerl? Wir sprechen hier von dem Mann, der Ihr Gesicht ruiniert hat. Haben Sie das vergessen?«

Ich seufzte. »Also gut. Arm, traurig, ungebildet, ungeliebt, gestört, von Selbstmitleid erfüllt, selbstgerecht, boshaft, einsam, geschädigt, verängstigt.«

Furth grinste. »Dabei hatten Sie gerade mal die Vorspeise. Nun wird es Zeit für das Hauptgericht.«

6. KAPITEL

Als wir wieder auf dem Revier waren, klatschte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete mich mit einem dünnen Papierhandtuch ab. Bei der Gelegenheit entfernte ich auch gleich die letzten Spuren meines Lippenstifts.

Anschließend bürstete ich mir das Haar und band es strenger als zuvor zurück, ohne vorwitzige Strähnen entwischen zu lassen. Ich nahm meine Ohrringe ab und ließ sie in das Seitenfach meiner Umhängetasche fallen.

Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, als würde etwas Weiches, Undefinierbares über mein Gesicht streichen, Spinnweben oder feine Haarsträhnen. Die Luft war warm und stickig. Verbraucht. Als ich einen Blick in den fleckigen Spiegel warf, starrte mir ein strenges, blasses Gesicht entgegen. Ein farbloses Gesicht – aber das war im Moment ganz in Ordnung so.

Furth wartete auf mich, umgeben von lauter Umzugskartons. Er hielt ein winziges Handy ans Ohr gedrückt, das unter seinem glänzenden Haar halb verschwand, doch als er mich sah, ließ er es sofort in seine Brusttasche gleiten. »Die verdammten Telefone funktionieren nicht mehr«, erklärte er. »Die. Hälfte der Computer ist auch schon weg. In vielen Räumen gibt’s nichts mehr, worauf man sitzen kann, und in den meisten Toiletten fehlt das verdammte Klopapier.« Er machte eine heftige Bewegung mit seinem gemeißelten Kinn. »Nach oben«. sagte er.

Ich folgte ihm in einen kleinen quadratischen Raum, bei dem ein Fenster zugemalert war. In einer Ecke lehnte ein vertrockneter Gummibaum, in einer anderen lag ein zerbrochener Stuhl. Auf dem Tisch in der Mitte des Raums standen ein großer Kassettenrekorder und eine Schachtel mit Kassetten, die alle mit einer kleinen, sauberen Handschrift beschriftet waren. Furth setzte sich, und ich ließ mich ihm gegenüber nieder. Als ich merkte, dass sich unsere Knie unter dem Tisch fast berührten, zog ich meine ein wenig zurück.

»Bereit?«, fragte er, nachdem ich die Hände auf die hölzernen Armlehnen meines Stuhls gelegt hatte. »Wir haben bis zu der Stelle vorgespult, die Sie am meisten interessieren wird.«

Als ich nickte, drückte er auf die Play-Taste.

Zuerst erkannte ich die Stimme gar nicht. Zum einen klang sie höher, und die Sprechgeschwindigkeit war auch ganz anders – manchmal sehr schnell, sodass ich kaum verstehen konnte, was gesagt wurde, und dann von einer Sekunde auf die andere langsam und schleppend, wobei die einzelnen Silben sehr undeutlich ausgesprochen wurden. Eine Weile dachte ich, mit dem Gerät seit etwas nicht in Ordnung, die Batterie am Ende – aber als ich mich vorbeugte, konnte ich sehen, dass es an der Wand eingesteckt war und die Spulen völlig gleichmäßig liefen.

»Ich gehe dort hinunter. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich hinunter, und ich kann oft nicht schlafen, Dolly, weil ich immer daran denken muss …«

Ich drückte die Stop-Taste. »Dolly?«

Furth hüstelte ein wenig. »Colette – meine Kollegin Dawes – hat sich diesen Namen ausgesucht. Delores –

abgekürzt Dolly. Verstehen Sie? Er ist Doll, sie Dolly. Auf diese Weise ist sie auch mit ihm ins Gespräch gekommen.

Sie wissen schon – ›Was für ein Zufall‹, hat sie zu ihm gesagt und dabei erstaunt mit ihren langen Wimpern geklimpert, ›ich heiße auch Doll!‹ Clever, was?«

»Ich bin sprachlos vor Bewunderung.«

Er lachte. »Sie sind schwer zu beeindrucken, Kit Quinn.

Wollen Sie es weiter hören?«

»Ja, machen Sie weiter.«

»… an die Frauen. Du weißt schon.«

»Sprich weiter, Michael«, sagte die Frau. »Sprich weiter.«

»Ich gehe zu der Stelle, wo es passiert ist. Wenn niemand sonst dort ist, in der Dunkelheit. Dann stelle ich mich da hin, wo sie gestanden hat.«

»Ja?«

»Ja, Dolly. Ist das in Ordnung?«

»Natürlich, das weißt du doch.«

»Ich gehe da hin, und dann stelle ich mir vor – ich stelle mir vor, dass alles noch einmal passiert, genau wie an dem Tag damals. Das Mädchen kommt den Weg entlang, ein ziemlich hübsches Mädchen. Sie ist jung, vielleicht siebzehn, und sie hat langes Haar. Ich mag langes Haar.

Deins gefällt mir auch so gut, wenn du es offen trägst, Dolly. Eine Weile stelle ich mir vor, dass ich ihr bloß folge, ein paar Schritte hinter ihr. Sie weiß, dass ich da bin, aber sie dreht sich nicht um. Ich kann sehen, dass sie es weiß. Ihr Nacken wirkt plötzlich ganz steif, und sie geht ein bisschen schneller. Sie hat Angst. Sie hat total Angst vor mir. Ich fühle mich groß und stark. Du weißt schon.

Männlich. Überlegen. Sie geht ein bisschen schneller, ich gehe auch ein bisschen schneller. Der Abstand zwischen uns wird kleiner.«

Ein paar Momente lang herrschte Schweigen, man hörte nur jemanden atmen und ein leises Umgebungsgeräusch.

Colette Dawes sagte wieder: »Sprich weiter!« Diesmal klang ihr Ton ziemlich scharf, als wäre sie seine Lehrerin.

»Der Abstand zwischen uns wird kleiner«, wiederholte er. Er sprach jetzt sehr langsam. »Sie dreht sich um, und ich sehe ihren weit geöffneten Mund und ihre aufgerissenen Augen, und sie kommt mir vor wie ein Fisch, einer von meinen Fischen, bevor ich ihn zurück in das schmutzige Wasser werfe. Wie ein – Fisch in meiner Gewalt.«

Ich hörte Michael Doll lachen. Ein nervöses, perlendes Lachen. Wenigstens stimmte die Frau nicht mit ein.

Schweigen. Furth und ich saßen da und lauschten dem Drehen des Bandes. Ich warf einen Blick auf die anderen Kassetten in der Schachtel. Es waren noch drei, beschriftet und datiert. Doll begann wieder zu reden. »Bin ich deswegen ein böser Mensch? Was ich gerade gesagt habe

– macht mich das zu einem bösen Menschen, Dolly?«

»Hast du sie gehasst, Michael?«

»Du willst wissen, ob ich sie hasse?« Seine Stimme klang gequält. Ich machte mir im Geist eine Notiz, dass er eine andere Zeit gebraucht hatte als sie. Wie gern hätte ich jetzt einen Block vor mir liegen gehabt, auf den ich mir pedantische kleine Notizen hätte machen können. »Nein, ich hasse sie nicht. Ich liebe sie, das ist doch klar. Ich liebe sie. Liebe. Liebe.«

Furth beugte sich vor und schaltete die Kassette aus.

Dann lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück.

»Und? Was sagen Sie?«

Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. Der kleine Raum beengte mich. Ich trat ans Fenster und starrte auf die Häuserwand gegenüber, das dünne Rinnsal, das aus der leckenden Dachrinne nach unten lief. Wenn ich mir den Kopf verrenkte, konnte ich fast einen Strich des stürmischen grauen Himmels sehen.

»Ich würde gern mit Ihrer Kollegin Dawes sprechen.«

»Nun machen Sie aber um Himmels willen einen Punkt, Kit! Das Ganze ist keine große Sache. Wir wollen bloß Ihre fachliche Meinung, basierend auf Dolls Herkunft und seinem sozialen Umfeld. Es reicht, wenn Sie uns sagen, welchen Eindruck er und sein aufgenommenes Geständnis auf Sie gemacht haben. Welcher Sorte Mensch Sie Doll nach reiflicher Überlegung zuordnen würden, blah, blah, Sie kennen das ja. Sie haben ihn gehört. Er war es. Er hat so gut wie gestanden, dass er das Mädchen getötet hat, und jetzt geilt er sich daran auf, holt sich Nacht für Nacht in seiner schmuddeligen Bude einen runter, während er sich seine schmutzigen Fotos ansieht und daran denkt. Er ist ein Perverser, ein Mörder. Kein Mensch, dem man irgendwie nahe kommen möchte, wie Sie selbst am besten wissen. Sie haben ja erfahren, wozu er fähig ist. Schreiben Sie einfach ein paar Zeilen darüber, was für einen Eindruck Sie von ihm hatten.«

»Ich will nur ganz kurz mit Colette Dawes reden. Dann schreibe ich Ihnen den Bericht. In Ordnung?«

Er runzelte die Stirn. Mit einem Seufzer schob er die Hände in die Hosentaschen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Die Frau, die durch die Tür kam, trug ein Klemmbrett und einen Packen Kuverts. Mir war sofort klar, wieso Doll ihr vertraut hatte. Sie besaß gelbblondes Haar und ein glattes, weich konturiertes Gesicht, in dem es keine Kanten zu geben schien, keine Knochen. Ihre helle Haut schimmerte rosig, und sie wirkte sehr jung. Wir gaben uns die Hand.

»Hat Ihnen Furth gesagt, wer ich bin?«

»Nicht wirklich«, antwortete sie. »Sie sind Ärztin oder so was.«

»Ja. Furth wollte von mir einen Rat im Fall Michael Doll. Ich habe mir seine Akte angeschaut und einen Teil der Aufnahmen gehört.«

»Und?«

»Ich wollte kurz mit Ihnen reden.«

»Ja, das hat DI Furth schon gesagt. Ich hab nicht viel Zeit, bin gerade dabei, Aktenschränke auszuräumen.«

»Eine Viertelstunde, länger werde ich Sie nicht beanspruchen. Sollen wir ein Stück gehen?«

Sie wirkte misstrauisch, schob aber das Klemmbrett und die Kuverts über den Tisch des diensthabenden Beamten und murmelte ihm etwas zu, das ich nicht verstand.

Schweigend gingen wir hintereinander die Treppe hinunter und auf die Straße. Das Polizeirevier Stretton Green liegt in einer ruhigen Nebenstraße, aber man braucht zu Fuß nur eine Minute bis zur Stretton Green Road. Dort gibt es einen Naturkostladen, in dem auch ein paar Kaffeetische stehen. Wir ließen uns in einer Ecke nieder, und ich bestellte bei einer jungen Frau, die mit einer Zeitung neben der Kasse saß, zwei Tassen schwarzen Kaffee.

»Zehn«, sagte ich, nachdem uns die Frau unsere Tassen gebracht hatte.

»Was?«, fragte Colette Dawes.

»Piercings«, antwortete ich. »Im einen Ohr drei, im anderen vier, zwei in der Nase und eins in der Unterlippe.

Und wer weiß, wo sie sonst noch welche hat.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, gab mir aber keine Antwort.

»Colette. Ist es in Ordnung, wenn ich Sie Colette nenne?«

»Klar.«

»Also, Colette, es ist wirklich erstaunlich, was Sie aus Doll alles herausbekommen haben.« Sie zuckte mit den Schultern.

»War es schwierig?«

Erneutes Schulterzucken.

»Wo haben die Gespräche stattgefunden?«

»An verschiedenen Orten.«

»Mich interessiert vor allem das, in dem er den Mord so detailliert beschreibt.«

»Da waren wir in seiner Wohnung.«

»War er Ihnen sympathisch?«

Sie hob den Kopf und musterte mich einen Moment lang scharf, dann wandte sie den Blick wieder ab. Durch ihre bleiche Haut leuchteten plötzlich rote Flecken. »Natürlich nicht.«

»Oder haben Sie ein wenig Mitgefühl für ihn empfunden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, Doktor.«

»Kit.«

»Kit. Hören Sie.« Ihre Stimme klang, als würde sie langsam wütend. »Haben Sie den Bericht des Pathologen nicht gelesen?«, fuhr sie fort.

»Nein, das ist nicht mein Aufgabenbereich. Mir geht es nur um Michael Doll.«

»Er ist ein gefährlicher Mann. Wissen Sie das nicht?«

»O doch, das weiß ich.«

»Was wollen Sie dann? Wollen Sie den nächsten Mord abwarten, in der Hoffnung, dass wir ihn dann kriegen können? Vielleicht schlägt das nächste Opfer ja zurück und fängt ihn für uns – ist es das, worauf Sie warten?«

Als ich mich zurücklehnte, ohne auf ihre Frage zu antworten, sprach sie weiter.

»Furth und die anderen haben in diesem Fall gute altmodische Polizeiarbeit geleistet. Sie waren Tag und Nacht damit beschäftigt, alle zu überprüfen, die sich in der betreffenden Gegend aufgehalten haben. Irgendwann ist Furth dann auf das Material über Doll gestoßen. Hat er Ihnen das erzählt?«

»Nein.«

»Daraufhin habe ich mich mit Doll angefreundet, ihn zum Reden gebracht. Das war alles andere als nett. Ich weiß also nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee, wobei ich bewusst darauf achtete, die Tasse nicht ganz auszutrinken.

Ich wollte nicht, dass sie schon ging. »Ich möchte nur alle Informationen über Doll, die ich kriegen kann. Okay?«

Als Antwort nickte sie nur ganz leicht.

»Also, Colette, was war Ihr Plan, nachdem Sie sich mit ihm angefreundet hatten?«

»Ich wollte ihn bloß zum Reden bringen.«

»Über den Mord?«

»Ja, genau.«

»Aber das ist sehr schwierig, oder nicht? Können Sie mir ein bisschen was über Ihre Gespräche erzählen?«

Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn, und sie schob sie zurück. »Doll hat nicht gerade viele Freunde. Ich glaube, er brauchte ganz dringend jemanden zum Reden.«

»Oder einen Freund.«

»Das läuft auf dasselbe hinaus.«

»Ja«, gab ich ihr Recht. »Wie lange kennen Sie ihn inzwischen?«

»Nicht lange. Ein paar Wochen.«

»Wenn ich richtig verstanden habe, gab es drei oder vier aufgezeichnete Gespräche, und der Teil, den ich gehört habe, stammte aus dem letzten. Stimmt das?«

»Ja.«

»Wie waren die ersten?«

»Wie meinen Sie das?«

»Hat er über den Mord gesprochen?«

»Nein.«

»Haben Sie das Thema zur Sprache gebracht?«

»Ein wenig.«

»Hat er sofort darüber gesprochen?«

»Ich musste erst sein Vertrauen gewinnen.«

»Sie meinen, er musste Vertrauen zu Ihnen fassen, bevor er Ihnen erzählte, dass er jemanden ermordet hatte?«

»Er hat nicht direkt gestanden, oder? Das ist ja der Grund, warum man Sie hinzugezogen hat.«

Ich stützte mich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, was den Abstand zwischen Colette und mir drastisch verringerte. »Wissen Sie, ich habe schon mit vielen Leuten gesprochen, die schreckliche Probleme, schreckliche Dinge getan hatten. Die erste Hürde ist in solchen Fällen immer, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, ehrlich zu sein und alles zu erzählen. Wie haben Sie das geschafft?«

»Haben Sie eine Zigarette für mich?«, fragte sie.

»Wie es der Zufall so will, ja«, antwortete ich und zog das für Doll bestimmte Päckchen aus der Tasche.

»Ich habe ihn dazu ermutigt, offen zu sprechen«, erklärte sie.

»Ich habe ihn nach seinen Geheimnissen gefragt.«

»Sie haben ihn nach seinen Geheimnissen gefragt, und daraufhin hat er ihnen erzählt, er habe einen Mord begangen?«

»Nein, so war es nicht. Ich habe mit ihm über seine Fantasien gesprochen.«

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat sich das nicht im Pub abgespielt. Diese Gespräche haben in seiner Wohnung stattgefunden.«

»Ja.«

»Sie haben das Gespräch auf die Themen Sex und Gewalt gelenkt.«

Sie zog an ihrer Zigarette. »Ich habe ihn ermutigt zu reden. Wie man das eben macht. Wie Sie das machen.«

»War es so eine Art Quidproquo? Haben Sie ihm Ihre eigenen Fantasien erzählt und ihn dann aufgefordert, es Ihnen gleichzutun?«

»Ich habe versucht, ihn zum Reden zu bewegen. Ich musste ihm zeigen, dass mich nichts schockieren würde, was er mir auch zu erzählen hätte.«

»Aber die ersten zwei langen Gespräche, die Sie mit Doll geführt haben, waren nicht sehr ergiebig?«

»Nicht besonders.«

»Natürlich haben sich Furth und die anderen die Bänder angehört.«

»Natürlich.«

»Und sie haben gesagt, sie seien nicht ergiebig.«

»Sie waren nicht ergiebig.«

»Und daraufhin haben die Kollegen gesagt: ›Versuch es noch mal und sieh zu, dass du was aus ihm herauskriegst.‹«

»Nicht direkt.«

»Aber sie haben gesagt, dass Sie sich noch mehr bemühen sollen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich stelle mir vor, dass sie so was gesagt haben wie:

›Warum sollte Doll dir was erzählen? Du musst ihn ein bisschen mehr ermutigen.‹«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe ihn bloß zum Reden gebracht.«

»Absolut. Was ich gehört habe, war großartiges Material. Wirklich widerlich. Keine Frage, Colette, Sie haben es noch mal versucht und bekommen, was Sie wollten.«

»Ich habe nur meinen Job gemacht.«

»Sie treffen sich mit diesem seltsamen, gestörten, extrem unsozialen Mann, und schon beim dritten oder vierten Treffen präsentiert er Ihnen eine schauerliche Fantasie über den Mord an einer Frau. Sie wissen, worauf ich hinauswill, nicht wahr?«

»Ich habe nur meinen Job gemacht.«

Ich beugte mich vor, bis sich unsere Nasen fast berührten.

»Haben Sie mit Michael Doll geschlafen?«

Sie zuckte zurück. »Nein.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Dann wiederholte sie etwas lauter: »Nein.«

Ich fixierte sie beharrlich. »Sie waren verkabelt.

Vielleicht wäre Sex im engeren Sinn problematisch gewesen, aber vielleicht war es nicht Sex im engeren Sinn.«

»Nein«, antwortete sie mit einem Kopfschütteln. Sie rieb sich den rechten Augenwinkel.

»Gut«, sagte ich in sanftem Ton. »Lassen Sie uns aufbrechen.«

Schweigend gingen wir zurück. Auf der Treppe, die zum Revier hinaufführte, blieb ich stehen und hielt sie zurück.

»Colette«, sagte ich.

Sie sah mich nicht an.

»Wer hat Sie auf Ihre Aufgabe vorbereitet? Wer hat Ihnen Ratschläge erteilt?«

»Nur Furth.«

»Okay«, sagte ich. »Und was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie jetzt an die Sache denken?«

»Was sollte ich für ein Gefühl haben?«

»Na ja, vielleicht macht es Ihnen im Nachhinein zu schaffen.«

»Wieso? Das ist das Problem mit Leuten wie Ihnen. Sie versuchen jedem was einzureden.«

»Ich wollte bloß mein Mitgefühl zeigen.«

»Ich brauche kein Mitgefühl.«

Nachdem wir uns sehr kühl voneinander verabschiedet hatten, rief ich sofort Furth an. Er meldete sich mit forsch-fröhlicher, zuversichtlicher Stimme. »Und?«, fragte er.

»Ich muss sämtliche Bänder hören«, erklärte ich.

7. KAPITEL

Ich schlief unruhig, wachte immer wieder auf und verschlief dann am Morgen. Während ich hin und her rannte und mich fertig machte, trank ich rasch ein paar Schluck Kaffee. Julie kam aus ihrem Zimmer. Sie trug nichts als eine alte Jacke von mir, offenbar ein Fundstück aus dem Schrank in dem ansonsten ungenutzten Zimmer, das ich erst ansatzweise als Arbeitszimmer einzurichten versucht hatte. Im Moment war es ihr Zimmer. Wir mussten uns bald mal zusammensetzen und über ein paar Dinge reden. Sie sah aus wie ein Nagetier, das man aus dem Winterschlaf gerissen hatte. Ihre Haare waren zerzaust und aufgeplustert, ihre Augen zusammengekniffen, als würde das Tageslicht sie blenden.

»Ich hab nicht gewusst, dass du so früh aufstehst«, erklärte sie. »Sonst hätte ich dir Frühstück gemacht.«

»Es ist zwanzig vor neun«, antwortete ich, »und ich hab’s ziemlich eilig.«

»Ich werd ein bisschen einkaufen«, sagte sie.

»Musst du aber nicht.«

»Tu ich gern.«

Auf der Fahrt zum Polizeirevier hatte ich das ungute Gefühl von schicksalhafter Unvermeidlichkeit, fast wie damals, als mir mit fünfzehn meine erste richtige Abschlussprüfung bevorstand. Ich saß kerzengerade auf dem Fahrersitz und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Meine Wirbelsäule fühlte sich an wie eine Metallstange, meine Nackenmuskeln schmerzten vor Anspannung, und ich biss gegen meinen Willen die Zähne zusammen. In meinem Kopf pochte es, als würde jemand mit den Fingerknöcheln gegen meine Schläfen trommeln.

»Idiot, verdammter Idiot!«, murmelte ich vor mich hin, als ich an einer Ampel anhalten musste, die von Rot auf Grün und wieder auf Rot schaltete, ohne dass sich auch nur ein einziger Wagen vorwärts bewegte, weil ein Sattelschlepper die Straße blockierte. Es regnete ununterbrochen. Ein paar Fußgänger mit Schirm gingen vorbei, den Blick auf den Boden gerichtet, um dem Hundekot und den Pfützen auf dem Gehsteig auszuweichen. Das graue, verstopfte, dreckige London.

Mein Bericht lag neben mir auf dem Beifahrersitz. Er war etwa sechshundert Worte lang. Kurz und sachbezogen.

Die Kassetten lagen in einer Plastiktüte daneben.

Als ich vor dem Revier rückwärts einparkte, hörte ich plötzlich das unheilvolle Kratzen von Metall auf Metall.

Wenn einem das passiert, kann man es seltsamerweise fast körperlich spüren, als wäre die Karosserie des Wagens die eigene Haut.

»Mist!«

Die Rückseite meines Autos klebte am glänzenden blauen Lack eines schrecklich teuer aussehenden BMW.

Ich stieg aus und inspizierte im strömenden Regen den langen dünnen Kratzer, den ich dem anderen Wagen zugefügt hatte. Meiner hatte noch größeren Schaden davongetragen: Ein Rücklicht war kaputt und der Kotflügel zusammengeschoben wie eine zerknüllte Zeitung. Ich fischte einen Notizblock aus meiner Tasche und schrieb ein paar entschuldigende Worte, notierte außerdem meine Versicherungs- und Telefonnummer, faltete den Zettel ein paar Mal, um ihn vor der Nässe zu schützen und klemmte ihn dann unter die Scheibenwischer des BMW. Ich hatte vergessen, einen Schirm mitzunehmen und war bereits klatschnass. Als ich mich noch einmal in den Wagen beugte, um den Bericht und die Kassetten in meiner Tasche zu verstauen, spürte ich, wie das Regenwasser meinen Nacken hinunterrann.

Furth hatte sich bereits an einem Tisch des Konferenzraums niedergelassen, ein Klemmbrett vor sich.

Als ich eintrat, stand er auf und begrüßte mich mit einem freundlichen Nicken. Er war in Begleitung einer vorzeitig ergrauten Frau mit einem glatten, sanften Gesicht, die ich schon vom Sehen kannte, und eines untersetzten älteren Mannes mit einem Kranz widerspenstiger Haare rund um einen kahlen Oberkopf und kleinen, pfiffig dreinblickenden blauen Augen.

»Wenn man von der Sonne spricht!«, sagte Furth.

»Haben Ihnen schon die Ohren geklingelt? Kommen Sie, ich nehme Ihnen den Mantel ab. Jasmine kennen Sie ja schon, nicht? Jasmine Drake. Und das hier ist DCI Oban, mein Chef. Kaffee? Tee?«

Leicht irritiert begrüßte ich Oban. »Lassen Sie sich durch mich nicht aus der Ruhe bringen«, erklärte er. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen.«

»Danke, für mich nichts«, antwortete ich auf Furths Frage, während ich mich auf einem der orangefarbenen Plastikstühle niederließ und meinen Bericht, der in einem unbeschrifteten weißen Umschlag steckte, vor mich hinlegte. »Sie haben mich gebeten, das hier persönlich vorbeizubringen. Hier ist es.«

»Sehr freundlich von Ihnen«, antwortete Furth mit einem Augenzwinkern. Dann wandte er sich an Oban. »Sie macht einen sanften Eindruck, aber man muss sich vor ihr in Acht nehmen.«

Ich schob einen Finger unter die zugeklebte Klappe des Umschlags und riss ihn auf. »Wollen Sie es gleich lesen?«

»Bevor wir anfangen, dürfte es Sie vielleicht interessieren, dass wir Doll verhaftet haben.«

»Wie bitte?«

»Unabhängig von Ihrem Bericht machen wir mit unseren Ermittlungen gute Fortschritte. Während wir uns hier unterhalten, sind gerade ein paar Taucher im Kanal unterwegs. Doll hat selbst ausgesagt, dass er zu der betreffenden Zeit in der Gegend war. Hinzu kommt sein verdächtiges Verhalten vorher und nachher, und natürlich sein aufgezeichnetes Geständnis. Da fügt sich eins zum anderen. Keine Sorge, es geht alles seinen offiziellen Gang. Selbstverständlich bekommt er einen Rechtsbeistand. John Coates. Er ist bereits unterwegs.

Bestimmt kennen Sie ihn.«

Ich hatte ihn einmal getroffen, als ich mit Francis hier war. Ein netter Typ, der häufig lächelte und den man sich eher als Finanzberater wünschte, nicht so sehr als Anwalt.

Ich warf einen Blick zu Jasmine Drake hinüber, aber sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch und blickte nicht auf. Als mein Blick zu Oban weiterwanderte, stellte ich fest, dass er mich mit seinen hellen Augen unverwandt musterte, was mich ziemlich nervös machte. Ich zog das einzelne Blatt Papier aus dem Umschlag und legte es auf den Tisch.

»Ist es das?«, fragte Furth.

»Fassen Sie es bitte für uns zusammen, Dr. Quinn«, forderte Oban mich auf.

»Lassen Sie ihn laufen.«

Im Raum herrschte plötzlich angespanntes Schweigen.

Ich konnte meinen Herzschlag hören. Nun, da ich die Grenze überschritten und es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich besser.

»Wie bitte?«

»Falls Sie über keine anderen Beweise verfügen als die, von denen Sie mir berichtet haben, sehe ich keine entsprechende Beweislage. Noch nicht.«

Furths Gesicht lief rot an. Das war der schlimmste Moment. Ich sollte eigentlich auf seiner Seite stehen, und nun sah es ganz danach aus, als wäre dem nicht so. »Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie da reden«, erklärte er, ohne mich anzusehen.

Ich holte tief Luft. »Dann hätten Sie mich nicht um eine Stellungnahme bitten sollen.«

»Genau von Ihrer Stellungnahme spreche ich.« Aus Furths Stimme klang plötzlich eine wütende Heiterkeit, als ließe sich die ganze Sache einfach weglachen. »Sie wurden lediglich gebeten, Doll zu beurteilen. Nicht mehr.

Eine ganz einfache Sache. Der Typ ist pervers. Das ist er doch, oder? Mehr brauchen Sie gar nicht zu sagen.

Anthony Michael Doll ist pervers.«

»Er ist ein gestörter junger Mann mit blutrünstigen Fantasien.«

»Wieso sagen Sie dann –«

» Fantasien. Es besteht ein Unterschied zwischen der Fantasie und der Tat.«

»Er hat gestanden, und er wird es noch einmal gestehen.

Sie werden schon sehen.«

»Nein. Er hat nur seine Fantasien ausgesprochen, während er mit Ihrer Kollegin Dawes sexuelle Handlungen ausführte.« Ich warf einen Blick in die Runde. Das hatte gesessen. Keiner sagte ein Wort. »Haben Sie das gewusst? Haben Sie gewusst, dass sie ihm, während sie ihn zum Reden ermutigte – so hat sie es mir gegenüber formuliert –, einen runterholte und ihm gleichzeitig gestattete, an ihr herumzufummeln? Haben Sie sie dazu ermutigt, ohne es direkt auszusprechen? Der Zweck heiligt die Mittel, so in der Art? Hat sie anfangs keine zufrieden stellenden Ergebnisse erzielt? Wie auch immer, es spielt sowieso keine Rolle. Das Ganze ist kein Geständnis, sondern Pornographie.«

»Hören Sie, Kit.« Sein Gesicht war knallrot angelaufen.

»Ich hätte Sie gar nicht erst zu Rate ziehen sollen. Mein Fehler. Ich hätte wissen müssen, dass Ihr Urteilsvermögen nach diesem Unfall beeinträchtigt sein würde. Fakt ist, dass Sie sich irgendwie mit Mickey Doll identifizieren, ihn auf eine mir unverständliche Weise zu schützen versuchen. Genau wie in diesen Fällen, wo sich Entführungsopfer in ihre Kidnapper verlieben.«

Er warf einen schnellen Blick zu Oban hinüber, dann wandte er sein besorgtes Gesicht wieder mir zu. »Wir waren der Meinung, Ihnen damit zu helfen, aber mittlerweile ist mir klar, dass wir uns getäuscht haben. Es war noch zu früh. Vielleicht sollten wir Ihnen jetzt einfach danken und Sie für Ihren Zeitaufwand entschädigen.«

Ich bemühte mich um einen möglichst gleichgültigen Ton.

»Sie haben Colette Dawes damit beauftragt, Michael Doll ein Geständnis zu entlocken. Hat sie gewusst, worauf sie sich einließ? Oder hat sie sich da spontan zu etwas hinreißen lassen?«

»Er ist ein Mörder«, erwiderte Furth, der sich nun keine Mühe mehr gab, seine Verachtung zu verbergen. »Wir wissen das, und Sie sollten es verdammt noch mal auch wissen. Wir müssen es nur noch vor einer Jury beweisen.

Kollegin Dawes hat unter sehr schwierigen Bedingungen gute Arbeit geleistet.«

Ich sah ihm in die Augen. »War das Ganze Ihre Idee?«

Es kostete Furth offensichtlich große Mühe, ruhig zu bleiben. »Wir haben einen Mörder verhaftet«, erklärte er.

»Zumindest bin ich dieser Meinung. Wir haben Indizien gesammelt, und wir haben ein Geständnis. Vielleicht sind wir, um es zu bekommen, ein wenig zu weit gegangen, aber ich hätte gedacht, dass gerade Sie dafür Verständnis haben würden, Kit. Wir sind auf der Seite der Frauen –

derjenigen, die getötet worden ist, und der anderen, die seine nächsten Opfer sein werden.«

»Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden.«

Ich hörte das Zittern in meiner Stimme. War es Nervosität oder Wut? »Ich schließe keinesfalls aus, dass Michael Doll diese Frau umgebracht hat, aber Sie können es nicht beweisen. Ich sitze hier als Ärztin, die mit emotional Gestörten und geisteskranken Verbrechern arbeitet, nicht als Juristin, aber ich nehme an, dass dieses Band als Beweismittel in einem Prozess auf keinen Fall zugelassen würde. Ich wage sogar zu behaupten, dass jeder Richter, der davon erführe, den ganzen Prozess sofort wegen absolut unzulässiger Ermittlungsmethoden in Frage stellen würde.« Ich betrachtete sein attraktives Gesicht. »Wenn ich Sie wäre, würde ich das Band in einem ganz tiefen Loch vergraben und beten, dass Dolls Anwalt nie davon erfährt. Auf jeden Fall möchte ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.«

»Das ist der erste vernünftige Satz, den Sie heute von sich gegeben haben.«

Das brachte das Fass zum Überlaufen.

»Diese ganze Geschichte«, erklärte ich atemlos, »ist eine einzige riesige Schweinerei! Und Sie« – das ging an die Adresse von Jasmine Drake – »sollten es eigentlich besser wissen. Nicht nur als Polizistin, sondern einfach als Frau.

Und Sie auch!« Ich wandte mich an DCI Oban, der ein wenig abseits saß, einen verdutzten Ausdruck im Gesicht.

Ich starrte wütend auf den vor mir liegenden Bericht hinunter, den Bericht, der in so ruhiger und wissenschaftlicher Sprache verfasst war.

Oban gab mir keine Antwort. Stattdessen stand er auf und öffnete die Tür, wobei er Furth mit einem finsteren Blick bedachte, der mich an einen sehr alten, faltigen Bluthund erinnerte. »Lasst ihn gehen«, sagte er in sanftem, fast beiläufig klingendem Tonfall.

»Wen?«

»Mickey Doll. Sonst noch was?« Keiner sagte ein Wort.

Oban richtete den Blick auf mich. »Schicken Sie uns Ihre Rechnung, Doktor, oder wie man das bei Ihnen nennt.

Vielen Dank.« Aber er klang nicht sehr dankbar. Ich hatte ihm den Tag verdorben. Dann ging er, gefolgt von Jasmine Drake, die mir einen schnellen Blick aus schmalen Augen zuwarf, ehe sie nach draußen auf den Gang trat.

Ich war allein mit Furth, der schweigend dasaß und die Wand anstarrte. Ich stand auf. Das Geräusch, mit dem mein Stuhl über den Boden scharrte, ließ ihn aus seiner Träumerei erwachen. Er schien überrascht, dass ich noch da war. Seine Stimme klang, als würde er noch immer träumen. »Es wird Ihre Schuld sein«, sagte er, »wenn er es wieder tut. Er hat Sie angegriffen, er hat dieses Mädchen umgebracht, und irgendwo da draußen ist eine Frau, der er

– wahrscheinlich, oder sollen wir sagen, mit ziemlicher Sicherheit? – als Nächstes etwas antun wird.«

»Auf Wiedersehen, Furth«, antwortete ich im Gehen.

»Ich muss, ähm, Sie wissen schon …«

»Werfen Sie ab und zu mal einen Blick in die Zeitung«, rief er mir mit lauter Stimme nach, damit ich es ja noch hörte. »Diese Woche, nächste Woche – irgendwann wird es drinstehen!«

8. KAPITEL

Als ich nach draußen auf die Straße trat, zitterte ich vor aufgestauter Wut. Am liebsten hätte ich irgendetwas Verrücktes getan, beispielsweise einen großen Gegenstand durch ein Schaufenster geworfen oder auf der Stelle das Land verlassen, um eine neue Identität anzunehmen und nie mehr nach England zurückzukehren. Letztendlich entschied ich mich dafür, nach Hause zu fahren, die Tür hinter mir zuzusperren und mich eine Woche nicht mehr blicken zu lassen.

Als ich zu meinem Wagen kam, war der BMW weg.

Zweifellos würde ich bald von einer Versicherung hören.

»Wir sind von unserem Klienten darüber informiert worden …« Ein Kratzer, der sich von der hinteren Tür bis zum Kotflügel zog. Wie viel würde das kosten?

In meiner Wohnung herrschte wundervolle Leere. Julie war nicht da. Eine fantastische Gelegenheit. Ich ließ mir die Wanne einlaufen, schüttete mehrere Badesalze mit albernen exotischen Namen ins Wasser, schnappte mir eine Zeitung und irgendein Magazin und glitt wie ein Walross hinein. Nach wenigen Minuten warf ich die Zeitung zur Seite und widmete mich dem Magazin: Ich erfuhr von den fünf besten Adressen, um für weniger als hundert Pfund ein Wochenende auf dem Land zu verbringen, lernte sieben Arten kennen, seinen Partner im Bett zu schocken, und beantwortete einen Fragebogen zum Thema »Sind Sie ein häuslicher Mensch oder der Partytyp?« Wie sich herausstellte, war ich der Partytyp.

Wie kam es, dass ich so selten auf Partys ging?

Schließlich warf ich auch die Zeitschrift zur Seite und ließ mich ganz langsam so tief ins Wasser sinken, bis nur noch Nase und Mund herausschauten. Ungerührt hörte ich das Telefon einmal läuten und dann den Anrufbeantworter piepen. Ich stellte mir vor, in einem Flotationstank zu liegen. In einer Salzlösung, die exakt die richtige Konzentration hatte, dass man schön schwebte, und die genau der Körpertemperatur angepasst war. In völliger Dunkelheit. Was war eigentlich der Sinn der Sache?

Fühlte man sich in einem solchen Tank völlig losgelöst oder völlig absorbiert?

Ich hörte mehrere dumpfe Geräusche, dann wurde die Wohnungstür zugeschlagen. Julie. Es klang, als hätte sie die Tür mit einem Fußtritt geschlossen. Höchste Zeit, in die Welt zurückzukehren. Ich trocknete mich langsam ab, als wollte ich das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszögern. Dann wickelte ich mich in das Handtuch und verließ das Bad.

»Fantastisch!«, sagte Julie. »Ein Bad am helllichten Tag.

Du verstehst zu leben.«

»Man hat dabei ein bisschen das Gefühl, was Verbotenes zu tun«, gab ich zu, obwohl es mich gleichzeitig ärgerte, von jemandem als Genussmensch bezeichnet zu werden, der selbst Jahre damit verbracht hatte, in der Welt herumzugondeln.

»Wegen des Abendessens brauchst du dir heute keine Gedanken zu machen«, erklärte sie munter. »Ich habe ein paar von deinen Kochbüchern durchgeblättert und ein bisschen eingekauft. Bist du abends zu Hause?«

»Ja, aber ich hatte eigentlich nicht vor –«

»Großartig. Dann lass dich von mir verwöhnen. Was es gibt, ist ein Geheimnis, aber du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen. Es ist alles sehr leicht, sehr gesund. Ach, übrigens, auf dem Anrufbeantworter war eine Nachricht für dich. Von einer Frau namens Rosa. Du musst entschuldigen, mir war nicht klar, dass du da bist, und ich hab selbst auf einen Anruf gewartet. Ich bin nicht sicher, ob ich auf den richtigen Knopf gedrückt habe.

Womöglich habe ich die Nachricht aus Versehen gelöscht.«

Das hatte sie tatsächlich. Ich ging in mein Zimmer und zog mich rasch an. Da ich nicht ausgehen würde, entschied ich mich für etwas ganz Schlichtes, eine weiße Jeans und einen hellblauen Pulli. Ich war versucht, Rosas Nachricht zu ignorieren, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass es sich um gute Neuigkeiten handelte, aber dann zählte ich bis zehn und wählte.

»Wir müssen uns treffen«, sagte Rosa sofort.

»Weswegen?«

»Es hat mit der Polizei zu tun. Wie ich höre, hast du meinen Rat nicht befolgt. Das kam nicht gerade überraschend für mich, aber es wäre trotzdem nett gewesen, wenn du es mir erzählt hättest.«

»Oh«, antwortete ich bestürzt. »Du hast Recht. Soll ich morgen mal bei dir vorbeischauen?«

»Ich würde dich gern heute noch sehen. Hast du etwas dagegen, wenn ich bei dir vorbeikomme?«

»Warum? Ich meine, nein, natürlich habe ich nichts dagegen.«

»In circa einer Stunde bin ich da«, erklärte Rosa und legte auf.

Ich unternahm einen lächerlich uneffektiven Versuch, das Wohnzimmer aufzuräumen, während Julie in der Küche hantierte, was teilweise etwas beunruhigend klang.

Nach gerade mal fünfundvierzig Minuten klingelte es.

Ich rannte die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Der fröhliche Gruß, den ich mir zurechtgelegt hatte, blieb mir im Hals stecken, als ich sah, wer draußen auf der Treppe stand. »Oh«, mehr brachte ich nicht heraus. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich das auch schon am Telefon zu Rosa gesagt.

»Ich bin nicht allein«, erklärte sie.

Sie war in der Tat nicht allein. Neben ihr stand Detective Chief Inspector Oban. Hinter ihm parkte ein Wagen. Ein BMW.

»Das mit dem Wagen tut mir Leid«, stammelte ich.

Mehr fiel mir nicht ein, aber noch während ich das sagte, wurde mir bewusst, dass es nicht immer nötig war, das Einzige, was einem einfiel, gleich hinauszuposaunen.

Manchmal ist das Einzige, was einem einfällt, das Schlimmste, was man sagen kann. »Es war allein meine Schuld. Ich werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen.«

Rosa starrte mich verwirrt an, während Oban andeutungsweise lächelte. »Ein Parkproblem«, erklärte er an sie gewandt. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Dann waren das also Sie? Unter dem Scheibenwischer steckte ein Zettel, aber er war vom Regen völlig durchweicht.

Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, ich nehme an, die Sache wird als Dienstunfall behandelt werden.«

»Was es in gewisser Weise ja auch war«, antwortete ich.

Da mir inzwischen nicht mal mehr dummes Zeug einfiel, das ich noch hätte von mir geben können, hielt ich den beiden die Tür auf und ließ sie an mir vorbei ins Haus treten. Zuerst hatte ich in einem Anfall von Paranoia gedacht, es ginge um den Schaden an dem Wagen und sie wollten mich der Fahrerflucht bezichtigen oder so was in der Art, aber dem war offensichtlich nicht so. Was wollten sie dann? Hatte es irgendeine offizielle Beschwerde gegen mich gegeben? Ich folgte ihnen die Treppe hinauf. Als wir ins Wohnzimmer traten, kam Julie gerade aus der Küche.

Sie sah mit ihrer gestreiften Fleischerschürze – meiner Schürze – ziemlich umwerfend aus. Überrascht starrte sie uns an. Ich stellte die drei einander vor.

Oban wirkte leicht verlegen, als er Julie die Hand gab.

»Sie sind, ähm –«, sagte er.

»Julie ist für ein paar Tage zu Besuch«, fiel ich ihm ins Wort.

Wieso stammelte er so herum? Dann fiel mein Blick auf Julie, die groß, braungebrannt und amazonenhaft vor uns stand. O Gott, wahrscheinlich meinte er, dass wir irgendwas Lesbisches miteinander hatten. Ich überlegte kurz, ob ich ihn über die Natur unserer Beziehung aufklären sollte, sah aber eigentlich keinen Grund dafür.

»Ich koche gerade das Abendessen«, erklärte Julie und klang dabei schrecklich häuslich. »Möchten Sie mitessen?«

»Wir müssen bloß etwas Berufliches besprechen«, erklärte ich rasch. Der Gedanke, Julie und ich könnten anfangen, als Paar Gäste zu empfangen, ließ mich schaudern.

»Sie sind ein richtiger Detective?«, wandte sich Julie an Oban.

»Allerdings, das bin ich«, antwortete er.

»Das muss wahnsinnig aufregend sein.«

»Die meiste Zeit nicht.« Oban warf einen Blick zu Rosa hinüber, die ein Buch aus einem Regal gezogen hatte und es mit gerunzelter Stirn durchblätterte. »Wären Sie so lieb, uns einen Moment allein zu lassen?«, sagte er mit vorsichtiger Zurückhaltung zu Julie.

»Was? Ich?«, fragte Julie überrascht. »Ich muss sowieso wieder in die Küche.«

Nachdem sie abgezogen war, schob Rosa das Buch zurück ins Regal und drehte sich zu mir um.

»Bitte nehmt Platz«, sagte ich.

Wir waren alle drei etwas verlegen. Rosa und ich ließen uns nebeneinander auf der Couch nieder, während Oban sich den Sessel so zurechtrückte, dass er mir gegenüber saß.

»Dan Oban hat mich heute Morgen angerufen –«

»Rosa«, unterbrach ich sie. »Ich weiß, ich hätte dich …«

Sie brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Moment«, sagte sie. Dann wandte sie sich an Oban.

»Dan?«

Die beiden kannten sich offenbar gut.

»Das alles tut mir wirklich Leid«, versuchte ich es noch einmal, bevor er etwas sagen konnte. »Ich war heute Morgen sowieso schon ein bisschen geladen und musste mich über die Sache mit Doll schrecklich aufregen. Allein schon die Idee, ihm eine solche Falle zu stellen! Da konnte ich mich einfach nicht mehr beherrschen. Das war sehr unprofessionell und …«

»Sie hatten Recht«, unterbrach mich Oban.

Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, denn während er sprach, beugte er sich vor und rieb sich die Augen. Er war müde.

»Was?«

»Das Ganze war eine absolute Schnapsidee. Sie hatten Recht. Ich habe mit ein paar Leuten in unserer Rechtsabteilung gesprochen. Es ist genau so, wie Sie gesagt haben, das Band würde mit ziemlicher Sicherheit nicht als Beweismittel zugelassen. Das arme Mädchen hat Doll an der Nase herumgeführt, daran besteht kein Zweifel.« Er sah Rosa mit einem dämlichen Grinsen an, das er sofort unterdrückte, als sie mit einem Stirnrunzeln reagierte.

»Na, dann ist es ja gut«, antwortete ich achselzuckend.

»Aber deswegen bin ich nicht gekommen. Ich habe Dr. Deitch angerufen, weil ich Sie zurückwill.«

»Zurück?«

»Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich möchte, dass Sie uns bei den Ermittlungen weiterhin behilflich sind.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

»Warum?«

»Aus mehreren Gründen. Einer davon ist Furth. Können Sie sich vorstellen, dass ich weiter mit ihm zusammenarbeite? Er hat vor Wut gekocht.«

»Furth ist mein Problem. Außerdem leitet er die Ermittlungen in diesem Fall sowieso nicht mehr. Das tue jetzt ich.«

»Oh«, sagte ich. »Trotzdem glaube ich nicht, dass Ihnen meine Mitarbeit viel bringen wird. Ich habe so was eigentlich noch nie gemacht. Ich arbeite bloß mit Leuten wie Doll. Ich habe keine zündenden Ideen.«

Oban stand auf, trat ans Fenster und drehte sich zu uns um.

»Dieser Fall ist ganz einfach«, erklärte er. »Ein primitiver, schrecklicher Mord. Suche dir eine Frau an einem einsamen Ort, töte sie, lauf davon. Der Kerl ist noch irgendwo da draußen. Wir brauchen bloß ein bisschen Glück. Ein bisschen Glück, und wir kriegen ihn.«

»Warum haben Sie Rosa angerufen?«, fragte ich misstrauisch.

»Warum nicht mich?«

»Weil er meine Meinung hören wollte«, antwortete Rosa.

»Du meinst, er wollte wissen, ob ich verrückt bin?«

Rosa grinste. »Dazu sage ich lieber nichts. Nein, er wollte nur wissen, ob es fair ist, dich zu fragen.«

»Und was hast du gesagt?«

»Dass er dich selbst fragen soll.«

»Du meinst, ob es fair ist, mich zu fragen?« Sie zuckte mit den Achseln.

»Was meinen Sie?«, fragte Oban.

»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete ich lahm.

»Gut. Ich möchte Sie unbedingt dabeihaben. Nennen Sie mir Ihre Bedingungen. Sie haben freie Hand und bekommen von mir alles, was Sie brauchen.«

Die Tür flog auf, und Julie kam mit einem Tablett herein. Wo hatte sie das bloß aufgestöbert? Es standen drei Schüsseln darauf.

»Bevor Sie irgendwas sagen«, erklärte sie, »möchte ich Sie darauf hinweisen, dass das hier kein Abendessen ist.

Bloß ein kleiner Snack. Sie haben bestimmt Hunger, nicht wahr, Mr. Detective?«

»O ja«, antwortete Oban mit einem interessierten Blick auf das Tablett. »Was gibt es denn?«

»Lauter ganz einfache Sachen. Das hier ist Schinken mit Feigen, das ein Artischockensalat und das hier bloß ein kleines Omelett mit Zucchini. Ich hole uns Teller.«

Als sie zurückkam, brachte sie nicht nur Teller und Gabeln, sondern auch Gläser und eine bereits geöffnete Flasche Rotwein. Eine sehr teure Flasche Wein, die Albie gehörte und die er mitzunehmen vergessen hatte, was ihm aber bestimmt irgendwann einfallen würde. Julie war also doch für etwas gut. Großzügig füllte sie unsere Gläser.

Sowohl Oban als auch Rosa nahmen sich von allen drei Gerichten.

»Es schmeckt ausgezeichnet, Julie«, verkündete Rosa.

»Köstlich«, pflichtete Oban ihr bei. »Ich muss sagen, das scheint mir ein sehr gutes Arrangement zu sein. Wie lange sind Sie und Kit denn schon, ähm, Sie wissen schon …«

»Oh, erst ein paar Wochen«, antwortete Julie fröhlich.

Ich leerte mein Glas in einem Zug.

9. KAPITEL

Als ich am nächsten Tag zu einer Besprechung nach Stretton Green fuhr, legte Oban zur Begrüßung den Arm um mich und gab mir damit das Gefühl, eher seine Lieblingsnichte zu sein als eine kompetente Beraterin.

Dann führte er mich durch das Büro, um mich dem größtenteils neuen Team vorzustellen, das inzwischen im Fall des Kanalmords ermittelte. »Danke für den gestrigen Abend«, sagte er. »Das Essen war köstlich.« Er drehte sich mit einem fragenden Blick zu mir um. »Wann haben Sie und Julie sich, ähm, kennen gelernt?«

»Ich weiß nicht. Vor Jahren. Sie war eine Freundin von Freunden von mir. Ich bin nicht wirklich –«

»Schön«, unterbrach er mich. »Sie beide geben ein gutes, ähm –«

»Hören Sie«, sagte ich rasch. »Ich glaube, ich sollte besser richtig stellen –« Ich unterbrach mich, weil wir gerade durch das Großraumbüro gingen, das ein bisschen so aussah, als hätte dort vor kurzem ein Einbrecher sein Unwesen getrieben – bei den Aktenschränken standen sämtliche Schubladen offen, Akten lagen ausgebreitet auf einem Tisch, Pappkartons waren zur Hälfte mit schmutzigen Tassen gefüllt.

»Wir ziehen um«, erklärte Oban, während er eine Rolle Klebeband aus dem Weg kickte.

»Das habe ich irgendwie mitbekommen.«

»Eine absolute Katastrophe. Sind Sie jemals umgezogen?«

»Ja. Schrecklich.«

Ich blickte mich nach Furth um, konnte ihn zu meiner Erleichterung aber nirgendwo entdecken. Plötzlich ärgerte ich mich über mich selbst. Wieso hatte ich seinetwegen ein schlechtes Gewissen? Ich hatte um das alles nicht gebeten. Wir blieben am Ende des Büros in einer Ecke stehen. Oban winkte mehreren Leuten zu, die über Schreibtische gebeugt saßen. Telefone wurden aufgelegt, Akten geschlossen. Eine kleine Gruppe von Beamten, männlich und weiblich, versammelte sich um uns. Oban räusperte sich.

»Das hier ist Dr.

Kit Quinn. Sie arbeitet für die

Welbeck-Klinik und das Market-Hill-Hospital für geisteskranke Verbrecher.« Er wandte sich an mich. »Ich werde Sie jetzt nicht jedem Einzelnen vorstellen. Mit den meisten werden Sie sowieso früher oder später zu tun haben.«

»Hallo«, sagte ich und lächelte in die Runde. In diesem Moment kam Furth herein. Er blieb neben der Tür stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Aufgrund von Dr. Quinns Gutachten«, fuhr Oban fort,

»haben wir Michael Doll laufen lassen.« Diese Feststellung wurde nicht gerade mit einer Runde Applaus begrüßt. Stattdessen hörte man von den weiter hinten Stehenden einige murmeln und mit den Füßen scharren.

»Und falls jemand damit ein Problem hat, soll der Betreffende bitte zu mir kommen, dann besprechen wir das. Wenn dieser Fall vor einen Richter gegangen wäre, hätte man ihn uns umgehend wieder vor die Füße geworfen. Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was Guy unter vier Augen von mir zu hören bekommen hat, aber ab jetzt ist altmodische Laufarbeit angesagt, okay? Und gleichzeitig unterstützt ihr bitte Dr. Quinn mit allem, was sie braucht.« Erneutes Gemurmel. Ich spürte, dass nicht alle davon begeistert waren. »Kit, möchten Sie etwas dazu sagen?«

Ich fuhr zusammen. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Ich betrachtete die auf mich gerichteten, leicht missmutigen Gesichter. »Nun ja«, begann ich. Ich hasste es, einen Satz anzufangen, wenn ich noch keinen blassen Schimmer hatte, wie ich ihn fortsetzen würde. »Ich möchte eigentlich nur anmerken, dass ich nicht hier bin, um Ihnen zu sagen, wie Sie Ihren Job machen sollen.

Bestenfalls kann ich Ihnen – vielleicht – helfen, indem ich Sie in eine bestimmte Richtung weise und Ihnen Vorschläge unterbreite.«

»Es war Doll«, sagte jemand. Ich konnte nicht sehen, wer.

»Tatsächlich?«, erwiderte ich, weil mir keine bessere Antwort einfiel.

»Ja.«

Inzwischen hatte ich die Stimme aus dem Hintergrund identifiziert. Sie gehörte zu einem großen, hemdsärmeligen Mann, der wie ein Rugbyspieler aussah.

Oban trat vor. »Dann finde handfeste Beweise, Gil.«

»Was, wenn Sie Unrecht hatten?«, fragte der Mann an mich gewandt. »Was, wenn Doll es doch war?«

»Hören Sie, ich habe nie behauptet, dass Doll unschuldig ist. Ich habe nur gesagt, dass es keine Beweise gibt. Ich stelle mir das Ganze so vor: Ich sehe mir an, was Sie haben, und tue dabei so, als hätte ich seinen Namen noch nie gehört.« Jemand murmelte etwas, das ich nicht verstand, ein anderer lachte.

»Das reicht!«, erklärte Oban in scharfem Ton. »Die Besprechung ist beendet. Tut mir Leid, Kit.« Mit einem Ausdruck der Verachtung ließ er den Blick über seine Detectives schweifen.

»Ich würde jetzt gern sagen, dass sie im Grunde kein so übler Haufen sind, aber das wäre gelogen. Zum Glück weiß ich, dass Sie sich selbst behaupten können. Ich lasse Sie jetzt mit Guy allein. In Ordnung?«

»Natürlich«, antwortete ich, obwohl ich es keineswegs in Ordnung fand.

Oban ging. Die anderen schlenderten ohne große Eile davon. Ich drehte mich zu Furth um. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee bringen?«, fragte er vorsichtig.

»Das wäre nett, vielen Dank.«

»Haben Sie schon irgendwelche Ideen?«

»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Habe ich nicht. Aber in dieser Phase wären Ideen ohnehin hinderlich. Ich möchte das Material möglichst unvoreingenommen durchsehen.

Sozusagen mit einem leeren Kopf.«

Furth verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.

»Ich sehe keinen Grund, Leute mit leerem Kopf anzuheuern, solange wir Gil haben. Außerdem habe ich Ihnen ja schon gesagt, dass es sich hier um einen einfachen Fall handelt.«

»Ach, tatsächlich?«

»Eine Ausreißerin, die tot am Kanal gefunden wurde.«

»Ist das einfach?«

Furth blickte sich achselzuckend um, als wäre es ihm peinlich, von jemandem dabei belauscht zu werden, wie er einer hochnäsigen Klapsdoktorin erklärte, was so offensichtlich auf der Hand lag. »Perverse suchen sich Prostituierte und Ausreißerinnen aus, weil sie leichte Beute sind. Sie schnappen sie sich in der Nähe von Kanälen, weil es dort einsam ist. Keine vorbeifahrenden Autos.«

»Ja, das habe ich alles gelesen.«

»Sind Sie anderer Meinung?«

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«

Furth kniff die Lippen zusammen. Ich glaube, am liebsten hätte er mich aufgefordert, schleunigst aus dem Revier zu verschwinden und nie wieder dort aufzutauchen, aber das durfte er ja nicht. »Dafür bezahlen wir Sie schließlich«, antwortete er.

»Manchmal ist es zu simpel, jemanden einfach mit einem Etikett zu versehen. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie Lianne nicht von vornherein als Ausreißerin abstempeln würden. Das hindert Sie nämlich daran, sie als Individuum zu sehen.«

»Sie war eine Ausreißerin.«

»Ich weiß. Aber vielleicht war sie auch noch etwas anderes?«

»Sie meinen, eine Prostituierte?« Er begann zu lachen, riss sich aber am Riemen, als er meine Miene sah. Vor meinem geistigen Auge war Furth einen Moment lang als kleiner Junge aufgetaucht, wie er von anderen Jungs herumgeschubst wurde, bis er gelernt hatte, den harten Mann zu spielen.

»Nein, das meine ich nicht. Sie war eine junge Frau. Sie hatte eine Geschichte, eine Vergangenheit, eine Familie, einen Namen.«

»Den wir nicht kennen.«

»Wie alt war sie ungefähr?«

»Sechzehn, siebzehn – vielleicht ein bisschen jünger, vielleicht ein bisschen älter.«

»Woher wissen wir denn überhaupt, dass sie Lianne hieß?«

»Das wissen wir gar nicht. Wir wissen bloß, dass sie sich selbst so genannt hat. Ein Typ namens Pavic, der hier in der Stadt so eine Art Jugendherberge betreibt, hat sie identifiziert.«

»Aber wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Sie herausfinden werden, wer Lianne wirklich war und wo sie herkam.«

»Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?« Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.

»Jeder Mensch steht auf irgendeiner Liste, in irgendeinem Computer, irgendeinem Register, nicht wahr?«

»Wissen Sie, wie viele Ausreißer es gibt?«

»Viele, ich weiß.«

»Zehntausende.«

»Ich weiß.«

»Dabei handelt es sich um diejenigen, die tatsächlich als vermisst gemeldet sind. Die wenigstens jemanden haben, der möchte, dass wir sie finden. Aber was ist mit all den anderen wie Lianne, um die sich niemand einen Dreck schert und die einfach eines Tages verschwinden und nie wieder auftauchen? Wie sollen wir die finden, wenn niemand sie vermisst meldet? Das ist wie mit diesen gottverdammten Sammelstellen für verloren gegangenes Gepäck, die es an den Flughäfen gibt. Haben Sie sich das jemals angesehen? Ich schon, in Kairo – ein großes Lagerhaus voller Koffer, die meisten von einer dicken Staubschicht bedeckt oder von Ratten angefressen. Da ist es schwer, eine Tasche wiederzufinden, selbst wenn sie mit einem Aufkleber versehen ist.«

»Lianne ist kein Gepäckstück.«

Er starrte mich an. »Das habe ich auch nicht behauptet.

Ich habe sie nur mit einem Gepäckstück verglichen

»Mir ist daran gelegen, dass wir sie als Mensch sehen, nicht als verloren gegangenes Ding. Nicht bloß als ›die Ausreißerin‹.«

»Und was ist mit dem Kanal? Dürfen wir den so nennen, oder könnte es sich Ihrer Meinung nach auch um einen verkleideten Fluss handeln?«

»Ich wollte damit nur sagen, dass es helfen kann, die Dinge mit neuen Augen zu sehen. Aber vielleicht ist das mehr eine Hilfe für mich als für Sie.«

»Gut«, sagte er in sehr ruhigem Ton. »Wir warten begierig auf Ihre Beiträge. Kann ich Ihnen mit irgendetwas dienen?«

»Hat Ihnen das Oban nicht gesagt?« Ich gab mir große Mühe, Respekt einflößend zu wirken und so zu klingen, als wüsste ich genau, was ich tat. »Ich hätte gern einen ruhigen Raum, und dort möchte ich alles durchsehen, was Sie zu dem Fall haben.«

»Sonst noch was?« Letzteres sagte er ziemlich grimmig.

»Eine Tasse Tee wäre schön. Nur einen Tropfen Milch, bitte. Keinen Zucker.«

Furth führte mich in einen kleinen fensterlosen Raum, der roch, als hätte er vorher der Lagerung zerstörerischer illegaler Substanzen gedient. In dem Zimmer stand nichts als ein Schreibtisch und ein Plastikstuhl. Innerhalb weniger Minuten traf eine Beamtin mit ein paar Akten ein, die mir ziemlich dünn erschienen. Über Liannes Leben war so gut wie nichts bekannt, und über ihren Tod hatten sie auch nicht gerade viele Informationen zusammengetragen. Ich begann zu lesen. Insgesamt saß ich knapp zwei Stunden in dem Raum. Ich informierte mich über Liannes Stichwunden, las ein paar Zeugenaussagen, betrachtete Fotos, die ihre Leiche am Tatort zeigten, wie sie bleich und mit dem Gesicht nach unten im struppigen Gras hinter ein paar Büschen am Kanal lag, und am Ende dachte ich: Ist das alles?

10. KAPITEL

Im Radio verkündeten sie, es sei der feuchteste Sommer seit 1736. Ich parkte in einer Pfütze und blieb noch eine Minute im Auto sitzen, während der Regen gegen die Windschutzscheibe und auf die Motorhaube trommelte.

Ich schloss die Augen, und plötzlich klang das Prasseln für mich wie ein Brüllen. Ich habe mich an den Anblick von Leichen nie gewöhnt.

Die Pathologin wartete bereits auf mich. Alexandra Harris. Wir hatten uns schon früher mal kennen gelernt.

Sie sah nicht aus wie eine Pathologin – auch wenn ich gar nicht so genau wusste, wie Pathologen normalerweise aussahen –, sondern eher wie eine alternde Schauspielerin aus den Dreißigerjahren. Der zarte Teint ihres ovalen Gesichts wurde von dunklen Locken umrahmt, was zu ihrem weißen Mantel irgendwie erotisch wirkte.

Außerdem hatte sie an diesem Tag etwas Verträumtes, Passives an sich. Vielleicht war sie aber auch nur müde.

Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Alexandra«, sagte ich, während wir uns die Hand gaben.

»Danke, dass Sie mir Ihre Zeit opfern.«

»Das ist schon in Ordnung. Ist schließlich mein Job. Guy hat gesagt, Sie haben sich die Akten bereits angesehen.«

»Ja. Die Autopsie wurde nicht von Ihnen durchgeführt, oder?«

»Nein, das war Seine Hoheit persönlich. Brian Barrow, meine ich. Sir Brian. Heute unterrichtet er. Wonach genau suchen Sie?«

»Ich möchte mir nur einen Eindruck verschaffen.«

»Einen Eindruck?« Sie sah mich skeptisch an, als hielte sie das Ganze plötzlich nicht mehr für eine so gute Idee.

»Ein Gespür für sie«, fügte ich hinzu, weil mir keine bessere Erklärung einfiel. »Für Lianne.«

»Haben Sie schon mal eine Leiche gesehen? Da gibt’s nicht viel zu entdecken.«

»Gesehen?«, gab ich zurück. »Ich habe Medizin studiert.

Da hatte ich sechs Monate lang eine Leiche ganz für mich allein.«

»Entschuldigen Sie. Soll ich Sie gleich reinführen?«

»Ja, bringen wir’s hinter uns.«

Meine Finger schlossen sich um den Griff meiner Aktentasche. Ich wollte Lianne sehen – richtig sehen, nicht nur die schrecklichen Farbfotos studieren und nach Hinweisen suchen. Sie hatte ein kurzes, einsames Leben geführt und schien nun, da sie gestorben war, niemandem zu fehlen. Ich wollte sie berühren, eine Weile neben ihrer Leiche stehen. Alexandra würde das wahrscheinlich nicht verstehen. Ich war mir ja nicht mal sicher, ob ich es selbst verstand.

»Muss ich was anderes anziehen?«, fragte ich.

»Sie meinen, ein Ballkleid?«, gab Alexandra grinsend zurück.

»Nein, wir haben hier keine strengen Kleidervorschriften.«

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Für mich ist das Ganze ziemlich neu. Ich habe noch nicht gelernt, das alles scherzhaft zu sehen.«

»Möchten Sie, dass ich mit Ihnen rede wie ein Bestatter?«

»Ich möchte Lianne sehen«, antwortete ich in sanftem Tonfall.

Das Lächeln verschwand aus Alexandras Gesicht. Sie wirkte plötzlich nicht mehr ganz so freundlich. Ich folgte ihr durch zwei Schwingtüren, hörte das Klicken meiner Absätze auf dem Linoleumboden. Wir waren in eine andere Welt eingetaucht, in der alles kalt, still und steril war. Eine Unterwelt, dachte ich. Unter meinen dünnen Sommersachen bekam ich eine Gänsehaut. Ich konnte mein Herz hämmern hören. Wie seltsam – all diese Körper, aber nur zwei schlagende Herzen.

Mir wurde schnell klar, was Alexandra gemeint hatte.

Lianne sah aus, als wäre jeder Beweis dafür, dass sie in der chaotischen Welt draußen gelebt hatte, von ihrem Körper gescheuert worden. Sie wirkte extrem sauber.

Nicht in dem Sinn sauber, wie man sich fühlt, wenn man sich die Hände gewaschen hat, sondern so, als hätte man gerade ein Waschbecken geschrubbt und davon runzlige, wunde Hände bekommen. Da ich bis jetzt nur Liannes Kopf sehen konnte, war die einzige Spur ihres Lebens, die mir ins Auge fiel, das winzige Loch in ihrem Ohrläppchen. Sir Brian Barrow hatte eine schwierige Aufgabe gehabt. Er hatte knapp über der Schnittwunde um ihren Hals herumgeschnitten. Sein eigener Schnitt war inzwischen wieder zugenäht worden. Die Wunde, die das Messer des Mörders verursacht hatte, war geblieben, aber gereinigt, und ohne Blut wirkte sie wie aus Plastik. Ich war schon des Öfteren bei Operationen dabei gewesen und hatte den strengen Katzenfuttergeruch nach Fleisch und Blut nie wieder richtig aus der Nase bekommen, aber das hier war anders. Nur ein scharfer medizinischer Geruch, der in meinen Nasenlöchern brannte.

Lianne hatte ein rundes Gesicht und Sommersprossen auf der Nase. Ihr Mund war klein und farblos. Ich legte einen Finger an ihre Wange, fühlte das kalte Fleisch, den Tod unter meinen Fingerspitzen, so eisig und hart, dass ich vor Beklemmung nach Luft ringen musste. Sie hatte langes, kupferfarbenes Zottelhaar, das in der Mitte nachlässig gescheitelt war. Als ich mich vorbeugte, konnte ich die gespaltenen Spitzen sehen. Das Haar scheint nach dem Tod noch eine Weile weiterzuwachsen, das weiß jeder. Dasselbe gilt für die Nägel – aber als ich vorsichtig eine Seite des Leichentuchs anhob, um einen Arm freizulegen, sah ich, dass Liannes Fingernägel bis zum Fleisch abgekaut waren. Sie hatte kleine, plumpe Hände.

Irgendwie rührten mich diese Hände am meisten. Sie wirkten noch weich, als könnten sie weiterhin die Finger abbiegen und etwas halten. Ich berührte ihre Handfläche, aber sie war ebenfalls hart wie Stein.

Ich holte tief Luft und zog das Tuch so weit weg, dass nur noch ihre Füße bedeckt waren. Ich betrachtete ihren Körper in seiner Gesamtheit, prägte mir den Anblick ein.

Sir Brians zweiter langer Schnitt zog sich in einer nicht ganz geraden Linie vom Hals bis zum rötlichen Schamhaar. Um ihren Nabel hatte er einen kleinen Bogen gemacht, wie eine Straße, die an einem historischen Monument vorbeiführt. Die sauber geschlossene Wunde ließ mich in ihrer Ordentlichkeit an eine Nähstunde in einem Hauswirtschaftskurs denken. Ich musste mich auf die relevanten Wunden konzentrieren. Ihr Hals war sauber und effektiv von einer Seite zur anderen durchgeschnitten, aber darüber hinaus hatte sie kleine Stichwunden an den Schultern und am Bauch. Insgesamt waren es siebzehn.

Beim ersten Mal verzählte ich mich und musste von neuem anfangen. Ihre hohen, flachen Brüste waren unversehrt, ebenso ihr Genitalbereich. Ich wusste aus dem Autopsiebericht, dass weder ihre Vagina noch ihr Perineum Verletzungen aufwies.

Ich stellte mich noch näher neben Lianne und bemühte mich, sie im Geiste weiterhin so zu nennen. Ihre Arme waren mit einem feinen Flaum überzogen. Am linken Handgelenk hatte sie ein paar tiefe Kratzer –

wahrscheinlich von den dornigen Zweigen am Kanal. An ihrem linken Knie entdeckte ich eine alte Narbe. Vielleicht hatte sie es sich als kleines Mädchen mal aufgeschlagen.

Ich stellte sie mir mit Zöpfen und Zahnlücken vor, wie sie im Sommer, wenn es nicht regnete, in einem Garten herumlief und von einem glücklichen Leben träumte. Das ist an Kindern so rührend: Sie sind fest davon überzeugt, dass sie ein großartiges Leben führen werden. Wenn man Sechsjährige fragt, was sie werden wollen, wenn sie mal groß sind, dann antworten sie: Pilot, Premierminister, Balletttänzerin, Popstar, Fußballer, Millionär. Ich frage mich, welchen Berufswunsch Lianne wohl gehabt hatte.

Was auch immer ihre Träume gewesen sein mochten, jetzt gab es keine mehr. Jetzt lag sie hier – auch wenn es natürlich nicht Lianne war, die vor mir lag, sondern nur ihr unnatürlich bleicher, eisgekühlter Körper. Hier war niemand außer mir, kein Hauch von Leben außer meinem Atem. Noch nie zuvor hatte ich ein solches Gefühl von Einsamkeit verspürt.

Ich zog das Tuch von ihren Füßen und sah, dass ihre Nägel rot lackiert waren. An einigen Stellen war der Lack abgesplittert. Ich berührte die Narbe an ihrem Knie, dann noch einmal ihre Hand mit den Mitleid erregenden abgebissenen Nägeln. Ich hob eine Strähne ihres kupferfarbenen Haars hoch. Sogar ihr Haar fühlte sich tot an. Jede Zelle, jeder Partikel ihres Körpers war zum Stillstand gekommen. Ich spürte plötzlich ganz bewusst, wie das Blut durch meinen Körper pulsierte, die Luft hindurchströmte, die Bilder durch meine Augen fluteten, sich die Haare auf meiner klammen Haut aufstellten.

Genug. Ich zog das Laken wieder über Lianne, achtete darauf, dass es sie völlig bedeckte. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, um die Stille zu durchbrechen, aber mir fiel nichts ein, sodass ich mich stattdessen laut räusperte.

Sofort kam Alexandra in den Raum gestürzt. Sie musste direkt vor der Tür gewartet haben.

»Fertig?«

»Ja.«

Lianne lag in einem Schubfach, das Alexandra mit einiger Anstrengung zurückschob wie in einen riesigen Aktenschrank.

»Nichts, was Sie nicht auch im Bericht hätten finden können, oder?«, fragte sie mit einer Spur von Schärfe in der Stimme.

»Ich wollte mir die Wunden ansehen«, entgegnete ich.

Nachdem ich wieder in meinen Regenmantel geschlüpft war, griff ich nach meiner Aktentasche und trat in den strömenden Regen hinaus. Ich sah zum Himmel empor und ließ die Regentropfen wie Tränen über mein Gesicht rinnen.

Ich kehrte in meine fensterlose Kammer auf dem Revier zurück und blätterte Liannes Akte noch einmal durch, obwohl ich sie mittlerweile schon sehr gut kannte. Zuerst überflog ich das Blatt mit den spärlichen Informationen über ihr Leben: junge Frau, unter dem Namen Lianne bekannt, geschätztes Alter zirka siebzehn, allem Anschein nach vor sieben oder acht Monaten im Stadtteil Kersey Town aufgetaucht, für kurze Zeit in einem Jugendhaus abgestiegen, das ein gewisser William Pavic betrieb. Ab da hatte sie – laut ein paar anderen Obdachlosen, die sie dem Polizeibericht zufolge gekannt hatten – auf Parkbänken oder in Hauseingängen geschlafen oder hin und wieder auf dem Fußboden einer Freundin, die besser dran war als sie und es sich leisten konnte, in einer Frühstückspension zu übernachten. Das war alles – nichts über ihren Charakter, ihre Bekanntschaften, ihr Liebesleben. Aus dem Bericht ging nicht hervor, ob sie noch Jungfrau gewesen war oder nicht.

Ich griff nach der Karte, auf der eingezeichnet war, wo man ihre Leiche gefunden hatte. Die Stelle war mit einem X markiert. Dann rief ich Furth an.

»Ich würde mir gern anschauen, wo sie gefunden worden ist«, erklärte ich. »Vielleicht heute Nachmittag, wenn ich mit meiner Arbeit in der Klinik fertig bin. Gegen fünf Uhr, wäre das möglich?«

»Ich werde Gil beauftragen, Sie hinzubringen«, antwortete er. Ich konnte sein Lächeln fast spüren.

»Das ist die Stelle, wo Doll ihr den Garaus gemacht hat«, verkündete er mit einem Seitenblick auf mich. Er trat zurück, um mich vorbeizulassen.

Liannes Leiche war an einem ziemlich steilen Teil der Uferböschung hinter einem Baumstumpf gefunden worden. An der Stelle wuchsen Jakobskraut, Wiesenkerbel und Nesseln, und man konnte an den niedergedrückten und abgebrochenen Stängeln der Pflanzen sehen, wo sie gelegen hatte. Ihr Kopf war mit dem Gesicht nach unten direkt in den grünen Wald aus Unkraut hineingeschoben worden. Ihre Füße, die in kessen rotweiß gestreiften Socken und weißen Pumps gesteckt hatten, waren auf einer zerbrochenen Flasche gelandet. Fetzen von Plastiktüten hingen von den dornigen Zweigen der Büsche und trieben im öligen braunen Wasser dahin. Wo der Treidelpfad am Kanal entlangführte, waren Zigarettenschachteln und alte Kippen in den schlammigen Boden getreten. Direkt vor Liannes Versteck lag ein kleines Plastikpferd. Wahrscheinlich hatte ein Kind es dort fallen lassen. Gleich dahinter sah ich einen verbogenen, vor sich hin rostenden Fahrradreifen.

»Gefunden hat sie ein junger Mann?«

»Ja. Darryl noch was.«

»Pearce.«

»Ja, ein Jogger. Geschieht ihm recht. Haben Sie seine Aussage gelesen? Er hat sie gefunden, als sie gerade starb.

Mehr oder weniger. Er ist hier vorbeigetorkelt und hat sie schreien gehört.«

»Aber bis er sie gefunden hatte, war sie bereits tot.«

»Wichser – ich meine natürlich Darryl, nicht Sie. Er hat sich zehn Minuten hier herumgetrieben und überlegt, was er tun soll. Behauptet er zumindest. Wahrscheinlicher ist, dass er sich vor lauter Angst fast in die Hosen gemacht hat. Als er dann endlich wieder Manns genug war, nachzusehen und bei uns anzurufen, war es zu spät. Bis wir eintrafen, war sie längst tot. Wenn er gleich hingegangen wäre, hätte sie ihm noch sagen können, wer es war. Dann hätten wir uns die Ermittlungen gespart.«

»Gehörte er nicht zu den Verdächtigen?«

»Natürlich. Aber er hat die Leiche nicht angefasst. Die gute Lianne hat ausgesehen, als hätte sie jemand von oben bis unten mit Blut besprüht. Der Mörder muss auch voller Blut gewesen sein. Wir haben Darryl genauestens unter die Lupe genommen, seine Haut, seine Klamotten, alles.

Keine Spur von Blut.«

»Dann war da noch diese Frau, Mary Gould«, sagte ich, halb zu mir selbst.

»Ja, die nette alte Dame mit dem Brot für die Enten. Sie kam von der anderen Seite der Büsche, aus Richtung der Wohnungen. Sie hat die Leiche gesehen und ist einfach abgehauen. Sie hat erst am nächsten Tag angerufen. Auch keine Kandidatin für die Tapferkeitsmedaille.«

Ich drehte mich wieder zu der Stelle um, wo Lianne gelegen hatte.

»Und dann hat sich ein paar Tage später Doll gemeldet und uns mitgeteilt, dass er in der Gegend herumgeschlichen ist«, fuhr Gil fort. »Auch wenn er nicht genau diese Worte benutzt hat.«

Ich runzelte die Stirn. Gil grinste mich unverschämt an und pfiff dabei durch die Zähne.

Ich versuchte mir die Szene vorzustellen. Als Lianne gefunden wurde, war sie mit einem kurzen roten Lycra-Rock bekleidet gewesen, der bis über die Pobacken hochgerutscht war. Den Slip hatte sie noch an. Sie trug keinen BH, nur ein lila Baumwollshirt. Die Stichwunden waren ihr durch das Shirt zugefügt worden. Am linken Handgelenk befand sich eine jener Armbanduhren, wie man sie manchmal als Werbegeschenk bekommt, und um ihren Hals hing ein billig aussehendes goldfarbenes Medaillon, geformt wie ein gebrochenes Herz, auf dem in schnörkeliger rosafarbener Schrift stand: »Beste …« Lief irgendwo jemand mit der anderen Hälfte des Herzens und der Aufschrift »… Freundin« herum?

Ich rief Poppy an, meine beste Freundin. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mal wieder eine herzliche Stimme zu hören.

»Kit! Wie ist es gelaufen? Deine erste Arbeitswoche nach so langer Zeit?« Im Hintergrund konnte ich Kinder kreischen und schreien hören. Poppy rührte gerade irgendwas um, ein Löffel klirrte.

Erst eine Woche, dachte ich. Vier Tage. »Seltsam«, antwortete ich. »Sehr seltsam.«

»Ich hab schon mal versucht, dich anzurufen, aber da ist eine Frau rangegangen, die ich nicht kannte.«

»Julie. Hast du sie damals nicht kennen gelernt? Ist schon ein paar Jahre her, vielleicht war das vor deiner Zeit. Sie war eine Weile im Ausland.«

»Hat sie dir meine Nachricht nicht ausgerichtet?« Hatte sie nicht. »Wer ist sie? Moment – Megan! Amy! Holt euch eure heiße Milch mit Honig! Entschuldige. Diese Julie …«

»Sie war ziemlich lang unterwegs, auf Reisen rund um die Welt. Im Moment wohnt sie bei mir. Für eine Weile.«

»Oh. Nervt dich das nicht?«

»Eigentlich nicht, zumindest noch nicht.«

»Und es geht dir gut? Ach, du lieber Himmel, Mädels, wischt das bitte auf. Rasch! Holt ein Tuch oder irgendwas, das Zeug läuft sonst durch die ganze Küche!«

»Musst du aufhören?«

»Ich fürchte, ja. Ich ruf dich zurück.«

Ich hatte am Vortag Essen eingekauft, unter anderem frische Pasta, ein Glas Paprika-Chili-Sauce und zwei von diesen abgepackten Salatmischungen, die man nicht mehr zu waschen braucht, aber die Sachen waren verschwunden. Dasselbe galt für das Stück Zitronenkäsekuchen mit Ingwer. Der Kühlschrank war praktisch leer, abgesehen von ein paar Kartons Milch, einer Packung Frischkäse und – ich hob ihn hoch, um absolut sicher zu gehen – einen neuen schwarzen Slip, an dem noch das Preisschild hing.

Ich klopfte bei Julie. Keine Reaktion. Ich schob die Tür auf. Überall lagen Klamotten herum, darunter auch einige von mir. Auf dem Aktenschrank, wo Julie einen Spiegel aus dem Bad aufgestellt hatte, standen Cremedosen und Lippenstifte. Neben ihrem ungemachten Bett lagen meine Hausschuhe.

Ich hatte keine Lust, noch mal einkaufen zu gehen –

dazu war ich viel zu müde –, deswegen machte ich mir einen Toast mit Marmelade und eine große Tasse Kakao.

Ich nahm die Hausschuhe wieder in Besitz und schlüpfte in meinen Bademantel. Dann holte ich einen Skizzenblock heraus. Ich saß am Tisch, trank ab und zu einen kleinen Schluck von meiner schäumenden heißen Schokolade und versuchte Lianne zu zeichnen – allerdings nicht ihr Gesicht, nur ihre kleinen, kindlichen Hände mit den abgeknabberten Nägeln. Hände sind sehr schwer zu zeichnen, schwerer als Füße, ja sogar schwieriger als Gesichter. Es ist fast unmöglich, die Proportionen richtig hinzubekommen. Meistens geraten die Finger zu groß und sehen aus wie Bananen, oder der Daumen steht in einem unnatürlichen Winkel ab.

Ich bekam es nicht richtig hin, und nach mehreren Versuchen gab ich auf. Ich war leicht beunruhigt, wusste aber nicht so recht, was mich mehr irritierte: der schwarze Slip in meinem Kühlschrank, der Regen, der gegen mein Fenster klatschte, oder das nagende Gefühl, dass mir irgendwas entging.

11. KAPITEL

Wenn man viel zu tun hat, strömt das Adrenalin von selbst. Statt mich an diesem Morgen in die Badewanne zu legen, bis ich Julie die Wohnung verlassen hörte, sprang ich rasch unter die Dusche und wusch mir das Haar. Ich machte mir nicht die Mühe, es trocken zu föhnen, sondern frottierte es nur schnell und steckte es dann hoch. Dann schlüpfte ich in ein Kleid und Sandalen und trank nebenbei Kaffee. Nachdem ich den Autoschlüssel und einen Apfel in meine Tasche geworfen hatte, gelang es mir, vorbei an Julie, die mit einer großen Tasse Tee am Küchentisch saß und so schläfrig wirkte wie eine Katze an einem sonnigen Plätzchen, hinauszuhuschen. Ich fuhr schnurstracks zur Welbeck-Klinik und parkte meinen Wagen an seinem alten Platz unter der Akazie. Der Morgen war neblig und feucht. Außer einer Putzfrau, die sich mit einem Staubsauger rückwärts durch die Eingangshalle bewegte, war noch niemand da.

In meinem Büro angekommen, zog ich die Tür hinter mir zu und öffnete die Fenster, die auf den kleinen Fleck Garten hinter dem Gebäude hinausgingen. In meinem Ausgangsfach lagen keine Papiere, dafür aber ein kleiner Berg im Eingangskorb. Patienten, mit denen ich Termine vereinbaren sollte, Überweisungen, um die ich mich kümmern musste, Briefe, die darauf warteten, beantwortet zu werden. Außerdem waren Formulare auszufüllen, Zeitungen zu lesen und Einladungen abzusagen. Mein Anrufbeantworter hatte neunundzwanzig Nachrichten für mich aufgezeichnet. Ich schaltete meinen Computer an und fand dort rund ein Dutzend E-Mails vor. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass ein viel beschäftigter Manager teilweise bis zu zweihundert E-Mails pro Tag bekam. Das war so ungerecht. Wieso konnte man die nicht auf die vielen Leute aufteilen, die allein in einem Zimmer saßen und von niemandem Nachrichten bekamen?

Gegen neun war der Berg an Schreibkram schon beträchtlich geschrumpft. Ich hatte Einladungen zu Konferenzen in drei verschiedenen Ländern abgesagt, die Bitten um Terminvereinbarung mit Patienten in Ja-, Nein-und Weiß-noch-nicht-Stapel sortiert und meinen Stundenplan mit befriedigenden kleinen Blöcken zugeteilter Zeit gefüllt. Rund um meinen Schreibtischstuhl lag zerknülltes Papier. Ich hörte, wie die Klinik langsam zum Leben erwachte: In anderen Büros klingelten Telefone, Türen fielen zu, vom Gang drang Stimmengemurmel zu mir herein. Ich ging zum Kaffeeautomaten, der im Erdgeschoss stand, und eilte mit meiner vollen Tasse zurück in mein Büro.

Dort zog ich die Notizen heraus, die ich mir zum Fall Lianne gemacht hatte. Ich starrte auf die Sätze, bis sie vor meinen Augen verschwammen, zu Hieroglyphen wurden.

Der einzige Mensch, der mir unter Umständen irgendwie weiterhelfen konnte, war der Leiter des Jugendhauses, in dem sie manchmal übernachtet hatte oder hingegangen war, wenn sie ganz dringend ein heißes Bad, eine warme Mahlzeit oder saubere Klamotten brauchte. Will Pavic hieß der Typ. Einem Impuls folgend, griff ich nach dem Hörer und wählte seine Nummer.

»Ja.« Die Stimme klang kurz angebunden und ungeduldig.

»Könnte ich bitte mit Will Pavic sprechen?«

»Ja.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Sind Sie Will Pavic?«

»Ja.« Diesmal klang die Stimme genervt.

»Guten Morgen. Mein Name ist Quinn, Dr. Quinn, und ich helfe der Polizei –«

»Tut mit Leid, mit der Polizei habe ich nichts zu tun.

Das werden Sie unter den gegebenen Umständen sicher verstehen.«

Das Gespräch wurde unterbrochen.

»Mistkerl«, murmelte ich.

Ich holte den Apfel aus meiner Tasche und aß ihn langsam, wobei ich nichts als den Stängel übrig ließ. Dann wählte ich meine eigene Nummer.

»Hallo!« Julie machte einen wesentlich lebhafteren Eindruck als zu dem Zeitpunkt, als ich meine Wohnung verlassen hatte.

»Ich bin’s, Kit. Ich muss dich was fragen, was mich schon den ganzen Morgen beschäftigt. Wieso liegt in meinem Kühlschrank ein Slip?«

»Ooops!« Julie prustete vor Lachen. »Ich hab in einer Zeitschrift gelesen, dass es bei heißem Wetter ein herrliches Gefühl ist, in einen eisgekühlten Slip zu schlüpfen. Das ist alles.«

»Aber so heiß ist es doch gar nicht.«

»Deswegen liegt er ja noch im Kühlschrank. Ich warte auf die Hitzewelle.«

Das war also geklärt. Ich rief noch einmal bei Will Pavic an.

»Ja.« Gleiche Stimme, gleicher Tonfall.

»Mr. Pavic, hier spricht Kit Quinn, und es wäre nett, wenn Sie sich erst anhören würden, was ich zu sagen habe, bevor Sie wieder auflegen.«

»Ms. Quinn –«

»Doktor.«

» Dr. Quinn.« Er brachte es fertig, den Titel wie eine Beleidigung klingen zu lassen. »Ich bin wirklich sehr beschäftigt.«

»Wie ich schon gesagt – oder zu sagen versucht – habe, helfe ich der Polizei bei ihren Ermittlungen im Mordfall Lianne.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Lianne, die tot am Kanal gefunden wurde«, fuhr ich fort.

»Ich weiß, wen Sie meinen, aber ich weiß nicht, wieso Sie von mir Hilfe erwarten.«

»Ich wollte mit Leuten sprechen, die sie gekannt haben.

Die mir etwas über ihr Leben erzählen können, über den Umgang, den sie pflegte, ihre Sorgen und Ängste, und ob sie die Sorte Mensch war, die –«

»Auf keinen Fall. Ich werde nicht zulassen, dass die jungen Leute hier von Ihnen oder der Polizei belästigt werden. Die haben auch so schon genug Probleme.«

Ich holte tief Luft. »Und was ist mit Ihnen, Mr. Pavic?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kann ich mit Ihnen über sie sprechen?«

»Ich habe nichts zu sagen. Ich kannte Lianne ja kaum.«

»Sie haben sie gut genug gekannt, um ihre Leiche zu identifizieren.«

»Ich wusste, wie sie aussah, das natürlich schon.« Sein Ton klang schroff. Vor meinem geistigen Auge sah ich einen strengen grauen Mann mit einem scharf geschnittenen Gesicht und wachsamen Augen. »Ich nehme aber nicht an, dass Sie über ihr Aussehen diskutieren wollen. Sie wollen wissen, wie es in ihrem Kopf ausgesehen hat, stimmt’s?« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Ich hatte nicht vor, die Beherrschung zu verlieren. Je aufgebrachter er wurde, desto ruhiger fühlte ich mich. »Es wird nicht lange dauern.«

Ich hörte, wie er mit einem Stift nervös auf irgendeiner Unterlage herumtrommelte. »Also gut, was wollen Sie wissen?«

»Kann ich vorbeikommen und persönlich mit Ihnen sprechen?«

Völlig ausgeschlossen, dass ich übers Telefon etwas von ihm erfahren würde.

»Ich habe in knapp einer Stunde eine Besprechung, und danach –«

»Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen«, unterbrach ich ihn.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Pavic, ich weiß das zu schätzen.« Nun war es an mir, rasch aufzulegen.

Ich schnappte mir meine Tasche und Jacke und stürmte aus dem Büro, bevor er die Chance hatte, mich zurückzurufen.

Das Tyndale Centre für junge Leute war ein großes, mit seinen Metallfenstern nicht gerade einladend wirkendes Gebäude aus der Vorkriegszeit, eingeklemmt zwischen einem schlampigen Pub und einem der wohl hässlichsten Wohnblöcke Londons – schmutzige graue Betonblöcke und scheußliche kleine Fenster, von denen ein Teil eingeschlagen war. An einer Ecke schlängelte sich ein farbenfrohes Wandgemälde nach oben, Blüten und Ranken, die bis unters Dach reichten. Vielleicht sollte es Jack and the Beanstalk darstellen. Etwa zwei Meter über dem Boden war von anderer Hand »Fuck Off« über das Kunstwerk gekrakelt worden. Die Häuser auf der anderen Straßenseite standen offenbar leer, Fenster und Türen waren zugenagelt, die Vorgärten von Unkraut überwuchert. Zwei kahl geschorene Jugendliche kickten auf der Straße einen abgewetzten Tennisball zwischen sich hin und her, hielten aber inne und starrten mich misstrauisch an, als ich mich der Tür näherte.

»Hallo?«

Ich war nicht sicher, ob das Mädchen, das mir die Tür öffnete, eine von den jungen Leuten oder eine Helferin war. Sie hatte violettes Haar, mehrere Stecker in Augenbrauen und Nase und ein liebes Lächeln. Sie trug riesige zottige Hausschuhe. Hinter ihr erstreckte sich eine große Diele, von der mehrere Gänge abzweigten. Von oben dröhnte Rap-Musik herunter, und man hörte jemanden etwas schreien.

»Ich bin Dr. Quinn und mit Will Pavic verabredet.«

»Verabredet?«, rief ein Mann, der außer Sichtweite war.

»Lass sie rein.«

Die Frau trat beiseite. Die Diele war hellgelb gestrichen.

In einer Ecke stand ein Blumentopf mit einem spindeldürren Baum, auf einem Tisch an der Wand waren Infoblätter gestapelt, auf einer Couch neben der Treppe lag eine schlafende Katze. Ich sah auf den ersten Blick, dass bei der Einrichtung des Raums ganz bewusst darauf geachtet worden war, möglichst niemanden abzuschrecken, der es durch die Tür geschafft hatte.

Will Pavics Büro war in einem kleinen Raum gegenüber untergebracht. Die Tür stand offen. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte mir über seinen Computer hinweg entgegen. Ich schätzte sein Alter zwischen vierzig und fünfzig. Er trug sein Haar genauso kurz wie seine dunklen Bartstoppeln und hatte buschige dunkle Augenbrauen. Im hellen Licht seines Büros wirkte er fast monochrom, ganz schwarz und grau und kantig, wie aus Granit gemeißelt.

Sein missmutiger Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

Als ich durch die Diele auf ihn zuging, stand er zwar auf, blieb aber hinter dem Schutzwall seines übervollen Schreibtisches stehen.

»Hallo«, sagte ich.

Sein Händedruck war fest, aber flüchtig. »Nehmen Sie Platz«, sagte er und nickte zu einem Stuhl in der Ecke hinüber.

»Legen Sie die Papiere einfach auf den Boden.«

Ich räusperte mich. Mein nervöses Lächeln wurde von Pavic nicht erwidert. An der Wand hinter ihm war jeder freie Fleck mit gelben Notizzetteln gepflastert. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht richtig darüber nachgedacht hatte, was ich ihn eigentlich fragen wollte.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte ich. »Mir ist noch nicht ganz klar, was das hier eigentlich sein soll. Ein Kinderheim?«

»Nein«, antwortete er.

»Was dann? Eine von der Stadt finanzierte Anstalt?«

»Die städtischen Behörden haben nichts damit zu tun.

Der Staat auch nicht, ebenso wenig die Sozialdienste.«

»Wer führt dann dieses Haus?«

»Ich.«

»Ja, aber wem sind Sie Rechenschaft schuldig?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Was passiert hier eigentlich?«, wollte ich wissen.

»Das ist ganz einfach«, antwortete er. »In diesem Haus können obdachlose junge Leute für kurze Zeit unterkommen. Wir helfen ihnen ein bisschen, erledigen ein paar Telefonate oder was sonst nötig ist und schicken sie dann wieder weg.«

»Haben Sie Lianne auch wieder weggeschickt?« Bei dieser Frage wurde seine Miene starr. »Hören Sie, ich fange in diesem Fall ganz bei Null an«, erklärte ich und lächelte. Keine Reaktion, wie bei einem Computer, der abgeschaltet worden ist.

»Ich möchte so viel wie möglich über Lianne in Erfahrung bringen – damit meine ich nicht, wo sie sich in den Stunden vor ihrem Tod aufgehalten, wer sie zuletzt gesehen hat oder solche Sachen. Das ist Aufgabe der Polizei. Nein, mich interessiert mehr, was für eine Art Mädchen sie war.«

Sein Telefon läutete, aber er ging nicht ran. Das Band sprang an.

»So gut habe ich sie nicht gekannt«, antwortete er.

»Wie lange war sie hier?«

»Sie war nicht hier. Nicht so, wie Sie meinen. Sie hat bloß ab und zu vorbeigeschaut. Sie kannte hier ein paar Leute.«

»Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn Sie so wenig mit ihr zu tun hatten, wieso waren Sie dann derjenige, der die Leiche identifizierte? Wie ist die Polizei auf Sie gekommen?«

»Die von der Polizei sind auf mich gekommen, weil sie ein Poster mit ihrem Gesicht aufgehängt haben und daraufhin ein besorgter Bürger anonym angerufen und ihnen mitgeteilt hat, dass das Mädchen gelegentlich im Tyndale war. Dass ich sie identifiziert habe, liegt daran, dass die Polizei außer mir keinen anderen einigermaßen respektablen Menschen auftreiben konnte, der zugeben wollte, sie gekannt zu haben. Aber wir sind hier eben in Kersey Town. Wo Sie herkommen, ist das bestimmt ganz anders.«

»Sie wissen doch gar nicht, wo ich herkomme.«