»Wieso denn das?«

»Sie haben mir Fragen gestellt. Stimmt es, dass er wegen der Morde verhört worden ist? Ist mit einer Anklage zu rechnen? Warum hat man ihn wieder laufen lassen?«

»Wie haben die überhaupt von Doll erfahren?«

»Dieses Revier ist wie eine gottverdammte Nachrichtenagentur. Wenn hier jemand auch nur furzt, hängt sich sofort ein anderer an die Strippe und informiert die Mail

»Was haben Sie geantwortet?«

»Hab nur die groben Fakten aufgezählt. Falls diese Leute bei Ihnen ebenfalls anrufen sollten, verweisen Sie sie an mich. Da ist er ja.«

Ich rechnete schon damit, Michael Doll zu sehen, aber er meinte Seb, den Lieblingspsychiater der Medien. Poppys Mann und damit eine Art Freund von mir. Heute sah er aus, als würde er gleich in den Ein-Uhr-Nachrichten auftreten. Er trug eine schwarze Hose mit tadelloser Bügelfalte, Stiefel und eine ziemlich auffällige schwarze Lederjacke über einem leuchtend weißen Hemd. Sein Haar war aufs Vorteilhafteste zerzaust, und passend dazu hatte er sich einen Eintagesbart stehen lassen. Er trat auf mich zu, küsste mich auf beide Wangen und nahm mich anschließend noch in den Arm. »Kit«, sagte er, »ist das nicht großartig? Dass wir am selben Fall arbeiten, meine ich.«

»Wunderbar«, antwortete ich, gefangen in seinen Armen, in denen ich mich höchst unwohl fühlte. »Wie geht’s Poppy?«

»Was? Ach so, gut, alles im grünen Bereich. Du weißt ja, wie Poppy ist.« Lachend zwinkerte er Oban zu. »Kit und ich kennen uns schon eine Ewigkeit.«

»Sieht fast so aus.«

»Sie und meine Frau sind dicke Freundinnen. Kit gehört sozusagen zur Familie.«

»Dann kennen Sie auch Julie?«, fragte Oban.

»Julie?« Seb runzelte die Stirn. »Kenne ich Julie, Kit?«

»Ich hoffe, ich habe jetzt nichts Falsches gesagt«, meinte Oban mit spitzbübischer Miene.

»Nein, nein.« Ich spürte, wie meine Wangen zu brennen begannen. »Hören Sie, Dan, das wollte ich schon längst –«

»Wie auch immer. Wir haben einiges zu besprechen.

Moment.« Sein Handy klingelte schon wieder.

»Oban hat mir von deiner Einschätzung des Falls erzählt«, sagte ich zu Seb, während wir warteten. »Das meiste wusste ich allerdings schon. Ich glaube, ich habe dich im Radio über den Fall reden hören, bin mir aber nicht sicher, ob ich deine Schlussfolgerungen mitbekommen habe. Sie mussten vorher irgendeinen Song spielen.«

»Ach, das«, antwortete er geistesabwesend.

Oban verstaute sein Telefon und trat wieder zu uns.

»Wir müssen in diesem Fall alle zusammenarbeiten.«

»Ich bin natürlich hocherfreut, dass Kit mit von der Partie ist«, antwortete Seb mit seinem typischen breiten Grinsen und berührte mich an der Schulter. »Ich habe immer gehofft, sie würde im Hinblick auf ihre Arbeit mal ein bisschen mehr Ehrgeiz entwickeln. Trotzdem finde ich, wir sollten die Hackordnung von vornherein klarstellen. Zwei separate Ermittlungsstränge sind zu einem verschmolzen worden, und ich bin im Hauptfall als Berater engagiert worden.«

»Aber der Mord an Lianne ist zuerst passiert, Seb. Willst du damit sagen, dass der Mord an Philippa Burton wichtiger ist?«

»Ich wollte damit nur sagen, dass die Ermittlungen breiter angelegt waren. Fakt ist, dass wir zwei psychologische Berater haben, und deswegen möchte ich die Dinge klarstellen. Nur damit es keine Missverständnisse gibt.«

»Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte ich.

»Nun ja, ich bin beispielsweise der Meinung – nur, um irgendein Beispiel herauszugreifen –, dass die öffentliche Darstellung unserer psychologischen Beratungstätigkeit eine gewisse Konsistenz erfordert.«

»Sie meinen, Sie wollen im Fernsehen und bei Pressekonferenzen in Erscheinung treten«, fasste Oban seine Worte trocken zusammen.

»Damit habe ich kein Problem«, erklärte ich hastig.

»Dann sind wir uns in diesem Punkt also einig«, meinte Oban.

»Das war nur ein hypothetisches Beispiel«, antwortete Seb, »aber falls das gewünscht wird, bin ich durchaus bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.«

»Aber Kit wird weiterhin eine zentrale Rolle spielen«, verkündete Oban in entschiedenem Tonfall. »Wir haben es schließlich ihr zu verdanken, dass die Ermittlungen in den beiden Fällen zusammengelegt werden konnten.«

»Ja, das habe ich gehört«, sagte Seb. »Da hast du wirklich einen Glückstreffer gelandet, Kit.«

Ich holte tief Luft. Ich hatte nicht vor, mich provozieren zu lassen. »Wie kommen Ihre Leute mit der Analyse der Fasern voran?«, wandte ich mich an Oban. »Irgendwelche Hinweise auf den Wagentyp?«

Oban schüttelte den Kopf. »Sie können sich gern die technischen Daten ansehen, wenn Sie wollen. Es handelt sich um eine ganz besondere Art von farbiger Synthetikfaser. Beide Proben stammen definitiv von derselben Quelle, aber das muss nicht unbedingt der Teppich des Wagens sein. Es kann sich genauso gut um eine Decke oder ein Stück Stoff oder hundert andere Dinge handeln. Das Ergebnis ist uns keinerlei Hilfe.« Mit ratloser Miene schob er die Hände in die Hosentaschen.

»Ich muss gehen. Eine Besprechung mit jemandem aus dem Innenministerium. Danach treffe ich mich mit ein paar Leuten, die den Mörder mit Wünschelruten finden wollen. Zumindest glaube ich, dass es was in der Richtung war. Idioten mit gegabelten Stöcken.«

Nachdem er weg war, standen Seb und ich verlegen da und wussten nicht so recht, was wir sagen sollten. »Wie geht’s Poppy?«, fragte ich, ohne daran zu denken, dass ich ihn das schon gefragt hatte.

»Ach, du weißt ja, wie sie ist«, antwortete er, den Blick auf einen Punkt über meiner Schulter gerichtet. »Übrigens wollte ich dich schon die ganze Zeit anrufen. Hat Poppy es dir erzählt? Megan und Amy konnten nach deiner Gutenachtgeschichte tagelang nicht schlafen. Sie sind jede Nacht schreiend aufgewacht.«

»Das tut mir Leid!«, sagte ich bestürzt. »Ich wollte nicht

…«

»Nein, war doch nur ein Scherz. Trotzdem, interessante Idee.

Ist mir gar nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Wo hast du die Geschichte her?«

»Das habe ich dir schon gesagt, glaube ich. Es war ein Traum, der mich seit meinem Unfall immer wieder mal quält.«

»Rotes Zimmer. Interessante Idee. Eine blutige Kammer.

Glaubst du, es handelt sich dabei um eine Art Gebärmutter? Deine Mutter ist früh gestorben, nicht wahr?

Glaubst du, du bringst auf diese Weise den Wunsch zum Ausdruck, in ihren toten Schoß zurückzukehren?«

Ich verspürte den starken Drang, Seb mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf zu schlagen. »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete ich. »Es ist eine Geschichte über eine große Angst, weil es mir große Angst eingejagt hat, dass mir jemand das Gesicht zerschnitten hat.«

»Auch möglich«, meinte Seb nachdenklich. »Hast du was darüber geschrieben? Planst du eine Arbeit darüber?«

»Nein«, antwortete ich. »Mein Thema sind normalerweise die Träume anderer Leute.«

»Gut«, sagte er. »Gut.«

Am nächsten Morgen klingelte sehr früh das Telefon. Es war Oban. »Besorgen Sie sich eine Zeitung.«

»Wie meinen Sie das? Was für eine?«

»Eine von den Boulevardzeitungen. Egal, welche. So ein Mist!« Mit diesen Worten legte er auf.

Fünf Minuten später, nach einem atemlosen Sprint zu dem Mann an der U-Bahn-Station, lag eine Auswahl der Boulevardzeitungen des Tages auf meinem Tisch. Das vertraute, leicht belämmerte, aber zugleich irgendwie bemüht dreinblickende Gesicht von Michael Doll starrte Julie und mir aus einem Durcheinander riesiger, reißerischer Schlagzeilen entgegen: »VERHAFTUNG IM

PIPPA-MORD. ›ICH BIN UNSCHULDIG‹

BEHAUPTET PIPPA-VERDÄCHTIGER. ›SCHRÄGE‹

VERGANGENHEIT DES PIPPA-VERDÄCHTIGEN.«

Pippa. Schon wieder dieser Name. Die richtige Länge für eine Schlagzeile. Und wo war Lianne? Wer dachte an sie? Ich überflog die Zeitungen. Es war alles da. Die Befragung, ein verdächtig detaillierter Bericht über alles, was die verkabelte Colette in Erfahrung gebracht hatte, die

»verfahrenstechnischen Gründe«, die dazu geführt hatten, dass Doll wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Außerdem ein skizzenhafter Abriss seines Lebens: Kinderheim, Jugendheim, kleinere Sexualdelikte. Eine junge Frau von der

Daily News hatte es geschafft, ein

»Exklusivinterview« zu bekommen – als ob es ein Problem wäre, diesen bemitleidenswert einsamen Mann dazu zu bringen, mit einer jungen Frau zu sprechen.

Zumindest fiel in diesem Artikel auch einmal der Name Lianne. Doll brüstete sich damit, dass er zum betreffenden Zeitpunkt in der Nähe des Tatorts gewesen sei. Um noch einen draufzusetzen, stritt er ab, zum Kreis der Verdächtigen gehört zu haben. Nein, ganz im Gegenteil, erklärte er, er sei ein wichtiger Zeuge, der einzige Mensch, der überhaupt etwas gesehen habe. Neben dem Artikel war ein Foto abgedruckt, das ihn mit stolzer Miene in seinem Zimmer zeigte.

Dolls Zimmer. Die Beschreibung dieses Zimmers durch die Journalistin – eine reiche, clevere Frau, die diesem verzweifelten, armen, verkorksten Mann gegenübergesessen hatte – war für sich selbst genommen bereits eine Art von Anklage. Dagegen wirkte der Schluss des Artikels auffallend vorsichtig formuliert, als hätte der Verfasserin dabei ein Jurist über die Schulter geblickt:

»Wir wollen damit nicht andeuten, dass Mickey Doll irgendwie an dem Verbrechen beteiligt war. Er gehört nicht zum Kreis der Verdächtigen. Es liegen keinerlei Beweise vor, die ihn mit den tragischen Morden an Lianne und der jungen Mutter Philippa Burton in Verbindung bringen. Trotzdem sind Männer wie Mickey Doll mit seinen durch Pornos angeregten Fantasien und seiner kriminellen Vorgeschichte eine offensichtliche Bedrohung für die Gemeinschaft, unsere Familien und Kinder. Indem wir einen Mann wie Doll beim Namen nennen, sein Foto abdrucken und seinen Wohnort preisgeben, rufen wir selbstverständlich nicht zu irgendwelchen Aktionen gegen ihn auf. Das wäre zwar verständlich, aber gegen das Gesetz, egal, wie gerechtfertigt die Sorgen der normalen Bürger auch sein mögen. Es ist nun an den Politikern, endlich zu handeln.«

Julie griff nach der Zeitung mit dem Interview und las es, während sie langsam ihren Kaffee trank und dazu eine Schüssel Obst verspeiste. »Hmm«, sagte sie, als sie fertig war. »Das ganze Ausmaß seines Charmes kommt da nicht wirklich rüber.«

Am nächsten Tag erzählte mir Oban – recht beiläufig, wie ich fand –, dass Doll im Krankenhaus sei. Ein besorgter Bürger sei in einem Pub zu ihm hingegangen und habe ihm eine zerbrochene Flasche ins Gesicht gerammt. »Jetzt hat er auch eine Narbe«, fügte er fröhlich hinzu. »Er hat angeblich nach Ihnen gefragt, aber wenn ich Sie wäre, würde ich ihn nicht besuchen.«

»Nein, das ist wahrscheinlich keine gute Idee«, gab ich ihm mit einem Anflug schlechten Gewissens Recht, und verdrängte Doll ganz schnell aus meinem Kopf.

24. KAPITEL

Zwei Tage nach dem Angriff auf Doll suchte ich ein weiteres Mal die Burtons auf, nicht weil ich es für eine besonders viel versprechende Idee hielt, sondern weil Oban mich dazu drängte. »An dem Typen ist irgendwas seltsam«, sagte er.

»An den meisten Menschen ist irgendwas seltsam«, erwiderte ich.

»Er wirkt nicht betroffen genug.«

Ich fragte mich, was er damit meinte. Auf mich hatte Jeremy Burton mit seinem niedergeschlagenen, müden Gesichtsausdruck durchaus betroffen gewirkt. Gab es denn ein richtiges Maß an Trauer? Wie ließ sich das messen?

Ich musste an die zahllosen Leute denken, die an der Stelle, wo Philippas Leiche gefunden worden war, Blumen niedergelegt und für die hübsche junge Mutter und das kleine Mädchen Tränen vergossen hatten. War das echte Trauer? Natürlich teilte ich Oban meine Gedanken nicht mit – er hätte bloß ironisch die Augenbrauen gehoben und statt meiner Seb geschickt.

Wie mit Jeremy Burton vereinbart, fuhr ich am Sonntagvormittag hin. Philippas Mutter öffnete mir die Tür und geleitete mich durch die Diele in die blitzsaubere Küche. Überall standen Blumen – samtige, aber schon welke Iris, halb vertrocknete Margeriten und zahlreiche Vasen mit weißen Lilien, deren intensiver, schwerer Duft das ganze Haus erfüllte. Im Vorbeigehen sah ich auf dem Wohnzimmertisch und dem Kaminsims Stapel von Kondolenzkarten liegen.

Ich warf einen Blick aus dem Küchenfenster. Vater und Tochter waren zusammen im Garten, wo sie mit dem Rücken zum Haus auf einer schmiedeeisernen Bank saßen.

Er löste gerade ein Kreuzworträtsel, und sie schlenkerte mit den Beinen. Irgendetwas ließ ihn den Kopf wenden, woraufhin ich grüßend die Hand hob und in den Garten hinaustrat. Er nickte mir freundlich zu. Ich hatte Bedenken gehabt, ihn erneut zu stören, aber er machte nicht den Eindruck, als wäre ihm mein Besuch lästig.

Nachdem wir uns die Hand gegeben hatten, faltete er umständlich seine Zeitung zusammen, wobei mir auffiel, dass er bei seinem Kreuzworträtsel kein einziges Kästchen ausgefüllt hatte. Er trug ein sommerliches T-Shirt und khakifarbene Shorts, wirkte aber trotzdem recht schick und adrett. Manche Leute sehen immer respektabel aus, dachte ich, andere hingegen nie. Man hätte Doll ein Bad, einen Haarschnitt, eine Rasur, eine Maniküre und einen sündteuren Anzug verpassen können, er hätte immer noch ungepflegt und irgendwie abstoßend ausgesehen. Seine Vergangenheit ließ sich nicht wegwaschen.

»Schau«, sagte Emily.

Ich ging in die Knie. Sie hatte neben sich auf der Bank ihre Schätze ausgebreitet, einen runden grauen Stein und einen scharfkantigen weißen, ein gegabeltes Stöckchen, eine Feder, ein Häufchen Moos, einen kleinen, erdverschmierten rosa Gummiball, ein altes Katzenhalsband, einen hölzernen Stiel von einem Eis, eine Plastiktube.

»Schau«, sagte sie noch einmal und öffnete ihre rundliche Faust. Auf der Handfläche lag ein kleines Schneckenhaus.

»Wo hast du das gefunden?«, fragte ich.

Sie deutete auf den gekiesten Bereich neben der Küchentür.

»Es ist sehr hübsch«, sagte ich. Ihre Finger schlossen sich wieder um das Schneckenhaus. Sie trug ein gepunktetes Sommerkleid, und ihr Haar war mit einer Klammer hinter den Ohren befestigt, was ihr Gesicht schmäler wirken ließ, als ich es in Erinnerung gehabt hatte.

»Das gebe ich alles Mami«, sagte sie in wichtigtuerischem Ton. Ich warf einen Blick zu ihrem Vater hinüber.

»Damit meint sie, dass sie die Sachen aufs Grab legen wird, wenn Phil beerdigt ist«, erklärte er mit gequälter Miene. »Es war die Idee meiner Schwiegermutter, dass Emily schöne Dinge für sie sammeln soll. Ich habe da meine Zweifel. Sie scheint mir die Idee ein wenig zu wörtlich zu nehmen.« Über seiner Nase erschien eine kleine Steilfalte.

»Was hast du denn noch alles gefunden?«, fragte ich die Kleine.

Vorsichtig stand sie auf, das Schneckenhaus noch in der einen Hand, und begann mit der anderen die übrigen Schätze einzusammeln. »Komm mit in mein Zimmer und sieh es dir an«, sagte sie.

»Kann ich auch ein bisschen später kommen? Zuerst muss ich mit deinem Vater sprechen.« Die Steine, das Moos und die Plastiktube landeten im Gras. Sie kniete sich hin, um die Sachen aufzuheben. Ihr Vater machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben und seine Zeitung unter den Arm geklemmt. Sein Gesicht wirkte unendlich müde.

»Weißt du was, Emily? Ich bringe dir die Sachen mit, wenn ich zu dir komme und mir ansehe, was du sonst noch für deine Mutter gesammelt hast.«

»Versprochen?«

»Ja.«

»Nicht vergessen!« Sie deutete auf die Plastiktube zu meinen Füßen.

»Bestimmt nicht.«

Wir sahen ihr nach.

»Sie glaubt, Philippa kommt zurück.«

»Wirklich?« Ich starrte auf ihren geraden Rücken und ihre dünnen Beine. Sie verschwand durch die Küchentür.

»Möchten Sie sich nicht setzen?« Er deutete auf die Bank.

»Danke.«

»Kaffee?«

»Nein, danke, nichts.«

»Ich habe von Ihrem Erfolg gehört«, sagte er.

»Oh, na ja …«

»Ich glaube, ich habe Sie unterschätzt.«

»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich ihn.

»Geht schon.«

»Können Sie schlafen?«

»Ja. Obwohl, nein, eigentlich nicht. Sie kennen das sicher. Ich wache auf und …« Er verstummte.

»Essen Sie genug?«

Er nickte.

»Ich habe vor ein paar Tagen mit Tess Jarrett gesprochen. Sie hat gesagt, Philippa sei ihr in den Wochen vor ihrem Tod zerstreut vorgekommen. Hatten Sie auch den Eindruck?«

»Nein.« Ich wartete. »Tut mir Leid. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Sie hatten nicht das Gefühl, dass ihr irgendetwas im Kopf herumging?«

Er starrte auf den Boden, als versuchte er für einen Moment, meine Anwesenheit zu vergessen. »Auf mich wirkte sie genau wie sonst auch.«

»Erzählen Sie mir von dem Abend, bevor sie starb.

Beschreiben Sie mir Ihren gemeinsamen Abend.«

Er seufzte und stimmte dann mit monotoner Stimme an:

»Ich bin gegen sieben von der Arbeit nach Hause gekommen. Emily war schon im Bett, und Philippa las ihr gerade eine Geschichte vor. Anschließend haben wir Emily beide gute Nacht gesagt.«

»Welche Worte hat Philippa dabei benutzt?«

»Welche Worte sie benutzt hat?« Er blinzelte mich an.

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Wir sind hinuntergegangen. Ich habe uns beiden ein Glas Wein eingeschenkt, und wir haben zusammen eine Runde durch den Garten gedreht. Es war ein schöner Abend.«

Inzwischen klang seine Stimme nicht mehr ganz so abgehackt. »Dann haben wir draußen zu Abend gegessen.« Er deutete auf den Terrassentisch.

»Was haben Sie gegessen?«

»Moussaka. Grünen Salat.«

»Worüber haben Sie gesprochen?«

Er starrte bekümmert vor sich hin. »Das weiß ich nicht mehr, ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie mich irgendwann gefragt hat, ob ich fände, dass sie älter aussehe.«

»Was haben Sie geantwortet?«

Er schnippte etwas, das ich nicht erkennen konnte, von seinen Shorts. »Bestimmt habe ich gesagt, dass sie für mich immer schön aussehe, irgendwas in der Art, aber an die genauen Worte kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Dann war also nichts anders an ihr? Oder an Ihrer Beziehung zu ihr?«

Er sprach jetzt, als würde er gerade aus einem tiefen Schlaf aufwachen. »Anders? Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Glauben Sie, das Ganze hatte etwas mit mir zu tun? Oder mit ihr? Sie war nicht depressiv. Sie hat nicht getrunken, und sie hat auch keine Drogen genommen. Sie ist nicht in Kersey Town herumgewandert wie dieses Mädchen …«

»Lianne.«

»Ja. Sie ist am Morgen aufgestanden und hat mir mein Frühstück gemacht. Sie hat sich um das Haus gekümmert.

Und um Emily. Sie hat sich mit Freunden getroffen. Sie war glücklich. Sie hat davon gesprochen, wieder arbeiten zu gehen. Sie hat auch davon gesprochen, eines Tages weitere Kinder zu haben. Bald.« Seine Stimme klang jetzt ein wenig brüchig, aber er sprach weiter. »Dann, eines Morgens, nachdem sie Frühstück gemacht und das Haus aufgeräumt hatte, ist sie mit ihrem Kind losgezogen und aus heiterem Himmel ermordet worden. Ende der Geschichte. Zumindest sieht die Polizei es so, und auch dieser andere Doktor, der ein paar Mal hier war und Fragen gestellt hat. Falls Sie Gründe haben, anderer Meinung zu sein, dann verraten Sie sie mir bitte. Ich möchte sie wissen.«

Ich stand auf. »Es tut mir Leid, wenn ich Ihnen Kummer bereitet habe.« Ich beugte mich hinunter und hob das Häufchen Moos, die zwei Steine und die Plastiktube auf.

»Sind Sie damit einverstanden, wenn ich noch kurz bei Emily vorbeischaue und ihr die Sachen bringe?«

»Sie ist wahrscheinlich in ihrem Zimmer. Im ersten Stock, gleich gegenüber der Treppe.«

»Danke.«

Sie war gerade damit beschäftigt, kleine Plastiktiere in einem Regalfach aufzustellen. Ich kauerte mich neben sie, die Hände um ihre Schätze gelegt. »Hier sind deine Sachen.«

»Passen Elefanten eher zu Löwen oder zu Pferden?«

»Wenn es nach mir ginge, würde ich sie zu den Löwen stellen. Möchtest du mir jetzt zeigen, was du für deine Mutter gesammelt hast?«

Sie stand auf und ging zum Bett hinüber, unter dem sie eine große Pappschachtel hervorzog. Nacheinander legte sie die Dinge auf den Boden: ein kleines Marmeladenglas, eine getrocknete Distelblüte, mehrere Sammelkarten aus Cornflakespackungen, drei Knöpfe, ein Stück Nylonfaden, auf dem Plastikperlen aufgereiht waren, eine Murmel, einen kleinen Fetzen eines seidigen orangefarbenen Stoffs, ein glitzerndes Stück Geschenkpapier, einen angeschlagenen Porzellanhund, einen Apfel. Ich beobachtete ihr Gesicht. Sie war völlig auf ihre Aufgabe konzentriert.

»Was davon magst du am liebsten?«

Sie deutete auf die Murmel.

»Was hätte deiner Mutter am besten gefallen?«

Sie zögerte einen Moment, deutete dann auf den orangefarbenen Stoff.

Die Tür ging auf, und Philippas Mutter streckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit ihrer festen, angenehmen Stimme, »aber Emily bekommt gleich Besuch von einer Freundin.« Sie gab mir das Gefühl, als hätte ich mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei ihnen eingeschlichen.

»Ja, natürlich.« Ich legte die Sachen, die ich noch in der Hand hielt, vorsichtig in die Pappschachtel. »Auf Wiedersehen, Emily.«

»Und das Schneckenhaus«, sagte sie, ohne hochzublicken.

»Das Schneckenhaus ist hübsch. Hübsche Sachen haben ihr immer gut gefallen.«

Albie rief mich an. Er wolle nur hallo sagen und hören, wie es mir gehe. Ich hielt das Telefon ganz vorsichtig, als könnte es mich verletzen, und wartete. Wir warteten beide darauf, dass der andere etwas sagen würde. Dann verabschiedeten wir uns sehr höflich.

Ich rief meinen Vater an, aber er war nicht zu Hause. Ich wollte von jemandem hören: »Das Leben kann hart sein, aber mach dir keine Sorgen, mein Liebling, alles wird wieder gut.«

Ich wollte, dass mich jemand ganz fest in den Arm nahm und mir übers Haar streichelte. Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Lächerlich, aber wahr. Würde mich dieses Gefühl denn niemals verlassen? Konnte es sein, dass ich meine Mutter bis ans Ende meines Lebens vermissen würde? Dass auch weiterhin kein Tag vergehen würde, an dem sie mir nicht fehlte? Ich griff nach dem Telefon, um Will anzurufen. In meiner Wohnung war es so still, dass ich das Ticken meiner Armbanduhr hören konnte. Aber ich ließ es bleiben. Was sollte ich ihm sagen? »Ich bin allein, komm bitte vorbei und nimm mich in den Arm?«

Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und zündete zwei Kerzen an. Dann schaltete ich das Licht aus und legte mich aufs Sofa. Irgendwo im Halbdunkel surrte eine Stechmücke. Draußen begann es zu regnen. Was wusste ich schon von diesem Mann? Nichts, außer dass er einen erstklassigen Job in der City aufgegeben hatte, um stattdessen ein Haus für obdachlose junge Leute zu betreiben, die durch sämtliche Sicherheitsnetze gefallen waren. Dass ihm die Polizei misstraute und ihn verdächtigte, in seinem Haus Drogenhandel zu dulden.

Dass er oft mürrisch und schlecht gelaunt war und zu einer düsteren Weltsicht neigte. Trotzdem begehrte ich ihn in diesem Moment, weil er so ganz anders war als der überschwängliche Albie, und weil er aussah wie eine Krähe, ein einsamer Vogel. Ich wollte mich in sein zerzaustes Elend einhüllen und dafür sorgen, dass es uns beiden wieder besser ging.

Wie sich herausstellte, musste ich Will gar nicht anrufen, weil er von selbst zu mir kam. Am folgenden Abend – ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und lag bereits im Bett – klingelte es an der Tür. Ich schlüpfte in meinen Bademantel und warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht, wahrscheinlich hatte Julie mal wieder ihren Schlüssel vergessen. Ich stolperte zur Tür, noch in seltsamen Träumen gefangen. Draußen stand Will, und als er mich sah, sagte er mit einem Achselzucken:

»Ich konnte nicht schlafen.«

Ich trat einen Schritt zur Seite, und er ging vor mir die Treppe hinauf. Nachdem er sich auf dem Sofa niedergelassen hatte, schenkte ich ihm ein großes Glas Whisky ein, und mir selbst ein kleineres. Ich fühlte mich sehr unwohl in meiner Haut, musste an meine zerzausten Haare und meinen schäbigen Bademantel denken.

Außerdem wusste ich nicht, was ich mit ihm reden sollte.

Hier in meiner Wohnung erschien er mir plötzlich so groß und fremd. Wie hatte ich es je wagen können, ihn zu küssen oder von ihm zu träumen? Er hatte noch nicht mal seinen Mantel ausgezogen und starrte in sein Glas, als könnte er darin eine Antwort finden.

Am Ende tat ich den ersten Schritt, weil ich die Düsterkeit meines Wohnzimmers und dieses erdrückende Schweigen nicht länger ertragen konnte. Ich ging zum Sofa und beugte mich zu ihm hinunter. Ich küsste ihn nicht, das erschien mir zu intim. Stattdessen knöpfte ich erst seinen Mantel auf, dann das Hemd. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, während ich zögernd seinen bleichen Körper berührte, den Blick auf sein Gesicht gerichtet. Ohne die Augen zu öffnen, streckte er die Arme aus und nahm mein Gesicht in beide Hände. Ich setzte mich rittlings auf ihn, zog meinen Bademantel auseinander, presste seinen Kopf an meine Brust und lauschte dem wilden Pochen meines Herzens. »Du solltest aufpassen«, murmelte er.

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, es war mir auch egal. Wir waren bloß zwei Fremde, die Trost brauchten. Draußen blies der Wind Wellen von Regen gegen das Fenster.

25. KAPITEL

Als mich das Telefon aus dem Schlaf riss, hatte ich sofort das Gefühl, dass es noch mitten in der Nacht war. Meine Augenlider fühlten sich an wie zusammengeklebt. Wie lange hatte ich geschlafen? Ich befand mich in meinem eigenen Bett, aber seltsamerweise nicht auf meiner üblichen Seite, sondern dort, wo Albie immer gelegen hatte. Als ich den Arm ausstreckte, wurde mir mit einem schmerzhaften Ziehen in der Magengegend bewusst, dass ich allein war. Will war weg.

»Ja?« Mehr brachte ich nicht heraus.

»Kit?«

»Mit wem spreche ich?«

»Furth. Geht es Ihnen nicht gut?«

»Was?«, fragte ich dümmlich. »Sie müssen entschuldigen, aber Sie haben mich aufgeweckt.«

»Es ist ein Wagen unterwegs, der Sie abholen wird.

Schaffen Sie das?«

»Wieso?«

»Der Chef möchte Sie im Krankenhaus sehen.«

»In welchem Krankenhaus?«

Am anderen Ende herrschte einen Moment Schweigen.

»Was spielt es für eine Rolle, um welches Krankenhaus es sich handelt?«

»Ich weiß auch nicht. Was ist passiert?«

»Ich hab jetzt keine Zeit. Wir erklären Ihnen alles vor Ort. Schaffen Sie das? Oder soll ich sagen, dass Sie nicht kommen können?«

Mein Gehirn erwachte allmählich zum Leben, wenn auch langsam, wie eine Eidechse in der Morgensonne. Mir war mittlerweile klar, dass es Furth am liebsten gewesen wäre, ich hätte mürrisch gebrummt, dass ich weiterschlafen wolle, und den Hörer auf die Gabel geknallt.

»Kein Problem«, sagte ich. »Wo treffen wir uns?«

»Der Fahrer weiß Bescheid«, antwortete Furth und legte auf.

Der Wagen war bereits unterwegs. Mir blieben nur ein paar Minuten. Ich stürmte unter die Dusche, drehte den Hahn auf sehr kalt und gestattete mir, einen Moment an Will zu denken, daran, wie wir uns wie zwei Ertrinkende aneinander geklammert hatten. Wer versuchte da wen in die Tiefe zu ziehen? Worum, zum Teufel, war es bei der ganzen Sache überhaupt gegangen? Wieso hatte er sich hinausgeschlichen wie ein Dieb? Ich drehte den Hahn in die andere Richtung, bis das Wasser so heiß war, dass es auf meiner Haut brannte. Ich musste an seinen Gesichtsausdruck denken, als er gekommen war, an den Laut, den er dabei ausgestoßen hatte, fast schon ein Schluchzen, und an die körperliche Nähe, die ich so lange entbehrt hatte. Dann war ich ebenfalls gekommen. Er hatte mich so fest gehalten, dass es mir fast Angst machte, und nun war er weg. War es das jetzt gewesen? Tja, dachte ich.

Tja, was?

Schnell trocknete ich mich ab und begann mich anzuziehen. Ich knöpfte gerade meine Bluse zu, als Julie hereinkam, splitterfasernackt. Sie schien niemals einen von den Filmen gesehen zu haben, in denen sich die Heldin nach dem Aufstehen sofort in ein Handtuch hüllt.

Anfangs hatte ich mich gefragt, ob sie das wohl tat, um zu demonstrieren, dass sie für eine so schlanke Frau irritierend große Brüste hatte, aber eigentlich machte sie sich über solche Dinge keine Gedanken, was ich fast noch beunruhigender fand. »Was ist los?«, fragte sie.

»Feueralarm?«

»Arbeit«, antwortete ich. »Scheint irgendwas passiert zu sein. Keine Ahnung, was.«

»Du meine Güte!«, sagte sie. »Das klingt aber wichtig.«

»Keine Ahnung. Sie haben mich gerade angerufen.« Ich fühlte mich noch immer nicht wach genug, um komplexere Sätze zu formulieren.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

»Ich glaube nicht, dass dafür noch Zeit ist. Sie haben schon einen Wagen losgeschickt, der mich abholen soll.«

Julie lächelte. »Ich habe gehört, dass du gestern Nacht Gesellschaft hattest.«

»Von wem hast du das gehört?«

»Nein, ich meine, ich habe es gehört. Durch die Wand.«

»Lieber Himmel, Julie, also wirklich …«

»Nein, nein«, unterbrach sie mich. »Ich konnte nichts dagegen tun. Es liegt an den Wänden. Sie sind dünn wie Papier.«

Ich spürte, wie ich knallrot anlief. »Das ist mir jetzt aber peinlich. Tut mir Leid, wenn du nicht schlafen konntest.

Ich dachte, du wärst gar nicht da.«

»Ich bin früher nach Hause gekommen als sonst. Aber es braucht dir nicht Leid zu tun, ich habe mich für dich gefreut. Du hast ein bisschen Spaß verdient.«

»Als Spaß habe ich es nicht gerade empfunden.« Auf irgendeine bescheuerte Weise kam ich mir vor wie eine prüde ältere Verwandte von Julie.

»Wirklich?« Ihre Miene wirkte plötzlich besorgt. »Hat sich aber durchaus nach Spaß angehört. Wer war der Typ?«

Ich holte tief Luft und stieß dann eine Art Schnauben aus.

»Wie der Zufall so spielt … es war Will. Du weißt schon, Will Pavic.«

»Du lieber Himmel!«, sagte sie. »Das ist ja seltsam! Ich meine, großartig. Pavic. Mein Gott. Ist er schon wach?«

»Nein. Das heißt doch, natürlich, er ist sogar schon weg.«

»Weg? Aha. Will Pavic. Das ist ja unglaublich. Wenn du zurückkommst, will ich jede noch so kleine Einzelheit hören!«

»Julie! Erstens: Ich habe nicht vor, dir jede Einzelheit zu erzählen. Und zweitens: Du scheinst ja sowieso schon alles zu wissen.« Es klingelte. In der Stille, die um halb drei Uhr morgens herrschte, klang es wie ein Alarm. »Und drittens: Ich muss los.«

Im Hinausgehen hörte ich Julie sagen: »Will Pavic. Das ist ja großartig. Phantastisch. Aber ist der Typ nicht ein bisschen seltsam?«

Ich schüttelte den Kopf und ging. Der Wagen, der vor der Tür stand, sah aus wie ein Taxi. Ein Mann im Anzug hielt mir die Beifahrertür auf.

»Dr. Quinn?«, fragte er.

»Sie bringen mich zu DCI Oban?«

»Davon weiß ich nichts. Ich setze Sie bloß am St.-

Edmund’s-Krankenhaus ab.«

»Gut.«

Unterwegs fragte ich ihn, ob er wisse, worum es bei der ganzen Aktion überhaupt gehe. Da er verneinte, stellte ich ihm keine weiteren Fragen, sondern schaute nur aus dem Fenster. Es war die stillste Zeit der Nacht, aber in London kehrte niemals völlige Ruhe ein. Ein paar Zeitungsausfahrer waren unterwegs, hin und wieder mal ein Auto, ein paar Menschen, die schnellen Schrittes irgendeinem Ziel entgegeneilten. Die letzten Nacht-Schwärmer vom Abend vermischten sich mit den Leuten, die schon auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich spürte, wie mein Puls zu rasen begann, während ich in meinem Kopf verschiedene Möglichkeiten durchging. Ein weiterer Mord. Eine Verhaftung. Was sonst konnte wichtig genug sein, um diese nächtliche Aktion zu rechtfertigen?

»Sind Sie eine richtige Ärztin?«, fragte mich der Fahrer.

»Mehr oder weniger.«

»Dann kennen Sie bestimmt ein paar Leute in dem Krankenhaus?«

»Nicht um diese Zeit.«

Er hielt vor der Notaufnahme, wo ein uniformierter Beamter wie ein Portier vor der Tür wartete. Während ich ausstieg, murmelte der Fahrer etwas in das Funkgerät auf seinem Schoß. Er bekam eine knackende Antwort, die ich nicht verstand.

»Ich bin Kit Quinn«, sagte ich zu dem Beamten vor der Tür.

»Ja«, antwortete er. »Ich bringe Sie hoch.«

Ich habe in meinem Leben schon viel Zeit an Orten verbracht, die niemals ganz zur Ruhe kommen –

Flughäfen, Polizeireviere, Krankenhäuser – und mag sie wegen ihrer oft ein wenig verloren wirkenden Betriebsamkeit, die auch dann noch anhält, wenn es draußen dunkel ist und die braven Bürger längst schlafen.

Vor der Tür standen ein paar Krankenwagen; ein Arzt und eine Krankenschwester liefen vorbei, aus mehreren Richtungen wurde etwas gerufen. Eine blasse junge Frau in einem weißen Mantel saß mit einer Tasse Kaffee und einem unappetitlich aussehenden Sandwich in einer Ecke und versuchte nebenbei irgendein Formular auszufüllen.

Der Beamte führte mich eine Treppe hinauf und dann einen Gang entlang. Schon aus fünfzig Metern Entfernung konnte ich Oban auf einer Bank sitzen sehen. Nachdem er mir von weitem zugenickt hatte, gab er vor, seine Fingernägel zu inspizieren, als hätten sie etwas unglaublich Faszinierendes an sich. Erst als ich nur noch ein paar Meter entfernt war, blickte er wieder auf.

Ich war schon gespannt auf seine Miene. Würde er mich traurig ansehen? Oder triumphierend? Wider Erwarten konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Er sah aus wie ein besorgter Verwandter, der auf Nachrichten wartet, ein erwartungsvoll, aber auch etwas beunruhigt dreinblickender Vater. Außerdem sah er schrecklich aus.

Zerknautscht, unrasiert, grau vor Müdigkeit. »Danke, dass Sie gekommen sind, Kit«, murmelte er.

»Und?«, fragte ich. »Was ist passiert? Ein weiterer Mord?«

»Nein«, antwortete er und versuchte zu lächeln, was ihn sichtlich anstrengte. »Ich glaube, ich habe meine Wette gewonnen. Falls es überhaupt eine Wette war. Ich wünschte, ich hätte ein besseres Gefühl dabei.«

»Welche Wette?«

»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich sinngemäß gesagt, unser Mörder kurve mit seinem Auto durch die Stadt und warte auf seine nächste Chance zuzuschlagen.

Sie hatten da Ihre Zweifel. Nun hat er wieder zugeschlagen. Oder es zumindest versucht.«

»Wie meinen Sie das? Wer liegt hier im Krankenhaus?«

»Ms. Bryony Teale. Oder Mrs. wie auch immer.

Vierunddreißig Jahre alt.«

»Ist sie schwer verletzt?«

»Körperlich nicht. Ich habe darum gebeten, dass man einen Arzt vorbeischickt, der Ihnen alles erklären kann.«

»Was ist passiert?«

»Bryony Teale ist abends am Kanal entlangspaziert, das dumme Mädchen. Manche Leute tun so, als wäre es ein idyllisches Flussufer auf dem Land. Sie wurde von einem Mann überfallen, aber während er sie attackierte, kamen auf dem Pfad zwei weitere Leute daher. Der Mann ergriff die Flucht. Man hörte einen Wagen mit quietschenden Reifen wegfahren.«

Ich schwieg. Meine Gedanken rasten. »Sind Sie sicher, dass da eine Verbindung besteht?«

»Wir überprüfen das noch. Aber es war fast auf den Meter genau an derselben Stelle, wo Liannes Leiche gefunden wurde. Das scheint mir doch sehr auf eine Verbindung hinzudeuten.«

»Lieber Himmel! Und gab es Zeugen?«

»Ja, zwei.«

»Konnten sie den Wagen beschreiben?«

Oban schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Das wäre zu schön, nicht? Sie waren damit beschäftigt, Bryony zu helfen. Sie war in einem schrecklichen Zustand.«

»Hat sie schon was gesagt?«

»Noch nicht. Sie steht unter einem schweren Schock. Sie kann kaum sprechen.«

»Was mache ich dann hier?«

»Ich möchte trotzdem, dass Sie mit ihr reden. Jetzt, später, wann immer sie dazu in der Lage ist. Ich möchte wissen, was Sie aus ihr herausbekommen können.

Hypnotisieren Sie sie, leuchten Sie ihr mit einem Lämpchen in die Augen, halten Sie ihr einen Gegenstand vor die Nase, egal, was, Hauptsache, Sie bringen in Erfahrung, was sie weiß.«

»Natürlich. Aber was ist mit Seb?«

»So was ist nicht ganz sein Ding. Machen Sie sich seinetwegen keine Gedanken. Ich regle das mit ihm.

Außerdem ist eine Frau für diesen Job besser geeignet.«

»Dr. Quinn?«

Ich blickte mich um. Hinter mir stand ein Arzt, ein bereits kahl werdender, sehr bleicher Mann in meinem Alter, der einen leicht genervten Eindruck machte.

Wahrscheinlich war er der Meinung, dass wir hier nur im Weg herumstanden und ihm die Zeit stahlen. Er sah aus, als sollte er eigentlich an zwei Orten gleichzeitig sein.

»Ja.«

»Ich bin Dr. Steen. Wie ich höre, interessieren Sie sich für Bryony Teale.« Er warf einen Blick auf sein Klemmbrett. »Sie ist keine Patientin von mir, aber ich habe mir ihre Karte angesehen. Keine Verletzungen, abgesehen von ein paar oberflächlichen Schürfwunden.

Sie steht unter Schock, was verständlich ist. Dr. Lander hat entsprechende Maßnahmen ergriffen – Rehydratation, Wärme, das Übliche. Wir beobachten sie noch. Bis zum Morgen dürfte sie sich einigermaßen erholt haben.«

»Hat sie Familie? Ist jemand verständigt worden?«

Steen zuckte mit den Achseln. »Sie ist keine Patientin von mir«, antwortete er. »Tut mir Leid.«

»Kann ich mit ihr reden?«

Er warf einen ratlosen Blick auf sein Klemmbrett, als erhoffte er sich von ihm eine Antwort. »Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich zögernd. »Das ist wahrscheinlich keine so gute Idee.«

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, erklärte ich.

»Ich bin es gewöhnt, mit solchen Patienten umzugehen.

Ich werde sie nicht zu sehr bedrängen.«

»Also gut«, antwortete er. »Ich glaube, es ist eine Krankenschwester bei ihr. Ich muss leider gehen, ich bin sehr in Eile.«

Und weg war er.

»Na also«, sagte ich. »Soll ich jetzt reingehen?«

»Ich bitte darum«, antwortete Oban.

Meine Hand lag bereits auf dem Türgriff, als ich mich noch einmal umdrehte. »Eins verstehe ich nicht«, sagte ich. »Eigentlich ist das für den Fall doch eine positive Entwicklung. Wir haben Zeugen, und es ist niemand ums Leben gekommen. Warum wirken Sie so niedergeschlagen?«

»Ich bin eigentlich gar nicht niedergeschlagen«, antwortete Oban. »Bloß verwirrt. Und das gefällt mir nicht.«

»Wieso verwirrt?«

»Es gibt da einen Punkt, den ich noch nicht erwähnt habe.«

»Nämlich?«

»Diese beiden Zeugen, die Bryony gerettet haben.«

»Ja?«

»Einer von ihnen war Mickey Doll.«

26. KAPITEL

In dem Moment hätte ich gern mein Gesicht gesehen.

»Doll?«, wiederholte ich dümmlich. »Doll?« Oban starrte mich bedrückt an und nickte. »Er war wieder Zeuge?«

»So ist es.«

»Aber das …« Ich hielt inne. Ich wusste nicht, was ich sagen oder denken sollte.

»Tja.«

»Aber warum?«

»Daran arbeite ich noch.«

Wir schwiegen beide eine ganze Weile. Ich war zu keiner Bewegung fähig, geschweige denn zu klaren Gedanken oder Aussagen. »Nun«, brachte ich schließlich heraus, »ich spreche jetzt wohl besser mit dieser Frau.«

Das Erste, was mir auffiel, war ihr langes Haar, das die Farbe von reifen Aprikosen hatte. Das Zweite waren ihre Hände, die sie auf der Decke ganz fest zur Faust geballt hatte. Kaum war ich an ihr Bett getreten, stand auch schon die Nachtschwester neben mir – eine riesige Frau, deren Gang mich an ein stampfendes Schiff erinnerte und deren Schuhe auf dem Linoleumboden laut quietschten. »Sie dürfen sie auf keinen Fall aufregen«, erklärte sie, während sie mit ihren gewaltigen Fingern nach dem zarten Handgelenk der Frau griff und es eine Minute lang festhielt, wobei sie den Kopf schräg legte, als würde sie einem Geräusch lauschen. Dann verließ sie quietschenden Schrittes den Raum und zog die Tür hinter sich zu.

»Hallo, Bryony.« Sie starrte mich an, als könnte sie mich nur unscharf sehen. Ihre Pupillen waren geweitet. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. Dabei fiel mir auf, dass ich zwei verschiedene Socken trug. »Ich heiße Kit.«

»Hallo«, murmelte sie und kämpfte sich in eine sitzende Haltung, sodass ihr Haar nach vorn fiel. Sie hatte ein sehr auffallendes, etwas flaches Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem markanten Kinn. Ihre Augen waren hellbraun, fast golden.

»Sie haben einen Schock erlitten«, fuhr ich fort, »aber jetzt sind Sie in Sicherheit. Es besteht für Sie kein Grund mehr, sich zu fürchten. Okay?«

Sie nickte und brachte ein kleines Lächeln zustande.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Es tut mir Leid, dass ich noch so schwach bin.«

Ich erwiderte ihr Lächeln. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Tee?

Oder etwas zu essen?«

»Nein, danke.«

»Sehen Sie, draußen wird es schon hell.« Ich deutete auf das kleine Fenster. »Die Nacht ist fast vorüber.«

»Ich möchte nach Hause.«

»Ich bin sicher, das wird sehr bald möglich sein. Wo sind Sie zu Hause?«

»Nach Hause«, wiederholte sie, ohne auf meine Frage einzugehen, und hob eine Hand an den Kopf. »Warum fühle ich mich so komisch?«

»Sie haben ein schockierendes Erlebnis hinter sich. Da ist es ganz normal, dass Sie sich komisch fühlen.«

»Wie die Leute nach der Fußballkatastrophe?«

»So ungefähr.«

»Aber ich bin gar nicht dieser Typ Mensch.« Sie strich mit den Fingern über ihr Gesicht, als müsste sie ihre Gesichtszüge nachzeichnen, um sich auf diese Weise ins Gedächtnis zu rufen, wer sie war. »Was ist passiert?«

»Sie erinnern sich nicht?« Oban würde noch niedergeschlagener sein, wenn er das hörte.

»Ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern, wie in einem Nebel. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Bitte.« Sie beugte sich vor und berührte ganz leicht meinen Handrücken.

Ich musste an jene verwirrten, nebeligen paar Sekunden auf dem Polizeirevier von Stretton Green denken, die Wärme des Blutes auf meiner Haut. »Sie sind am Kanal von einem Mann überfallen worden. Aber Sie hatten Glück. Zwei andere Männer sind Ihnen zu Hilfe gekommen. Ihr Angreifer rannte davon. Natürlich wird alles, woran Sie sich erinnern können, der Polizei von großem Nutzen sein, aber Sie sollten nicht versuchen, etwas zu erzwingen. Lassen Sie es einfach von selbst wiederkommen, und verdrängen Sie es dann nicht.«

Sie nickte, setzte sich noch ein wenig aufrechter hin und zog die Bettdecke um ihren Körper.

»Mein Kopf tut weh«, sagte sie, »und ich habe Durst.

Kann ich ein Glas Wasser haben?«

Ich schenkte aus dem Krug, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand, einen Plastikbecher voll. Als sie danach griff, zitterten ihre Hände so heftig, dass ein wenig Wasser auf die Bettdecke schwappte und sie die zweite Hand zu Hilfe nehmen musste.

»Danke«, sagte sie. »Gott, bin ich müde. Kommt Gabriel bald?«

»Gabriel?«

»Mein Mann.«

»Ich bin sicher, dass die Polizei ihn verständigt hat.«

»Gut.« Sie legte sich wieder hin.

»Können Sie mir erzählen, woran Sie sich erinnern, Bryony?«

»Ich erinnere mich … ich erinnere mich an eine Gestalt in der Dunkelheit. Eine Gestalt, die aus der Dunkelheit kam.« Sie schloss die Augen. »Und daran, dass jemand etwas gerufen hat.« Sie riss die Augen wieder auf. »Ich kann nicht!«, sagte sie. »Bitte. Noch nicht. Es ist alles so wirr in meinem Kopf. Wenn ich versuche, etwas zu fassen zu bekommen, entgleitet es mir sofort wieder, als würde ich versuchen, mich an einen Traum zu erinnern. Einen schrecklichen, schrecklichen Traum.«

»Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit. Kannten Sie den Mann, der Sie angegriffen hat?«

»Nein! Nein, daran würde ich mich doch bestimmt erinnern, oder? Oder nicht?«

»Was ist mit den Männern, die Ihnen geholfen haben?«, fragte ich in möglichst neutralem Tonfall.

»Was?« Sie sah mich blinzelnd an und fuhr sich dann erneut mit den Händen übers Gesicht.

»Hatten Sie diese beiden Männer schon mal gesehen?«

»Gesehen? Nein. Ich weiß nicht. Wer waren sie? Warten Sie, warten Sie einen Moment!«

Ich stand auf und ging zu dem kleinen Fenster hinüber.

Draußen brach der Morgen an. Durch das Fenster konnte man direkt in ein anderes Zimmer hineinsehen. Es war leer. Die Gedanken im meinem Kopf drehten sich im Kreis. Was, zum Teufel, hatte Doll dort zu suchen gehabt?

Ich würde später mit ihm sprechen müssen. Mein Mund war von dem Whisky, den ich am Vorabend getrunken hatte, völlig ausgetrocknet, meine Augen schmerzten. Ich brauchte dringend ein wenig Koffein.

»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Es tut mir Leid.«

»Bryony.« Ich drehte mich zu ihr um. Sie starrte mich erwartungsvoll an. »Sollten Sie sich doch noch an irgendetwas erinnern, egal, was, selbst wenn es ein noch so banales Detail zu sein scheint, dann ist es sehr wichtig, dass Sie das jemandem sagen. Der Polizei oder mir, das ist egal. Hauptsache, Sie sagen es. Ja?«

Sie nickte. In dem Moment schwang die Tür auf, und Oban streckte den Kopf in den Raum. »Mrs. Teale«, sagte er, »Sie bekommen Besuch. Ihr Mann ist auf dem Weg zu Ihnen.«

»Ich gehe jetzt, Bryony, aber ich werde später noch mal wiederkommen, wenn Sie nichts dagegen haben«, erklärte ich, während ich mich auf die Tür zubewegte, wo Oban mit müdem Blick und sorgenvoll gerunzelter Stirn wartete.

Sie nickte mir zu und schloss dann die Augen.

»Und?«, flüsterte Oban, als wir auf dem Gang standen.

»Sie kann sich kaum an was erinnern.«

»Verdammt«, sagte er. »Verdammt, verdammt, verdammt.«

»Aber das kommt wieder«, beruhigte ich ihn. »Sie steht noch unter Schock. Geben Sie ihr Zeit.«

»Zeit, sagen Sie. Zeit ist das Einzige, was ich nicht zu vergeben habe. Was, wenn er wieder zuschlägt?«

Ein großer Mann ging an uns vorbei, Bryonys Mann, wie ich vermutete. Er hatte eine gerade Nase, dunkles Haar und buschige dunkle Augenbrauen. Er erinnerte mich an ein Bild eines römischen Kaisers, das ich als Kind mal in einem Buch gesehen hatte.

»Möchten Sie, dass ich später noch mal mit ihr rede?«, fragte ich Oban.

»Würden Sie das tun?«

»Natürlich. Wie Sie selbst schon gesagt haben, ist es in Anbetracht dessen, was passiert ist, wohl am besten, wenn eine Frau mit ihr spricht.«

»Ja.«

»Was ist mit Doll? Soll ich mit dem auch sprechen?«

»Verdammt«, sagte er wieder. »Keine Ahnung. Er ist gerade auf dem Polizeirevier und macht seine Aussage.«

»Dann war er definitiv nicht der Angreifer?«, fragte ich vorsichtig.

»O Gott, Kit, fragen Sie mich in ein paar Stunden wieder. Der andere Zeuge ist auch dort. Endlich mal ein vernünftiger Mensch.«

»Sie meinen, ein Anzugträger mit Handy?«

»Ja, genau. Jedenfalls mache ich mich jetzt auf den Weg zurück ins Revier. Vielleicht kann ich dort mehr in Erfahrung bringen.« Er gab ein entnervtes Grunzen von sich, ehe er hinzufügte: »Aber nur vielleicht.«

»Gut, rufen Sie mich an. Auf meinem Handy – ich bin wahrscheinlich unterwegs.«

»Ja. Danke.« Er klang geistesabwesend. Dann sagte er:

»Wissen Sie, was mich am allermeisten nervt?«

»Was?«

»Wir haben drei Zeugen, falls man den bescheuerten Mickey Doll mitrechnet. Einer davon ist ein Geschäftsmann, einer steht unter Schock, und der dritte ist ein gottverdammter Perverser und so durchgeknallt, dass er nicht mal drei vernünftige Gedanken aneinander reihen kann, und gehört außerdem auch noch zum Kreis der Verdächtigen – oder würde zumindest gern dazugehören.

Ich brauch jetzt erst mal eine Pause.«

»Lassen Sie sich Zeit. Vielleicht sollten Sie sich wirklich mal eine Pause gönnen.«

»Vielleicht.«

»Wir reden später weiter.«

Ich wurde von einem Polizeiwagen nach Hause gefahren.

Obwohl es noch früh am Morgen war, herrschte auf den Straßen bereits dichter Verkehr. Die nassen Gehsteige glänzten im Sonnenlicht. Die Metalljalousien vor den Zeitungsständen wurden hochgezogen. Asiatische Händler schleppten Orangenkisten und Körbe voller Pflaumen, die sie vor ihren Läden zu Pyramiden aufschichteten. Ein Wagen der Müllabfuhr bewegte sich langsam die Straße entlang, um die großen Plastiksäcke einzusammeln, die am Straßenrand standen. Ich lehnte mich zurück und ließ London an mir vorüberziehen. Ich dachte an Will, sein sorgenvolles Gesicht im Kerzenlicht, und an Bryony Teale mit dem apricotfarbenen Haar, dem müden Lächeln und den zitternden Händen. Ich stellte mir Bryony neben Lianne und Philippa vor. Ich berührte meine Narbe.

Willkommen im Klub, dachte ich. Dann versuchte ich, an gar nichts mehr zu denken.

27. KAPITEL

Julie war noch im Bett. Ich hörte, wie sie sich in dem Zimmer, das vor langer Zeit mal mein Arbeitszimmer gewesen war, auf dem Sofa umdrehte. Ich setzte den Wasserkessel auf und gab Kaffeebohnen in die Mühle.

Bevor ich sie anschaltete, deckte ich sie mit einem Geschirrtuch ab, hörte Julie aber trotzdem durch die Wände hindurch stöhnen. Als ich fertig war, hielt ich die Nase über den frisch gemahlenen Kaffee und atmete tief ein. Im Kühlschrank fand ich eine Nektarine, die ich auf einem Teller viertelte, und einen kleinen Becher griechischen Jogurt. Während ich langsam den starken, aromatischen Kaffee trank, aß ich abwechselnd kleine Stücke von der süßen, saftigen Nektarine und Löffel voll cremigem Jogurt. Es war sieben Uhr.

Ich musste einen Termin mit Doll vereinbaren, eventuell auch mit dem anderen Zeugen. Außerdem musste ich noch mal zu Bryony Teale. Und ich wollte Will sehen. Ich legte die Hand an meinen Hals, meine Wange. Meine Haut fühlte sich zart und weich an. Ich schloss die Augen und stellte mir sein Gesicht vor. Vielleicht wollte er mich ja gar nicht mehr sehen – vielleicht war es das wirklich schon gewesen, ein paar Stunden in einer schlaflosen Nacht.

Julie wankte herein. Sie trug ein Männerhemd, das verdächtig nach einem von Albie aussah. Wo hatte sie das bloß aufgestöbert? »Hallo«, sagte sie und tapste zum Kühlschrank, wo sie sich eine Tasse Milch einschenkte und in einem Zug austrank. Dann drehte sie sich zu mir um, einen weißen Schnurrbart an der Oberlippe. »Alles in Ordnung?«

»Ja, ich denke schon.«

»Notfalleinsatz beendet?«

»Zumindest vorerst.«

»Gut. Möchtest du eine Scheibe Toast?«

»Nein, danke.«

Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter, als bestünde die Chance, dass er dort gerade vorbeiging.

»Ich wünschte …«

»Ja? Was?«, fragte Julie.

Ich hatte schließlich seine Privatnummer. Warum nicht?

Ich rief ihn an. Es läutete ein paar Mal, bevor er ranging.

Der Laut, mit dem er sich meldete, klang ein bisschen wie:

»Anngh.«

»Ich bin’s«, sagte ich. »Kit.«

Es folgte ein weiterer unverständlicher Laut, dann eine Pause. Vielleicht musste er sich erst mal sammeln. »Bist du gerade aufgewacht?«, fragte er.

»Nein, ich bin gerade heimgekommen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich bin in der Nacht noch mal rausgerufen worden. Ein Notfall.«

»Oh.« Er schwieg einen Moment. »Sollen wir zusammen frühstücken?«

»Jetzt?«

»Wie spät ist es denn?« Ich hörte ihn nach etwas suchen und dann stöhnen. »Gegen acht?«

»Bei dir?«, fragte ich.

»Ich frühstücke eigentlich nie zu Hause.«

Ich war enttäuscht. Ich wollte seine Wohnung sehen.

Manche Leute behaupten, auf seinem eigenen Territorium sei man am stärksten, aber das stimmt nicht. Auf seinem eigenen Territorium ist man am verletzlichsten. Anderswo kann man den Touristen spielen, aber der Ort, wo man schläft, verrät eine Menge über eine Person. Ich hatte Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass Will überhaupt irgendwo wohnte. Er beschrieb mir, wie ich zu dem Café kam, in dem er auf dem Weg zur Arbeit immer frühstückte. Es sei aber nichts Besonderes, fügte er hinzu, nur ein ganz schlichtes Café. Nachdem ich aufgelegt hatte, überlegte ich, wie viele Stunden ich eigentlich geschlafen hatte. Eine, vielleicht zwei. Ich ging ins Bad, füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und tauchte mein Gesicht hinein. Dann betrachtete ich mein Spiegelbild.

Hatte die letzte Nacht tatsächlich stattgefunden?

Inzwischen vermischten sich die Bilder in meinem Kopf, wie in einem Traum. Doch mein Gesicht war der beste Beweis dafür, dass tatsächlich etwas passiert war. Bleich und hohläugig – was für ein Anblick!

Andy’s Café war sehr verraucht, und die meisten Gäste trugen alte Lederjacken und Stahlkappenstiefel. Will winkte mir aus dem hintersten Winkel zu. Ich nahm ihm gegenüber Platz. Wir berührten uns nicht.

»Ich nehme ein schlichtes Pfannenfrühstück«, sagte er.

»Und du?«

»Bloß einen Kaffee.«

»Den Kaffee hier kann ich nicht empfehlen.«

»Dann Tee.«

»Nichts zu essen?«

»Ich habe etwas gegessen, als ich nach Hause gekommen bin.«

Ein großer ovaler Teller mit Wills Frühstück wurde gebracht, dazu zwei dunkelbraune Tassen Tee. Er häufte eine Ladung von dem gebratenen Speck mit Ei und Tomate auf seine Gabel.

»Tut mir Leid«, sagte er, bevor er sie sich in den Mund schob.

»Was tut dir Leid?«

Er musste eine ganze Weile kauen und schlucken, bevor er wieder in der Lage war zu sprechen. Er nahm einen Schluck Tee. Ich folgte seinem Beispiel. »Dass ich einfach gegangen bin«, sagte er. »Ich kann in einer fremden Umgebung nicht schlafen. Da werde ich total unruhig.«

Ich gab ihm keine Antwort. Will aß weiter, ohne mich anzusehen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich schließlich. »Mir ist es lieber, du bist offen und ehrlich zu mir. Ich habe es satt, irgendwelche Spielchen zu spielen.

Vielleicht bin ich auch nur müde.«

Will war gerade damit beschäftigt, mit einem Stück Toast den Eidotter von seinem Teller zu tunken. Das war fast mehr, als ich um diese Tageszeit ertragen konnte. Er schob das Brot in den Mund und kaute energisch darauf herum. Dann wischte er sich den Mund mit einer Papierserviette ab, hob den Kopf und sah mich an. In dem Moment wurde mir klar, wie selten er das tat. Die meiste Zeit sah er seitlich an mir vorbei, über meine Schulter. Ich hatte ihn schon nackt gesehen, war mit ihm im Bett gewesen, hatte aber noch kaum Gelegenheit gehabt, ihm in die Augen zu blicken. Er war ein paar Jahre älter als ich, um die vierzig, sah aber um einiges älter aus. Sein Haar wurde bereits grau, und die Haut über seinen hohen Wangenknochen wies nicht nur kleine Knitterfältchen, sondern richtig tiefe Furchen auf. Seine grauen Augen aber waren sehr klar, wie die eines Kindes.

»Es war nicht bloß das«, erklärte er, wobei sich sein Gesicht leicht rötete. »Ich habe dich betrachtet, nachdem du eingeschlafen warst. Ich habe dir die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Du schläfst sehr tief.« Er lächelte ein wenig. »Du hast sehr hübsch ausgesehen.«

»Hör zu, du musst nicht … ich weiß, dass ich nicht …«

»Sei still und hör mir zu. Ich versuche damit nur zu sagen, dass du anders ausgesehen hast. Zum ersten Mal, seit ich dich kenne, hast du nicht traurig oder besorgt gewirkt, oder …«, er zögerte einen Moment, ehe er weitersprach, »… oder zu hoffnungsvoll.«

»Oh, tja, hoffnungsvoll«, sagte ich. Es klang ziemlich kläglich, als wäre ich ein Hund, dem gleich jemand einen Tritt versetzen würde.

»Sogar als du in deinem Wohnzimmer auf mich zugekommen bist, hast du ein bisschen traurig gewirkt.

Aber dann, nachdem du eingeschlafen warst und dir keine Gedanken mehr darüber machen konntest, ob jemand da war oder nicht, hast du ganz jung und friedlich ausgesehen.«

Ich nahm einen Schluck von dem Rest Tee in meiner Tasse. Er schmeckte noch bitterer als am Anfang.

»Und da hatte ich plötzlich das Gefühl«, fuhr Will fort,

»dass ich dir keinen größeren Gefallen tun konnte, als dich in Ruhe zu lassen.«

»Ich brauche keinen Beschützer«, begehrte ich auf. »Ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist. Außerdem glaube ich, dass du trotz allem ein recht glücklicher Mensch bist, wenn auch auf deine ganze eigene, grimmige Art. Was eigentlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie viele Leute dich hassen.

Eigentlich müsste es Teil deines Jobs sein, gut mit der Polizei und den Sozialdiensten auszukommen.«

»Ich habe keinen Job«, entgegnete Will stirnrunzelnd.

»Genau wie viele von den Kids, die ich von der Polizei und den Sozialdiensten fern zu halten versuche.«

»Du redest, als hätten sie es auf dich abgesehen.«

»Sie haben es auf mich abgesehen.«

»Ich hörte ein paar Leute über Drogenhandel in deinem Haus reden. Sie sprachen von deiner möglichen Mittäterschaft. Dafür könntest du zehn Jahre ins Gefängnis wandern.«

»Die können mich mal«, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Haben sie Recht? Drückst du tatsächlich beide Augen zu?«

Er antwortete mit einem unverbindlichen Grunzen.

»Du kannst es mir ruhig sagen, ich bin nicht verkabelt.«

Er zuckte mit den Achseln. »Du hast doch gesehen, wie es bei uns zugeht. Natürlich versuchen wir die Dealer draußen zu halten, aber Drogen sind nun mal ein Teil dieser Jugendszene. Wir wollen diesen jungen Leuten helfen. Ein schwieriges und chaotisches Unterfangen. Die Praxis ist ganz anders als bei einem Vortrag in einem Seminar.«

»Weißt du, was ich glaube?«

Nun gestattete er sich so was wie ein gutmütiges Grinsen.

»Nein, Kit, ich weiß nicht, was du glaubst.«

»Ich glaube, ein Teil von dir würde gern verhaftet und eingesperrt werden, nur, um deine Weltsicht zu bestätigen.«

»Ich bin an großen Gesten nicht interessiert.«

»Das hängt davon ab, ob Märtyrertum auch als Geste zählt.«

Ich sah ihn an. Würde er mit einem Wutanfall oder einem sarkastischen Lächeln reagieren? »Vielleicht ist es sogar irgendwie schmeichelhaft, verhasst zu sein«, meinte er schließlich.

»Das könnte man als eine Definition von Paranoia interpretieren«, entgegnete ich. »Wahrscheinlich ist die Vorstellung, dass es alle auf einen abgesehen haben, besser als die Angst, von niemandem beachtet zu werden.«

»Aber du hast vorhin bestätigt, dass es tatsächlich ein paar auf mich abgesehen haben.«

»Ja, das stimmt. Wirst du mich jemals zu dir nach Hause einladen?«

»Wie meinst du das?«

»Du hast gesagt, du könntest in einer fremden Umgebung nicht schlafen. Ich würde mir gern mal ansehen, wie du es in deinem eigenen Bett schaffst.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich dich jetzt sofort einladen, aber ich habe um neun einen Termin.«

»So habe ich es nicht gemeint.«

Nun wirkte er fast ein wenig verlegen. So hatte ich ihn noch nie erlebt. »Du bist jederzeit willkommen«, meinte er schließlich.

»Wie wär’s mit heute Abend?«

»Zum Beispiel«, antwortete er. »Ich möchte dich bloß vorwarnen, es ist – unter anderem – ziemlich spartanisch.

Na ja, es fehlt eben die Hand einer Frau.«

»Das freut mich zu hören.«

Plötzlich wirkte er wieder ernst. »Erwarte nicht zu viel von mir, Kit«, entgegnete er, jetzt wieder in seinem üblichen, distanzierten Tonfall.

Ich seufzte. »Ich glaube, ich erwarte sowieso nicht viel.«

Dann musste ich heftig gähnen.

»Müde?«

»Ich schätze, der heutige Tag wird ziemlich anstrengend.«

»Was ist gestern Nacht passiert?«

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und sah ihn an.

»Willst du das wirklich wissen? Es ist nicht sehr interessant.«

»Ja, ich will es wissen.«

Also bestellte ich zwei weitere Tassen Tee für uns und lieferte ihm eine Zusammenfassung meiner Nacht im Krankenhaus.

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte er, als ich fertig war.

»Die Frau stand noch unter Schock, als ich mit ihr sprach. Ich werde in den nächsten Tagen noch mal mit ihr reden, vielleicht kann ich dann mehr in Erfahrung bringen.«

»Was muss sie aber auch nach Mitternacht allein am Kanal spazieren gehen!«, meinte Will verächtlich. »Also ehrlich!«

»Du meinst, sie hat es herausgefordert?«

»Ich meine, dass sie sich wie eine Vollidiotin verhalten hat.«

Er nahm einen Schluck von seinem Tee. »Wie hieß noch mal ihr Mann?«

Es dauerte einen Moment, bis sich der dichte Nebel in meinem Kopf lichtete. »Gabriel.« Wieder dieses sarkastische Lächeln. »Kennst du ihn?«, fragte ich.

»Ich weiß zumindest, um wen es sich handelt.«

»Wer ist er?«

»Du hast bestimmt schon von dem Theater gehört, das in einem der Lagerhäuser an der Bahnlinie eröffnet hat? The Sugarhouse oder so ähnlich. Du weißt schon, ungarische Pantomimen auf Stelzen, so was in der Art. Das ist er.«

»Ja, ich glaube, ich habe davon gehört.«

»Er will frischen Wind in den Stadtteil bringen. Der Typ soll sich zurück nach Islington verziehen, dann wird seine Frau auch nicht mehr belästigt.«

»Frischen Wind in den Stadtteil zu bringen ist dein Job, stimmt’s?«

Ohne zu antworten, ließ Will einen Finger über den Rand seiner Tasse gleiten. Dann hob er den Kopf und sah mich an.

»Und was willst du?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, worum geht es dir bei dieser Sache? Willst du dazu beitragen, dass die Polizei am Ende gut dasteht, oder glaubst du, du kannst den Mörder ganz allein fangen?«

»Ich habe nur eine Beratungsfunktion, das ist alles«, antwortete ich zögernd.

» Mich brauchst du nicht zu überzeugen«, sagte er. »Was weiß ich schon? Soweit ich sehe, fährt da so ein Irrer durch die Stadt und überfällt Frauen. Er ist gefährlich, und er muss gefasst werden. Das ist klar. Ich verstehe bloß nicht, was du dabei für eine Rolle spielst. Oder, warum.

Warum du dich so engagierst. Worum es dir bei der ganzen Sache geht.« Er hob die Hand und fuhr mit seinem Zeigefinger sanft meine Narbe nach. Seine Berührung ließ mich erschaudern. »Du bist schon einmal angegriffen worden. Reicht dir das nicht?«

Ich nahm seine Hand in meine. »Lass das«, sagte ich.

»Ich sollte dich ein paar von den Detectives vorstellen.

Was meine Arbeit betrifft, scheint ihr euch alle einig zu sein. Trotzdem muss ich jetzt ein bisschen mit dieser sinnlosen Arbeit weitermachen.« Ich stand auf.

»Ich habe nicht gesagt, dass das, was du tust, sinnlos ist.

Ich verstehe es einfach nicht.«

Ich beugte mich zu ihm hinunter und küsste ihn. »Das Problem ist, dass man bei allem immer erst am Ende, wenn es zu spät ist, weiß, ob es die Mühe wert war. Aber jetzt muss ich wirklich los. Wir sehen uns.«

»Heute Abend?«

»Möchtest du das überhaupt?«

»Soll ich dich auf Knien bitten?«

Ich ließ den Blick durchs Café schweifen. »Das ist vielleicht nicht der richtige Ort«, antwortete ich. »Also, ich stehe hier, ganz hoffnungsvoll, wie du es ausgedrückt hast, und erkläre dir, dass ich dich Wiedersehen möchte, heute Abend, bei dir. So, jetzt du. Willst du es auch?«

»Ja«, sagte er ganz leise, fast im Flüsterton. »Ja.« Wir starrten uns an.

Als ich das Café verließ, saß er noch immer vor seinem leeren Teller und dem kalten Tee und machte ein ernstes Gesicht. In zwölf Stunden würde ich ihn wieder in meinen Armen halten.

28. KAPITEL

Endlich, dachte ich, ein Zeuge, mit dem man normal reden konnte, ein Mann, der seine Gedanken klar aussprach, der sich an die Fakten hielt, der sah, was es zu sehen gab, und dessen Urteilsvermögen nicht durch irgendwelche Fantasien beeinträchtigt wurde. Er schüttelte mir energisch die Hand und räusperte sich, um für unser Gespräch bereit zu sein. Meine Augen brannten. Der viele Kaffee und die zwei Tassen bitteren Tees, die ich an diesem Morgen getrunken hatte, waren Gift für meinen Körper.

»Dr. Quinn«, stellte ich mich vor.

»Ich bin Terence Mack. Aber die meisten Leute nennen mich Terry.«

»Machen Sie das öfter, dass Sie nach Mitternacht am Kanal spazieren gehen?«, wollte ich wissen.

Er schnaubte leicht verächtlich. »Ich glaube nicht, dass ein Kerl wie ich sich deswegen Sorgen zu machen braucht.«

Da musste ich ihm Recht geben. Er war ein kompakt gebauter, rötlicher Typ mit haarigen Knöcheln und Handgelenken und auffallend langen Ohrläppchen. Sein dunkelgrauer Anzug spannte ein wenig um den Bauch, und zu seinem weißen Hemd trug er eine rot-schwarz gestreifte Krawatte, von deren Anblick mein Kopf noch mehr wehtat. Er musste ebenfalls die halbe Nacht auf gewesen sein, wirkte aber kein bisschen müde, sondern saß aufrecht und hellwach vor mir.

Trotzdem brachte er uns keinen Schritt weiter. Wie die meisten Zeugen hatte er erst im Nachhinein realisiert, was eigentlich passiert war. Ich hatte seine Aussage vor mir liegen. Sie war kurz und präzise. Er hatte sich sogar die genaue Zeit des Überfalls gemerkt, weil er kurz danach auf die Uhr gesehen hatte – ein Uhr neunzehn war es gewesen, und seine Uhr ging auf die Sekunde genau, wie er betonte. Seiner Aussage zufolge war er am Kanal entlanggegangen, weil er nach einer Besprechung mit Kunden aus Singapur, die im nahe gelegenen Pelham Hotel stattgefunden hatte, kein Taxi hatte auftreiben können. Der Treidelpfad war der kürzeste Weg zu einer viel befahrenen Kreuzung nahe der U-Bahn-Station Kersey Town, wo es einen Taxistand gab.

»Ich kam gerade aus dem Tunnel«, erklärte er. »Er ist nachts beleuchtet, sodass ich also aus dem Licht in die Dunkelheit trat und einen Moment lang überhaupt nichts sehen konnte. Sie wissen ja, wie das ist.« Ich nickte. »Ich hörte nur ein Geräusch. Dann konnte ich ein paar Schatten erkennen, irgendein Handgemenge am Rand des Kanals.

Und ehe ich mich versah, hatte ich diese schreiende Frau im Arm.«

»Und sie sagte …« Ich warf erneut einen Blick auf seine Aussage: ›»Hilfe! Hilfe! Bitte helfen Sie mir!‹«

»Vielleicht hat sie sogar noch öfter ›Hilfe!‹ gerufen, das weiß ich nicht mehr so genau. Sie schrie es aus voller Kehle, obwohl sie nur ein paar Zentimeter von mir entfernt stand. Ihr Haar hing vor meinen Augen, sodass ich kaum etwas sehen konnte, aber ihre Stimme war klar und deutlich zu vernehmen.«

»Und danach haben Sie auch nichts mehr gesehen.«

»Nur diesen anderen Typen, der ein paar Meter entfernt stand.«

»Sie meinen den anderen Zeugen?«

Er zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Ein seltsamer Kauz.«

»Was hat er getan?«

»Wer?«

»Der seltsame Kauz.«

»Er hat geholfen.«

»Und da war ganz sicher noch ein weiterer Mann?«

»Wie meinen Sie das? Was glauben Sie denn, worum es hier geht?«

Ich warf erneut einen Blick auf die Aussage. »Hier steht recht wenig von einer Täterbeschreibung.«

Er wirkte ein wenig verlegen. »Es ging alles so schnell.

Da waren bloß diese Gestalten in der Dunkelheit und dann die Frau, die auf mich zu stürzte. Ich wusste ja gar nicht, was da vor sich ging. Wenigstens habe ich gleich danach auf die Uhr geschaut.«

»Das war gut«, gab ich ihm Recht. »In welchem Zustand war Bryony, ich meine, die Frau?«

»Ziemlich aufgelöst«, antwortete Terence. »Ein bisschen hysterisch. Sie hat immer wieder betont, es sei alles in Ordnung, sie brauche keine Hilfe, und das, obwohl sie in einem schrecklichen Zustand war. Das arme Mädchen.

Geht es ihr gut?«

»Sie steht noch unter Schock. Aber das wird bald vorüber sein, denke ich. Was hat Doll – der andere Mann

– getan, während Sie die Polizei anriefen?«

»Getan? Nicht viel. Sie gehalten, sich ein wenig um sie gekümmert. Nicht gerade der Typ Mann, den man sich in einem Notfall wünscht. Sie hatte inzwischen ein bisschen zu weinen begonnen und klammerte sich an meinen Arm, wimmerte leise vor sich hin und bat mich, bei ihr zu bleiben. Ich sah, dass sie einen Schock hatte. Ihre Hände zitterten, und sie atmete schnell und stoßweise. Ich hoffe, sie haben ihr Tee mit viel Zucker gegeben, das ist in einem solchen Zustand das Beste. Darf ich Sie was fragen?«

»Natürlich.«

»Der Typ, bei dem ich die Aussage gemacht habe, ich glaube, er hieß Gil, hat gesagt, der Angreifer sei wahrscheinlich derselbe Kerl gewesen, der Philippa Burton umgebracht habe.«

»So, hat er das gesagt?«, gab ich trocken zurück.

»Stimmt das?«

»Keine Ahnung.«

»Ich hätte ihn mir schnappen können. Ich hätte ihn bestimmt eingeholt. Ich wusste nur nicht, was vor sich ging.«

»Sind Sie sicher, dass Sie sich, was diese vierte Person betrifft, an gar nichts erinnern können – Größe, Haarfarbe, Kleidung?«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Es ging alles so schnell.«

»Haben Sie gesehen, in welche Richtung er gelaufen ist?«

»Nein. Ich bin davon ausgegangen, dass er zur Straße hochgerannt ist, aber gesehen habe ich es nicht. Ich hätte ihm folgen sollen, stimmt’s?«

»Sie haben telefonisch Hilfe herbeigeholt. Das war das Wichtigste. Es ist Sache der Polizei, hinter den Leuten herzurennen.«

»Sie hat so gefroren. Ich habe ihr meine Jacke um die Schultern gelegt, bis der Krankenwagen und die Polizei kamen.«

»Gut. Das war gut.«

»Aber der Mörder von Philippa Burton. Das wäre was gewesen …«

»Eine hübsche Dame«, sagte er mit zitternder Stimme.

»So eine hübsche kleine Dame.«

»Michael.« Ich versuchte seinen Blick festzuhalten, der ständig durch den Raum schweifte und nirgendwo lange verweilte, mit Ausnahme des Fensters, durch das man auf den Parkplatz hinaussehen konnte.

»Zweimal.« Seine Stimme klang seltsam hoch.

»Zweimal ist mir das nun schon passiert. Ich bin zweimal dabei gewesen, Kit.«

Er sah schrecklich aus. Von seinem linken Nasenloch zog sich eine hässlich klaffende, nässende Wunde über den Mundwinkel bis zum Kinn hinunter, was sein Gesicht leicht verzerrt wirken ließ und außerdem den Eindruck erweckte, als wäre sein Mund ständig zu einem leichten, zuckenden Lächeln verzogen. Die Wunde war rot und angeschwollen. Ich vermutete, dass er sich an ihr zu schaffen gemacht hatte, denn an mehreren Stellen ragten Enden eines Nylonfadens hervor. Selbst während wir sprachen, konnte er seine Hände nicht still halten und zupfte dauernd daran herum. Seine Lippe war geschwollen, und er befühlte sie immer wieder mit der Zungenspitze. An der Stirn hatte er eine große Schürfwunde. Eines seiner Augen war blutunterlaufen, sein Haar fettig, und seine Sachen hingen an ihm, als hätte er binnen weniger Tage mehrere Kilo abgenommen.

Außerdem roch er ziemlich streng – ein penetranter, säuerlicher Geruch erfüllte den winzigen Raum.

»Warum ich, Kit?«, fragte er mit seiner quengeligen Stimme.

»Warum trifft es immer mich?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Trotzdem geht es Ihnen einigermaßen, oder? Sie Held der Stunde.«

»Eine hübsche Dame«, sagte er wieder. Für einen Moment blieb sein Blick an mir hängen. »Nicht so hübsch wie Sie. Sie sind immer die Hübscheste, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Aber sie hatte weiches Haar.« Er gab ein seltsames Geräusch von sich, eine Art leises Miauen, bei dem es mir kalt über den Rücken lief.

Seine Aussage war ein Durcheinander sich widersprechender Behauptungen – dass er gesehen habe, wie ein großer Mann, ein wahrer Riese von einem Mann, versucht habe, Bryony zu erwürgen, dass sie sich von ihrem Angreifer direkt in seine Arme geflüchtet habe, dass er sich auf den Mann gestürzt habe, um sie zu retten, dass der Mann in einem blauen Lieferwagen davongefahren sei, vielleicht sei es auch kein blauer, sondern ein roter Wagen gewesen, vielleicht auch kein Lieferwagen, nein, jetzt falle es ihm wieder ein, der Mann sei entlang des Kanals davongelaufen, und Bryony sei ohnmächtig geworden.

»Erzählen Sie mir nur das, woran Sie sich wirklich erinnern, Michael. Warum waren Sie so spät noch am Kanal unterwegs?«

»Ich war beim Fischen. Gute Zeit dafür. Vollmond. Kein Mensch unterwegs, kein störender Lärm.«

»Wo befanden Sie sich? Direkt am Ufer?«

»An meiner üblichen Stelle. Im Schatten, gleich neben dem Tunnel, wo mich keiner sieht, ich aber alle sehen kann.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Sie wissen schon«, antwortete er. »Die Dame. Den Mann, der hinter ihr her war. Und den anderen Mann.

Terry. Haben Sie Terry schon kennen gelernt? Wir haben sie gemeinsam gerettet. Den Kerl verjagt und sie gerettet.«

»Können Sie den Angreifer beschreiben?«

»Es war ein Mann. Ein großer Mann.«

»Sonst noch was?«

»Eigentlich nicht. Ich habe bloß ein paar Schatten gesehen, dann bin ich aufgestanden, ich glaube, ich bin aufgestanden, ich weiß es nicht mehr genau, ich war total durcheinander, jeder wäre da durcheinander gewesen, Kit.

Ich hab sie nur festgehalten, damit er ihr nichts tun konnte.«

»Sind Sie sicher? Sind Sie ganz sicher, dass es so war?

Sie haben sie von ihm weggezerrt?«

»O ja.« Er lächelte mich mit seinem verunstalteten Mund an.

»Ich habe sie gerettet. Ich bin ganz sicher, dass ich sie gerettet habe. Weiß sie das überhaupt? Die Zeitungen schreiben schreckliche Dinge über mich, aber ich habe sie vor ihm gerettet. Sagen Sie es ihnen, ja? Sagen Sie es allen, dann werden sie Bescheid wissen. Es wird ihnen Leid tun, was sie getan haben. Allen wird es Leid tun.«

Wieder berührte er mit der Hand sein Gesicht, leckte über den Schnitt in seiner Lippe.

»Was ist danach passiert?«

»Danach?«

»Nachdem Sie sie von ihm weggezerrt hatten.«

»Da kam dieser Mann aus dem Tunnel. Sie rannte zu ihm hin, und der andere lief davon. Und sie schrie und schrie und schrie. Ich habe gar nicht gewusst, dass ein Mensch so laut schreien kann.«

»Hören Sie zu, Michael. Sie müssen jetzt genau nachdenken. Können Sie sich an irgendwas erinnern, was auch immer es sein mag, das Sie gesehen oder gehört haben, egal, und wovon Sie der Polizei oder mir noch nichts erzählt haben?«

»Ich habe ihr Haar gestreichelt, um sie zu trösten.«

»Ja.«

»Und der andere Mann, der aus dem Tunnel gekommen ist, der hat gesagt – entschuldigen Sie, Kit – ganz laut hat er gesagt: ›Verdammte Scheiße.‹ Tut mir Leid.« Doll hatte eine prüde Miene aufgesetzt.

»Wohin gehen Sie jetzt, Michael?«

»Wohin?« Sein Blick richtete sich auf mich. »Könnte ich nicht vielleicht mit zu …«

»Sie sollten nach Hause gehen, Michael. Sehen Sie zu, dass Sie was Anständiges in den Magen bekommen. Und ziehen Sie sich saubere Sachen an. Sie sollten sich ein wenig ausruhen.«

»Ausruhen«, wiederholte er. »Ja. Das war alles ein bisschen viel für mich. Sie haben mir Pillen gegeben, aber ich weiß nicht, wo ich sie hingetan habe.«

»Gehen Sie heim, Michael.«

»Bin ich nicht in Gefahr?«

»Stehen Sie unter Polizeischutz?«

»Man hat mir gesagt, sie würden ein Auge auf mich haben.«

»Gut.« Ich lächelte. Trotz meiner Verwirrung, meiner bleiernen Müdigkeit und meines Abscheus vor Doll empfand ich plötzlich ein Gefühl von Zärtlichkeit für diesen armen Kerl mit seinem aufgeschlitzten Gesicht, seinen geröteten Augen und seiner Hoffnungs- und Hilflosigkeit. »Ich glaube wirklich nicht, dass Sie in Gefahr sind. Aber passen Sie trotzdem ein bisschen auf sich auf.«

»Kit. Kit.«

»Ja?«

Aber er hatte mir nichts mehr zu sagen, starrte mich nur ein paar Sekunden lang an. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen ihm über die Wangen, über sein zerschnittenes Gesicht, in seinen schmutzigen Kragen.

Es war elf Uhr. Bis zu meiner Besprechung mit Oban und Furth hatte ich noch zwei Stunden Zeit, und noch drei, bis ich in Bryony Teales Haus erwartet wurde. Ich spielte mit dem Gedanken, heimzufahren und zu duschen, mich vielleicht ein wenig hinzulegen, aber plötzlich fühlte ich mich überhaupt nicht mehr müde. Ganz im Gegenteil, der Mangel an Schlaf gab mir ein Gefühl besonderer Scharfsicht und Klarheit, als würde ich auf einem hohen Berg stehen und dünne Luft einatmen.

Ich verließ das Revier und kaufte mir an der Hauptstraße eine große Flasche Mineralwasser, mit der ich mich zu einer kleinen Grünfläche in der Nähe begab, wo neben Rosensträuchern mit tief herabhängenden Zweigen ein paar Bänke standen. Dort setzte ich mich an einen Platz in der Sonne, trank mein Wasser und beobachtete die vorübergehenden Leute. Die Wärme auf meiner Haut fühlte sich angenehm, sanft und beruhigend an. Seufzend schloss ich die Augen und legte den Kopf zurück. In meinem Kopf schwirrten Bruchstücke der letzten vierundzwanzig Stunden herum. Ich hörte Will stöhnen, spürte seine Hand auf meiner Brust. Ich sah ihn, wie er am Morgen gewesen war, sehr darauf bedacht, mir ja nichts zu versprechen. Ich stellte mir Bryonys Gesicht auf dem Krankenhauskissen vor, das blassorangefarbene Haar und die karamellfarbenen Augen, ihre zitternden Hände. Dann musste ich an Doll denken, seine wehleidige Stimme, seine wirren Aussagen, sein verunstaltetes Gesicht. Der andere Zeuge – Terence Mack mit den kräftigen, haarigen Händen – war vom Licht des Tunnels geblendet gewesen.

Keiner hatte etwas Relevantes gesehen. Alle blickten immer in die falsche Richtung. Die Tragödien ereigneten sich im Schutz der Dunkelheit.

Ich saß eine ganze Weile da und dachte nach oder träumte vor mich hin, indem ich die Bilder wie Nebelschwaden vorüberziehen ließ, körperlos, aber bedeutungsschwer. Immer wieder verschwand die Sonne für eine Weile hinter den Wolken. Leute strömten aus ihren Büros und ließen sich auf der Grünfläche nieder, um ihre Sandwiches zu essen. Ich musste an Albie denken, aber er schien mir jetzt sehr weit weg zu sein – ein Mann, der mir aus der Ferne mit zurückgeworfenem Kopf und strahlend weißen Zähnen zulachte: ein Fremder. Ich konnte mir kaum mehr vorstellen, dass ich mir monatelang jeden Abend gewünscht hatte, er möge neben mir liegen, und dass ich mich morgens beim Aufwachen jedes Mal von neuem daran erinnert hatte, wie sehr er mich verletzt hatte und dass er nicht zurückkommen würde, um mich in die Arme zu nehmen und mir zu sagen, wie Leid es ihm tue. Nie wieder. Nie wieder würde er mich in den Armen halten und berühren.

Heute Abend würde ich Will zu Hause besuchen und ihn dazu bringen, mich anzusehen, mich richtig wahrzunehmen, und ich würde mich eine Weile glücklich fühlen. Ich stand auf und zwang mich, meine Gedanken wieder auf Bryony Teale zu konzentrieren.

29. KAPITEL

»Hübsch«, sagte ich, nachdem ich einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte.

»Aber keine gute Gegend«, meinte Oban verächtlich.

Oban hatte mich informiert, dass Bryony Teale bereit sei, mit mir zu sprechen. Besonders mit mir. Einer mitfühlenden weiblichen Zuhörerin. Das hatte er nicht als Kompliment gemeint. Ich ging zu Fuß, und als ich mich dem Haus näherte, glitt bei einem Auto, das vor dem Haus wartete, eine Scheibe nach unten, und eine Hand winkte mir. Oban öffnete die Tür und lud mich ein, neben ihm auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, er wolle vorher noch mit mir reden. Dabei wäre es draußen viel schöner gewesen, aber Oban fühlte sich im Wagen offenbar wohler.

Das Haus war Teil einer Häuserreihe, die leicht geschwungen verlief, nicht so sehr wie ein kühnes C, eher wie ein Klammerzeichen. Die Häuser aus der spätviktorianischen Zeit waren hoch und schmal. Manche wirkten recht schäbig, bei einem hatte man Türen und Fenster mit Brettern vernagelt, aber ein paar trugen deutliche Zeichen neuer Pracht: lackierte Haustüren, frisch verfugte Mauern, Metallfensterläden an den Fenstern im Parterre. Oban deutete die Straße hinunter: »Vor zehn Jahren war dort ein Berg von Blumen aufgetürmt.«

»Warum?«

»Ein paar Jungs waren Richtung Euston Road unterwegs, als sie auf eine andere Gruppe Jugendlicher trafen. Sie rannten ihnen nach, bis sie da vorn bei dem Geländer einen erwischten. Sie verprügelten ihn, und als sie damit fertig waren, stieß ihm jemand ein Messer zwischen die Rippen.« Er richtete den Blick wieder auf das Haus. »Ich weiß nicht, warum solche Leute unbedingt hierher ziehen müssen.«

»Wie ich gehört habe, versuchen sie, was Gutes für die Gegend zu tun und ein wenig Vertrauen in die hier ansässigen Leute zu beweisen.«

Oban zog eine Grimasse. »Ja«, sagte er. »Und das ist der Dank, den sie dafür ernten. Sie sind so verdammt naiv. Ich habe das alles schon mal erlebt. Diese Frau spaziert am Kanal entlang, als wär’s ein Feldweg auf dem Land. Vor ein paar Jahren ist so was mal einer Frau passiert, die in einem Hotel hier in der Gegend wohnte. Kennen Sie die Geschichte?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich höre so viele Geschichten über Frauen.«

»Diese blieb wenigstens auf der Straße, aber ein paar Jungs schleppten sie auf den Treidelpfad hinunter. Dort vergewaltigten sie sie, und hinterher fragten sie sie, ob sie schwimmen könne. Sie war so clever, Nein zu sagen. Die Kerle warfen sie in den Kanal, doch sie konnte sich ans andere Ufer retten.«

»Was würden Sie uns Frauen raten?«, wollte ich wissen.

»Daheim zu bleiben, alle Türen abzusperren und den Fernseher einzuschalten?«

»Sicherer wär’s.«

»Noch besser wäre es, wenn alle am Kanal spazieren gehen würden.«

»Wer möchte schon an einem stinkenden Kanal spazieren gehen?«

Langsam hatte ich genug von diesem Gespräch. »Was meinen Sie, sollen wir jetzt reingehen und mit Bryony Teale sprechen?«, fragte ich.

Oban schien zu überlegen. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie erst mal allein mit ihr reden.«

»Ich bin nicht sicher, ob wir überhaupt etwas aus ihr herausbekommen werden«, gab ich zu bedenken. »Gestern schien sie in ziemlich schlechter Verfassung zu sein.«

»Tun Sie einfach Ihr Bestes, ja? Bringen Sie uns irgendwas, egal, was.« Dann murmelte er etwas, das ich nicht verstand.

»Was haben Sie gesagt?«

Oban öffnete den Mund, aber es kam nur eine Art Prusten.

»Dieser verdammte Doll!«, brachte er schließlich heraus.

»Er hat irgendwie mit der Sache zu tun.«

»Sie haben doch gesagt, er war nur Zeuge.«

»Der war nicht nur Zeuge, da verwette ich meinen Arsch!«

Oban hatte inzwischen einen hochroten Kopf. Der Beamte am Steuer drehte sich um und warf mir einen viel sagenden Blick zu. »Ich will diesen Scheißkerl endlich hinter Gittern sehen. Fragen Sie die Frau nach Doll.

Fragen Sie sie, was er dort gemacht hat.«

»Entschuldigen Sie«, entgegnete ich, »aber wenn ich es richtig verstanden habe, handelte es sich doch um denselben Ort, denselben Kanalabschnitt und dieselbe Entführungsmethode. Doll verbringt nun mal sein Leben dort, er sitzt jeden Tag mit seiner Angel und seinen Maden am Kanal. Und zufällig waren das Mädchen und der andere Zeuge ebenfalls dort. Doll hat ihr geholfen.«

Oban stieß ein sarkastisches Lachen aus. »Ich habe keinen blassen Schimmer, was da eigentlich abgeht«, sagte er. »Aber Doll hängt von Anfang an wie ein übler Geruch in dieser Sache drin. Ich weiß es einfach, und Sie wissen es auch. Sie haben schließlich mit ihm gesprochen, und Sie haben gesehen, wo er lebt.«

Ich schauderte. »Ja. Also gut, ich werde sie fragen. Soll ich einfach an der Tür klopfen?«

»Ja. Wir haben rund um die Uhr eine Beamtin dort postiert, auch wenn sie wahrscheinlich nur mit Teekochen beschäftigt ist. Sie wird Ihnen aufmachen.«

»Und was tun Sie inzwischen?«

»Ich fahre wieder. Falls sie in der Lage ist, eine Aussage zu machen, schicke ich einen von meinen Detectives vorbei.« Als ich die Wagentür öffnete, legte Oban seine Hand auf meine.

»Sehen Sie zu, dass Sie etwas in Erfahrung bringen können, Kit. Ich brauche dringend neue Informationen.«

Die junge Beamtin kam an die Tür. »Dr. Quinn?«

»Ja. Wie geht es ihr?«

»Weiß nicht. Sie hat nicht viel gesagt.«

Ich sah mich um. Obwohl der Holzboden und die Treppe abgezogen und frisch eingelassen waren, hatte der Eingangsbereich etwas Lässiges, leicht Verwegenes an sich. Ein Fahrrad hing an einem dicken Haken an einer Wand. In der Diele standen Regale mit Reihen zerlesener Taschenbücher, ebenso oben am Treppenabsatz. Von der Diele aus gelangte man in die Küche, die auf einen Garten hinausging. Die Tür neben mir schwang auf, und ein Mann trat heraus, der Mann, den ich im Krankenhaus gesehen hatte. Er war unrasiert und sein dunkles, lockiges Haar zerzaust. Er trug ein marineblaues Sweatshirt, eine Jeans und ausgelatschte Tennisschuhe ohne Socken. Er sah so aus, wie ich mich fühlte. Wahrscheinlich hatte er noch weniger geschlafen als ich. Er war groß, mindestens eins achtzig. Er schüttelte mir die Hand. »Ich bin Gabe«, stellte er sich vor.

»Wir haben uns schon gesehen«, antwortete ich. Er starrte mich verwirrt an. »Im Krankenhaus. Gestern Nacht.

Heute Morgen. Wie auch immer.«

»Oh, ja, tut mir Leid, da war ich nicht gerade in Bestform. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Ich mache Tee«, bot die Beamtin dienstbeflissen an und trottete wie ein Dienstmädchen in die Küche.

»Wie geht es Ihrer Frau?«

Gabes Miene wurde sorgenvoll. »Ich weiß es nicht.

Besser als gestern Nacht.«

»Das ist gut. Kann ich kurz mit ihr sprechen?«

Gabe schien sich nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen. Er schob die Hände in die Hosentaschen, zog sie aber gleich wieder heraus. »Darf ich Sie vorher etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Ist Bry wirklich von demselben Kerl angegriffen worden, der diese schrecklichen Morde begangen hat?«

»Es scheint zumindest möglich. Ihre Frau ist genau an der Stelle überfallen worden, wo eine der Leichen gefunden wurde.«

»Aber das kommt mir so unwahrscheinlich vor«, erwiderte er. »Warum um alles in der Welt sollte jemand an die Stelle zurückkehren, wo er bereits einen Mord begangen hat? Das klingt so riskant.«

»Ja, aber Mörder tun so etwas. Das ist keine Theorie, sondern es passiert täglich. Mörder kehren an den Tatort zurück.«

»Gut, gut«, sagte Gabe, als spräche er mit sich selbst.

Am liebsten hätte ich ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn getröstet, aber es war besser, ihn reden zu lassen.

»Was ich Sie fragen wollte, klingt wahrscheinlich dumm oder paranoid, aber ich würde gern wissen, ob Bry noch in Gefahr ist. Könnte er versuchen, ein weiteres Mal an sie heranzukommen?«

Ich überlegte einen Augenblick. Ich wollte ihm keine vorschnelle Antwort geben.

»Die ermittelnden Beamten sind der Meinung, dass der Mann, der diese Verbrechen begangen hat, ein Opportunist ist. Spätnachts am Kanal stellte Ihre Frau für ihn natürlich eine leichte Beute dar.«

Gabe sah mich aus schmalen Augen an. »Und was ist Ihre Meinung?«

»Ich sollte vielleicht vorausschicken, dass ich von der Polizei engagiert worden bin, damit ich neue Ideen einbringe, in andere Richtungen denke. Ich habe von Anfang an vermutet, dass irgendwas die beiden ersten Opfer miteinander verbindet.«

»Was? Warum?« Gabe Teale klang, als befände er sich gerade mitten in einem Albtraum.

»Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gefühl. Vielleicht stimmt es gar nicht, und ich liege völlig falsch. Die Polizei ist jedenfalls nicht meiner Meinung, so viel steht fest. Ich wollte nur offen zu Ihnen sein.«

»Aber falls Sie nicht falsch liegen …«, sagte er ganz langsam, als könnte er vor Müdigkeit kaum noch klar denken, »… dann würde das bedeuten, dass Bry noch in Gefahr ist.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Es steht völlig außer Frage, dass die Polizei für ihre Sicherheit sorgen wird.«

»Dann ist es ja gut«, antwortete er, wirkte aber nicht sehr überzeugt. »Danke.«

»Kann ich jetzt Ihre Frau sehen?«, bat ich ihn so sanft wie möglich.

»Ich bringe Sie zu ihr. Möchten Sie unter vier Augen mit ihr sprechen?«

»Das liegt ganz bei Ihnen«, antwortete ich. »Bestimmt ist es ihr lieber, wenn Sie dabei sind.«

»Sie befindet sich da drin.« Er schob die Tür auf und streckte den Kopf hinein. »Bry? Die Frau Doktor ist da.«

Ich folgte ihm hinein. Sie hatten aus zwei Räumen einen großen gemacht, der die ganze Breite des Hauses einnahm.

Durch das große Fenster auf der einen Seite konnte man auf die Straße hinaussehen, durch die Verandatür auf der anderen Seite in den Garten. Auf der Gartenseite saß Bryony Teale auf einem großen, rostfarbenen Sofa. Sie war barfuß und hatte die Beine angezogen. Über einer blauen, dreiviertellangen Hose trug sie einen kräftig orangefarbenen Pulli. Ihr Mann zog einen Sessel für mich heran. Dann setzte er sich neben seine Frau auf das Sofa, sodass sie sich an ihn lehnen konnte. Die beiden tauschten einen Blick, und Gabe lächelte sie beruhigend an.

An der Wand über ihr hing ein postergroßes Foto von einem kleinen Mädchen auf einer menschenleeren Großstadtstraße. Das Mädchen war wie eine Zigeunerprinzessin gekleidet, aber am allermeisten beeindruckten mich ihre dunklen, wilden Augen, die direkt in die Linse blickten. Es sah aus, als hätte sie sich gerade in dem Moment umgedreht und ihren eindringlichen Blick auf den Fotografen gerichtet. Man wollte mehr über das Mädchen wissen, was aus ihr geworden war, wo sie sich inzwischen aufhielt.

»Wirklich erstaunlich«, erklärte ich.

Bryony wandte den Kopf und brachte zumindest den Anflug eines Lächelns zustande. »Danke«, sagte sie. »Das habe ich gemacht.«

»Dann sind Sie Fotografin?«

»Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt noch so nennen darf«, antwortete sie leicht wehmütig. »Ich habe Schwierigkeiten, Leute zu finden, die bereit sind, die Sorte Fotos, die ich machen möchte, zu veröffentlichen.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Das da habe ich letztes Jahr etwa einen halben Kilometer von hier aufgenommen«, erklärte Bryony. »Ich war zu Fuß unterwegs, und sie ist mir mit ihrer Familie über den Weg gelaufen. Es waren Flüchtlinge aus Rumänien. Ist sie nicht schön?«

Wieder betrachtete ich das Bild. »Sie schaut so wild«, bemerkte ich.

»Vielleicht habe ich ihr Angst gemacht«, meinte Bryony.

»Wie fühlen Sie sich heute?«, fragte ich.

»Tut mir Leid, dass ich so aus der Fassung geraten bin.«

»Seien Sie nicht albern«, entgegnete ich. »Sie brauchen doch niemandem etwas zu beweisen. Sie brauchen nicht mal mit mir zu reden, wenn Sie nicht wollen.«

»Nein, nein, ich möchte mit Ihnen sprechen. Es sieht mir überhaupt nicht ähnlich, mich so gehen zu lassen.«

Ich betrachtete sie genauer. Allem Anschein nach ging es ihr besser als nachts im Krankenhaus, aber sie war noch immer sehr blass und hatte dunkle Augenringe. »Nach dem, was Sie durchgemacht haben, wäre jeder geschockt«, sagte ich. »Ihre Arbeit bringt es wohl mit sich, dass Sie oft zu Fuß an seltsamen Orten unterwegs sind?«

»Hin und wieder schon«, antwortete sie.

»Sie sollten trotzdem aufpassen. Ich habe gerade mit dem Leiter der Mordkommission gesprochen. Er hält es für keine sehr gute Idee, nachts am Kanal spazieren zu gehen.«

»Das sage ich ihr ständig«, mischte sich Gabe ein. »Aber sie ist völlig furchtlos. Und starrköpfig. Sie ist schon immer gern spazieren gegangen.«

»Inzwischen sehe ich das ein bisschen anders«, erklärte sie kleinlaut.

»Na ja, vielleicht nicht mehr allein, wenigstens nicht nachts«, entgegnete ich betont munter, weil ich das erste Aufkeimen eines Streits spürte. »Macht es Ihnen wirklich nichts aus, darüber zu sprechen?«

»Ich möchte helfen.«

»Wenn Sie ein schlechtes Gefühl dabei haben, dann sagen Sie es mir, und ich höre sofort auf.«

»Es geht schon.«

»Können Sie mir schildern, was passiert ist?«

»Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen eine große Hilfe sein werde.

Es ist alles so schnell passiert. Ich spazierte den Pfad entlang. Plötzlich spürte ich einen Arm, der an mir zerrte.

Er zerrte und zerrte, und ich stieß einen Schrei aus. Dann waren da schon diese anderen Leute, die mich packten. Es klingt so blöd, aber anfangs kapierte ich überhaupt nicht, dass sie versuchten, mir zu helfen. Bevor ich wusste, wie mir geschah, war der Mann schon davongelaufen.«

»Das war alles?«

»Alles?«

»Hören Sie, Bryony, Sie haben durch den Überfall einen schweren Schock erlitten. Ein Trauma. Sie brauchen das, was Ihnen passiert ist, nicht herunterzuspielen.«

»Oh.« Sie stieß ein zittriges Lachen aus. »Also, um ehrlich zu sein, habe ich mir vor Angst fast in die Hosen gemacht. Es stimmt, dass meine Arbeit es mit sich bringt, dass ich mich an den seltsamsten Orten herumtreibe, aber wenn man ständig vor allem Angst hat, bringt man nie etwas Anständiges zuwege.

Dann würde ich bloß in meinem Garten sitzen und Selbstporträts machen.« Wieder stieß sie ein kurzes Lachen aus. »Aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass dieser Spaziergang am Kanal fast so eine Art Herausforderung an mich selbst war. – Klingt das in Ihren Ohren total verrückt?«

»Nein. Es klingt gewagt, aber nicht verrückt.«

»Jedenfalls war mir sowieso schon ein bisschen mulmig zumute, als ich da so in der Dunkelheit dahinmarschierte«

– sie blickte zu Gabe hoch, der ihr aufmunternd zunickte –

, »und plötzlich tauchte da diese bedrohliche Gestalt auf, und ich spürte überall seine Hände. Ich dachte, er würde mich umbringen oder in den Kanal werfen. Oder vergewaltigen.« Sie schauderte. »Jetzt im Nachhinein versuche ich mir einzureden, dass gar nichts passiert ist, aber gestern Nacht dachte ich, ich müsste sterben. Ich habe sogar davon geträumt und bin weinend aufgewacht.«

»Ist Ihnen an dem Mann irgendwas aufgefallen?«

Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Es war zu dunkel. Es ist wirklich traurig, wie wenig ich dazu sagen kann. Ich glaube, er war ziemlich klein. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte er kurz geschorenes Haar, aber ich bin nicht ganz sicher. Das ist alles.«

»Ein Weißer?«

»Ja. Glaube ich zumindest.«

»Können Sie sich erinnern, was er anhatte?«

»Nein.«

»Oder was er nicht anhatte? Einen Anzug? Einen langen Mantel? Joggingshorts?«

Ihr Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln.

»Nein, nichts davon.«

»Eins noch«, sagte ich. »Vielleicht können Sie mir etwas über die beiden Zeugen sagen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Was haben sie gemacht?«

Bryony starrte mich verwirrt an. »Ich verstehe nicht recht.

Sie wissen doch, was sie getan haben. Sie haben den Mann verscheucht.«

Mir fiel nichts ein, was ich ihr hätte antworten sollen.

Ich musste es anders versuchen. »Nach allem, was Sie erzählt haben, war es ein schreckliches Durcheinander.

Vielleicht hatten Sie das Gefühl, von drei Leuten angegriffen zu werden. Oder von zwei, die von der dritten Person verscheucht wurden.«

»Warum?«

»Nur so eine Überlegung von mir.«

Bryony starrte nachdenklich vor sich hin. »Ich versuche gerade, das Ganze vor meinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Ich kann dazu nur sagen, was ich schon gesagt habe: Ich bin von einem Mann angegriffen worden, der dann davongelaufen ist. Das ist alles.«

»Nur der Angreifer und zwei Zeugen, die ihn verjagt haben?«

»Ja.« Sie wirkte verwirrter als zuvor.

»Sicher?«

»Ja. Nein. Nun ja, so sicher man bei solchen Dingen eben sein kann.«

»Wenn Sie bei der Polizei eine Aussage machen, wird man Ihnen noch viele andere Fragen in dieser Richtung stellen. Es ist erstaunlich, an was man sich alles erinnern kann, wenn man es von der richtigen Seite her anpackt.«

»Ich werde mein Bestes tun, Dr. Quinn, das verspreche ich Ihnen.«

»Bitte, nennen Sie mich doch Kit. Wenn jemand Dr. Quinn zu mir sagt, blicke ich mich immer suchend im Raum um, ob nicht jemand anders gemeint ist.«

»Dann also Kit. Darf ich noch etwas sagen?«

»Natürlich.«

Sie schluckte. »Ich bin so dankbar für alles, was jetzt für mich getan wird, aber … aber …«

»Was?«

»Ich frage mich, ob es bloß ein versuchter Raubüberfall war. Vielleicht hatte er es nur auf meine Geldbörse abgesehen.«

»Einer von den Zeugen hat das bereits erwähnt«, antwortete ich. »Seiner Aussage zufolge haben Sie gesagt, es sei doch gar nichts passiert. Demnach wollten Sie nicht mal die Polizei verständigen. Er hat darauf bestanden, das mit seinem Handy zu tun.«

Sie zog die Beine noch höher an den Körper, sodass sie mit den Knien fast an ihr Kinn stieß. »Finden Sie das seltsam?«

Ich setzte mein beruhigendstes Doktorlächeln auf.

»Überhaupt nicht. Waren Sie schon mal dabei, wenn jemand auf dem Gehsteig stolperte und hinfiel? Dabei landen die Betreffenden manchmal ganz schön hart, aber in den meisten Fällen warten sie nicht mal, bis der Schmerz ein wenig nachlässt. Sie rappeln sich sofort wieder auf und versuchen weiterzugehen, als wäre nichts geschehen. Wir Menschen neigen dazu, so zu tun, als gingen die Dinge weiter ihren normalen Gang. Man erlebt das sogar bei schweren Unfällen. Leute mit stark blutenden Wunden versuchen, ihren Weg in die Arbeit fortzusetzen. Es ist ganz natürlich, dass Sie sich einzureden versuchen, es sei nichts Ernstliches passiert.

Vielleicht versucht unser Gehirn auf diese Weise, sich vor Stress zu schützen.«

»Aber es könnte tatsächlich so gewesen sein.« Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton. »Vielleicht war es nur ein Raubüberfall. Ein schrecklicher Zufall.«

»Vielleicht haben Sie ja Recht. Wir werden diese Möglichkeit auf jeden Fall in Erwägung ziehen. Aber ich habe schon mit Ihrem Mann darüber gesprochen. Wir wollen kein Risiko eingehen.«

»Das ist gut«, antwortete sie niedergeschlagen.

Ich beugte mich vor. »Man hat Ihnen das wahrscheinlich schon gesagt, aber ich möchte es noch mal wiederholen: Es kommt häufig vor, dass Menschen, die etwas Derartiges durchgemacht haben, danach eine Weile an Depressionen leiden. Man ist verwirrt, macht sich möglicherweise selbst Vorwürfe oder bekommt sie von anderen zu hören.«

Ich warf einen Blick zu Gabe hinüber. »Ich weiß, was Sie meinen«, erklärte er. »Ich weiß auch, dass wir manchmal in etwas gereiztem Ton miteinander reden.

Aber es gibt nichts, weswegen ich Bry Vorwürfe machen könnte.«

»So habe ich es nicht gemeint«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. »Ich wollte damit nur sagen, dass solche Dinge Probleme machen können, mit denen man erst gar nicht rechnet. Und dass es für den Partner ebenfalls schwierig ist.«

Bryony lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich möchte nur, dass das alles aufhört.«

»Ich glaube, für Sie hat es schon aufgehört«, antwortete ich.

»Da bin ich fast sicher. Und nun wollen wir dafür sorgen, dass es für alle anderen auch aufhört.«

Sie lehnte sich an Gabe, der ihr zärtlich übers Haar strich. Plötzlich empfand ich ein klein wenig Neid, und da ich mich außerdem vollkommen überflüssig fühlte, verabschiedete ich mich.

30. KAPITEL

Als ich von der belebten Hauptstraße nach links in die Sackgasse abbog, in der Will wohnte, war ich ein wenig überrascht. Wie er am Telefon gesagt hatte, handelte es sich bei seinem Haus um eine kleine viktorianische Doppelhaushälfte, die Seite mit der flaschengrünen Tür und dem schwarzen Eisentor, nicht die mit der unordentlichen Ligusterhecke und dem zugenagelten Fenster im ersten Stock. Was er nicht verraten hatte, war, dass diese beiden die einzigen alten Häuser in einer großen neuen Wohnanlage waren, bestehend aus mehreren hohen Wohnblöcken, einem Netzwerk aus Gehwegen und Parkplätzen und einem kleinen Spielplatz mit Karussell.

Zwei rauchende Teenager schwangen auf den für Kleinkinder gedachten Schaukeln hin und her und ließen dabei ihre Absätze über den gummierten Asphalt schleifen. Wills Haus sah mit seinem Vorgarten und dem ordentlichen Zaun ziemlich surreal aus, als wäre es aus irgendeiner mittelständischen Wohnstraße herausgerissen und aus Versehen hier abgesetzt worden.

Ich glaube, ich hatte mir vorgestellt, er würde die Tür öffnen und mich sofort hineinzerren, woraufhin wir uns tief in die Augen blicken und einander in die Arme sinken würden. Natürlich war die Realität ganz anders. Als Will mir die Tür aufmachte, hielt er ein schnurloses Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt und winkte mich wortlos herein. Dann verschwand er mit seinem Telefon in die Küche und ließ mich allein im Wohnzimmer stehen, wo das Lächeln auf meinen Lippen langsam erstarb.

Immerhin gab mir das Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Das Zimmer war fast leer; es standen genau vier Gegenstände darin: ein wundervoll großes und tiefes senfgelbes Sofa, eine elegante Stereoanlage in der Ecke, ein Drehständer voller CDs und einer von jenen schönen Apothekerschränken mit Dutzenden kleinen Schubladen, die man für mehrere tausend Pfund in den überteuerten Antiquitätenläden Nord-Londons erstehen konnte. Das war alles. Kein Tisch, keine weiteren Sitzgelegenheiten, kein Fernseher oder Videorecorder. Keine Bücherregale, keine Haken mit Mänteln und Jacken, keine Bilder oder Fotos an den weißen Wänden. Kein Krimskrams, der über den ganzen Raum verteilt war. Ich musste an meine Wohnung denken: egal, wie ordentlich und karg sie auch sein mag, es liegt und steht trotzdem alles Mögliche herum

– Stifte und Notizblöcke, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, dekorative Schalen mit Würfeln oder Schlüsseln oder einem einzelnen Paar Ohrringe, Kerzenhalter, Spiegel, Gläser, Blumen. Hier aber gab es absolut nichts vom üblichen Krempel des täglichen Lebens.

Ich zog meine Wildlederjacke aus, legte sie über die Armlehne des Sofas und warf einen Blick auf die CDs. Ich konnte keinen einzigen mir bekannten Namen entdecken.

Ich ging zu dem Schrank hinüber und zog vorsichtig eine der Schubladen auf. Sie war leer, ebenso wie die nächsten drei. In der fünften fand ich einen Vorrat Büroklammern und mehrere Schubladen später eine zerbrochene Schachfigur. Sonst nichts.

»Tut mir Leid.«

Erschrocken fuhr ich zusammen. Er war lautlos wie eine Katze hereingeschlichen und hatte mich dabei ertappt, wie ich in seinen Sachen herumschnüffelte – bloß, dass er keine Sachen zu besitzen schien.

»Lebst du wirklich hier?«

»Wie meinst du das?«

»Na, das hier.« Ich machte eine ausladende Handbewegung. »Was tust du, wenn du dich hier aufhältst? Hier ist doch nichts. Nichts, was auf deine Anwesenheit hindeutet. Richtig unheimlich. Das ist nicht mal mehr minimalistisch, sondern absolutes Minimum.«

»So ist es auch gedacht.«

»Wie lange wohnst du schon hier?«

»Zwei Jahre.«

»Zwei Jahre! Du hast in zwei Jahren gar nichts angesammelt? Wo hast du vorher gelebt?«

»In einem sehr vollen Haus.«

»Mit einer Ehefrau?«

»Das war einer der Gründe, warum es so voll war, ja.«

»Und das hast du alles zurückgelassen?«

»Du hältst dich nicht lange mit Smalltalk auf, oder?

Möchtest du was trinken?«

»Ja. Was hast du denn?«

Ich folgte ihm in die Küche, die nur eine entfernte Ähnlichkeit mit den Küchen aufwies, die ich bisher kannte. In der Nähe des nach hinten hinausgehenden Fensters war ein Spülbecken angebracht, darunter stand ein großer Mülleimer aus Edelstahl, in der Ecke ein Kühlschrank. Die üblichen Küchengeräte und Arbeitsflächen aber fehlten, und ich konnte auch keinen Herd entdecken. Stattdessen stand an einer Wandseite ein alter Kieferntisch mit einem Wasserkocher, einem Toaster, einer Kaffeemühle und zwei scharfen Messern.

»Mein Gott, Will, das ist wirklich ein bisschen ungewöhnlich.«

»Ich habe Whisky, Gin, Brandy, Wodka, Campari und irgendeinen seltsamen isländischen Schnaps, den ich noch nicht aufgemacht habe.« Er stöberte in einem großen Schrank herum.

»Im Kühlschrank stehen außerdem Bier und Wein. Oder Tomatensaft.«

Mir war weder nach Bier noch nach Wein zumute und ganz bestimmt nicht nach Tomatensaft. Ich wollte spüren, wie der Alkohol in meinem Hals brannte und durch meine Adern floss.

»Ich probier mal das isländische Zeug.«

»Sehr mutig von dir. Ich schließe mich wohl besser an.«

Ich trat an die Tür, die in den Garten führte, und sah hinaus. Es war schon fast dunkel, aber ich konnte noch erkennen, dass der Garten aus einer kleinen Rasenfläche und einem großen Lorbeerbaum bestand, der genau in der Mitte stand. Will gab ein paar Eiswürfel in unsere Gläser und goss mehrere Fingerbreit einer klaren Flüssigkeit darüber.

»Danke.« Ich prostete ihm zu und kippte dann die Hälfte meines Drinks hinunter. »Teufel noch mal!« Mein ganzer Hals brannte, und meine Augen tränten.

»Ist was?«

»Du hast noch gar nichts probiert.«

Er trank, ohne mit der Wimper zu zucken, und stellte sein Glas auf dem Tisch ab. Obwohl uns nur ein paar Meter Boden trennten, erschien er mir Meilen entfernt, völlig unerreichbar.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, wieso du mich sehen wolltest«, sagte er.

Ich gab ihm keine Antwort. Stattdessen kippte ich den Rest meines Drinks hinunter. Der Raum schwankte einen Moment, dann pendelte er sich wieder ein. Was spielte es schon für eine Rolle, was passieren würde? Zumindest war ich hier, und irgendetwas würde passieren. »Willst du, dass ich wieder gehe?«

»Nein.«

»Gut. Ich bin sowieso schon über dem Limit. Und jetzt?«

»Was zu essen?«

»Nein, danke.«

»Hast du geschlafen?«

»Nein.«

»Kein Schlaf, kein Essen.«

»Ich werde nicht den ersten Schritt tun, Will.« Der Alkohol machte mich mutig.

»Okay.«

»Weil nämlich du an der Reihe bist.«

»Um erst mal auf deine Frage zu antworten: Ich bin gegangen, weil ich eines Tages völlig verkatert aufwachte und plötzlich alles unsäglich satt hatte.«

»Deinen Job?«

»Meinen Job, meine Gewieftheit, meine erstaunliche Fähigkeit, das Gesetz dem Buchstaben, aber nie dem Geist nach zu befolgen, meine belanglosen Triumphe und Erfolge, mein Trinken, meinen zunehmenden Kokainkonsum, mein Haus mit seinen schönen antiken Möbeln, mein Geld auf der Bank, meine Aktenmappe, meinen Laptop und mein Handy, das ich tagtäglich dabei hatte, wenn ich am frühen Morgen mit der U-Bahn zur Arbeit fuhr, eingezwängt zwischen all den anderen Männern, die genauso waren wie ich. Angewidert von all meinen Besitztümern. Je mehr man hat, desto mehr braucht man. Das neueste, kleinste Handy, allerlei ausgefallene Gerätschaften, eine Uhr, die eigentlich ein Computer ist. Angewidert von der verdammten Hosenpresse, den Anzügen und Krawatten, den Cocktailpartys, den Besprechungen mit all den anderen Männern, die auch solche Anzüge trugen wie ich und ebenfalls Hosenpressen und antike Möbel besaßen. Ganz zu schweigen von den Urlauben in Cape Cod, den Gesprächen über Golf, Schulgebühren und gute Weine.

Eines Tages wachte ich einfach auf und wusste, dass ich nicht mehr konnte. Ich konnte keinen Tag länger so weitermachen. Es war ein bisschen wie eine Alkohol-Vergiftung. Ich verspürte ein Gefühl von Abscheu gegen mich, gegen die Welt, in der ich lebte. Es kotzte mich richtig an, wie blind ich für das gewesen war, was um mich herum passierte. Kennst du das? Jeden Morgen und jeden Abend war ich an diesen obdachlosen jungen Leuten vorbeigegangen – jungen Leuten wie denen, mit denen ich jetzt meine Tage verbringe. Ich war an Pennern und Prostituierten vorübergegangen, ohne sie überhaupt wahrzunehmen, es sei denn, sie standen mir direkt im Weg.«

»Und dann hast du sie plötzlich wahrgenommen?«

»Na ja, ein Damaskuserlebnis war es nicht gerade.«

»Aber dein Gewissen hat dich dazu gebracht, alles zurückzulassen und das Jugendhaus zu gründen?« Ich wollte, dass er etwas Gutes über sich sagte.

»Ich benutze dieses Wort nur, wenn ich versuche, aus irgendeinem Geschäftsmann, der sich als Wohltäter fühlen möchte, eine Spende herauszuquetschen. Die Politiker haben es entwertet. Gewissen. Integrität. Ehre. Wahrheit.

Aufrichtigkeit. Liebe.«

Seine Stimme klang verächtlich. »Es war eher eine Art Zwang. Mach keinen Kreuzritter aus mir. Ich habe es für mich getan, um mich selbst zu retten. Möchtest du noch einen Drink?«

»Ja. Warum nicht? Und deine Frau?«

»Sie ist geblieben.«

»In dem vollen Haus.«

»Ja.«

»Kinder?«

»Nein.«

»Siehst du sie noch manchmal?«

»Nein.«

»Fehlt sie dir?«

»Nein.«

»Bist du einsam?«

»Nein. Oder doch, aber erst jetzt.«

»Warum jetzt?«

»Warum wohl, Kit?«

»Machst du das oft?«

»Was?«

»Was wir gleich tun werden.«

»Nein. Du?«

»Nein. Weißt du das denn nicht?«

»Menschen können auf eine bestimmte Art wirken und in Wirklichkeit ganz anders sein.«

»Wie wirke ich denn auf dich?«

»Wie eine Frau, die Angst hat, sich aber zwingt, es trotzdem zu tun.«

»Wovor habe ich denn Angst?«

»Ich weiß nicht. Vor mir?«

»Warum sollte ich Angst vor dir haben?« Dabei hatte er Recht – ich war erfüllt von Angst und Unruhe.

»Dann vielleicht vor der Welt. Angst davor, verletzt zu werden?«

»Eigentlich bin ich diejenige, die so banales psychologisches Zeug von sich geben sollte.«

»Trink aus.«

»Fertig. Und jetzt?«

»Wenn ich dich jetzt bitten würde, mit nach oben zu kommen, was würdest du sagen?«

»Frag mich, dann weißt du es.«

»Kommst du mit mir nach oben?«

»Ja.«

Er packte die Flasche am Hals, und ich folgte ihm über die schmale, nackte Treppe in sein Schlafzimmer: ein Futon, ein Schrank, eine große Stehlampe und unerwartet fröhliche gelbe Vorhänge, die halb zurückgezogen waren und sich im Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte, leicht bewegten.

»Knöpf deine Bluse auf.«

»Gib mir die Flasche. Ich muss mir erst Mut antrinken.

Jetzt. So?«

»Ja. Du bist wirklich sehr hübsch.«

»Warum schaust du dann so gequält?«

»Weil du so hübsch bist.«

»Ach was.«

»Du solltest mir nicht vertrauen, Kit.«

»Das tue ich nicht. Ich vertraue dir kein bisschen. Das ist genau der springende Punkt.«

»Ich werde dir nicht gut tun.«

»Das spielt keine Rolle.«

Hinterher lag ich auf seinem Futon und betrachtete durchs Fenster den Dreiviertelmond am tintenschwarzen Himmel.

Will lag schweigend neben mir und starrte aus halb geschlossenen Augen zur Decke hinauf. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe Hunger.«

»Ich habe Durst.«

»Möchtest du was essen?«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass du viel zu essen dahast.«

»Habe ich auch nicht, aber ich könnte uns was holen.

Italienisch, indisch, chinesisch, thailändisch, griechisch.

Es gibt hier in der Nähe sogar einen Japaner.«

»Ist mir egal. Irgendwas.«

»Ich bin gleich wieder da.« Er schlüpfte in seine alte Jeans und ein graues Sweatshirt. »Geh nicht weg.«

Ich blieb auf dem Bett liegen und lauschte seinen Schritten auf der hölzernen Treppe. Dann hörte ich die Haustür ins Schloss fallen. Ich war ganz allein in Wills Haus. Nach ein paar Minuten ging ich ins Bad. Sehr sauber und funktionell. Nachdem ich mich gewaschen hatte, schlüpfte ich in den dicken blauen Bademantel, der an der Tür hing, und wanderte ins Nachbarzimmer, einen quadratischen Raum mit Blick auf den Garten hinter dem Haus. In dem Zimmer standen nur ein großes Klavier und ein Hocker. Ich berührte eine der elfenbeinfarbenen Tasten, und ein einzelner Ton schwebte durch den Raum.

Es schien ein bisschen verstimmt zu sein. Ich klappte den Deckel des Hockers hoch und fand ein paar Musikstücke mit Eselsohren und Bleistiftanmerkungen am Rand, außerdem eine Dose Bier.

Ich ging nach unten, um mir etwas zu trinken zu holen, weil sich mein Mund nach dem ganzen Alkohol völlig trocken anfühlte. Als ich gerade die Diele durchquerte, klingelte das Telefon, und der Anrufbeantworter schaltete sich ein. »Will«, sagte eine gedämpft klingende Männerstimme. »Will, ich bin’s, Kumpel. Ich muss mit dir reden. Will, bist du da? Bitte! Es ist dringend!« Ein paar Sekunden war nur sein lautes Atmen zu hören. Dann schaltete sich das Band aus.

Ich nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank ein Glas, dann noch eins. Es war fast elf. In den vergangenen vierzig Stunden hatte ich ungefähr zwei Stunden geschlafen, wenn überhaupt.

Trotzdem fühlte ich mich nicht wirklich müde, sondern eher auf eine seltsame Weise überdreht. Meine Haut prickelte, mein Herz pochte, meine Gedanken rasten. Alle Gegenstände im Raum erschienen mir unnatürlich scharf konturiert, als wären sie von hinten beleuchtet. Ich ging ins Wohnzimmer und ließ mich mit angezogenen Füßen auf dem weichen, tiefen Sofa nieder. So fand Will mich vor, als er fünfzehn Minuten später zurückkam. Er trug eine große Tüte und schien in Gedanken vertieft. Sein Gesicht wirkte müde und deprimiert – so sah er also aus, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Dann entdeckte er mich. Er lächelte nicht, aber es war, als würde ein Schatten von ihm genommen. Ich bewirkte das, dachte ich, während ich aufstand, um Platz zu machen. Er sagte nichts, legte aber den Arm um mich und zog mich an sich.

Seine Wange war von der Nachtluft ganz kalt. Seufzend beugte er sich vor und holte zwei schwarze Tabletts aus der Tüte.

»Das sieht schön aus, wie ein Kunstwerk. Viel zu schade, um es zu zerstören.«

»Wir sollten Sake dazu trinken.«

»Ich möchte nichts mehr trinken.«

»Hier, probier das.«

Er fütterte mich mit einem Stück Tunfisch, das mit einer scharfen grünen Paste bestrichen und in Sojasauce getaucht war. Ich kaute es gehorsam. Es schmeckte nicht nach Fisch oder Salzwasser, nur nach Frische.

»Wundervoll.«

»Und noch eins.«

»Mmm.«

»Nicht die Augen schließen.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Iss das. Kit, Kit.«

Ich versuchte, die Augen offen zu halten, aber es war alles so schön, dass ich es nicht länger ertragen konnte –

das warme Zimmer, das tiefe Sofa, der Bademantel mit seinem Geruch an meinem nackten Körper, das ungewohnte Essen, das leichte Prickeln der Angst irgendwo in meinem Bauch, seine Hand in meinem Haar, seine Stimme in meinem Ohr. Sein Atem an meiner Wange. Ich spürte, wie ich in eine selige Dunkelheit glitt.

31. KAPITEL

Bevor ich zu Michael Doll hinging, beobachtete ich ihn eine Weile. Entlang des Kanals saßen eine ganze Reihe von Männern. Es war ein Mittwochmorgen. Hatten diese Leute denn alle keinen normalen Beruf? Aus zwei Radios schallte unterschiedliche Musik. Die Teleskop-Angelruten der Fischer waren enorm lang, manche reichten nach hinten bis über den Treidelpfad und nach vorne bis zur anderen Seite des Kanals. Während ich dort stand, kam ein Radfahrer des Weges, sodass die Fischer unter viel Gebrumme und Gemurre ihre Ruten aus dem Weg räumen mussten.

Ein, zwei Grüppchen von Männern kauerten beieinander, eine Tasse mit einem wärmenden Getränk aus einer Thermoskanne in der Hand, aber die meisten von ihnen saßen allein an ihrem Platz. Irgendwie wirkte Michael Doll besonders allein. Die Stelle, wo er fischte, war ein ganzes Stück von den anderen entfernt. Ob sie von ihm gehört hatten? Sein Hund saß reglos neben ihm. Das Einzige, was sich an ihm bewegte, war der Speichel, der zwischen seinen gelben Zähnen hervortröpfelte. Um zu ihnen zu gelangen, musste ich über mehrere Angelruten steigen und mich zwischen Plastikboxen mit Haken, Spulen und Maden hindurchschlängeln. Obwohl es nicht kalt war, trug Doll eine rot-schwarz karierte Jacke, in der er aussah wie ein kanadischer Holzfäller, und dazu eine recht flotte dunkelblaue Kappe. Er blickte starr geradeaus, und als ich näher kam, hörte ich, dass er leise vor sich hinsang. Dann, als würde er mich wittern, drehte er sich plötzlich um. Vielleicht hatte er meinen Blick gespürt. Er lächelte, aber seine Miene wirkte nicht überrascht, sondern erwartungsvoll, was mir einen Schauder über den Rücken jagte. »Hallo, Kit«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut.« Ich schob die Hände in die Hosentaschen und sah mich um. »Ich habe Sie noch nie fischen gesehen.«

Er stieß ein leises, kehliges Lachen aus. »Das ist ein gutes Leben hier unten«, erklärte er. »Gute Leute.« Er zog seine Angelrute hoch. Es hing nichts am Haken. »Die schlauen Kerle knabbern die Würmer runter.« Wieder dieses Lachen. Er bewegte die Rute so, dass der Haken genau auf ihn zuschwang, und fing ihn geschickt. Er saß auf einem Camping-Klappstuhl. Neben seinem linken Stiefel stand eine Tabakdose voller Würmer. Er wühlte mit den Fingern darin herum, bis er einen gefunden hatte, der ihm passend schien.

»Die anderen benutzen Maden«, stellte ich fest.

»Maden sind rausgeschmissenes Geld«, gab er zurück.

»Ein Stück weiter hinten kann man die Würmer ausgraben. So viele, wie man will. Außerdem ist ein Wurm fleischiger.« Mit zusammengekniffenen Augen brachte er den Wurm in Position, um ihn auf seinen Haken zu spießen. »Es ist schon komisch«, sagte er, »die Leute sorgen sich um Füchse und Robbenbabys, aber um Fische und Würmer machen sie sich keine Gedanken. Ich meine, sehen Sie sich diesen Wurm hier an. Die Leute behaupten, ein Wurm spüre keinen Schmerz, aber sehen Sie ihn sich an.« Er schob die Spitze des Hakens durch den Wurm.

Eine graue Flüssigkeit quoll heraus. Hatten Würmer Blut?

Ich konnte mich dunkel erinnern, dass wir das mit dreizehn in Biologie durchgenommen hatten, aber an die Einzelheiten konnte ich mich nicht mehr erinnern. »Sehen Sie sich diesen Wurm an«, wiederholte er unnötigerweise,

»er windet sich jetzt stärker als vorher. Man könnte wirklich meinen, dass er Schmerzen hat und zu entkommen versucht, finden Sie nicht auch? So, stillgehalten!« Letzteres war an den Wurm gerichtet. Weit davon entfernt, seinem Schicksal zu entrinnen, wurde der Wurm ein zweites Mal auf den mit Widerhaken versehenen Haken gespießt. »Wer kann schon sagen, ob ein Wurm nicht genauso Schmerz empfindet wie Sie oder ich?«

»Warum tun Sie es dann?«

Doll schwang die Rute, und der Wurm verschwand im dunklen Wasser des Kanals. Der kleine Schwimmer kippte und wippte, bis er sich schließlich in einer aufrechten Position einpendelte. »Ich denke nicht darüber nach«, antwortete er.

»Doch, das tun Sie. Sie haben doch gerade darüber gesprochen.«

Er runzelte konzentriert die Stirn. »Na ja, es dringt in mein Gehirn, wenn Sie das meinen. Aber es macht mir nichts aus. Es ist schließlich nur ein Wurm.«

»Hmm. Fangen Sie viele Fische?«

»Manchmal bringe ich es auf zehn. Manchmal sitze ich auch den ganzen Tag im Regen und erwische gar nichts.«

»Was machen Sie damit?«

»Ich werfe sie zurück, es sei denn, der Haken steckt zu tief. Wenn man ihn rauszieht, kann es sein, dass man ihnen das Maul aufreißt und ihre Eingeweide mit herauszieht. Dann breche ich ihnen den Hals und gebe sie einem Kater, der immer in der Nähe meiner Wohnung rumstreunt. Der frisst sie für sein Leben gern.«

Ich schob die Hände noch tiefer in die Taschen und bemühte mich weiter um eine höflich interessierte Miene.

Doll murmelte etwas vor sich hin. Als ich genauer hinhörte, wurde mir klar, dass seine Worte den Fischen galten, den unsichtbaren Fischen im öligen dunklen Wasser, die er auf diese Weise an seinen Haken zu locken versuchte. »Da seid ihr ja«, flüsterte er. »Kommt schon, meine Schönen! Nun kommt schon!« Er zog den Haken aus dem Wasser. Es hing kein Fisch dran, aber der halbe Wurm war schon wieder abgefressen. Er stieß ein anerkennendes Lachen aus. »Diese schlauen Kerle!«

»Michael, ich bin eigentlich hier, um mit Ihnen über das zu sprechen, was am Kanal geschehen ist.« Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. »Fanden Sie es nicht seltsam, dass Sie schon wieder in der Nähe waren, als es passierte?«

Er blickte sich um. »Gar nicht seltsam«, antwortete er.

»Ich bin immer hier. Das ist mein Stammplatz. Wenn er an meinem Stammplatz Mädchen umbringen will, dann bin ich da.«

»Verstehe«, sagte ich. »Ihr Stammplatz. Haben Sie den Mann erkannt? Ist er Ihnen irgendwie bekannt vorgekommen?«

»Nein«, antwortete Doll. »Es ging alles so schnell. Und es war so dunkel. Konnte nichts sehen.«

»Geht es Ihnen gut, Michael? Sie sind nicht noch einmal angegriffen worden?«

»Nein.« Er lächelte. »Es ist alles vergessen. Vergessen und vergeben.«

Ich warf einen argwöhnischen Blick auf seinen Schwimmer. Wahrscheinlich war mittlerweile nur noch ein Viertel des Wurms übrig. »Versuchen Sie nachzudenken, Michael«, sagte ich. »Wenn Ihnen irgendwas einfällt, egal, was, dann melden Sie sich bei mir. Sie können mich über die Polizei erreichen.«

»Ich habe doch Ihre Privatnummer.«

»Ach ja, stimmt«, antwortete ich mit einem unguten Gefühl im Bauch.

»Ich weiß, wo Sie wohnen.«

»Sie können sich auch an die Polizei wenden.«

»Sehen Sie, ein Fisch, endlich ein Fisch!«

Etwas Blitzendes, Silbernes hing von Dolls Schnur. Ich brach sofort auf, um ja nicht mit ansehen zu müssen, wie ihm die Eingeweide durchs Maul gezogen wurden.

Auf dem Nachhauseweg kam ich an einem Café mit einem verführerisch leeren Tisch in der Sonne vorbei. Ich ließ mich nieder, bestellte einen doppelten Espresso und versuchte, ein wenig Ordnung in das Chaos in meinem Kopf zu bekommen.

Nach der zweiten Tasse rief ich Oban an. Bryony hatte inzwischen ihre Aussage gemacht, und er war ziemlich am Ende.

»Wie Sie wissen, haben wir aus Mickey Doll alles rausgequetscht, was auch nur einen Hauch von gottverdammtem Sinn ergab – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise –, und was unsere Täterbeschreibung betrifft, haben wir Terence mit seinem eher großen Mann und Bryony mit ihrem eher kleinen. Vielleicht sollten wir die beiden mal zusammenbringen, damit sie ihre Geschichten aufeinander abstimmen können.«

»Es war ein wirres Durcheinander, noch dazu mitten in der Nacht«, gab ich zu bedenken. »Was haben Sie erwartet?«

»Ich kann einfach nicht fassen, dass dieser Mistkerl aus seiner Deckung hervorgekrochen ist, ein paar Leute ihn gesehen haben und wir trotzdem nicht das Geringste über ihn wissen. Was treiben Sie denn gerade?«

»Ich sitze in einem Café und trinke Kaffee.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen Gesellschaft leisten.

Ach, übrigens, haben Sie vor, uns irgendeine Art von Bericht über die Sache zu schreiben? Wie denken Sie inzwischen darüber?«

»Bryony hat zu mir gesagt, sie glaube, es könnte sich auch um einen missglückten Raubüberfall gehandelt haben, der gar nichts mit unseren Fällen zu tun hatte.«

»Ja, das hat sie zu uns auch gesagt. Was ist mit ihr los?

Will sie nicht berühmt werden?«

»Darüber sollten wir nachdenken.«

»Wollen Sie ihr die Leitung der Ermittlungen übertragen? Ich wäre heilfroh, wenn ich den Mist los wäre.« Ich musste lachen. »Sind Sie noch da, Kit?«

»Wir dürfen uns nicht vom Wesentlichen ablenken lassen«, erklärte ich. »Es ist nicht nur Bryony. Die ganze Sache passt irgendwie nicht ins Bild.«

»Wie meinen Sie das? Die Sache passt sogar verdammt gut ins Bild! Dieselbe Stelle am Kanal, und dann auch noch Doll. Das sollte eigentlich reichen. Sogar Ihnen.«

»Ich denke dabei mehr an den Überfall selbst. Die anderen beiden wurden in gewisser Weise recht geschickt durchgeführt, aber dieser dritte Versuch erscheint mir ziemlich dilettantisch.«

»Nun hören Sie aber auf, Kit! Solche Mörder steigern sich, sie werden leichtsinniger. Sie müssen ein größeres Risiko eingehen, um denselben Kick zu bekommen.

Wären unsere Zeugen nicht ein Waschlappen und ein Schwachkopf, dann hätten wir ihn gehabt. Und was diesen verfluchten Schwachkopf angeht …«

»Ich weiß nicht, Dan, ich habe gerade unten am Kanal mit Doll gesprochen.«

»Sagen Sie nichts. Sie glauben, er ist zu nett, um als Täter in Frage zu kommen.«

»Ganz im Gegenteil. Wäre Doll ein Mörder, dann wäre er viel brutaler vorgegangen. Ich kann das beurteilen, ich habe ihm gerade dabei zugesehen, wie er einen Wurm auf einen Haken spießte.«

»Ist das die Grundlage für Ihr Urteil?«

»Unter anderem.«

»Dann halte ich Sie wohl besser von meinem dreizehnjährigen Sohn fern. Sie sollten mal sehen, was der mit ein paar Käfern und einem Vergrößerungsglas anstellen kann.«

Meine Tasse war inzwischen leer. Als die Sonne hinter einer Wolke verschwand, wurde es plötzlich kalt.

»Was haben Sie jetzt für Pläne?«, fragte ich Oban.

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Weile Schweigen, sodass ich schon befürchtete, unser Gespräch wäre unterbrochen worden.

»Ich habe das schreckliche Gefühl, dass wir im Grunde nur herumsitzen und warten können, bis er etwas noch Dümmeres tut und sich erwischen lässt. In der Zwischenzeit werden wir zumindest versuchen, ein bisschen mehr Publicity zu kriegen. Ich habe ein paar Journalisten über den neuen Fall informiert. Außerdem habe ich versucht, Mrs.

Teale dazu zu bringen, im

Fernsehen aufzutreten, aber sie schien nicht besonders erpicht darauf zu sein. Vielleicht könnten Sie sie noch ein bisschen bearbeiten.«

»Mach ich.«

»Irgendwelche anderen Ideen? Wie sehen denn Ihre Pläne aus?«

Jetzt war es an mir, einen Moment zu schweigen. Wie sahen meine Pläne aus? »Ich schätze, ich werde das alles noch mal durchgehen. Ich habe das Gefühl, wir übersehen was.«

»Suchen Sie nach einer weiteren Verbindung zwischen den Fällen?«

»Keine Ahnung.«

»Aber Kit!« In Obans Stimme schwang eine Spur von Verzweiflung mit. »Wir haben doch schon genug Verbindungen. Eine der wichtigsten haben Sie selbst entdeckt. Wieso suchen Sie nach anderen?«

»Ich weiß es nicht.« Es kam mir vor, als hätte ich plötzlich überhaupt keine Energie mehr. »Vielleicht tappe ich einfach nur im Dunkeln.«

»Das haben Sie gesagt, nicht ich«, meinte Oban. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie den Lichtschalter gefunden haben.«

Nun hatte er wirklich aufgelegt.

Ich fuhr in die Klinik und verbrachte einen hektischen Tag damit, Anrufe entgegenzunehmen, Post zu beantworten und den Vorsitz bei einer Besprechung zu führen, bei der es um einen Jungen ging, der das Haus seiner Pflegeeltern in Brand gesteckt hatte. Anschließend fungierte ich als Beisitzerin bei zwei Bewerbungsgesprächen ziemlich hoffnungsloser Kandidaten. Ich machte interessierte Bemerkungen, ich diskutierte und argumentierte, war aber in Gedanken ganz woanders. Als ich schließlich um acht nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen Zettel vor:

»Bin ausgegangen. Wird sehr spät. Der Verrückte hat wieder angerufen. Liebe Grüße. J.« War ihm doch noch etwas eingefallen?

Ich nahm ein ausgedehntes Bad und schlief dabei kurz ein. Mir war bekannt, dass man beim Autofahren einschlafen und einen tödlichen Unfall haben konnte.

Konnte man auch in der Badewanne ertrinken, wenn man einschlief? Ich ging das Risiko lieber nicht ein, stieg aus der Wanne und schlüpfte in den Bademantel. Dann rief ich Will an. Er ging nicht ran. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank und fand eine Schüssel Reis, die ich im Stehen aß. Warm, mit Olivenöl und Parmesan hätte er besser geschmeckt. Danach verspeiste ich zwei Essiggurken und eine Tomate. Im Kühlschrank stand eine offene Flasche Wein. Ich schenkte mir ein Glas ein.

Dann schaltete ich das Radio an und stellte ohne große Überraschung fest, dass die Stimme, die ich hörte, Seb Weller gehörte. Er sprach gerade über Lianne und Philippa. Gott, er war wirklich ein Profi. Seine Worte kamen glatt und flüssig, ohne Zögern, nur hin und wieder unterbrochen von einer kurzen Pause, um seine Spontaneität zu demonstrieren.

»Offensichtlich berührt dieser Fall bei vielen Frauen, die hier in der Gegend leben, einen wunden Punkt«, erklärte er gerade.

»Ich denke oft, dass Männer das nicht so richtig verstehen können.«

»Mit Ausnahme von dir, natürlich«, murmelte ich, schämte mich aber sofort meiner Worte.

»Männer wissen nicht, wie es für eine Frau ist, eine dunkle Straße entlangzugehen, an einer einsamen U-Bahn-Station Schritte auf sich zukommen zu hören oder nachts im Bett zu liegen und den seltsamen Geräuschen draußen zu lauschen. Jede Frau, egal, ob mutig oder ängstlich, hat diese unterschwelligen Ängste in sich. Ich nenne es gern

…« – er legte eine weitere Pause ein – »… ich nenne es gern ihren roten Raum …«

»Lieber Himmel!«, rief ich laut aus.

»In diesem roten Zimmer liegen alle die Dinge verborgen, vor denen sie am meisten Angst …«

Das Telefon klingelte. Wütend drückte ich auf den Ausknopf des Radios.

»Ich bin’s.«

»Wer?«

»Mike.«

Es dauerte einen Moment, bis ich den Namen mit Michael Doll in Verbindung brachte. Neuerdings also Mike.

»Hallo?«

»Was machen Sie gerade?«

Ich spürte leichte Übelkeit in mir aufsteigen. Würde er mich als Nächstes fragen, was ich gerade anhatte? Ich zog meinen Bademantel enger um den Körper. »Warum rufen Sie an, Michael? Ist Ihnen etwas eingefallen?«

»Ich wollte mich bloß mal melden«, antwortete er. »Sie haben heute ja auch einfach so am Kanal vorbeigeschaut.«

Er schwieg einen Moment. »Es hat gut getan, Sie zu sehen.«

»Ich muss jetzt leider weg«, erklärte ich.

»Kein Problem.«

»Gute Nacht.«

»Schlafen Sie gut.«

Was nach diesem Gespräch aber nicht der Fall war. Ich wälzte mich stundenlang hin und her. Als ich am Morgen aufwachte, kam es mir vor, als hätte ich kein Auge zugetan. Meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie am Gaumen festgeklebt. So viel hatte ich doch gar nicht getrunken, oder? Als ich schließlich aufstand, war es bereits halb neun. Julie saß mit einer Kanne Kaffee und einer Zeitung am Tisch. Weitere Zeitungen lagen über den Tisch verstreut. Julie war vier Stunden später als ich ins Bett gegangen, sah aber aus, als wäre sie gerade einem Jungbrunnen entstiegen.

»Was gibt’s Neues?«, fragte ich.

»Ich wollte mir eine Zeitung holen, hab aber gleich mehrere mitgenommen, weil was über dein Verbrechen drinstand.«

»Es ist nicht wirklich mein Verbrechen.«

»Das ist wirklich erstaunlich. Eine Frau behauptet, sie könne den Mörder mit Hilfe von Kristallen finden. Eine andere glaubt, dass es was mit dem Mond zu tun hat.

Außerdem gibt noch ein anderer Psychologe seinen Senf dazu. Hier ist ein Foto von ihm.« Sie hielt die Zeitung hoch. »Er erinnert mich definitiv an jemanden, aber mir fällt nicht ein, an wen. Das treibt mich in den Wahnsinn!«

»Buster Keaton«, sagte ich.

»Stimmt. Aber der ist doch schon tot, oder?«

»Ich glaube schon. Außerdem ist es schon gute fünfundsiebzig Jahre her, dass er so ausgesehen hat.«

Das war es also, was sie aus Terence und Bryony herausbekommen hatten. Gott, sie mussten wirklich verzweifelt sein.

»Dich erwähnen sie allerdings nicht«, bemerkte Julie leicht enttäuscht. Vielleicht argwöhnte sie, dass ich das alles nur erfunden hatte – dass ich an den Ermittlungen gar nicht beteiligt war, oder bloß in einer ganz niederen Funktion. »Möchtest du es lesen?«

»Ich glaube nicht.«

Ich trank ein paar Schlucke Kaffee und zog mich rasch an. Es gab ein paar Dinge, die ich noch tun wollte. Sollte ich damit kein Glück haben, würde ich einen Schlussstrich unter die Sache ziehen und den Versuch unternehmen, wieder ein normaler Mensch zu werden. Jemand, der nicht ständig überall Muster sah, Gestalten in den Wolken.

»Wir müssen reden«, sagte Julie, als ich an ihr vorbei nach draußen stürmte.

»Später!«, rief ich und rannte die Treppe hinunter.

Als ich vor die Tür trat, spürte ich sofort die Anwesenheit eines anderen Menschen. Ich konnte ihn fast riechen. Langsam drehte ich mich um.

»Morgen, Kit.«

Es war Doll, gefolgt von seinem Hund. Er trug dieselbe Jacke wie am Vortag und auch dieselbe Kopfbedeckung.

Zusätzlich hatte er sich einen Schal um den Hals geschlungen und die Enden mit zwei extrem festen Knoten zusammengebunden. Wie würde er die jemals wieder aufbekommen? Und wie lange wartete er schon auf mich?

»Michael«, sagte ich. »Was ist los?«

»Ich muss mit Ihnen reden.«

»Ist Ihnen doch noch was eingefallen?«

»Ich muss einfach mit Ihnen reden.«

»Ich bin sehr in Eile.«

»Ich nicht.«

Seine seltsame Antwort ließ mich mitten in der Bewegung innehalten. »Ich muss wirklich los«, sagte ich und setzte mich wieder in Bewegung, aber er ließ sich nicht abwimmeln. »Ich wollte Sie besuchen«, erklärte er.

»Ich wollte Sie sehen.«

»Wieso?«

»Sie verstehen mich. Ich muss über ein paar Dinge reden.«

Ich blieb wieder stehen. »Sie meinen, über die Morde?«

Er schüttelte so heftig den Kopf, dass ich mich fragte, ob ihm das nicht wehtat. »Ein paar Dinge. Sie verstehen.«

Ich versuchte, klar zu denken. Am liebsten wäre ich ihn für alle Zeiten losgeworden, aber vielleicht hatte er mir wirklich etwas Wichtiges zu sagen. »Michael, ich arbeite an diesen Mordfällen. Das wissen Sie. Wenn Sie mir dazu etwas mitteilen wollen, werde ich es mir anhören. Für alles andere habe ich im Moment keine Zeit.«

»Warum?«

»Weil ich so viel zu tun habe.«

»Das ist alles, was Sie interessiert, stimmt’s? Sie kümmern sich nur um mich, weil Sie glauben, dass Sie von mir etwas Wichtiges erfahren können. Sie sind genau wie die anderen.«

»Welche anderen?«

»Das erzähle ich Ihnen später.« Er hatte inzwischen einen hochroten Kopf. »Das sage ich Ihnen, wenn mir danach zumute ist. Ich werde Sie im Auge behalten, Kit.

Aber jetzt muss ich gehen. Ich habe nämlich auch viel zu tun, nicht nur Sie!«

Und weg war er, leise vor sich hinmurmelnd und hektisch mit den Armen fuchtelnd. Ein junger Mann, der ihm entgegenkam, wechselte auf die andere Straßenseite.

32. KAPITEL

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, erklärte Pam Vere. Sie hatte mir gegenüber auf einem Sessel Platz genommen, saß aber sehr aufrecht, die Hände fest auf die Armlehnen gepresst, als wollte sie jeden Augenblick wieder aufstehen und mir den Weg zur Tür zeigen.

Ich saß in den Raum, wo sonst immer Philippa gesessen hatte. Das Licht flutete durch die Verandatüren herein. Die Blumensträuße, die bei meinem letzten Besuch auf jedem freien Fleck gestanden hatten, waren verschwunden. Die Menschen verloren schnell das Interesse. Nur eine einzelne Vase mit einem üppigen Strauß aus rosaroten und dunkellila Gartenwicken stand auf dem Tisch zwischen uns – mir fiel ein, dass Philippas gesprächige Freundin Tess mir erzählt hatte, das seien ihre Lieblingsblumen gewesen. Auf dem Kaminsims hinter Mrs. Vere lehnte ein großes Schwarzweißfoto der Verstorbenen, sodass ich, wenn ich die Mutter ansah, auch auf ihre ermordete Tochter blickte, die mit ihrem ernsten Lächeln und ihren dunklen Augen eindringlich in den Raum hineinstarrte, den sie für immer verlassen hatte.

Pam Vere schien um zehn Jahre gealtert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war wahrscheinlich noch keine sechzig oder nur knapp darüber, aber ihr Gesicht war aschfahl und müde, und die Falten darin wirkten so tief, dass sie wie in Stein gemeißelte Rillen aussahen. Ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Bei meinen früheren Besuchen hatte mich vor allem Emilys Schicksal betroffen gemacht, keine Mutter mehr zu haben, aber ich hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, wie es wohl für Pam war, ihre Tochter zu verlieren, ihr geliebtes einziges Kind – bis ich jetzt in ihr trauriges Gesicht blickte und sah, wie sehr ihre Hände zitterten, wenn sie die Armlehnen des Sessels losließen.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, wiederholte sie.

»Es tut mir so Leid, dass ich Sie noch einmal stören muss. Aber wäre es vielleicht möglich, ein paar von Philippas Sachen durchzusehen?«

»Warum?«

»Hat die Polizei sie sich schon vorgenommen?«

»Nein, natürlich nicht. Warum um alles in der Welt sollte sie? Meine Tochter ist von einem Verrückten umgebracht worden, da draußen …« Ihre Hände deuteten zum Fenster.

»Ich würde mich trotzdem gern ein bisschen umsehen.«

»Sie sprechen aber nicht mehr mit Emily, oder?«

»Im Augenblick nicht, nein. Ist sie da?«

»Ja, oben, in ihrem Zimmer. Ich kümmere mich tagsüber um sie, bis ihr Vater von der Arbeit zurückkehrt. Bis die Dinge sich wieder beruhigt haben. Sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Zum Glück kommt sie bald in den Kindergarten.«

»Wie geht es ihr?«

»Philippa besaß eine Strickjacke, die sie besonders gern trug. Die benutzt Emily jetzt als Decke. Sie rollt sich darauf zusammen und lutscht an ihrem Daumen. Der Arzt sagt, ich soll sie lassen, das sei ihre Art, mit Philippas Tod umzugehen.«

»Klingt vernünftig.« Ich musterte sie eindringlich.

Machte ich sie irgendwie wütend? Benahm ich mich wie ein Elefant im Porzellanladen?

»Jeremy löst seine endlosen Kreuzworträtsel, und wenn er glaubt, dass niemand ihn hören kann, weint er. Emily liegt auf ihrem Teppich …« Sie rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was am besten ist.«

»Wie werden Sie damit fertig?«, fragte ich.

»Ich?« Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Ich komme schon irgendwie durch den Tag.« Sie stand abrupt auf.

»Wonach suchen Sie?«

»Hatte sie einen bestimmten Ort, wo sie ihre Sachen aufbewahrte – Briefe, Tagebücher, solche Dinge?«

Sie holte tief Luft, als säße tief in ihrer Brust ein heftiger Schmerz. Mir war klar, dass sie mit dem Gedanken spielte, mir nahe zu legen, ich solle verschwinden und mich nie wieder blicken lassen.

»Am ehesten im Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer«, sagte sie schließlich. »Ich bin aber nicht sicher, ob Sie dort außer Rechnungen und Briefen viel finden werden. Wir haben noch nicht alle ihre Sachen durchgeschaut.« Sie sah einen Moment zum Foto ihrer Tochter, wandte dann aber schnell den Blick ab.

»Jeremy hat inzwischen den Großteil ihrer Kleidung aussortiert und einer wohltätigen Organisation gespendet.

Ihr Tagebuch hat die Polizei bereits mitgenommen.«

»Ja, ich weiß.«

»Es gibt nichts zu finden. Sie ist einfach eines Tages in den Park gegangen und nicht zurückgekommen.«

»Darf ich trotzdem einen Blick in ihren Schreibtisch werfen?«

»Meinetwegen. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«

Ich kam mir vor wie eine Einbrecherin, als ich mich schließlich in dem großen Schlafzimmer umsah, das eindeutig von einer Frau eingerichtet worden war und noch immer so aussah, als würde es von einem Paar bewohnt. An der Wand stand eine Kommode mit einer Menge Krimskrams, auf dem Bett lagen zwei aufgeschüttelte Kissen. Eine Seite des offenen Schranks aber war leer, abgesehen von den Dutzenden von Kleiderbügeln, die an der Stange hingen.

Der wie ein Sekretär aussehende Schreibtisch stand unter dem Fenster, das auf den Garten hinter dem Haus hinausging. Neben einem kleinen Krug mit Trockenblumen lag ein schnurloses Telefon, auf dem jemand ein paar Fotos abgelegt hatte. Ich setzte mich vor den Schreibtisch und blickte einmal mehr in das Gesicht von Philippa Burton, die diesmal eine jüngere Emily auf dem Arm hielt. Das kleine Mädchen hatte die Beine um die Taille ihrer Mutter geschlungen und ihre runde, gerötete Wange an die glatte, bleiche von Philippa gepresst.

Ich öffnete den Deckel. Das Innere des Schreibtisches wirkte ordentlich und nur spärlich gefüllt. Nicht sehr viel versprechend. Ich begann mit den kleinen, mit grünem Billardtuch ausgeschlagenen Fächern. Sie enthielten Kugelschreiber, gespitzte Bleistifte, Kleber, Paketband, Briefmarken für Briefe und Postkarten. Außerdem einen Stapel Papier mit Briefkopf, weiße und braune Umschläge, ein kleines Plastiktäschchen mit Tintenpatronen, Postkarten, eine Sammlung von Rechnungen mit dem Vermerk »bezahlt«. Ich sah sie durch, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen: Achtzig Pfund für die Reinigung eines verstopften Waschbeckens, hundertneun Pfund für eine Kiste Wein, siebenhundertfünfzig Pfund für acht Stühle und zwei Tranchiermesser und so weiter. Außerdem fand ich einen Stapel Zeichnungen von Emily – Leute mit Köpfen und Beinen, aber ohne Körper, klecksige Regenbogen, krakelige Blumen, krumme Muster. Philippa hatte jeweils das Entstehungsdatum auf die Rückseite geschrieben. Sie war offensichtlich eine ordentliche Frau gewesen.

Als Nächstes fand ich eine steife, glänzende Farbmusterkarte mit Farbtönen, die Sepia und altes Leinen, Safrangelb und Salonrot hießen. Außerdem ein paar Rundbriefe wohltätiger Organisationen, die um Spenden baten. Drei Einladungen zu Partys, an denen Philippa nun nicht mehr teilnehmen würde. Eine ganze Reihe sommerlicher Ansichtskarten – gekritzelte, kaum lesbare Grüße von Pam und Luke, Bill und Carrie, Rachel und John, Donald und Pascal, abgestempelt in Griechenland, Dorset, Sardinien, Schottland. Bei den Karten lagen auch zwei handgeschriebene Briefe, einer von einer Frau namens Laura, die Philippa und Jeremy für das wunderbare Abendessen dankte, der andere von einer gewissen Roberta Bishop, die sich als Nachbarin vorstellte und Philippa vorschlug, zur nächsten Anwohnerversammlung zu kommen und über das Parken auf der Straße und die geplante verkehrsberuhigte Zone zu sprechen. Die Frau benutzte eine Menge Ausrufezeichen.

Ich schloss den Deckel wieder und zog die oberste Schublade heraus. Eine Packung DIN-A4-Papier, ein Stapel Urlaubsprospekte, alte Kontoauszüge, chronologisch geordnet und sauber zusammengeheftet. Ich blätterte sie durch, aber mir stach nichts Besonderes ins Auge. Philippa war nicht sehr verschwenderisch gewesen.

Sie hatte jeden Monat etwa die gleiche Summe ausgegeben, jede Woche etwa gleich viel vom Bankautomaten abgehoben. Gerade wollte ich die Schublade wieder schließen, als ich hinter der Packung Papier noch etwas spürte: ein dünnes Taschenbuch mit rosafarbenem Umschlag und dem Titel Lucys Träume.

Dem Klappentext zufolge handelte es sich um »einen erotischen Roman für Frauen«. Das Cover zierte ein weichgezeichnetes Bild von einer Frau mit verschwommenen nackten Brüsten, deren Brustwarzen nur als schwarze Schatten erkennbar waren. Die Frau hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihr langes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall über die Schultern. Ich spielte mit dem Gedanken, das Buch zu entfernen, bevor Jeremy es beim Ausräumen des Schreibtisches entdeckte, entschied mich dann aber dagegen. Für Philippa spielte es inzwischen keine Rolle mehr, was er dort fand.

In der unteren Schublade lag eine große Puppe, deren Verpackung noch nicht geöffnet war. Ihr Name war offensichtlich Sally. Sie hatte braune Locken, lange braune Wimpern und große blaue Augen, die durch die Zellophanverpackung starrten. Ihr Anblick jagte mir einen Schauder über den Rücken. In der Schachtel waren ein Schnuller und eine Flasche befestigt. Die Beschreibung auf der Verpackung verkündete, dass Sally weinen und in die Hose machen konnte, wenn man ihr Wasser zu trinken gab. Wahrscheinlich, dachte ich, hatte Philippa die Puppe für Emily gekauft, vielleicht für einen bevorstehenden Geburtstag. Darüber hinaus enthielt die Schublade auch einen kleinen Notizblock, den ich neugierig aufschlug.

Auf der ersten Seite hatte sie eine Einkaufsliste zusammengestellt und die einzelnen Artikel dann abgehakt. Auf der zweiten Seite folgte eine Liste mit Dingen, die zu erledigen waren: Klempner anrufen, Schuhbänder kaufen, Kühlschrank abtauen, Wagen in die Werkstatt bringen.

Die nächste Seite war mit ziemlich gekonnt gezeichneten Früchten bedeckt. Die vierte Seite war leer, abgesehen von ein paar Londoner Telefonnummern, die Philippa ganz am Rand des Blattes notiert hatte. Auf die fünfte Seite hatte sie ein paar einzelne Worte gekritzelt, auf die ich nur einen schnellen Blick warf, während ich den Finger benetzte, um weiterzublättern. Wie vom Donner gerührt hielt ich mitten in der Bewegung inne.

»Lianne«, stand da in krakeliger Schrift. Ich starrte auf die Buchstaben, wagte mich kaum zu bewegen, weil ich befürchtete, dass sie dann verschwinden oder zu einem anderen Wort verschwimmen könnten. Mein Mund fühlte sich plötzlich ganz trocken an. Das Wort verschwand nicht, wie lange ich es auch anstarrte. Es hieß immer noch

»Lianne«.

Wie in Trance ließ ich den Blick nach unten wandern.

Am unteren Rand der Seite stand, eingekreist von Fragezeichen und in etwas kleinerer Schrift, die trotzdem eindeutig die von Philippa war: »Bryony Teal«. Lianne und Bryony Teale, Letztere ohne das e am Ende. Philippa hatte die Namen der beiden anderen Opfer notiert. Da stand noch ein Name, neben den ein kleines Gänseblümchen gekritzelt war, ein Symbol für das Wort:

»Daisy.«

Ganz vorsichtig, als handle es sich dabei um eine Bombe, die jederzeit explodieren könnte, nahm ich den Notizblock heraus und ließ ihn in meine Tasche gleiten.

Dann schloss ich die Schublade.

Ich blieb noch eine Minute am Schreibtisch sitzen und starrte aus dem Fenster. Was ich gerade gesehen hatte, musste sich in meinem Gehirn erst einmal setzen. Eine kleine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne, sodass der Garten plötzlich im Schatten lag. Während ich weiter hinausschaute, kam Emily in Jeansshorts und einem gestreiften Topf auf den Rasen gelaufen, blieb dort stehen und rief ihrer Großmutter etwas zu, die sich noch im Haus befand. Auf einmal blickte sie hoch und sah mich am Fenster ihrer Mutter sitzen, und einen schrecklichen Moment lang strahlte ihr Gesicht vor überschwänglicher Freude, und sie streckte ihre Arme nach mir aus. Ihr Mund öffnete sich, um einen Namen zu rufen, ein Wort. Dann sank ihr kleiner Körper enttäuscht in sich zusammen, und sie ließ langsam die Arme sinken. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

Ich stand auf und verließ den Raum, die Tasche mit dem kostbaren Inhalt über der Schulter. Das Einzige, woran ich denken konnte, waren die Namen in diesem Notizbuch.

Und dass ich zu Bryony gesagt hatte, sie sei nicht in Gefahr.

33. KAPITEL

Ich rief in der Welbeck-Klinik an und gab Bescheid, dass ich nicht zur Personalversammlung kommen könne.

Anschließend sagte ich mein Mittagessen mit Poppy ab.

Während ich neben Oban im Auto saß, fluchte er schwitzend vor sich hin und erklärte mir zum hundertsten Mal, dass das Ganze verdammt noch mal keinen Sinn ergebe. Mit der Zeit empfand ich seine Stimme nur noch als monotones Brummen, genau wie den Verkehr draußen.

Ich presste die Finger gegen meine Schläfen. Es musste eine Erklärung geben. Irgendwie gingen wir die Sache falsch an. Sobald es uns gelingen würde, sie von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten, würden wir sie anders sehen. All die Dinge, die jetzt keinen Sinn ergaben, würden plötzlich voller Bedeutung sein. Ich schloss die Augen und versuchte meinen Geist zu entspannen, damit sich der Knoten lösen konnte. Ich wartete auf die Erleuchtung, aber sie kam nicht. Entnervt stöhnte ich auf und rieb mir die Augen. Neben mir starrte Oban bedrückt vor sich hin. Er freute sich auch nicht auf diesen Besuch.

Sein Handy klingelte. »Ja«, bellte er hinein. »Ja.

Schießen Sie los.« Sein Gesichtsausdruck wechselte, und er lehnte sich leicht vor, während er mit der freien Hand das Lenkrad umklammerte. »Sagen Sie das noch mal! In Ordnung, ja, wir kommen in etwa einer halben Stunde zurück. Länger wird’s nicht dauern. Bis dann.«

»Verdammt«, sagte er wieder einmal.

»Was ist denn?«

»Verdammt.«

»Gut, aber was noch, Daniel?«

Mit quietschenden Reifen hielt er vor dem Haus der Teales.

»Sie glauben nicht, was ich gerade erfahren habe.«

»Nun sagen Sie es mir endlich! Was ist denn?«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit, ich erzähle es Ihnen später.« Sprach’s und sprang aus dem Wagen.

»Nein«, flüsterte sie. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht.

Ihre Augen wirkten plötzlich riesengroß und dunkel.

»Nein!«, sagte sie noch einmal, diesmal lauter und in scharfem Ton, und dabei hob sie beide Hände an den Mund, als wollte sie beten. »Ich verstehe das nicht. Das kann doch nicht sein! Was hat das zu bedeuten?«

»Das wissen wir noch nicht.« Ich warf einen raschen Blick zu Oban hinüber, um zu sehen, ob er meiner knappen Antwort noch etwas hinzufügen wollte, aber er saß reglos da und starrte auf seine auf dem Küchentisch ruhenden Hände hinunter, als versuchte er sich an ein Bruchstück aus einem Traum zu erinnern.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ dann aber den Kopf in die Hände sinken. Ihr prächtiges Haar hing wie ein Vorhang über ihr Gesicht. »Das kann doch nicht sein …«, hörte ich sie murmeln.

Hinter uns auf dem Herd zischte etwas und kochte dann über. Der Geruch von verbrennendem Zucker erfüllte die Küche, aber Bryony rührte sich nicht von der Stelle. Oban erhob sich schwerfällig, nahm eine Pfanne von der Platte und kam dann wieder an den Tisch zurück, wo Bryony noch immer weit vornübergebeugt dasaß.

»Eines der Opfer hat Ihren Namen aufgeschrieben«, erklärte ich. »Und trotzdem sagen Sie, Sie sind ihr nie begegnet?«

»Bin ich auch nicht«, antwortete sie langsam. »Wirklich nicht.«

Oban ließ nun seinerseits sein großes, müdes Gesicht in die Hände sinken.

»Sind Sie sicher, Bryony? Man lernt so viele Leute kennen, vielleicht haben Sie nur ihren Namen nicht gekannt. Vielleicht hat sie Sie gekannt.«

»Ich bin ihr nie begegnet. Glauben Sie denn, ich hätte mich nicht daran erinnert, nachdem so viel über sie in der Zeitung stand? Ich habe die Frau nie gesehen. Ich kenne ihren Namen erst, seit sie als Mordopfer berühmt geworden ist.«

»Und Lianne?«

»So glauben Sie mir doch endlich, ich bin ihr nie begegnet! Was soll ich Ihnen anderes sagen?« Ihre Stimme klang wie ein Heulen.

»Sagt Ihnen der Name Daisy etwas? Daisy Gill?« Das kam von Oban, der plötzlich den Kopf gehoben hatte.

»Nein! Nein! Wer ist das? Ein weiteres Opfer?«

Schweigend reichte Oban ihr ein Foto, das ich noch nicht kannte. Wenn es nötig ist, kann die Polizei durchaus schnell arbeiten. Es zeigte ein Mädchen mit einem blassen, dreieckigen Gesicht und stacheligen schwarzem Haar und bestand eigentlich aus vier kleinen Fotos, wie man sie in diesen Fotokabinen mit Selbstauslöser aufnehmen kann.

Auf dem ersten wirkte sie ernst. Zwischen ihren leicht geöffneten Lippen lugte ein abgeschlagener Zahn hervor.

Auf dem zweiten grinste sie ein wenig und blickte zur Seite. Auf dem dritten kicherte Daisy und war ein Stück zur Seite gerückt, sodass links ein Streifen ihres Gesichts abgeschnitten war. Auf dem vierten war nur noch eine winkende Hand zu sehen.

Bryony starrte eine Weile auf das Bild und schob es dann mit einem heftigen Kopfschütteln weg. »Nein«, stieß sie hervor, woraufhin sie in Tränen ausbrach. Ich beugte mich über den Tisch und nahm ihre Hand. Sie hielt sich daran fest, als würde sie ertrinken.

»Trotzdem hat Philippa Burton Ihren Namen notiert, bevor sie starb«, sagte Oban ruhig, als würde er mit sich selbst sprechen.

»Das habe ich verdammt noch mal schon begriffen!«, fauchte Bryony ihn an. »Ich habe Sie klar und deutlich verstanden. Tut mir Leid. Bitte entschuldigen Sie. Sie können ja auch nichts dafür. Das alles ist, gelinde ausgedrückt, ein ziemlicher Schock für mich.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und bemühte sich sichtlich um Haltung, indem sie sich aufrechter hinsetzte und das Haar hinter die Ohren strich.

»Ich muss zusehen, dass ich das alles in den Griff bekomme. Soll ich Kaffee machen?«

»Zu einer Tasse Kaffee sage ich nicht Nein«, antwortete ich. Oban lehnte dankend ab.

Sie erhob sich mit einer anmutigen Bewegung. Sie trug einen langen schwarzen Baumwollrock und ein schwarzes T-Shirt. Wie beim letzten Mal hatte sie keine Schuhe an, sondern ging barfuß. Um ihren Knöchel hing ein silbernes Fußkettchen.

»Geben Sie mir einen Augenblick Zeit, das Ganze zu verdauen«, sagte sie, während sie den Wasserkessel füllte.

»Bitte.«

Oban lächelte mich müde an und öffnete den obersten Knopf seines Hemds. Seine blauen Augen wirkten noch kleiner und heller als sonst, und er blinzelte ständig, als bekäme er dadurch einen klareren Blick. Sein wirres Haar war fettig, sein Gesicht unrasiert. Auf der Herfahrt hatte er sich zwischen zwei hektischen Handy-Gesprächen zu mir gedreht und gesagt: »Von jetzt an möchte ich Sie an meiner Seite haben.« Es hatte sich nicht wie ein Befehl angehört, sondern wie eine Bitte, als wäre aus dem Chef von einer Sekunde auf die andere ein Bittsteller geworden.

Es bestand kein Zweifel daran, dass ich die Heldin der Stunde war: die Frau, die gesehen hatte, was für alle anderen unsichtbar gewesen war. Ich konnte mich nicht besonders darüber freuen. Sicher, ich hatte ein Muster entdeckt, aber leider eines, das keinen Sinn ergab. Ganz im Gegenteil, es zerstörte eher den kleinen Rest von Sinn, der uns noch geblieben war. Und da draußen lief nach wie vor ein Mörder herum.

Ich griff nach dem Bild von Daisy Gill und betrachtete es. Sie hatte ein Piercing in der Augenbraue und, wie ich bei genauerem Hinsehen entdeckte, auch eins in der Zunge. Um den Hals trug sie ein Medaillon. Auf dem dritten Foto konnte ich es deutlicher erkennen. Es war ein kleines Herz, genau wie das, das Lianne getragen und auf dem gestanden hatte: »Beste …«. Ich fragte mich, ob auf Daisys Medaillon vielleicht »… Freundin« stand.

»Ist Ihr Mann nicht da?«, fragte ich.

»Gabe? Nein, er ist schnell zur Post gegangen, nur ein Stück die Straße runter. Er kommt bestimmt jeden Augenblick. Er arbeitet normalerweise erst später am Nachmittag. Hier, bitte, Sie trinken ihn ohne Milch, oder?«

»Ohne Milch und Zucker. Danke.«

Sie ließ sich wieder am Küchentisch nieder und legte die Hände um ihre Tasse, als würde ihr die Wärme Trost spenden. Plötzlich wirkte sie sehr jung und verletzlich.

»Und jetzt?«, fragte sie. »Was passiert jetzt?«

Oban räusperte sich, ehe er eine Antwort gab, die zwar gewichtig klang, im Grunde aber nichts aussagte: »Wir werden umfassende Ermittlungen in die Wege leiten.«

Bryony starrte ihn verblüfft an.

»Hören Sie«, sagte ich, »es ergibt auf den ersten Blick keinerlei Sinn, dass ein Mordopfer die Identität von zwei anderen Opfern oder potenziellen Opfern kennt. Wir wissen natürlich nicht, wann sie die Namen notiert hat, und deswegen wissen wir auch nicht, ob Lianne zu diesem Zeitpunkt schon tot war oder nicht.« Ich zögerte einen Moment, aber sie war eine intelligente Frau und wusste bereits, was ich sagen wollte. »Auf jeden Fall deutet nun Einiges darauf hin, dass es sich bei dem Angriff auf Sie nicht nur um einen Raubüberfall gehandelt hat.«

Sie nickte. Ihre Lippen waren weiß.

»Und dass der Mörder nicht willkürlich handelt«, fügte ich in sanftem Ton hinzu.

»Nein«, murmelte sie. »Ich verstehe.«

»Deswegen wird die Polizei nun einige Zeit mit Ihnen verbringen und herauszufinden versuchen …«

Während ich sprach, hörte ich, wie sich die Haustür öffnete und jemand in der Diele ziemlich unmelodisch vor sich hinpfiff.

»Gabe!«, rief Bryony. »Gabe, ich bin in der Küche. Mit jemandem von der Polizei.«

Das Pfeifen brach abrupt ab. Als er hereinkam, schlüpfte er gerade aus einer alten Lederjacke. Sein Gesicht wirkte angespannt. »Was ist passiert?«, fragte er. »Bry? Alles in Ordnung?«

»Wir wollen Sie nicht beunruhigen, Mr. Teale«, begann Oban, aber Bryony schnitt ihm das Wort ab. »Philippa Burton hat meinen Namen aufgeschrieben, bevor sie ermordet wurde.«

Gabriel öffnete den Mund, brachte aber offensichtlich nichts heraus. Er starrte uns nur an, erst seine Frau, dann Oban und mich. Er wirkte total erschüttert.

»Meinen und den dieses Mädchens Lianne und den eines anderen Mädchens namens Daisy«, fuhr Bryony langsam fort, als wollte sie sicherstellen, dass er alles genau verstand. Sein Entsetzen schien ihr neue Kraft und Entschlossenheit zu verleihen.

»Daisy Gill, so war doch ihr Name, nicht?«

»Genau, Mrs. Teale.«

»Demnach war es also kein Raubüberfall. Und es sieht ganz so aus, als hätte er es auf mich abgesehen, nicht einfach auf eine x-beliebige Frau.«

Gabriel ging zu ihr, kniete sich neben ihren Stuhl, umfasste ihre Hände und küsste sie; dann vergrub er seinen Kopf in ihrem Schoß. Nachdem sie einen Moment sanft über sein dunkles, zerzaustes Haar gestreichelt hatte, hob sie sein Gesicht an und hielt es so, dass er sie ansehen musste. »Es wird alles gut«, sagte sie, »das verspreche ich dir. Es wird nichts passieren. Hörst du, mein Liebling?«

»Dürfen wir Ihnen noch ein paar Fragen stellen, bevor wir Sie der Obhut meiner Detectives anvertrauen?«, fragte Oban.

Gabriel erhob sich und stellte sich hinter Bryony, beide Hände auf ihren Schultern.

»Kennen Sie einen Mann namens Will Pavic?«, wollte Oban wissen.

Ich starrte ihn an – warum fragte er das?

»Ich glaube nicht. Oder, Gabe?«

»Nun ja, ich weiß natürlich schon, wer er ist«, antwortete Gabriel. »Ich meine, die meisten Leute hier in der Gegend kennen ihn.«

»Warum?«, fragte Oban. »Ich kenne nicht mal die Frau, die im Haus neben mir wohnt, geschweige denn das Paar von gegenüber.«

Gabriel hob die Hände. »Ich wollte damit nur sagen, dass wir alle in derselben Art von Welt leben. Ich betreibe ein kleines Theater, und eines unserer Ziele ist es, Menschen, die sich von ihrer Umwelt isoliert und im Stich gelassen fühlen, wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Pavic führt eine Art Herberge für junge Leute.

Und er ist irgendwie berühmt, nicht? Ein Typ, der immer, wie soll ich es sagen?, der Wellen schlägt. Natürlich laufen wir uns gelegentlich über den Weg. Mehr aber auch nicht. Warum fragen Sie nach ihm?«

»Das wäre im Moment alles«, antwortete Oban.

»Allerdings wird Detective Inspector Furth auch noch mit Ihnen sprechen wollen.«

Wir ließen sie in der Küche zurück. Gabriel hatte die Hände noch immer auf den Schultern seiner Frau. Sie wandte den Kopf und blickte zu ihm auf. Als ich die Panik in ihrem Gesicht sah, wurde auch ich von einer Welle der Angst überrollt.

»Was halten Sie davon, Kit?«, fragte Oban während der Rückfahrt zum Polizeirevier. »Raten Sie mal, was ich vorhin erfahren habe: In dem Monat vor Mrs. Burtons Tod haben zwischen dem Haushalt der Burtons und Pavics Centre drei Telefonate stattgefunden.«

»Oh«, sagte ich. Plötzlich fror ich, obwohl es ein schwüler Tag war.

»Oh? Ist das alles? Mein Gott, Kit, haben Sie mir überhaupt zugehört? Die ersten beiden Telefonate dauerten nur eine Minute oder so. Das letzte dauerte siebenundachtzig Minuten. Was machen Sie sich darauf für einen Reim, hm?«

»Keine Ahnung.«

»Pavic, hm? Das wird interessant.«

»Sehr interessant«, antwortete ich langsam. Dann fügte ich in gequältem Ton hinzu: »Ich glaube, ich sollte Ihnen da was erzählen.«

»Moment.« Er tippte ein paar Nummern in sein Telefon.

»Erzählen Sie es mir später.«

»Wie Sie wollen.«

Ich lehnte die Stirn gegen das Fenster und schloss für einen Moment die Augen. Was für ein Chaos.

34. KAPITEL

Vor dem Polizeirevier angekommen, sprang Oban aus dem Wagen und spurtete mit einer solchen Geschwindigkeit los, dass ich Mühe hatte, ihn einzuholen.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte ich ihn atemlos.

»Mit ein paar Leuten reden.«

Ein uniformierter Beamter kam aus einem Seitengang und eilte neben Oban her. »Ist er schon da?«, fragte Oban.

»Er wartet in zwei«, antwortete der Mann. »Möchten Sie, dass ich mit ihm spreche?«

»Das machen wir gleich selbst. Wird nicht lang dauern.«

Ich folgte Oban nach rechts und dann nach links, bis wir schließlich vor einem Zimmer anhielten. Oban klopfte forsch. Die Tür ging auf, und eine Beamtin trat heraus. Sie nickte Oban respektvoll zu.

»Wie ist er drauf?«

»Ich weiß es nicht, Sir«, antwortete die Frau. »Er hat den Mund kaum aufgemacht. Außer, um zu gähnen.«

»Warten Sie hier«, sagte er – zu ihr, nicht zu mir. »Es dauert höchstens fünf Minuten.«

Er hielt mir die Tür auf, und ich ging hinein. Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartete, mir blieb keine Zeit zum Nachdenken. Deswegen fühlte ich mich, als ich Will Pavic sah, als hätte mir jemand ohne Vorwarnung einen Schlag ins Gesicht verpasst. Er lehnte am Tischende, die Hände in den Hosentaschen. Als er den Kopf wandte, trafen sich unsere Blicke. Nun hatte ich auch wackelige Knie. Abgesehen von einer kaum wahrnehmbaren Spur eines sardonischen Lächelns zeigte er keine Reaktion. Er trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Ich fragte mich, ob er tatsächlich verhaftet worden war. Nahmen sie den Männern immer noch die Krawatten weg, damit sie sich nicht aufhängen konnten?

Ich drehte mich zu Oban um. »Mir war nicht …« Mehr brachte ich erst mal nicht heraus. »Mir war nicht bewusst

…«

»Mr. Pavic hat sich freundlicherweise bereit erklärt, kurz mit uns zu sprechen. Wie es aussieht, müssen wir ein, zwei Dinge klären. Bitte setzen Sie sich.«

Oban deutete auf einen der Stühle am Tisch. Will nahm Platz. Er hatte noch immer kein Wort gesagt. Ich lehnte mich gegen die Wand gleich neben der Tür, so weit weg von ihm wie nur irgend möglich. Sein gelangweilter Blick war auf den Tisch gerichtet. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, unnachgiebig und verschlossen.

Während ich zitternd vor Aufregung neben der Tür stand, wirkte Oban umgänglich und entspannt. Er ließ sich Will gegenüber nieder, als hätten sie vor, miteinander ein Bierchen zu trinken.

»Es hat in den Mordfällen Lianne und Philippa Burton neue Entwicklungen gegeben.« Keine Reaktion von Will.

Oban hüstelte. »Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass am Kanal ein weiterer Überfall auf eine Frau namens Bryony Teale stattgefunden hat. Ich glaube, Sie kennen ihren Mann Gabriel.«

»Ich habe von ihm gehört«, antwortete Will tonlos.

»Aber ich kenne ihn nicht näher.«

»Er hat auch von Ihnen gehört. Aber Sie sind ja recht bekannt, nicht wahr, Mr. Pavic? Und Sie hatten natürlich mit Lianne zu tun. Wie ich zugeben muss, habe ich bis heute Morgen bezweifelt, dass in diesem Fall zwischen allen drei Frauen eine Verbindung besteht.«

Wills Augen verengten sich, und das bissige Lächeln kam ein wenig deutlicher zum Vorschein, aber er schwieg noch immer.

»Sind Sie Bryony Teale schon mal begegnet?«, fuhr Oban fort. »Sie ist Fotografin. Allem Anschein nach verbringt sie viel Zeit damit, hier in der Gegend herumzuwandern, auf den Straßen und am Kanal.«

»Nein«, antwortete Will.

»Und Philippa Burton? Haben Sie die gekannt? Sind Sie ihr mal begegnet? Oder haben Sie von ihr gehört?«

Hinter meinem Rücken ballte ich so fest die Fäuste, dass sich meine Fingernägel in die Handflächen gruben.

Will schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wieso sollten Sie auch?«, meinte Oban. »Sie hat in Hampstead gewohnt. Als Ehefrau eines Geschäftsmannes.

Aber ich nehme an, Sie lernen alle möglichen Leute kennen.«

Keine Antwort. Diesmal sah Will zu mir herüber. Ich wich seinem Blick nicht aus, sondern versuchte, ihm mit meinem Gesichtsausdruck zu verstehen zu geben, dass ich zwar an dem Fall mitarbeitete, mir der Peinlichkeit der Situation aber durchaus bewusst war und es außerdem für völlig unangebracht hielt, ihn auf diese Weise zu befragen.

Das war ziemlich viel Bedeutung für einen einzigen Gesichtsausdruck, und das Ergebnis wirkte wahrscheinlich bloß panisch. Offenbar spielte es sowieso keine Rolle, denn Will sah mich an, als wäre ich ein Mantel, den Oban beim Hereingehen neben die Tür gehängt hatte.

»Wie ich schon gesagt habe«, fuhr Oban fort, »war ich nicht davon überzeugt, dass da irgendeine Verbindung bestand. Ich ging einfach davon aus, dass die Frauen völlig willkürlich als Opfer ausgewählt worden waren.

Dr. Quinn jedoch nervte mich die ganze Zeit mit ihrer Idee von einer Verbindung. Nun hat sie bei Philippa Burton einen Notizzettel mit den Namen von Lianne und Bryony Teale gefunden. Erstaunlich, nicht? Zwei der Opfer, niedergeschrieben vom dritten Opfer.«

Will zuckte mit den Achseln. »Und was habe ich damit zu tun?«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Wir haben die letzten Telefonrechnungen der Burtons überprüft. Das Ergebnis war größtenteils wie erwartet, Gespräche mit ihrer Mutter, ihrem Mann an seinem Arbeitsplatz, ein paar Freunden, einem Reisebüro und so weiter. Eines aber war seltsam. Am neunten Juli wurde von den Burtons aus mit Ihrem Jugendhaus telefoniert. Ich weiß, was Sie jetzt sagen werden, aber es handelte sich nicht um das öffentliche Telefon in Ihrem Eingangsbereich, von dem aus die jungen Leute ihre Drogengeschäfte abwickeln.«

»Sie benutzen dieses Telefon nicht für Drogengeschäfte«, erklärte Will. »Ich glaube, Sie werden feststellen, dass Drogendealer ihre eigenen Handys bevorzugen.«

»Ich wollte damit nur sagen, dass der Anruf vom Telefon in Ihrem Büro entgegengenommen wurde. Uns würde interessieren, was Sie dazu zu sagen haben.«

Wäre das Ganze eine Prüfung im Fach Gelassenheit gewesen, dann hätte Will zehn von zehn Punkten bekommen. Aber es war keine Prüfung, und mir war klar, dass jeder normale Mensch in Wills Situation über die Verbindung zwischen den Frauen überrascht gewesen wäre und auf die Sache mit dem Anruf mit großer Bestürzung reagiert hätte. Ein normaler, unschuldiger Mensch hätte angefangen, sich wie ein schuldiger Mensch zu verhalten. Will wirkte bloß gelangweilt. »Ich habe dazu nichts zu sagen«, erklärte er.

»Sie meinen, Sie verweigern die Aussage. Das ist Ihr gutes Recht.«

»Nein, das habe ich damit nicht gemeint. Ich weiß nur nicht, was für eine Art Kommentar Sie erwarten. Stellen Sie mir eine Frage, und ich werde sie Ihnen beantworten.«

»Haben Sie von Ihrem Apparat aus mit Philippa Burton telefoniert?«

»Nein.«

»Haben andere Leute Zugang zu dem Telefon?«

Erneutes Achselzucken. »Wahrscheinlich.«

»Ich will kein ›wahrscheinlich‹ hören. Ja oder nein.«

Wills Kinnpartie wirkte plötzlich angespannt. »Ja.«

»Ist der Apparat dabei immer unter Aufsicht?«

»Ich bin viel unterwegs. Meine Assistentin Fran ist die meiste Zeit im Büro. Zusätzlich haben wir viele Aushilfen und freiwillige Helfer, aber ich bin sicher, dass das Telefon trotzdem hin und wieder unbeaufsichtigt ist.«

»Hat Lianne zu diesem Zeitpunkt bei Ihnen im Jugendhaus gewohnt?«

»Sie hat nie fest dort gewohnt. Es könnte natürlich sein, dass sie tagsüber mal da war.«

»Das ist ein wichtiger Punkt, denn dieses Telefonat fand statt, bevor der erste Mord geschah.«

»Offensichtlich.«

»Bitte?«, fragte Oban. »Ist mir irgendwas entgangen?

Was ist daran so offensichtlich?«

Will trommelte mit den Fingern leicht auf die Tischplatte.

»Unwichtig«, antwortete er.

»Was wollten Sie damit sagen?«

Will seufzte. »Wenn diese Leute miteinander gesprochen haben, dann doch wohl, bevor sie umgebracht wurden.

Das ist alles, was ich damit sagen wollte.«

»Wer hat behauptet, dass sie miteinander gesprochen haben?«

»Sie.«

»Nein. Ich habe bloß gesagt, dass von Philippas Telefon aus bei Ihnen angerufen worden ist. Es hätte ja auch sein können, dass sie mit Ihnen gesprochen hat. Zum Beispiel.

Wobei Sie uns natürlich vorhin schon versichert haben, dass dem nicht so war. Es könnte auch jemand anders von Philippas Apparat aus telefoniert haben. Es gibt eine Menge Möglichkeiten. Deshalb wäre es für uns wichtiger denn je zu erfahren, wann Lianne sich bei Ihnen im Jugendhaus aufgehalten hat. Haben Sie da irgendwelche Aufzeichnungen?«

»Die sind nicht sehr genau.«

»Das ist aber schade.« Obans freundliche Stimme bekam einen schärferen Unterton. »Ein detailliertes Gästebuch wäre für uns extrem hilfreich gewesen.«

Will schob seinen Stuhl zurück, wobei dessen Metallbeine mit einem scheußlichen Geräusch über den Linoleumboden scharrten. Nun wirkte Will zum ersten Mal während dieses Gesprächs betroffen, was bei ihm gleichbedeutend mit wütend war. »Hören Sie«, begann er.

»Durch jahrelange Erfahrung habe ich gelernt, dass die einzige Methode, Leute wie Sie von meinen Büchern fern zu halten, darin besteht, erst gar keine zu führen.«

Einen Moment lang konzentrierte sich Oban sehr angestrengt darauf, unsichtbaren Schmutz unter seinen Fingernägeln hervorzubefördern. »Mr.

Pavic, falls Sie

damit eine Art politische Aussage treffen wollen, muss ich Ihnen sagen, dass mich das nicht besonders interessiert.

Eine junge Frau, die sich zeitweise in Ihrem Jugendhaus aufgehalten hat, ist ermordet worden. Ein weiteres Opfer hat bei Ihnen im Jugendhaus angerufen. Es tut mir Leid, wenn Sie das langweilig finden.«

Beide Männer schwiegen eine Weile. Als Will zu einer Erwiderung ansetzte, klang seine Stimme ruhig, aber auch klar und eisig, sodass ich von meinem Platz auf der anderen Seite des Raums jedes Wort verstehen konnte.

»Ich arbeite ständig mit diesen jungen Leuten«, erklärte er.

»Der Rest der Welt tut die meiste Zeit so, als wären sie unsichtbar. Dann passiert etwas, und Leute wie Sie legen plötzlich größtes Interesse an den Tag. Dann verschwinden Sie wieder. Sie werden mir also verzeihen, wenn ich für diese Aufmerksamkeit nicht übermäßig dankbar bin.« Er stand auf. »Sie scheinen nicht zu verstehen, wie mein Haus funktioniert. Wir haben keine Stechuhr. Die Leute tragen sich auch nicht in ein kleines Büchlein ein, wenn sie das Telefon benutzen.« Zum ersten Mal sah er mich richtig an. »Es handelt sich nicht um das Cheltenham Ladies’ College. Eher um einen kleinen Felsen mitten in der Brandung. Die Leute werden angespült und klammern sich eine Weile fest. Irgendwann werden sie wieder weggespült. Wenn sie dann ein bisschen stärker sind als zum Zeitpunkt ihrer Ankunft, bin ich schon froh. Auf mehr kann ich nicht hoffen.«

»War Lianne stärker, als sie ging?«

Nun konnte Will die Traurigkeit in seinen Augen nicht mehr länger verbergen. »Ich weiß es nicht.«

Als er den Raum verließ, sah er mich nicht an. Ich schaffte es auch nicht, ihm die Hand hinzustrecken oder etwas zu sagen, aber nachdem er gegangen war, biss ich mir auf die Lippe und erklärte Oban in stockenden, unausgegorenen Sätzen, dass ich seit etwa einer Woche etwas mit Will Pavic hätte. Mehr oder weniger. Oban sah mich völlig belämmert an, als hätte ich ihn aus einem sehr tiefen Schlaf gerissen, nur um ihm etwas ganz und gar Unverständliches mitzuteilen.

»Pavic?«, fragte er benommen. »Aber ich dachte …

Aber was ist mit … Sie und er? Oh.« Er runzelte verwirrt die Stirn. »Pavic? Sind Sie sicher? Sie und er, ein Paar?«

»Nun ja, ein richtiges Paar sind wir nicht gerade.«

»Wie meine Frau und ich. Ich weiß, was Sie meinen.«

35. KAPITEL

»Von jetzt an möchte ich Sie an meiner Seite haben«, hatte Oban gesagt. Deswegen stand ich nun ein weiteres Mal auf Jeremy Burtons halb überschwemmtem Rasen und war mir die ganze Zeit der Blicke Emilys bewusst, die mit dem Daumen im Mund aus dem Fenster ihres Zimmers schaute. Jeremy hatte darauf bestanden, unser Gespräch im Freien zu führen, als würde ihm im Haus die Decke auf den Kopf fallen. Obwohl er keine Jacke trug, sondern nur ein kurzärmeliges T-Shirt, schien er den eisigen Wind, der durch den Garten pfiff, gar nicht zu spüren. Ich fror trotz meiner Strickjacke. Wasser sickerte in meine Schuhe.

»Ich verstehe nicht«, wiederholte er. Recht viel mehr hatte er seit unserem Eintreffen noch nicht gesagt. Er hatte sich die Fotos von Daisy, Lianne und Bryony angesehen, jedes einzeln hochgenommen und von sich weggehalten, als wäre er weitsichtig, bevor er sie Oban zurückgab.

»Nein«, hatte er bei jedem gesagt. »Nein, ich habe dieses Gesicht noch nie gesehen, und auch den Namen noch nie gehört. Nein, nein, nein. Ich weiß gar nicht, warum Sie mir diese Fotos zeigen.«

»Ihre Frau hat die Namen der anderen Opfer aufgeschrieben, bevor sie starb«, erklärte Oban geduldig.

»Lianne. Und den Namen der Frau, die kürzlich am Kanal überfallen worden ist, Mrs. Teale – Bryony Teale. Und Daisy Gill war ein Mädchen, das sich vor ein paar Monaten umgebracht hat und offenbar mit Lianne befreundet war. Ihre Frau hat ihren Namen ebenfalls notiert.«

»Warum?« Er schüttelte heftig den Kopf und kniff dabei die Augen zusammen, als könnte er uns nur unscharf erkennen.

»Warum?« Sein Gesicht wirkte schlaff. Er machte einen erschöpften Eindruck.

»Wir wissen nicht, warum, Mr. Burton«, antwortete Oban.

»Wir sind gerade erst auf diese Verbindung gestoßen, und natürlich erscheint uns nun alles in einem völlig anderen Licht.«

»Philippa hat diese Frauen nicht gekannt«, erklärte er in beharrlichem Ton. »Ganz sicher nicht.«

»Sie hat aber ihre Namen aufgeschrieben.«

»Es muss sich um einen Irrtum handeln«, entgegnete er verzweifelt. »Ich kann es nicht erklären, aber es kann sich nur um einen Irrtum handeln. Sie hat diese Frauen nicht gekannt.«

»Was macht Sie da so sicher?«, fragte ich so sanft wie möglich.

»Sie hätte es mir erzählt.«

»Was hätte sie Ihnen erzählt?«

»Was auch immer. Alles. Alles, was in ihrem Leben eine Rolle spielte.« Einen Moment lang sah er aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, aber dann wurde sein Blick zornig, und er setzte sich in Bewegung. Wir folgten ihm in den hinteren Teil des Gartens.

»Mr. Burton«, meldete sich Oban energisch zu Wort.

»Ich weiß, dass das für sie ein Schock ist, aber …«

»Es ist kein Schock, es ist – es ist wie ein Albtraum.«

»Könnte es sein, dass Ihre Frau bedroht wurde oder …?«

»Ich weiß nicht, warum sie die Namen aufgeschrieben hat. Warum hätte jemand sie bedrohen sollen?« Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu uns um, sodass wir plötzlich sehr eng beieinander standen. »Ich weiß, was Sie denken.«

»Was denken wir denn?«

»Dass sie etwas im Schilde führte, eine Affäre oder irgend so einen Unsinn. Oder vielleicht ich. Vielleicht hatte ich mit all diesen Frauen eine Affäre, und sie hat es herausgefunden. Ist es das, was ich leugnen soll? Also gut, ich leugne es.«

Er begann wieder zu laufen.

»Jeremy.« Ich eilte ihm nach und legte meine Hand auf seinen Arm, um ihn zum Stehenbleiben zu bewegen. »Nun hören Sie mir mal gut zu! Wir wollen überhaupt nichts andeuten und nehmen auch nichts in dieser Richtung an.

Bitte hören Sie mir zu. Ich weiß …«

»Was wissen Sie denn schon? Nichts. Ich bin nicht gut darin, meine Gefühle zu zeigen. War ich noch nie. Das heißt aber nicht, dass ich keine habe. Phil wusste das. Sie sah es mir an, wenn ich deprimiert war oder mir Sorgen machte, oder wenn ich beruflichen Ärger hatte. Wenn ich zur Tür reinkam, brauchte sie mir bloß ins Gesicht zu sehen, und schon wusste sie, ob es mir gut ging oder nicht.

Ich brauchte gar nichts zu sagen. Wir hingen nicht ständig aneinander, kein Mensch würde uns als ein leidenschaftliches Paar bezeichnen. Aber es gibt unterschiedliche Arten, jemanden zu lieben. Ich habe sie geliebt, und sie hat mich geliebt, und nun ist sie tot, und Sie stehen da und machen irgendwelche Andeutungen, die uns und unser gemeinsames Leben betreffen. Wir hatten ein gutes Leben. Die Art Leben, die wir beide führen wollten. Es war nicht sonderlich aufregend, aber wir hatten einander, und dann kam Emily. Und wir wollten noch ein Kind. Dann wären wir eine komplette Familie gewesen. So hat sie es immer ausgedrückt. Jetzt ist sie tot, und wir werden niemals komplett sein.«

»Mr. Burton …«

Da sahen wir, dass er weinte. Er stand unter dem Apfelbaum und weinte wie ein kleiner Junge, bis sein Gesicht ganz nass und fleckig war.

»Nein«, sagte Pam Vere. Sie saß sehr aufrecht auf ihrem Stuhl. Nein, sie erkenne keines der Gesichter. Ja, sie sei sicher. Vollkommen sicher.

»Wie lange war Daisy hier, Mrs. Winston?«

Mrs. Winston war eine rundliche Frau mit lockigem Haar, die richtig gemütlich ausgesehen hätte, wären da nicht das viele Make-up in ihrem Gesicht und die gewitzten, mich prüfend musternden Augen hinter ihren dicken Brillengläsern gewesen. Wir saßen in ihrer warmen Küche, wo sich sofort drei Katzen um meine Beine schmiegten, und aßen Schokoladenkekse. Oban hatte mein Interesse an Daisy als nebensächlich abgetan und war aufs Polizeirevier zurückgekehrt. »Wir müssen uns auf die Hauptpersonen konzentrieren, Kit«, hatte er gesagt.

»Außerdem waren meine Männer schon dort, die haben das bereits erledigt.«

»Wie lang?« Mrs. Winston runzelte die Stirn und nahm laut schlürfend einen Schluck von ihrem Tee. »Lassen Sie mich nachdenken. Was genau habe ich zu den netten Beamten gesagt, die schon hier waren? Allzu lang war es auf jeden Fall nicht. Normalerweise haben wir es gern, wenn unsere Kinder lange bleiben, weil man dann eine richtige Beziehung aufbauen, ihnen ein richtiges Familienleben bieten kann. Wir hatten mal ein Mädchen fast zwei Jahre lang, oder, Ken?«

Ken, der wesentlich schmächtiger war als seine Frau, nickte.

»Das stimmt.«

»Georgina, so hieß sie, ein ganz liebes Mädchen.«

»Ganz lieb«, bestätigte Ken wie ein Echo.

»Aber Daisy ist gar nicht lang geblieben. Drei Monate, vielleicht ein bisschen länger.«

»Warum nur so kurz?«

»Sie hat sich nie eingewöhnt. Wir haben es versucht, das müssen Sie uns glauben. Wir haben ihr ein eigenes Zimmer eingerichtet, mit neuen Vorhängen, die ich extra für sie genäht hatte, und schönen Möbeln. Wir haben uns auch bemüht, ihr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, nicht, Ken?«

»Das haben wir.«

»An dem Tag, als sie kam, sagte ich zu ihr: ›Daisy, betrachte dieses Haus als dein Zuhause. Und wenn du Probleme hast, egal, ob groß oder klein, dann komm zu mir.‹«

»Und hat sie es getan? Ich meine, ist sie mit ihren Problemen zu Ihnen gekommen?«

»O nein. Nie. Sie war verschlossen wie eine Auster, dieses Mädchen. Ich wusste schon in der ersten Woche, dass es nicht klappen würde, stimmt’s, Ken?«

»O ja.«

»Sie war eine Einzelgängerin. Ist zum Essen immer in ihr Zimmer gegangen. Alles war voller Krümel. Sie hat sich uns nie angeschlossen oder sich irgendwie bemüht.

Und sie hat schreckliche Dinge über meinen Sohn Bernie gesagt.« Ich hatte Bernie kennen gelernt – einen massigen, etwa siebzehnjährigen Jungen mit einem Totenkopf-aufdruck auf seinem T-Shirt. Er hatte mir die Tür geöffnet.

»Dabei versuchte er bloß, nett zu ihr zu sein.«

»Daisy hat Ihnen also nicht viel darüber erzählt, was in ihrem Leben vor sich ging?«

»Nein. So gut wie gar nichts. Sie war ein verschlossenes kleines Ding.«

»Haben Sie ihre anderen Freunde kennen gelernt?«

»Nein. Sie war viel unterwegs, hat aber nie jemanden mit nach Hause gebracht. Manchmal ist sie die ganze Nacht weggeblieben. Ich habe zu ihr gesagt: ›Daisy, ich habe nichts dagegen, wenn du ausgehst, hier hast du einen Schlüssel, aber du musst mir sagen, wann du zurückkommst.‹ Was aber nicht heißen soll, dass sie sich daran gehalten hat.«

Ich breitete die Fotos vor ihr aus.

»Nein«, sagte sie, nachdem sie sie durchgesehen hatte.

»Ich habe es der Polizei schon gesagt. Natürlich erkenne ich diese Frau wieder, aber nur weil sie im Fernsehen war.«

»Philippa Burton.«

»Was hat eine Frau wie sie mit Daisy zu tun?«

»Sie sind also ganz sicher, dass sie keiner dieser Frauen je begegnet sind?«

»Das habe ich den Polizisten schon gesagt.«

»Vielen Dank, wir wollten bloß ganz sichergehen.«

»Es ist nicht leicht, eine Pflegemutter zu sein, müssen Sie wissen. Sie glauben wahrscheinlich, dass Daisy mir nicht genug am Herzen lag, aber ich habe wirklich mein Bestes gegeben. Es hat mir sehr Leid getan, als ich hörte, was mit ihr passiert ist. ›Das arme kleine Dings habe ich gesagt, nicht wahr, Ken? Aber überrascht hat es mich nicht.«

»Warum nicht?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sie war ein zorniges, unglückliches Mädchen. Kratzbürstig und unhöflich. Sie ging wegen jeder Kleinigkeit in die Luft, rannte oft heulend in ihr Zimmer, warf vor lauter Wut Sachen durch die Gegend. Manchmal hat sie sogar nach den Katzen getreten. Ich habe sie mehrmals dabei erwischt. Sie war am Ende, und irgendwas muss das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Sie glaubte, die ganze Welt wäre gegen sie. Es kam einfach alles zu spät.«

»Was kam zu spät?«

»Wir. Alles, nehme ich an.«

»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte ich und stand auf. Ich wollte raus aus dieser überheizten Küche, weg von den anhänglichen Katzen.

»Wir haben unser Bestes getan.«

»Da bin ich sicher.«

»Aber manchen Menschen kann man nicht helfen.«

»Ich finde schon hinaus.«

»Sie war selbst ihr größter Feind.«

»In gewisser Weise gebe ich mir die Schuld«, erklärte Carol Harman.

»Wer hat sie gefunden?«

»Ich. Meine Leute haben mich gerufen, weil ihre Tür abgesperrt war und sie auf ihr Klopfen nicht reagierte.

Also habe ich mit meinem Hauptschlüssel aufgesperrt und sie gefunden. Sie hatte sich erhängt – aber das wussten Sie ja schon, oder?«

»Ja.«

»Wir wussten, dass sie gefährdet war. Sie hatte sich schon mehrmals mit einem Messer selbst verletzt und zeitweise die Nahrungsaufnahme verweigert. Sie wurde im Heim entsprechend behandelt, bekam Einzelgespräche mit Thera-peuten, solche Sachen. Es hätte nicht passieren dürfen.«

»Sie muss fest entschlossen gewesen sein«, sagte ich.

Ich mochte diese Frau, die nicht versuchte, sich zu rechtfertigen.

»Es war kein Hilferuf.«