Zwölftes Kapitel.

Wladimir Yanof.

Der Leser möge sich jetzt gefälligst um vierzehn Tage, bis zum Anfang dieser Geschichte, zurückversetzen.

Da erscheint ein Mann am östlichen Ufer des Peipussees. In der Nacht wagt er sich über die Eisschollen, die, wirr durch-und übereinander geschoben, die Fläche des Sees bedecken. Eine Patrouille von Zollwächtern, die auf der Spur eines Paschers zu sein glaubt, folgt ihm nach und gibt auf ihn Feuer in dem Augenblicke, wo er für sie hinter Eisblöcken verschwindet. Der Mann bleibt unversehrt und es gelingt ihm, in eine Fischerhütte zu flüchten, worin er sich den Tag über verborgen hält.

Am Abend macht er sich von neuem auf den Weg, muß vor einer Herde Wölfen flüchten und findet Unterschlupf in einer Windmühle, aus der der wackere Müller ihm ein Entweichen ermöglicht. Sehr bald von einer Patrouille des Brigadiers Eck verfolgt, rettet er sich wie durch ein Wunder noch einmal, indem er es wagt, auf hinabtreibende Eisschollen der Pernowa zu springen. Ein Wunder war es gewiß, daß er in dem Schollentreiben des Flusses nicht umgekommen ist, und daß er sich einige Zeit hatte in Pernau aufhalten können, ohne entdeckt zu werden.

Wladimir Yanof ist der Sohn Johann Yanofs, eines alten Freundes Dimitri Nicolefs, der diesem kurz vor seinem Tode sein ganzes Vermögen zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Dieses Depot von zwanzigtausend Rubeln sollte Wladimir Yanof zurückgegeben werden, wenn der Verbannte in seine Heimat zurückkehrte.. vorausgesetzt, daß das jemals der Fall war.

Wir wissen ja, infolge welcher politischen Ereignisse er tief nach dem östlichen Sibirien und nach den Salzbergwerken von Munisinsk verschickt worden war. Das Gericht hatte ihn zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Konnte da seine Verlobte, Ilka Nicolef, noch die Hoffnung hegen, daß er ihr je zurückgegeben werde, daß er eines Tages in seiner Adoptivfamilie, der einzigen, die ihm auf Erden verblieben war, Glück und Ruhe finden werde?…

Nein, wohl kaum; jedenfalls würden sich die beiden niemals wiedersehen, wenn Ilka nicht die Erlaubnis bekam, ihm in die Verbannung zu folgen oder… wenn es ihm nicht gelang, zu entfliehen.

Nach vier qualvollen Jahren ist er aber entflohen und hat die sibirischen und die europäischen Steppen des russischen Reiches unter tausend Schwierigkeiten durchmessen.

So ist er bis Pernau gekommen, wo er hoffte, sich nach Frankreich oder England einschiffen zu können. Dort hat er sich versteckt und die Polizei irre zu führen verstanden, während er nach einem Schiffe spähte, das ihn aufnehmen würde, sobald die Ostsee genügend eisfrei geworden wäre.

In Pernau angelangt, sah sich Wladimir Yanof aber am Ende seiner Mittel. Er schrieb deshalb an Dimitri Nicolef, und dieser Brief war es gewesen, der den Lehrer zu seiner Reise veranlaßte, um dem Sohne die ihm von dessen Vater anvertrauten Gelder auszuhändigen.

Hatte Nicolef vor seiner Reise weder gegen seine Tochter, noch gegen seine Freunde etwas erwähnt, so geschah das, weil er sich erst von der Anwesenheit Wladimirs in Pernau überzeugen wollte, und heimgekehrt, schwieg er ebenso, weil der Verbannte ihn hatte schwören lassen, Ilka von seinem Verstecktsein in Pernau nichts zu sagen, jedenfalls nicht eher, als bis ein zweiter Brief ihm meldete, daß der Flüchtling im Auslande und in Sicherheit sei.

Dimitri Nicolef hatte Riga also heimlich verlassen. Seinen Platz in der Post bezahlte er bis nach Reval, um niemand vermuten zu lassen, wohin er sich begäbe, er hatte sich aber von Anfang an vorgenommen, die Post in Pernau zu verlassen, wo er im Abenddunkel einzutreffen hoffen durfte, und ohne den Wagenunfall zwanzig Werst vor seinem Ziele wäre die Fahrt ja auch in erwünschtester Weise verlaufen.

Wir wissen schon, welch beklagenswerte Verkettung von Umständen den Plan Dimitri Nicolefs vereiteln sollte. In Gesellschaft mit dem Bankbeamten hatte er eine Nacht im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« zubringen müssen. Von hier war er um vier Uhr morgens aufgebrochen, um nach Pernau zu wandern, da ihm das ratsamer erschien, als die Rückkehr des Postschaffners abzuwarten und jetzt… jetzt beschuldigte man ihn, seinen Reisegenossen ermordet zu haben!

Als Dimitri Nicolef die Schenke an der Landstraße verließ, war es noch völlig finster, und in der Hoffnung, ungesehen zu bleiben, eilte er auf dem noch ganz verlassenen Wege nach Pernau. Nach zweistündiger schneller Wanderung traf er mit Sonnenaufgang in Pernau ein und begab sich sofort nach dem Gasthause, wo Wladimir unter falschem Namen wohnte.

Welche Freude für die beiden Männer, einander nach so langer Trennung, nach so schweren Prüfungen und so vielen Gefahren wiederzusehen!

Fand hier nicht ein Vater gleichsam seinen Sohn wieder? Nicolef übergab Wladimir ein wohlverschlossenes Paket, das Johann Yanofs gesamtes Vermögen enthielt, und da ihm danach verlangte, der Einschiffung des Entwichenen beizuwohnen, blieb er zwei Tage bei diesem. Die Abfahrt des Schiffes, auf dem Wladimir Yanof Passage genommen hatte, verzögerte sich aber unerwarteterweise, und da Dimitri Nicolef kaum länger fern zu bleiben wagen durfte, mußte er nach Riga zurückkehren. Der junge Mann trug ihm die zärtlichsten Grüße an Ilka auf, ließ ihn dabei aber hoch und teuer versprechen, seiner Verlobten von seiner Flucht nicht eher Mitteilung zu machen, als bis er vor der schrecklichen moskowitischen Polizei sicher in Schutz wäre. Er würde ihm schreiben, sobald er das melden könnte, und vielleicht konnte der Lehrer dann mit Ilka zu ihm kommen.

Nicolef umarmte Wladimir, verließ Pernau und traf in der Nacht vom 16. zum 17. wieder in Riga ein, natürlich ohne eine Ahnung von der furchtbaren Anklage, die man gegen ihn erhoben hatte.

Dem Leser ist bekannt, mit welch stolzem Selbstbewußtsein der Lehrer diese Beschuldigung zurückwies oder sie vielmehr verachtete, welche Haltung er vor dem Untersuchungsrichter bewahrte; ebenso wie der Beamte dringend darauf bestand, daß Nicolef sich über den Zweck seiner Reise äußern und angeben sollte, wohin er sich von der Schenke »Zum umgebrochenen Kreuze« begeben habe. Dimitri Nicolef verweigerte darüber aber jede Auskunft. Er wollte davon nicht eher sprechen, als bis er aus einem Briefe Wladimirs erfahren hätte, daß sich der Verbannte in Sicherheit befände. Ein solcher Brief kam leider nicht an, und wir wissen ja, mit welcher Ungeduld ihn Nicolef die beiden letzten Tage erwartete. Jetzt aber, wo er, verdächtigt durch sein hartnäckiges Schweigen, das er nicht brechen wollte, von seinen politischen Gegnern mit unerbittlichem Hasse verfolgt und von der wütenden Volksmenge mit dem Tode bedroht, in Haft genommen werden sollte, jetzt erschien Wladimir Yanof selbst auf der Bildfläche.

Und jetzt wußten alle, wer er war, dieser Verbannte, der nach Riga hergeeilt war. Als die Haustür sich öffnete, fiel Wladimir Yanof dem Dimitri Nicolef in die Arme, er drückte die Verlobte stürmisch an sein Herz, umarmte Jean, drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten und erklärte angesichts des Obersten und des Majors Verder, die ihm auf dem Fuße gefolgt waren:

»Ja… in Pernau war ich… doch als ich dort hörte, welchen Verbrechens Nicolef geziehen worden sei, als ich vernahm, man beschuldige ihn, der Urheber des Verbrechens im ‘Umgebrochenen Kreuze’ zu sein, als die Tagesblätter verkündigten, daß er sich weigerte, die Veranlassung zu seiner Reise anzugeben, obwohl er nur ein Wort zu sagen, nur einen Namen, den meinigen, zu nennen brauchte, sich zu rechtfertigen, und daß er das dennoch nicht tat, um mich nicht zu gefährden, da habe ich nicht länger zögern können, habe ich eingesehen, was meine Pflicht war, und habe Pernau verlassen, und da bin ich nun hier!… Was du für mich hast tun wollen, Dimitri Nicolef, du, der bewährte Freund Johann Yanofs und mein zweiter Vater, das beschloß ich, für dich zu tun.

– Und daran hast du unrecht getan, Wladimir… schwer unrecht, Wladimir!… Ich bin ja unschuldig, hatte nichts zu fürchten und befürchtete auch nichts; meine Schuldlosigkeit mußte doch bald an den Tag kommen.

– Ich… ich hätte nicht recht gehandelt, Ilka? wendete sich Wladimir an Ilka.

– Antworte darauf nicht, mein Kind, sagte Nicolef, du bist nicht berufen, zwischen deinem Vater und deinem Verlobten eine Entscheidung zu fällen. Ich achte dich hoch, Wladimir, wegen dessen, was du tun zu müssen glaubtest, doch ich tadle dich, weil du es getan hast. Bei besserer Überlegung würdest du begriffen haben, daß es wichtiger gewesen wäre, erst dich in Sicherheit zu bringen. Von da aus hättest du geschrieben, und nach Empfang deines Briefes würde ich gesprochen, würde ich die Gründe zu meiner Reise dargelegt haben. Konnte ich denn nicht mehr die wenigen Tage schwerer Prüfung auf mich nehmen, damit du erst Schutz vor weiterer Gefahr fändest?

– Liebster Vater, fiel da Ilka mit fester Stimme ein, du wirst eine Antwort von mir doch anhören müssen. Was auch kommen möge: Wladimir hat ehrenhaft und recht gehandelt, und mein ganzes Leben wird nicht ausreichen, ihm den Dank dafür abzutragen.

– O, Dank… tausend Dank, Ilka! rief Wladimir. Ich bin schon dadurch belohnt genug, daß ich es deinem Vater ersparen konnte, seine Ehre auch nur einen Tag länger angezweifelt zu sehen!«

Nach dem mannhaften Auftreten Wladimir Yanofs mußte die Schuldlosigkeit Dimitri Nicolefs ja ohne weiters anerkannt werden. Die Nachricht davon war sofort nach außen gedrungen. Daß die Herren Johausen ihr mit gehässiger Starrsinnigkeit keinen Glauben beimessen wollten, daß der Major Verder einen Slawen nur mit Bedauern von der gegen ihn erhobenen Anklage befreit sah, daß die Freunde des Bankiers dem unerwarteten Zwischenfall gegenüber noch allerlei Bedenken trugen, ist ja kaum zu verwundern, und es wird sich bald zeigen, ob sie schon die Waffen vor dem gestreckt hatten, was eigentlich so gut wie ein Beweis war.

Es ist ja aber bekannt, mit welcher, oft unlogischen und auch oft nicht dauernden Schnelligkeit sich ein Umschwung der öffentlichen Meinung vollzieht, und das kam auch im vorliegenden Falle zum Vorschein. Jetzt war schon nicht mehr davon die Rede, Dimitri Nicolefs Haus zu stürmen… alle Köpfe hatten sich beruhigt, und die Polizei hatte nicht mehr nötig, über die Sicherheit des Lehrers zu wachen.

Zunächst galt es nur noch zu entscheiden, was mit Wladimir Yanof geschehen sollte. Hatte ihn auch nur sein Ehrgefühl, sein geschärftes Pflichtbewußtsein nach Riga geführt, so blieb er dennoch ein politisch verurteilter Flüchtling aus den Bergwerken Sibiriens.

 

Er hat die Steppen des russischen Reiches durchmessen. (S. 173.)

Er hat die Steppen des russischen Reiches durchmessen. (S. 173.)

 

Dem gab auch der Oberst Raguenof mit einer Stimme Ausdruck, worin sich offenbares Wohlwollen mit einer gewissen Zurückhaltung des moskowitischen Beamten und Chefs der Polizei mischte.

»Wladimir Yanof! sagte er, Sie haben die Acht gebrochen und das muß ich dem Gouverneur dienstlich melden. Ich werde jetzt also den General Gorko aufsuchen, sehe aber kein Hindernis, Sie bis zu meiner Rückkehr in diesem Hause zu lassen, wenn Sie Ihr Wort verpfänden, inzwischen keinen Fluchtversuch zu unternehmen.

– Mein Wort darauf, Herr Oberst,« antwortete Wladimir.

Der Oberst Raguenof ließ Eck mit dessen Mannschaft auf der Straße und machte sich sofort auf den Weg.

Wir dürfen es wohl unterlassen, die rührende Szene zu schildern, die sich jetzt zwischen Jean, Ilka und Wladimir abspielte. Der Doktor Hamine und der Konsul Delaporte hatten die Überglücklichen allein gelassen. Das war eine kurze Zeit des Glücks, wie es die Familie des Lehrers seit langer Zeit nicht mehr kannte. Die Drei sahen einander ja endlich wieder, sprachen miteinander und schmiedeten fast schon Zukunftspläne. Niemand dachte augenblicklich an die Lage Wladimir Yanofs, an seine frühere Verurteilung und ebensowenig an die Folgen seiner Flucht, die ja recht schlimme sein konnten.

Nach einer Stunde kam der Oberst Raguenof zurück.

»Auf Befehl des Generals Gorko, begann er, an Wladimir gewendet, werden Sie sich nach der Feste von Riga begeben und dort die weiteren Maßnahmen abwarten, deren Anordnung man von Petersburg erbitten wird.

– Ich bin bereit zu gehorchen, Herr Oberst, erklärte Wladimir Yanof ruhig. – Gott befohlen, lieber Vater, sagte er zu Nicolef, lebe wohl, mein Bruder – zu Jean – und die Hand Ilkas ergreifend: Gott behüte dich, herzliebe Schwester…

– Nein… dein Weib!« antwortete das junge Mädchen.

Dann kam die Trennung… wer hätte wissen können, für wie lange?

Von diesem Tage an wendete sich das außerordentliche Interesse an dieser noch lange nicht abgeschlossenen Angelegenheit fast ausschließlich dem Verbannten zu, der nicht gezögert hatte, zur Entlastung des Angeschuldigten seine Freiheit, ja – er galt ja als politischer Verbrecher – sein Leben aufs Spiel zu setzen. Es wäre wahrlich schwer gewesen, seine Handlungsweise nicht zu bewundern, wie man daneben auch über Dimitri Nicolef denken mochte. Selbst im Lager der Gegner priesen vorzüglich die Frauen um die Wette den hohen Edelmut, der Wladimir Yanof bei seinem Tun geleitet hatte. Ein wenig erweckte deren Teilnahme für ihn wohl auch seine Liebe zu Ilka, und das grausame Schicksal, gerade da voneinander gerissen zu werden, wo beide für immer verbunden werden sollten. Jetzt fragte man sich nun besorgt, was der Kaiser in diesem Falle beschließen und ob man den Flüchtling nach Sibirien zurückschicken werde, das dieser unter so vielen Mühseligkeiten und Gefahren – freilich als Bannbrüchiger – verlassen hatte. Würde seine Verlobte nach dem Glücke des so kurzen Wiedersehens verurteilt sein, ihn für immer zu betrauern?… Wenn er die Feste von Riga wieder verließ, würde ihm da seine hochsinnige Tat eine Begnadigung erwirkt haben oder sollte er dann nochmals den Dornenweg in die Verbannung zurücklegen?

Immerhin wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß das unerwartete Auftreten Wladimir Yanofs alle von der Unschuld Dimitri Nicolefs überzeugt hätte.

Hier in Riga mit seiner vorwiegend germanischen Bevölkerung konnte das ja kaum anders sein. Vorzüglich die oberen Gesellschaftsklassen gestanden noch keineswegs zu, daß dieser Lehrer, der Vertreter der slawischen Interessen, schon von dem auf ihm lastenden Makel gereinigt sei. Die Tageszeitungen dieser Partei wußten mit erkennbar böswilliger Absicht noch immer das und jenes dagegen einzuwenden. Zunächst war der Mörder Pochs ja noch unentdeckt… man hatte nur ein Opfer, das nach Vergeltung schrie, vor allem durch den Mund der haßerfüllten und unbeugsamen Gegner des moskowitischen Einflusses.

Das Haus der Gebrüder Johausen bildete den Herd, wo dieser Haß am hellsten aufloderte, und hier war man übereingekommen, ihn nicht verlöschen zu lassen.

In diesen Kreisen hatte man gleichsam als Tagesbefehl die Forderung aufgestellt, vorstellig zu werden gegen die Beamten, die in dieser Angelegenheit nicht mit der nötigen Schärfe aufträten. Man scheute sich selbst nicht, daneben durchblicken zu lassen, daß sie unter einem gewissen Druck von oben ständen. War denn Dimitri Nicolef wirklich schon gänzlich außer Verfolgung gesetzt?… Wagte man zu behaupten, daß seine Schuldlosigkeit von niemand mehr angezweifelt würde? Zerstörte das Erscheinen Wladimir Yanofs wohl tatsächlich alle Handhaben, die durch die bisherige Untersuchung des Falles gewonnen worden waren?

Auch Frank Johausen teilte die Ansicht der meisten, vorzüglich der Leute die sich ihre Beute auf keinen Fall entgehen lassen wollten.

»Jetzt weiß man ja, warum Nicolef jene Reise unternommen hatte; er wollte mit Wladimir Yanof in Pernau zusammentreffen… nun ja, das mag auch zugegeben werden. Daß er die Schenke schon früh um vier Uhr verließ, geschah, um Pernau zu Fuß noch zeitig am Morgen zu erreichen… auch das mag richtig sein. Doch hat er die Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ zugebracht?… Ja oder nein?… Ist Poch in derselben Nacht in dem genannten Kabak ermordet und dann beraubt worden?… Ja oder nein?… Kann der Mörder ein anderer sein als der Reisende, der das Zimmer inne hatte, wo das Werkzeug gefunden wurde, mit dem er sich in das Zimmer des Unglücklichen gewaltsam Zugang verschaffen hat?… War dieser Reisende Dimitri Nicolef?… Ja oder nein?«

In dieser Weise gestellte Fragen mußten ja wohl oder übel eine bejahende Antwort finden. Doch wenn man nun anders fragte, z.B.: Hätte das Verbrechen nicht auch von einem von außen eingedrungenen Übeltäter begangen werden können?… Ja oder nein?… Könnte das nicht ebensogut der Herbergswirt Kroff gewesen sein?… Ja oder nein?… Würde es diesem – vor oder nach dem Weggange des Lehrers – nicht weit leichter als Nicolef gewesen sein, Poch, als dieser schlief, meuchlings zu überfallen?… Ja oder nein?… Wußte dieser Kroff nicht, daß die Mappe des Bankbeamten eine beträchtliche Summe enthielt?… Wie da?…

Die Untersuchung erteilte hierauf zwar die Antwort, daß sich beim Verhör keinerlei Verdachtsgründe gegen den Schenkwirt ergeben hätten, doch diese Antwort brauchte noch nicht unfehlbar richtig zu sein. Anderseits verschloß sich die Behörde ja auch nicht der Annahme, daß der Urheber des Verbrechens einer jener Landstreicher gewesen sein könnte, deren Auftreten gerade aus dem oberen Livland mehrfach gemeldet worden war.

Daran dachte auch der Oberst Raguenof, als er sich am nächsten Tag über die Angelegenheit mit dem Major Verder besprach, freilich ohne daß beide, wie man sich leicht denken kann, darüber zu einer Verständigung kamen.

»Sehen Sie, Major, sagte Raguenos, daß Nicolef in der Nacht durch das Fenster seiner Stube gestiegen wäre, um in die Pochs einzudringen, das erscheint mir doch als eine recht unbegründete Annahme…

– Aber die Spuren… die Schmarren der Fensterbank… unterbrach ihn der Major.

– Diese Spuren?… O, da müßte man doch zunächst wissen, ob es ganz frische waren, und das ist ja in keiner Weise nachgewiesen. Der Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ liegt völlig vereinsamt an der Landstraße. Ist da die Möglichkeit ausgeschlossen, daß so ein Strauchdieb in jener oder in einer anderen Nacht versucht hätte, da mit Gewalt einzudringen?

– Dazu erlaube ich mir zu bemerken, Herr Oberst, daß der Mörder dann hätte wissen müssen, daß hier ein reicher Fang zu machen wäre. Davon war aber Nicolef hinreichend unterrichtet…

– Und andere nicht minder, fiel der Oberst Raguenos eifrigst ein, denn Poch war so unüberlegt gewesen, davon zu sprechen und seine Mappe jedermann sehen zu lassen. Wußte das Kroff also etwa nicht, oder Broks, der Postschaffner und ebenso dessen Jemschiks, die den Wagen von einem Pferdewechsel zum anderen führten, ganz zu schweigen von den Bauern und Holzfällern, die in der Gaststube der einsamen Schenke saßen, als Nicolef und der Bankbeamte durch deren Tür eintraten?»

Diesen Einwänden ließ sich ein gewisser Wert nicht wohl absprechen. Der Verdacht konnte nicht einzig und allein auf Dimitri Nicolef fallen. Mindestens hätte noch nachgewiesen werden müssen, daß der Privatlehrer sich in so bedrückender Geldverlegenheit befunden habe, daß er, um dieser abzuhelfen, nicht einmal vor einem Raube und gleichzeitig einem Morde zurückgeschreckt wäre.

Trotz alledem wollte der Major sich nicht fügen, sondern beharrte bei seiner Überzeugung von der Schuld Nicolefs.

»Und ich, antwortete ihm darauf der Oberst, ich bleibe dabei, daß die Deutschen immer Deutsche sind.

– Wie die Slawen immer und allezeit Slawen, erwiderte der Major.

– Nun, lassen wir den Richter Kerstorf seine Untersuchung fortsetzen, sagte schließlich der Oberst Raguenof. Wenn die Sache vollständig aufgeklärt ist, wird es noch Zeit sein, das Für und das Wider abzuwägen.«

Der Kriminalbeamte, der sich durch die von politischer Leidenschaft bestimmte öffentliche Meinung nicht im geringsten beeinflussen ließ, betrieb inzwischen die Untersuchung der Angelegenheit mit größter Sorgfalt. Er kannte jetzt – worüber der Lehrer vorher jede Auskunft verweigert hatte – die Gründe für dessen Reise, und das bestärkte ihn in seinem Widerstreben, den Ehrenmann für schuldig zu halten. Wer hatte dann aber das Verbrechen begangen? Wie viele Zeugen hatte er schon aufgerufen: die Postillone, die den Wagen von Riga bis Pernau begleitet hatten, die Bauern und Waldarbeiter, die, als Poch eintraf, in der Schenke beim Abendtrunk saßen, überhaupt alle, die davon wußten oder wissen konnten, was der Bankbeamte in Reval vorhatte, d. h. daß er dort für Rechnung der Gebrüder Johausen einen größeren Geldbetrag abliefern wollte… und doch hatte sich nichts ergeben, was den einen oder den andern belastet hätte.

Der Schaffner Broks wurde wiederholt einem Verhör unterzogen. Besser als jeder andere kannte er alle Verhältnisse Pochs und wußte, daß dieser eine große Summe baren Geldes bei sich hatte. Gegen den wackeren Mann konnte aber auch nicht der leiseste Verdacht aufkommen. Nach dem Unfalle mit dem Postwagen hatte er sich mit den Spannpferden und dem Postillon sofort nach Pernau begeben und dort in der Pferdewechselstelle geschlafen… das stand außer allem Zweifel. Das Alibi war nachgewiesen, und er konnte in der dunkeln Angelegenheit nicht weiter in Betracht kommen.

Das Eingreifen eines Übeltäters, der von draußen gekommen wäre, erschien also so gut wie ausgeschlossen. Wie hätte auch ein Landstreicher, ein Mensch ohne jede Beziehung zu dem Bankbeamten, auf den Gedanken kommen sollen einen Diebstahl zu begehen, wenn er nicht etwa auf irgend eine Weise in Riga erfahren hatte, mit welcher Art Besorgung Poch beauftragt wäre. Dann müßte er diesem aber auch noch mit der Schnellpost nachgeeilt sein, um eine günstige Gelegenheit abzupassen, und müßte sich den Unfall zunutze gemacht haben, der Poch nötigte, im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« Unterkunft zu suchen.

War eine solche Annahme immerhin denkbar, so lag die Wahrscheinlichkeit doch weit näher, daß das Verbrechen von dem einen oder anderen derer begangen worden wäre, die jene Nacht in der Schenke zugebracht hatten. Dabei kamen aber nur der Schenkwirt selbst und Dimitri Nicolef in Frage.

Seit dem traurigen Vorfalle war Kroff, wie der Leser weiß, unter Überwachung zweier Polizisten im Kabak geblieben. Wiederholt dem Untersuchungsrichter vorgeführt, hatte er mehrere lange und eingehende Verhöre bestanden, doch hatte weder sein Vorleben noch das, was er auf Kerstorfs Fragen antwortete, den leisesten Verdacht gegen ihn aufkommen lassen. Im übrigen vertrat er ebenfalls die Ansicht, daß Dimitri Nicolef der Mörder sein müsse, da es diesem am leichtesten gewesen wäre, das Verbrechen zu begehen.

»Und Sie haben in der Nacht keinerlei Geräusch gehört? fragte ihn der Beamte.

– Nicht das geringste, Herr Richter.

– Es hat aber doch das erste Fenster geöffnet und das zweite sogar aufgesprengt werden müssen…

– Gewiß, doch meine Stube liegt nach dem Hofe hinaus, antwortete Kroff, und die Fenster der zwei anderen Stuben befinden sich an der Straßenseite des Hauses. Außerdem schlief ich jedenfalls fest und dazu tobte jene Nacht ein schrecklicher Sturm, bei dem kaum etwas anderes hörbar gewesen wäre.«

Während Kroff diese Aussagen machte, behielt der Richter ihn scharf im Auge; doch obgleich er gegen den Schenkwirt im Grunde etwas eingenommen war, fiel ihm gar nichts auf, was die Wahrheitsliebe des Mannes hätte anzweifeln lassen.

Nach dem Verhöre begab sich Kroff unbehelligt wieder auf den Weg nach dem »Umgebrochenen Kreuze«. Selbst wenn er schuldig war, erschien es ja besser, ihn bei fortdauernder Beobachtung in Freiheit zu lassen. Vielleicht verriet er sich da selbst auf die eine oder andere Weise.

Vier Tage waren verflossen, seit man Wladimir Yanof in der Feste von Riga zur Hast gebracht hatte.

Auf besonderen Befehl des Gouverneurs war ihm hier ein Zimmer eingeräumt worden, überhaupt begegnete man ihm mit der Rücksicht, die seine Lage und seine Handlungsweise verdienten. Der General Gorko bezweifelte nicht, daß diese Vergünstigungen selbst höheren Ortes gutgeheißen würden, welchen Ausgang die Sache für Wladimir Yanof auch nehmen möchte.

Dimitri Nicolef, dessen Gesundheit von den schweren Kränkungen der letzten Tage doch so weit gelitten hatte, daß er sich aufs Zimmer beschränkt sah, hatte ihn nicht, wie es sein Wunsch war, sehen können. Der Familie Nicolef und den näheren Freunden Wladimir Yanofs war nämlich der Zutritt zu dem Gefängnisse gestattet worden. Jeden Tag begaben sich Jean und Ilka nach der Feste, wo man sie ohne weiteres bei dem Gefangenen einließ. Hier wurden lange und vertrauliche Gespräche geführt, in denen auch wieder eine frohere Hoffnung zum Durchbruch kam. Ja, der Bruder und die Schwester glaubten an die Hochherzigkeit des Kaisers… sie wollten nun einmal daran glauben!… Seine Majestät konnte nicht unempfänglich sein für die Bitten der unglücklichen Familie, die seit einiger Zeit unter so schweren Schicksalsschlägen seufzte. Nein, Wladimir und Ilka würden nicht nochmals durch tausende von Meilen, und vor allem nicht durch jene Verurteilung auf Lebenszeit voneinander getrennt sein, die ja noch schrecklicher war, als die weite Entfernung zwischen den Liebenden. Endlich würde doch, wenn Wladimir vom Kaiser begnadigt würde, die Vermählung der beiden erfolgen können. Es verlautete überdies, daß der Gouverneur sich für die Niederschlagung des früheren Urteils verwendete. Die eigentümliche Stellung Dimitri Nicolefs in Riga, gerade jetzt am Vorabend der städtischen Wahlen und in einer Zeit, wo die Regierung bestrebt war, die Munizipalverwaltung in den baltischen Provinzen zu russifizieren… alles traf zusammen, für den Flüchtling einen vollständigen Straferlaß erwarten zu können.

Am 24. April verließ Jean, nach herzlicher Verabschiedung von Yanof, von seinem Vater und seiner Schwester, Riga wieder, um sich nach Dorpat zu begeben. Hier gedachte er, den man als den Sohn eines Mörders behandelt hatte, die Universität mit hochgehaltener Stirn zu betreten.

Es ist wohl kaum nötig, den Empfang zu schildern, den er bei seinen Kameraden überhaupt, besonders warm aber bei Gospodin und der Korporation fand, der er angehörte. Ebensowenig aber braucht hervorgehoben zu werden, daß die übrigen Studenten, die Gefolgschaft Karl Johausens, noch keineswegs die Waffen gestreckt hatten. Alles deutete also darauf hin, daß es hier – wie man sagt – noch zu einem Krach kommen werde.

Das traf denn auch schon am Tage nach der Rückkehr Jean Nicolefs ein.

Jean hatte von Karl für dessen Beleidigungen Satisfaktion verlangt, und dieser erschwerte sie noch durch die Weigerung, sich mit ihm zu schlagen.

Da versetzte Jean ihm einen Schlag ins Gesicht. Der Zweikampf war nun unvermeidlich geworden, und Karl Johausen wurde dabei ziemlich schwer verwundet.

Welche Wirkung das Duell hatte, als die Nachricht davon nach Riga gedrungen war, kann man sich wohl leicht ausmalen. Herr und Frau Johausen reisten sofort ab, ihren vielleicht gar tödlich getroffenen Sohn zu pflegen. Als sie wieder heimkehrten, entbrannte der Streit mit den Erzfeinden natürlich mit um so größerer Wut.

Fünf Tage später traf übrigens die Wladimir Yanof betreffende Antwort von Petersburg ein.

Man hatte alle Ursache, auf den Edelmut des Kaisers zu zählen. In der Tat wurde der Verbannte, der aus den Bergwerken Sibiriens entflohen war, rückhaltlos begnadigt, und Wladimir Yanof infolgedessen sofort in Freiheit gesetzt.

Dreizehntes Kapitel.

Zweite Hausdurchsuchung.

Die Begnadigung Wladimir Yanofs machte nicht nur in Riga, sondern auch in allen baltischen Provinzen ein ungeheures Aufsehen. Man erkannte darin den Beweis, daß die Regierung ihr Einverständnis mit den antigermanischen Bestrebungen kundgeben wolle. Die arbeitende Bevölkerung gab ihrer Freude darüber unverhohlen Ausdruck. Der Adel und die höhere Bürgerschaft bemängelten die unangebrachte Milde des Kaisers, die, nachdem sie Wladimir Yanof zuteil geworden war, sich jedenfalls auch zugunsten Dimitri Nicolefs geltend machen werde. Gewiß hatte das edelmütige Verhalten des Flüchtlings, der sich seinen Häschern selbst überlieferte, diese Begnadigung und damit seine völlige Rehabilitation, die Wiedereinsetzung in alle bürgerlichen Ehrenrechte verdient, die dieser durch seine politische Verurteilung verloren hatte. Erschien sie aber nicht wie ein wohlberechneter Einspruch gegen die auf dem Lehrer lastende Anklage, gegen die Beschuldigung eines bis dahin ehrenwerten und allgemein verehrten Bürgers, der von der slawischen Partei für die bevorstehenden Wahlen als deren Vertreter ins Auge gefaßt war?

In dieser Weise wurde die kaiserliche Entscheidung wenigstens beurteilt, und der General Gorko machte auch kein Hehl aus seiner damit übereinstimmenden Anschauung.

 

Jeden Tag begaben sich Jean und Ilka nach der Feste. (S. 183.)

Jeden Tag begaben sich Jean und Ilka nach der Feste. (S. 183.)

 

Wladimir Yanof verließ die Rigaische Feste in Begleitung des Obersten Raguenof, der selbst herbeigeeilt war, ihm den Ukas des Zaren mitzuteilen. Er begab sich sofort zu Dimitri Nicolef, und Ilka und ihr Vater erfuhren, da die Neuigkeit bis dahin geheim gehalten worden war, die frohe Botschaft aus seinem eigenen Munde.

Welche Freude, welch innige Dankbarkeit erfüllte da das bescheidene Haus, in das das Glück endlich wieder Einzug zu halten schien!

Fast gleichzeitig mit dem Begnadigten trafen auch der Doktor Hamine, Herr Delaporte und einige Freunde der Familie ein. Wladimir wurde beglückwünscht und von allen herzlich umarmt. Wer dachte in diesem Augenblick an die Beschuldigungen, die noch auf dem Herrn des Hauses ruhten?

»Und wenn Sie auch verurteilt worden wären, sagte Delaporte zu dem Lehrer, von uns würde keiner an Ihrer Unschuld gezweifelt haben!

– Verurteilt! rief der Doktor. Hätte er überhaupt jemals verurteilt werden können?

– Doch wenn ihm das ungerechterweise widerfahren wäre, erklärte Ilka, so würden Wladimir, Jean und ich unser ganzes Leben darangesetzt haben, deine Rehabilitation, liebster Vater, herbeizuführen.«

Dimitri Nicolef, dessen Gesicht durch die Vorgänge der letzten Tage ganz erbleicht war, konnte augenblicklich keine Worte finden. Er fragte sich vielleicht, was man von der unsicherern menschlichen Gerechtigkeit nicht alles erwarten könne. Es gibt ja leider so viele Beispiele ungerechter und oft nicht wieder gut zu machender Urteilssprüche.

Der Abend vereinte die nächsten Freunde Wladimirs und Nicolefs am Teetische. Wie schlugen da die Herzen höher, wie laut erschallten da die Ausbrüche teilnehmender Freude, als Ilka einfach sagte:

»Ich will dein Weib sein, Wladimir sobald du es wünschest!«

Die Hochzeit wurde auf sechs Wochen vom heutigen Tage an festgesetzt, und inzwischen räumte man Wladimir ein Zimmer im Erdgeschoß des Hauses ein. Die Vermögensverhältnisse der beiden Verlobten waren bekannt. Ilka besaß so gut wie nichts und bisher hatte Nicolef auch über seine Lage, über die Verpflichtung gegen die Firma Johausen wegen der Schulden seines Vaters geschwiegen. Strenge Sparsamkeit hatte es ihm ermöglicht, ein gutes Teil davon abzutragen, und er hoffte noch immer, auch den Rest bezahlen zu können. Deshalb hatte er seinen Kindern nichts davon gesagt, und deshalb wußten diese also nicht, daß der letzte Betrag von achtzehntausend Rubeln nach vierzehn Tagen fällig sein würde. Jetzt mußte er sich wohl zu einer Eröffnung der Sachlage entschließen. Wladimir konnte über eine, die Familie so arg bedrohende Gefahr nicht in Unwissenheit gelassen werden. Diese Mitteilung war jedenfalls nicht dazu angetan, seine Gefühle für das junge Mädchen zu ändern. Mit der für ihn hinterlegten und ihm von Dimitri Nicolef ausgehändigten Summe würde er ja alles abzuwarten und durch Fleiß und Intelligenz auch für die Zukunft zu sorgen wissen.

War die Familie Nicolef jetzt glücklich, ja glücklicher, als sie es je wieder zu werden gehofft hatte, so war in der Familie Johausen ganz das Gegenteil der Fall. Wohl konnte man dort erwarten, daß der schwer verletzte Karl durch gute Pflege mit der Zeit wieder genesen würde, und es war jetzt auch schon möglich gewesen, ihn nach Riga überzuführen. In dem Kampfe aber, den Frank Johausen gegen den Lehrer führte, den er bereits vernichtet zu haben glaubte, fühlte der reiche Mann den Sieg ihm entschwinden. Es gewann mehr und mehr den Anschein, als ob die schrecklichen Waffen, deren sich zu bedienen sein Haß nicht gezögert hatte, ihm unter den Händen zerbrächen. Die Geldverlegenheit seines Rivalen, dessen Schuld am Verfallstage voraussichtlich nicht beglichen wurde… das war noch das einzige, was ihm übrig blieb, seinen politischen Gegner zu vernichten.

Die öffentliche Meinung – vor allem die Anschauung der Leute, die an der Sache nicht beteiligt waren und ohne Voreingenommenheit urteilten – neigte sich jetzt mehr und mehr dahin, an die Unschuld Dimitri Nicolefs zu glauben.

Dagegen häufte sich der Verdacht eher auf den Inhaber des Kabaks »Zum umgebrochenen Kreuze«.

Schloß man einmal das Eingreifen eines Übeltäters von außen her aus, so blieb der Verdacht tatsächlich zunächst an Kroff haften. Ob sein Vorleben für oder gegen den Mann sprach?… Eigentlich war weder das eine noch das andere der Fall. Kroff stand in dem Rufe eines ungebildeten und gewinnsüchtigen Mannes. Wenig gesprächig, stets verschlossen, lebte er allein, ohne Familie in der vereinsamt liegenden, gewöhnlich nur von Bauern und Waldarbeitern besuchten Schenke. Sein Vater und seine Mutter, die von deutscher Herkunft waren, jedoch – was in den baltischen Provinzen nicht so selten ist – der orthodoxen Kirche angehörten, hatten von dem Ertrage dieser Schenke nur recht ärmlich leben können. Das Haus und das eingezäunte Gärtchen… das war alles, was er von ihnen geerbt hatte und was auf keinen Fall den Wert von tausend Rubeln überstieg. Kroff hauste hier als Hagestolz, ohne Knecht oder Magd, verrichtete alle vorkommenden Arbeiten persönlich und verließ seine Schenke nur, wenn er sich in Pernau mit neuen Vorräten versorgen wollte.

Der Richter Kerstorf hatte einen gewissen Verdacht gegen den Schenkwirt noch niemals aufgegeben. Niemand wußte freilich, ob dieser begründet war und ob Kroff ihn nicht hatte dadurch von sich ablenken wollen, daß er den mit dem Bankbeamten eingetroffenen Reisenden beschuldigte. Er konnte es ja auch selbst gewesen sein, der die Schrammen am Zimmerfenster eingeritzt und das Schüreisen nach dem Aufbrechen des Ladens wieder in den Kamin gestellt hatte, er konnte der Urheber des Verbrechens sein, ob dieses nun vor oder nach dem Weggange Dimitri Nicolefs verübt worden war, auf den sich, dank den listigen Maßregeln des Schenkwirtes, dann die Aufmerksamkeit der Behörden in erster Linie hinlenken mußte. Immerhin zeigte sich eine neue, der Verfolgung werte Fährte, die vielleicht zum Ziele führte, wenn man vorsichtig vorging.

Nachdem Dimitri Nicolef seit dem Auftauchen Wladimir Yanofs bezüglich des noch unaufgeklärten Falles kaum noch in Frage kam, mußte Kroff ja fürchten, daß seine eigene Lage nicht mehr so ganz klar und sicher war. Auf jeden Fall mußte der Urheber des Verbrechens ermittelt werden, und da konnte er jedenfalls noch einmal in Untersuchung gezogen werden.

Nach der Mordtat hatte der Schenkwirt bekanntlich sein Haus nur verlassen, als er sich nach dem Amtszimmer des Untersuchungsrichters begab. Obwohl er eigentlich frei war, fühlte er sich doch argwöhnisch überwacht von den Polizisten, die Tag und Nacht nicht aus dem Kabak wichen. In die verschlossenen Zimmer des Reisenden und Pochs, zu denen sich die Schlüssel in der Verwahrung der Kriminalpolizei befanden, hatte bisher niemand eintreten können. Darin stand und lag also alles noch ebenso, wie bei der ersten Aufnahme des Tatbestandes.

Wenn Kroff jedem, der es hören wollte, erklärte, die Untersuchung sei auf einen Abweg geraten, als sie die gegen Nicolef erhobene Anschuldigung fallen ließ, wenn er versicherte, der Reisende sei der wirkliche Schuldige, wenn er nicht aufhörte, diesen gegenüber dem Richter Kerstorf zu belasten, und er darin von den Feinden des Lehrers noch bestärkt wurde… wenn dessen Freunde anderseits das Verbrechen dem Schenkwirt zuschoben, so zeugt das alles dafür, daß die Lage bezüglich des einen wie des andern noch nicht geklärt war und beide sich der schwersten Beschuldigungen zu versehen hatten, so lange der gesuchte Verbrecher der Gerechtigkeit noch nicht in die Hände fiel.

Wladimir Yanof und der Doktor Hamine sprachen oft über diese Lage der Dinge. Sie erkannten die einzige Möglichkeit, den Johausens und ihren Parteigängern den Mund zu schließen, darin, daß der Urheber des Verbrechens nicht nur verhaftet, sondern auch endgültig verurteilt würde. Und während Dimitri Nicolef sich von der ganzen Angelegenheit sozusagen loszulösen, sich gar nicht mehr darum bekümmern zu wollen schien und sie überhaupt nicht mehr erwähnte, bemühten sich seine Freunde unausgesetzt, deren Klärung zu beschleunigen und das mit allen Nachrichten zu unterstützen, die ihnen von irgendwelcher Seite zugingen. Dabei beharrten sie so hartnäckig darauf, den Schenkwirt zu beschuldigen, daß der Richter Kerstorf und der Oberst Raguenof sich wohl oder übel entschließen mußten, im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« noch eine zweite Hausdurchsuchung vorzunehmen.

Diese erfolgte am 5. Mai.

Der Richter Kerstorf, der Major Verder und der Brigadier Eck trafen am Morgen dieses Tages im Kabak ein.

Die Polizisten, die das Haus noch immer bewachten, hatten nichts Neues zu melden.

Kroff, der ein wiederholtes Erscheinen der Beamten schon erwartet hatte, beeilte sich, sich den Herren zur Verfügung zu stellen.

»Herr Richter, sagte er, es ist mir nicht unbekannt geblieben, daß man auch mich bezüglich dieser Angelegenheit verdächtigt hat. Ich hoffe aber, daß Sie diesmal mit der Überzeugung von meiner Unschuld heimkehren werden.

– Das wird sich ja zeigen, antwortete Kerstorf. Lassen Sie uns beginnen…

– Mit dem Zimmer des Reisenden, zu dem Sie den Schlüssel in Verwahrung haben? fiel der Schenkwirt ein.

– Nein, erwiderte der Beamte.

– Ist es Ihre Absicht, das ganze Haus zu durchsuchen? fragte der Major Verder.

– Allerdings, Herr Major.

– Ich meine freilich, Herr Kerstorf, wenn sich hier überhaupt noch neue Beweisstücke finden sollten, müßten wir danach in dem Zimmer suchen, das damals Dimitri Nicolef bewohnt hat.«

Diese Bemerkung verriet, daß der Major ebenso fest an die Schuld des Lehrers wie an die Unschuld des Schenkwirtes glaubte. Nichts hatte hierin seine Anschauung ändern können, die auf der Überzeugung beruhte, daß der Mörder der Reisende und daß dieser Reisende Dimitri Nicolef gewesen sei. Davon war er nicht abzubringen.

»Führen Sie uns«, befahl der Richter dem Schenkwirte.

Kroff gehorchte mit einer Bereitwilligkeit, die nicht wenig zu seinen Gunsten sprach. Der nach dem Garten zu gelegene Anbau nebst den Schupfen wurden im Beisein des Richters und des Majors ein zweites Mal durchsucht. Dann besichtigte man mit größter Sorgfalt den Garten selbst, die Umgebung jedes Baumes, die Erde längs der lebenden Hecke und die Beete, worauf einzelne Gemüse standen. Vielleicht hatte Kroff irgendwo seine Beute – wenn er den Raub begangen hatte – vergraben, und es war doch wichtig, darüber ins Reine zu kommen.

Die Nachsuchungen blieben fruchtlos. Ebenso enthielt ein Schrank des Schenkwirts nur etwa hundert Scheine zu fünfundzwanzig, zehn, fünf, drei und zu einem Rubel, jedenfalls weit weniger, als was der Bankbeamte in seiner Mappe bei sich gehabt hatte.

Jetzt nahm der Major Verder den Richter bei Seite.

»Vergessen Sie nicht, Herr Kerstorf, sagte er, daß Kroff seit der Verübung des Verbrechens den Kabak nie ohne Begleitung verlassen hat, denn die Polizisten sind schon seit demselben Morgen hier.

– Das weiß ich, antwortete Kerstorf, doch vor deren Eintreffen und nach dem Weggange Nicolefs ist der Mann immerhin einige Stunden allein gewesen.

– Sie sehen aber doch, Herr Kerstorf, daß wir bisher nichts verdachterweckendes gefunden haben.

– Ganz recht: bisher noch nichts. Die Hausdurchsuchung ist aber noch nicht zu Ende. Sie haben die Schlüssel zu den beiden Zimmern, Herr Major?

– Hier sind sie, Herr Kerstorf.«

Der Major brachte dabei die Schlüssel, die im Polizeibureau aufbewahrt worden waren, aus der Tasche.

Die Tür des Zimmers, worin der Bankbeamte den Tod gefunden hatte, wurde geöffnet.

Hier befand sich alles noch in demselben Zustande, wie man es nach der ersten Besichtigung verlassen hatte. Davon konnte man sich leicht überzeugen, sobald die Fensterläden aufgeschlagen waren. Das Bett lag noch in Unordnung da, das Kopfkissen mit seinen Blutflecken ebenso, und auf dem Fußboden zog sich ein jetzt braunroter Streifen bis zur Tür hin. Eine Spur von sich hatte der Mörder, wer das auch sein mochte, nicht zurückgelassen.

So wurden die Läden also wieder geschlossen, und Kerstorf, der Major, der Brigadier und Kroff gingen zunächst nach der Gaststube zurück.

»Nun wollen wir das andere Zimmer besichtigen,« sagte der Richter.

Zuerst wurde dessen Tür in Augenschein genommen. An der Außenseite zeigte sich nichts auffälliges. Die in den Kabak verlegten Polizisten konnten auch erklären, daß niemand versucht hätte, sie zu öffnen. Keiner der beiden Leute hatte seit vierzehn Tagen das Haus auch nur auf einen Augenblick verlassen.

Das Zimmer lag in tiefer Finsternis.

Der Brigadier Eck ging nach dem Fenster, öffnete dieses, schob den Riegel der Ladenflügel zurück und schlug diese nach der Mauer zu auf, so daß nun ein heller Lichtstrom hereinflutete.

Auch hier war seit der vorigen Besichtigung keine Veränderung zu bemerken. Im Hintergrunde stand das Bett, worin Dimitri Nicolef geschlafen hatte, und neben dessen Kopfende ein grober Tisch mit einem eisernen Leuchter und einer halb niedergebrannten Unschlittkerze. Ein Stuhl mit Strohgeflecht stand in der einen, ein Schemel in der anderen Ecke, zur Rechten ein Schrank mit geschlossener Tür. An der letzten Wand war der Kamin angebracht, eigentlich nur eine Art Herd aus zwei größeren, flachen Steinen.

 

Man besichtigte den Garten mit größter Sorgfalt. (S. 191.)

Man besichtigte den Garten mit größter Sorgfalt. (S. 191.)

 

Darüber der am unteren Teile erweiterte Rauchfang, der sich verengernd als Schornstein bis über das Dach hinaus fortsetzte.

Das Bett wurde genau besichtigt, zeigte aber, wie das vorige Mal, nichts, was einen Verdacht hätte erwecken können. In dem Schranke und dessen Schubkästen fand sich weder ein Kleidungsstück noch ein Papier vor: er war vollständig leer.

Der an der Ecke der Feuerstätte lehnende Schürhaken wurde sorgfältig betrachtet. Ohne Zweifel konnte er, da sein Ende etwas verbogen war, zum Aufbrechen des Ladens am anderen Fenster gedient haben. Freilich hätte auch, bei dem schlechten Zustande des Ladens, jedes andere Werkzeug, ja schon einfach ein Stock genügt, diesen aufzusprengen. Die Schrammen auf der Fensterbank wurden ebenso wie früher wiedergefunden, doch bewiesen sie denn, daß eine Person hier eingedrungen wäre?… Bestimmt behaupten ließ sich das wenigstens nicht.

Der Richter trat noch einmal an den Herd heran.

»Hat jener Reisende hier Feuer gehabt? fragte er.

– Nein, gewiß nicht, versicherte Kroff.

– Und sind die Aschenreste hier das vorige Mal untersucht worden?

– Ich glaube nicht, antwortete der Major Verder.

– So mag es jetzt geschehen.«

Der Brigadier beugte sich über die Herdfläche und bemerkte dabei links hinten darauf ein halbverbranntes Stück Papier, ursprünglich von viereckiger Form, von dem jetzt freilich nur noch ein Eckstück übrig, das sonst aber zu Zunder verwandelt war.

Wie erstaunten aber alle, als man in diesem Papierstückchen den Rest eines Schatzbankscheines erkannte! Kein Zweifel, es handelte sich hier um ein Staatsbankpapier zu hundert Rubeln, dessen Nummer leider vom Feuer zerstört war, doch von welchem anderen als der Flamme der auf dem Tische stehenden Kerze, da im Kamin kein Feuer angezündet worden war?

Das Papierstück war überdies mit Blut besudelt.

Ohne Zweifel rührten die Flecke von den Händen des Mörders her, von dem, der den Schein wegen der Blutspuren darauf verbrannt hatte. Woher konnte das Bankbillett aber stammen, wenn nicht aus der Mappe des unglücklichen Poch? Der Umstand, daß es nicht gänzlich verbrannt war, machte es zu einem recht schwerwiegenden Beweisstücke.

Erschien jetzt noch ein Zweifel erlaubt?… Wie hätte man noch annehmen können, daß der Mord von einem der von außen eingedrungenen Verbrecher verübt worden sei? Lag es nicht vielmehr klar auf der Hand, den Mörder in dem Reisenden zu sehen, der das Nebenzimmer bewohnt hatte, der dann in dieses zurückgekehrt und endlich am Morgen um vier Uhr weggegangen war?

Der Major und der Brigadier sahen einander an wie Leute, deren Überzeugung schon seit längerer Zeit feststeht. Da Kerstorf aber noch schwieg, gaben sie dieser durch kein Wort Ausdruck.

Nur Kroff konnte sich jetzt nicht mehr bemeistern.

»Da… was hatte ich Ihnen gesagt. Herr Richter? rief er. Können Sie jetzt noch an meiner Schuldlosigkeit zweifeln?«

Kerstorf steckte den Rest des Kassenscheines als ein Beweisstück in sein Notizbuch.

»Die Untersuchung, meine Herren, begnügte er sich zu antworten, ist hiermit beendet. Wir wollen also ohne Säumen aufbrechen.«

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen schon auf der Landstraße nach Riga dahin; nur die beiden Polizisten waren zur ferneren Überwachung des Kabaks »Zum umgebrochenen Kreuze« zurückgeblieben.

Am nächsten Tage wurde Frank Johausen schon zu früher Stunde von dem Ergebnis der Hausdurchsuchung benachrichtigt. Da die Nummer des verbrannten Schatzscheines zerstört war, ließ es sich nicht nachweisen, ob dieser zu denen gehört hatte, deren Nummern im Bankhause aufgeschrieben worden waren. Da er aber zweifellos der Serie angehört hatte, von der Poch damals eine größere Anzahl mit sich führte, mußte man fast unbedingt annehmen, daß er aus dessen Dokumentenmappe gestohlen war.

Die neue Entdeckung verbreitete sich blitzschnell. Vor allen andern waren die Freunde Dimitri Nicolefs darüber fast versteinert. Die ganze Angelegenheit bekam jetzt ein anderes Gesicht oder nahm vielmehr ihr erstes wieder an. Welch schwere Prüfungen standen nun der Familie noch bevor, die schon von solchen verschont zu bleiben geglaubt hatte!

Die Parteigänger Johausens triumphierten in lärmendster Weise. Ihrer Ansicht nach mußte die Verhaftung Dimitri Nicolefs jetzt unverzüglich angeordnet werden, und dieser würde, vor Gericht gestellt, der schweren Strafe nicht entgehen können, die das ruchlose Verbrechen verdiente.

Wladimir Yanof wurde durch den Doktor Hamine von dem neuen Zwischenfall in Kenntnis gesetzt; beide beschlossen aber, gegen Nicolef darüber zu schweigen. Dieser würde ja so wie so zeitig genug erfahren, welchen neuen Beschuldigungen er wieder ausgesetzt wäre. Wladimir hätte gern verhindert, daß diese Gerüchte seiner Verlobten zu Ohren kämen. Das erwies sich aber als unmöglich, und noch an demselben Tag traf er sie fast aufgelöst in bitterstem Schmerze.

»Mein Vater ist unschuldig!… Mein Vater ist unschuldig! rief sie wiederholt, war aber nicht imstande, ein anderes Wort hervorzubringen.

– Ja… gewiß, liebste Ilka, das ist er, und wir werden den Schuldigen schon entdecken und alle, die ihn anklagen, besiegen. Wahrlich, ich frage mich, ob alles das nicht nur ein gemeiner, hinterlistiger Anschlag ist, den besten und ehrbarsten der Menschen zu vernichten.«

Auf derartige Gedanken konnte ein Mann mit so edlem Charakter recht wohl kommen. Er wußte ja, wie weit politischer Haß sich verirren kann. Und doch, was wies darauf hin, daß ein solch heimtückischer Anschlag hier vorläge, und war denn zu befürchten, daß dessen Zweck je erreicht werden könnte?

Was geschehen sollte, geschah.

Am Nachmittage wurde Dimitri Nicolef nach dem Bureau des Untersuchungsrichters bestellt. Er begab sich sofort nach dem Wohnzimmer hinunter, wo Wladimir und Ilka ihn von dem Vorgefallenen unterrichteten.

»Noch einmal diese Geschichte! rief er, die Achseln zuckend. Nimmt sie denn kein Ende?

– Man wird von dir eine neue Zeugenaussage erwarten, lieber Vater, sagte das junge Mädchen.

– Wünschen Sie, daß ich Sie begleite? fragte Wladimir.

– Nein, ich danke dir, Wladimir.«

Der Privatlehrer verließ das Haus schnellen Schrittes und betrat schon nach einer Viertelstunde das Bureau des Richters.

Dieser befand sich jetzt hier mit einem Aktuar allein. Infolge einer Verhandlung mit dem Gouverneur und dem Obersten Raguenof sollte der Lehrer zunächst nur einem zweiten Verhöre unterworfen werden, während seine etwaige Verhaftung der Entschließung des Richters anheimgegeben wurde.

Kerstorf nötigte Nicolef, Platz zu nehmen.

»Herr Nicolef, begann er dann mit einer Stimme, die eine gewisse Erregung erkennen ließ, gestern hat in meinem Beisein in der Schenke ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ eine zweite Hausdurchsuchung stattgefunden. Die Polizisten haben das ganze Anwesen gründlichst durchsucht, ohne daß sich dabei etwas Verdächtiges gefunden hätte. Nur in dem Zimmer, das Sie in der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten April eingenommen haben, hat man das hier entdeckt.«

Er wies dem Lehrer dabei das Eckstück des Reichskassenscheines vor.

»Nun, was hat es mit diesem Stückchen Papier auf sich? fragte Dimitri Nicoles.

– Das ist der Überrest eines Reichskassenscheines, der verbrannt und auf die Asche im Kamin geworfen worden ist.

– Eines der Bankbilletts, die aus Pochs Mappe gestohlen worden waren?

– Das ist mindestens sehr wahrscheinlich, antwortete der Beamte, und Sie, Herr Nicolef, werden sich kaum darüber wundern, daß dieser Fund Sie zu belasten scheint.

– Mich belasten? erwiderte der Lehrer, der wieder den früheren etwas höhnischen und verächtlichen Ton anschlug. Ich frage Sie, Herr Richter, ist denn noch immer nicht jeder Verdacht gegen meine Person entkräftet, haben auch die Erklärungen Wladimir Yanofs mich noch nicht vollständig davon befreit?«

Kerstorf gab hierauf keine Antwort. Er faßte nur Nicolef scharf ins Auge, den unglücklichen Mann, dessen kränkliches Aussehen bezeugte, daß er sich von der Gemütserschütterung der letzten Wochen noch nicht wieder erholt hatte. Seine Prüfungszeit schien auch noch nicht zu Ende zu sein, da ja immer neue Anschuldigungen gegen ihn auftauchten.

Dimitri Nicolef hatte sich mit der Hand über die Stirn gestrichen.

»Dieses Überbleibsel eines Kassenscheines, sagte er, ist also auf der Feuerstatt des Zimmers gefunden worden, worin ich jene Nacht zugebracht habe?

– Jawohl, Herr Nicolef.

– Und das Zimmer ist seit der ersten amtlichen Besichtigung immer verschlossen gewesen?

– Mit dem betreffenden Schlüssel; es ist auch gewiß, daß dessen Tür seither nicht wieder geöffnet worden ist.

– Es hat also niemand dahinein gelangen können?..

– Niemand.«

Dem Richter schien es zu passen, daß jetzt er sich durch einen Rollenaustausch ausfragen ließ.

»Der Bankschein hatte Blutflecke bekommen, fuhr Nicolef nach Besichtigung des Papierstückes fort, dann ist er nicht völlig verbrannt worden und man hat ihn unter der Asche aufgefunden?

– Wie Sie sagen.

– Wie konnte er dann aber bei der ersten Hausdurchsuchung dem Auge der Anwesenden entgehen?

– Das vermag ich nicht zu erklären und es wundert mich selbst nicht wenig, denn offenbar hat er schon damals an derselben Stelle gelegen, da ihn seitdem niemand hat dahin bringen können.

– Ich bin darüber nicht weniger verwundert als Sie, antwortete Dimitri Nicolef etwas ironischen Tones. Ich müßte statt verwundert eigentlich beunruhigt sagen, denn ohne Zweifel bin ich es, den man beschuldigt, den Schein in den Kamin geworfen zu haben.

– Allerdings sind Sie das, erklärte Kerstorf.

– Und da dieser Schein, fuhr der Lehrer noch mehr ironisch fort, zu dem Teile des Bündels gehörte, das der Bankbeamte in seiner Mappe bei sich hatte, da er nach der Ermordung Pochs aus dieser Mappe entwendet worden ist, so unterliegt es natürlich keinem Zweifel, daß als der Dieb der Reisende anzusprechen ist, der jenes Zimmer bewohnt hatte, und da ich das war, so bin ich selbstverständlich der Mörder.

– Ja, wer könnte daran zweifeln? fragte Kerstorf, ohne Nicolef aus den Augen zu verlieren.

– Freilich… niemand, Herr Richter. Alles stimmt ja so vortrefflich überein… der Beweis ist in schlagender Weise erbracht. Doch wollen Sie mir freundlichst erlauben, Ihrem Gedankengang den meinigen gegenüberzustellen?

– Ich bitte darum, Herr Nicolef.

– Das Gasthaus ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ habe ich früh um vier Uhr verlassen. War das Verbrechen zu dieser Stunde schon begangen?… Ja, wenn ich dessen Urheber gewesen bin, nein, wenn ich dieser nicht war. Vielleicht kommt auf den Zeitpunkt nicht so viel an. Können Sie, Herr Richter, aber mit Bestimmtheit behaupten, daß der Mörder nach meinem Weggange nicht alle Maßregeln getroffen, alle Vorsicht gebraucht hätte, den Verdacht auf den Reisenden, das heißt auf mich zu lenken, daß er nicht hätte das vorher von mir benutzte Zimmer betreten und das Schüreisen darin hinstellen können; ebenso, daß er nicht Zeit gehabt hätte, den blutbefleckten, halb verbrannten Bankschein auf den Herd zu legen, und die Schrammen auf der Fensterbank einzuritzen, um den Anschein zu erwecken, daß ich… ich durch dieses hinausgestiegen wäre, um den Bankbeamten in seinem Bette zu töten?

– Was Sie da sagen, Herr Nicolef, läuft unmittelbar auf eine Beschuldigung des Schenkwirts Kroff hinaus.

– Kroffs oder jedes beliebigen andern. Meine Sache ist es übrigens nicht, den Schuldigen zu ermitteln: ich habe mich nur zu verteidigen, und das tue ich!«

Auf Kerstorf machte das Verhalten und Auftreten Dimitri Nicolefs offenbar tiefen Eindruck. Was dieser eben sagte, hatte er sich ja schon vielmals selbst gesagt. Nein… er weigerte sich, einen Mann von so ehrenhaftem Vorleben schuldig zu finden. Und dennoch hatten, wenn er Kroff als Täter annahm, die Hausdurchsuchungen, die sonstigen Ermittelungen und die Zeugenaussagen nichts ergeben, was den Schenkwirt belastet hätte. Darauf wies der Richter auch Nicolef im Laufe des Verhörs hin, das sich noch über eine Stunde ausdehnte.

»Herr Richter, sagte endlich der Lehrer, an Ihnen ist’s, zu entscheiden, auf wen von uns – ob auf Kroff oder mich – der größte Verdacht fällt. Jeder, der gerecht urteilt und die Sachlage unbefangen betrachtet, muß zugeben, daß ich das nicht bin. Aus Gründen, die Ihnen heute bekannt sind, habe ich früher über den Zweck meiner Reise schweigen müssen. Sie kennen diese Gründe, seit Wladimir Yanof sich eingefunden und sie Ihnen mitgeteilt hat. Das war in der Sache, soweit sie mich berührt, der dunkle Punkt, der inzwischen aufgehellt worden ist. Ob nun der Schenkwirt oder ein von außen eingedrungener Unhold der Urheber des Verbrechens ist, das hat das Gericht zu entscheiden. Ich selbst setze in die Schuld Kroffs allerdings keinen Zweifel. Der Mann wußte, daß Poch sich zur Begleichung einer Zahlung für Rechnung der Gebrüder Johausen nach Reval begeben wollte, er wußte, daß dieser der Überbringer einer beträchtlichen Summe war, ihm war bekannt, daß ich früh um vier Uhr schon wieder aufbrechen wollte, kurz, er wußte alles, was er dazu brauchte, den Mord auszuführen und die Verantwortlichkeit dafür dem mit dem Bankbeamten eingetroffenen Reisenden zuzuwälzen. Er kann den Unglücklichen schon vor oder nach meinem Weggange ermordet haben. Dann mag er in mein Zimmer gegangen sein, den Rest des Kassenscheins auf den Kaminherd geworfen und überhaupt alles darauf eingerichtet haben, daß der Schein der Schuld auf mich fallen mußte. Glauben Sie nun immer noch, daß ich Pochs Mörder bin, so nehmen Sie mich in Hast und stellen mich vor die Geschwornen. Ich werde da Kroff beschuldigen. Es kann sich nur um einen Kampf zwischen uns beiden handeln, und ich wüßte nicht, was ich von dem Gerechtigkeitssinne der Menschheit denker sollte, wenn ich es wäre, den man verurteilte!«

 

Das Papierstück war überdies mit Blut besudelt. (S. 195.)

Das Papierstück war überdies mit Blut besudelt. (S. 195.)

 

Dimitri Nicolef hatte seine Anschauungen, die ihn – seiner Ansicht nach – doch rechtfertigen sollten, gar nicht besonders lebhaft zum Ausdruck gebracht. Kerstorf hatte ihn auch nicht unterbrochen, und als der Lehrer zum Schluß die Frage hinwarf: »Werden Sie meinen Verhaftsbefehl unterzeichnen?« antwortete er ruhig:

»Nein, Herr Nicolef!«

Vierzehntes Kapitel.

Schlag auf Schlag.

Es lag jetzt klar auf der Hand, daß bei der ganzen Angelegenheit nur noch der Schenkwirt Kroff und der Privatlehrer Dimitri Nicolef in Frage kamen. Das Restchen des in einer Ecke der Feuerstatt gefundenen Papiers schloß jeden Gedanken daran aus, daß das Verbrechen von einem jener Landstreicher begangen sein könnte, die nach den polizeilichen Meldungen diesen Teil der Provinz Livland unsicher machten. Wie wäre es nach der Mordtat einem jener umherlungernden Gesellen möglich gewesen, unbemerkt in das Zimmer des Reisenden einzubrechen und das Schüreisen darin niederzulegen, da man doch annehmen mußte, daß dieses zum Aufsprengen des Ladens gedient hatte, wie hätte ein solcher auf den Herd das Blatt Papier werfen können, das bis auf den in der Asche gefundenen Rest verbrannt war? Und wenn Dimitri Nicolef und Kroff noch so fest geschlafen hätten, wie wäre es denkbar, daß sie von all dem Vorgegangenen gar nichts gehört hätten? Und wie sollte endlich ein unbekannter Verbrecher auf den Gedanken gekommen sein, die Verantwortung für seine Schandtat auf den (zweiten) Reisenden zu wälzen?… Nach dem Morde und dem Gelingen des Raubes wäre ein solcher doch sicherlich schnellstens entflohen und hätte sich bei Tagesanbruch schon weit vom Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« befunden.

Das lehrte ja der gesunde Menschenverstand. Die Untersuchung mußte sich also auf die beiden, in ihrer gesellschaftlichen Stellung so verschiedenen Männer beschränken und zwischen ihnen die Entscheidung treffen.

Auch die ruhigsten Gemüter versetzte es jedoch in eine gewisse Aufregung, daß nach der zweiten Hausdurchsuchung in der Schenke gegen keinen von beiden ein Verhaftsbefehl ergangen war.

Natürlich fand nach den neuerlichen Ergebnissen der Durchsuchung des Kabaks die verschiedene Stimmung der Parteien desto leidenschaftlicheren Ausdruck. Die ganze Sache spitzte sich bei der in zwei Lager gespaltenen Allgemeinheit jetzt nur noch mehr zu, und zwar nicht allein in der Stadt Riga, sondern auch in allen drei Gouvernements der baltischen Provinzen.

Dimitri Nicolef war Slawe, und die Slawen traten ebenso im Interesse ihrer Partei, wie auch deshalb für ihn ein, weil sie ihn des Verbrechens wirklich nicht für fähig halten konnten.

Kroff war germanischer Abstammung und die Deutschgesinnten traten als seine Verteidiger auf… mehr um Dimitri Nicolef zu bekämpfen, als daß sie Interesse für den Inhaber einer ärmlichen Landstraßeschenke gehabt hätten.

Je nach der Anschauung, die sie verteidigten, brachten die Tagesblätter unausgesetzt aufregende Artikel. Man ereiferte sich über die Angelegenheit in den vornehmen Häusern der oberen Gesellschaftsklasse, in den bescheidenen Wohnungen der niederen Bürgerschaft, in den Schreibstuben der Kaufleute und in den Hütten der Arbeiter und Tagelöhner.

Die Lage des Generalgouverneurs wurde unter diesen Umständen immer mißlicher. Die städtischen Wahlen standen nahe bevor. Lärmend und mit zunehmender Begeisterung entschieden sich die Slawen für Dimitri Nicolef als ihren Kandidaten, den sie Frank Johausen jetzt nur um so entschiedener gegenüber stellten.

Die Familie des reichen Bankiers, seine Freunde und seine Kunden waren weit davon entfernt, den Kampf aufzugeben, sie führten ihn vielmehr mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln weiter. Ihnen stand – das darf nicht verschwiegen werden – die Macht des Geldes zur Seite und sie machten davon bezüglich der Blätter ihrer Partei den ausgedehntesten Gebrauch. Staats-und Stadtbehörden wurden da unverzeihlicher Schwäche, sogar der Parteilichkeit geziehen. Man forderte die Verhaftung Dimitri Nicolefs, und die, die eine ganz gemäßigte Sprache führten, verlangten wenigstens, daß der Schenkwirt und auch der Lehrer hinter Schloß und Riegel gesetzt würden. So war es von größter Wichtigkeit, daß die Angelegenheit in dem einen oder anderen Sinne Erledigung fände, ehe die Parteien auf dem Kampfplatze der Wahlen aneinanderstießen, und die Abstimmung, die zum ersten Male unter so gespannten Verhältnissen erfolgen sollte, stand jetzt schon vor der Tür.

Wie stand es nun inmitten dieses Konfliktes, von dem er kaum eine Ahnung hatte, mit dem Schenkwirte Kroff?

Den Kabak, wo die Polizisten noch immer streng Wache hielten, konnte er nicht verlassen, so betrieb er seine Wirtschaft unverändert weiter, und jeden Abend kamen seine Kunden, Bauern und Holzfäller, wie vorher in der großen Gaststube zusammen. Immerhin schien es, als ob die Lage der Dinge ihn ein wenig beunruhigte. Ließ man den Lehrer unbehelligt umhergehen, so fürchtete er dafür, in Haft genommen zu werden. Noch unzugänglicher als gewöhnlich, schlug er vor jedem fest auf ihn gerichteten Blick die Augen nieder und beschuldigte Nicolef mit einem Eifer, einer Hartnäckigkeit und mit einer Wut, die ihm das Blut nach dem Kopfe stürmen ließen, so daß man fürchten konnte, er werde vom Schlage getroffen werden.

Gewöhnlich herrscht helle Freude in einem Hause, wo man sich zur Feier einer Hochzeit rüstet, und eine festliche Stimmung beherrscht darin die gesamte Familie. Durch weit geöffnete Fenster läßt man Luft und Heiterkeit hereinströmen. Überall leuchtet und glänzt es von Glück.

In der Wohnung Dimitri Nicolefs war das freilich nicht der Fall. Vielleicht dachte er zwar kaum noch an die Angelegenheit, die sein ruhiges Leben so grausam erschüttert hatte, doch hatte er nicht das Schlimmste von seinen unerbittlichen Gläubigern, von seinen Todfeinden zu befürchten?

Seit dem letzten Verhör im Amtszimmer des Richters Kerstorf waren nun sieben Tage verflossen. Man schrieb den 13. Mai. Am nächsten Tage war der von Nicolef unterschriebene Schuldschein in fällig. Erschien er am folgenden Morgen nicht mit achtzehntausend Rubeln in der Hand an der Kasse der Gebrüder Johausen, so stand ihm ein gerichtlicher Zahlungsbefehl in Aussicht. Diese Summe besaß er aber nicht, und seine Kinder wußten nichts von der Verbindlichkeit, die auf ihm lastete. Nachdem er mit schwerer Arbeit und strenger Sparsamkeit schon einen Teil der väterlichen Schuld – volle siebentausend Rubel – abgetragen hatte, hatte er gehofft, auch noch den Rest allmählich tilgen zu können, und jetzt sah er sich am Verfalltage von allen Mitteln entblößt, wenn nicht etwa…

Die Herren Johausen sahen der Lösung des Knotens mit sehr verschiedenen Erwartungen entgegen.

Ging die Angelegenheit betreffend das »Umgebrochene Kreuz« zu seinen Gunsten aus, ergab Kerstorfs weitere Untersuchung des Falles noch neue Verdachtsgründe gegen den Schenkwirt, so daß dessen Schuld kaum noch zu bezweifeln war und er in Haft genommen und verurteilt würde, während die Unschuld des Lehrers durch die Verurteilung des wirklichen Schuldigen desto glänzender zutage trat, so hatten die Herren Johausen doch immer noch den Schuldschein in der Hand, den jener nicht einlösen konnte. Dann veranlaßten sie ohne Erbarmen die Exekution gegen ihn, ließen ihn das Blut Karl Johausens und alles das bezahlen, was sie durch ihn, auch an ihrer Eigenliebe, gelitten hatten, ihn, den Rivalen, der gegen den deutschen Teil der Bevölkerung die Fahne des Panslawismus entfaltete.

Zeigte es sich andernfalls, daß Dimitri Nicolef die Mittel zur Tilgung seiner Schuld besaß, so konnte er diese, ihrer Meinung nach, nur durch den Diebstahl im Kabak erlangt haben. Die Herren Johausen wußten recht gut, daß der Lehrer die siebentausend Rubel von der fünfundzwanzigtausend Rubel betragenden Gesamtschuld nur mit dem Aufgebot seiner letzten Hilfsmittel hatte abtragen können. Woher sollte er denn die rückständigen achtzehntausend Rubel nehmen, wenn er sie sich nicht auf verbrecherische Weise verschafft hatte? Übrigens würde sich Nicolef, wenn er diese Summe am Verfallstag brachte, durch die Reichskassenscheine selbst verraten, da er ja nicht wissen konnte, daß deren Nummern im Bankhause bekannt waren, und dann konnte ihm weder die Gunst der Behörden, noch das Eintreten seiner Freunde für ihn mehr etwas nützen, dann war er verloren, rettungslos verloren.

Der Vormittag des nächsten Tages verging, ohne daß Dimitri Nicolef an der Kasse der Gebrüder Johausen erschien.

Am Nachmittage gegen vier Uhr traf ein Billett der Gebrüder Johausen bei ihm ein mit der Erinnerung, die an diesem Tage fälligen achtzehntausend Rubel ohne Verzug einzuzahlen.

Da wollte es das Unglück, daß es Wladimir Yanof war, der den Mahnzettel von dem Boten in Empfang nahm… ja, das Unglück, wie es sich sogleich zeigen wird.

Wladimir nahm von dem Zettel Einsicht. Daraus ersah er, daß Nicolef, der für die Schulden seines Vaters Bürgschaft übernommen hatte, noch mit einer beträchtlichen, an die Gebrüder Johausen zu zahlenden Summe im Rückstande war.

Wladimir begriff alles, da er wußte, daß der Lehrer beim Ableben seines Vaters in großer Geldverlegenheit gewesen war, und doch die Regelung der Nachlaßangelegenheiten auf sich genommen hatte. Erwähnte er im Laufe der Jahre seiner Familie gegenüber kein Wort davon, so geschah das nur, um diese vor weiterer Sorge zu behüten, und weil er immer hoffte, durch Sparsamkeit und redliche Arbeit diese Ehrenschuld abtragen zu können.

Doch Wladimir begriff nicht nur das, sondern sofort auch, was zu tun hier seine Pflicht wäre.

Ihm kam es zu, Dimitri Nicolef, da er es konnte, zu retten. Er besaß ja jetzt eine mehr als hinreichende Summe, die zwanzigtausend Rubel, die Johann Yanof dem Lehrer zur Aufbewahrung übergeben und die ihm dieser vor kurzer Zeit in Pernau unberührt ausgeliefert hatte.

Nun gut, davon wollte er die nötigen achtzehntausend Rubel zur Ausgleichung der Schuld bei den Gebrüdern Johausen nehmen und damit Dimitri Nicolef vor dem ihm drohenden Unheil retten.

Es war jetzt die fünfte Nachmittagsstunde, und das Bankhaus schloß um sechs Uhr.

Wladimir Yanof hatte keine Minute zu verlieren. Entschlossen, von seinem Vorhaben nichts zu sagen, begab er sich nach seinem Zimmer hinauf, entnahm hier dem Schreibtische eine zur Bezahlung der Schuld hinreichende Anzahl Reichskassenscheine, ging, ohne von jemand gesehen worden zu sein, wieder hinunter und schritt auf die Haustür zu.

In diesem Augenblicke wurde die Tür geöffnet. Jean und Ilka traten zusammen ein.

»Du willst ausgehen, Wladimir? fragte das junge Mädchen, ihm die Hand bietend.

– Ja, liebe Ilka, antwortete Wladimir, ein Weg, der mich nicht lange aufhalten wird. Zum Abendessen bin ich bestimmt wieder hier.«

Wenn ihm jetzt auch einen Augenblick der Gedanke kam, den Geschwistern mitzuteilen, was er eben tun wollte, so sah er doch davon ab. Zwang ihn nicht ein Zufall, zu sprechen, so wollte er nicht, daß die Sache noch vor seiner Verheiratung bekannt würde. Erst wenn das junge Mädchen seine Gattin wäre, sollte sie alles erfahren, und er war überzeugt von ihrer Zustimmung dazu, daß er, selbst auf die Gefahr einer Schädigung der eigenen Zukunft, ihren Vater aus seiner Bedrängnis gerettet hätte.

»So geh’ denn, Wladimir, sagte sie, und komme rechtzeitig zurück. Ich fühle mich weit ruhiger, wenn du da bist, denn ich fürchte immer, daß mein Vater…

– Ja, der ist trauriger und niedergeschlagener als je, erklärte Jean, dessen Augen in gerechtem Zorn aufblitzten. Diese Elenden werden ihn noch töten!… Er ist krank… kränker vielleicht, als wir annehmen.

– Du übertreibst, Jean, erwiderte Wladimir. Dein Vater hat einen sittlichen Halt, über den seine Feinde nicht triumphieren werden.

– Gott gebe, daß du recht hast, Wladimir!« sagte das junge Mädchen seufzend.

Wladimir drückte ihr warm die Hand.

»Habt nur Vertrauen, fügte er noch hinzu, in wenigen Tagen wird ja alles überstanden sein!«

Damit ging er auf die Straße hinaus und traf zwanzig Minuten später am Bankhause der Gebrüder Johausen ein.

Die Kasse war noch geöffnet und Wladimir trat an den betreffenden Schalter.

Der Kassierer, an den er sich wendete, erklärte ihm, seine Angelegenheit gehe die Inhaber der Firma persönlich an, da sie diese für sich mit Dimitri Nicolef abgeschlossen hätten, und er forderte ihn auf, die Herren in ihrem Privatkontor aufzusuchen.

Die beiden Brüder waren hier anwesend.

»Wladimir Yanof! rief der eine, als ihm dessen Karte übergeben worden war. Der kommt wegen Nicolef!… Er wird uns um Aufschub oder um Prolongation des Wechsels bitten wollen.

– Nein… keinen Tag, keine Stunde! erklärte Frank Johausen in einem Tone, der die Unerbittlichkeit des Mannes verriet. Morgen beantragen wir die Pfändung.«

Von einem der Bureaubeamten unterrichtet, daß die Herren Johausen bereit seien, ihn zu empfangen, trat jetzt Wladimir Yanof in das Kontor ein.

Hier entspann sich sofort folgendes Gespräch:

»Meine Herren, begann Wladimir, ich komme hierher wegen einer Verbindlichkeit, die Dimitri Nicolef Ihnen gegenüber zu erfüllen hat, wegen einer Schuld, die heute fällig ist und wegen der Sie ihm schon haben eine Mahnung zugehen lassen…

– Wie Sie sagen, antwortete Frank Johausen.

– Die Schuldsumme, fuhr Wladimir fort, beträgt einschließlich der aufgelaufenen Zinsen achtzehntausend Rubel.

– Ganz recht, achtzehntausend.

– Und sie rührt von der Bürgschaft her, die Dimitri Nicolef beim Tode seines Vaters für die Befriedigung der Gläubiger des Verstorbenen übernommen hatte.

– Ja, so ist es, bestätigte Frank Johausen, wir können aber unmöglich einen weiteren Aufschub bewilligen.

– Wer verlangt denn von Ihnen einen solchen, meine Herren? versetzte Wladimir in etwas hochmütigem Tone.

– O, warf der ältere der beiden Brüder ein, da wir schon am Vormittage hätten Zahlung erhalten sollen…

– Die wird Ihnen noch heute vor sechs Uhr zugehen, unterbrach ihn Yanof, das ist wohl zeitig genug, denn ich glaube doch nicht, daß Ihre Firma wegen dieser Verzögerung um wenige Stunden schon nahe daran gewesen wäre, Konkurs anzumelden.

– Mein Herr, rief Frank Johausen, ergrimmt über diese kalten und verletzend ironischen Worte, bringen Sie etwa die Summe von achtzehntausend Rubeln?

– Hier ist sie, antwortete Wladimir, indem er ein Bündel Hundertrubelscheine hinhielt. Wo ist nun der Schuldschein?«

Ebenso erstaunt wie gereizt, gaben die beiden Johausen zunächst keine Antwort. Der eine ging nur nach dem in einer Ecke des Zimmers stehenden Panzerschranke, entnahm ihm eine verschließbare Dokumentenmappe und zog aus einem ihrer Fächer den Schuldschein hervor, den er gelassen auf den Tisch legte.

Wladimir ergriff das Papier, prüfte es sorgfältig und überzeugte sich, daß es das von Dimitri Nicolef unterzeichnete Schuldbekenntnis zugunsten der Herren Johausen war. Darauf überreichte er das Päckchen Rubelscheine.

»Bitte, zählen Sie,« sagte er ruhig.

Frank Johausen war sichtbar erbleicht, während Wladimir ihn mit etwas geringschätzigem Blicke ansah. Die Hand des Bankiers war unsicher, so daß er die Scheine fast zerknitterte.

Plötzlich leuchteten seine Augen auf. Eine wilde Freude erglänzte in seinen Zügen, und mit haßerfüllter Stimme rief er:

»Das, Herr Yanof, sind Reichskassenscheine, die gestohlen waren.

– Gestohlen?…

– Ja ja, gestohlen aus der Mappe unseres unglücklichen Poch!

– O nein! Das sind dieselben Scheine, die mir Dimitri Nicolef in Pernau übergeben hat, als er mir das ihm von meinem Vater anvertraute Depot auslieferte.

 

 »Das sind Reichskassenscheine, die gestohlen waren.« (S. 208.)

»Das sind Reichskassenscheine, die gestohlen waren.« (S. 208.)

 

– Da erklärt sich ja alles! rief Frank Johausen triumphierend. Er war außer stande, Ihnen dieses Depot zurückzuliefern, und da hat er eine Gelegenheit benützt…«

Wladimir prallte einen Schritt zurück.

»Bei unserer Firma waren die Nummern der Kassenscheine aufgezeichnet worden. Hier, sehen Sie selbst die Liste ein, fuhr Frank Johausen fort, während er aus einem Kasten des Tisches ein mit Ziffern bedecktes Blatt hervorholte.

– Herr… Herr… stammelte Wladimir wie vom Donner gerührt, da er keine zusammenhängenden Worte finden konnte.

– Ja, sprach Frank Johausen weiter, und da Sie diese Kassenscheine von Herrn Nicolef erhalten haben, liegt es auf der Hand, daß er sie von unserem Bankboten gestohlen hat, nachdem er diesen im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ ermordet hatte.«

Wladimir Yanof war nicht imstande zu antworten. Er fühlte, wie ihm der Kopf wirbelte, wie ihm die Sinne schwanden, dennoch begriff er bei dieser Unruhe seiner Gedanken, daß Dimitri Nicolef endgültig verloren sei. Die Welt würde sagen, daß er die ihm einst anvertraute Summe unterschlagen und Riga nur auf den Brief Wladimir Yanofs hin in der Absicht verlassen habe, diesen um Verzeihung anzuflehen, nicht aber, ihm das Geld zurückzuerstatten, das er ja nicht mehr besaß. Da – so würde man weiter schließen – führte ihn der Zufall mit Poch im Postwagen zusammen, der eine wohlgefüllte Geldmappe des Bankhauses bei sich trug. Den Armen hätte er dann getötet und beraubt, und es wären die Kassenscheine der Gebrüder Johausen gewesen, die er dem Sohne seines Freundes Yanof, dessen Vertrauen er so schnöde gemißbraucht, zuletzt ausgeliefert hätte.

»Dimitri… preßte Wladimir endlich hervor, Dimitri… er sollte…

– Wenn Sie es nicht selbst getan haben, antwortete Frank Johausen.

– Elender!«

Wladimir Yanof hatte jedoch anderes zu tun, als diese persönliche Beleidigung zu rächen. Daß bei jemand der Gedanke auftauchen könnte, er sei der Urheber des Verbrechens, das machte auf ihn keinen Eindruck. Nur Nicolef war es, um den er sich sorgte.

»Endlich, sagte Frank Johausen, nachdem er das durchgezählte Päckchen Kassenscheine weggelegt hatte, endlich haben wir also den Mordgesellen! Jetzt handelt sichs nicht mehr um einen Verdacht, jetzt liegt die Gewißheit, liegen greifbare Beweise vor! Der Herr Kerstorf hat mir einen verständigen Rat gegeben, als er davon abmahnte, die Nummern der gestohlenen Scheine bekannt zu machen. Früher oder später mußte sich der Mörder selbst fangen, und das ist jetzt geschehen. Ich eile zum Richter Kerstorf, und vor Ablauf einer Stunde wird der Befehl zur Verhaftung Nicolefs ergangen sein!«

Inzwischen war Wladimir Yanof nach der Straße hinausgestürmt. Eiligen Schrittes und fast geistesabwesend wandte er sich dem Hause des Lehrers zu. Mit aller Macht bemühte er sich, die quälerischen Gedanken, die ihn erfüllten, von sich abzuschütteln. Er wollte und konnte nicht eher etwas glauben, als bis sich Nicolef über die Sache erklärt hätte, und diese Erklärung wollte er sofort herbeiführen. Die Kassenscheine waren ja nun einmal dieselben, die Dimitri Nicolef ihm nach Pernau gebracht und von denen er noch keinen einzigen angerührt hatte.

Am Hause angelangt, stieß Wladimir dessen Tür auf.

Im Erdgeschoß weder Jean noch Ilka, überhaupt zum Glücke niemand. Der erste Blick auf Yanof hätte jeden gelehrt, daß über die Familie ein neues, und jetzt ein unabwendbares Unglück hereingebrochen sei.

Wladimir sprang die Treppe hinauf, die zu dem Zimmer des Lehrers führte.

Hier saß Dimitri Nicolef, den Kopf in den Händen, an seinem Arbeitstische. Er erhob sich beim Eintreten Wladimirs, der auf der Schwelle stehen blieb.

»Was wünschest du? fragte Nicolef, der den andern mit einem müden Blicke ansah.

– Dimitri, rief Wladimir, um des Himmelswillen, sprecht, sagt mir alles! Ich verstehe nichts. Rechtfertigt euch… Doch nein, das ist wohl unmöglich!… Gebt mir wenigstens eine Erklärung… mir schwindet der Verstand…

– Was gibt es denn? antwortete Nicoles. Noch ein neues Unglück, das zu so vielen andern hinzukommt?«

Er sprach diese verzweiflungsvollen Worte wie einer, der auf alles gefaßt ist und den kein Schicksalsschlag mehr überraschen kann.

»Wladimir, fuhr er fort, jetzt verlange ich von dir, daß du redest. Mich rechtfertigen?… Wegen was denn?… Du bist also gekommen, zu glauben, ich wäre…«

Wladimir ließ ihn den Satz nicht vollenden.

»Dimitri, sagte er, sich mit übermenschlicher Kraft beherrschend, vor einer Stunde ist eine mahnende Erinnerung hierher gekommen…

– Natürlich von den Gebrüdern Johausen, fiel ihm Nicolef ins Wort. Du weißt also nun, in welcher Lage ich mich dem Bankhause gegenüber befinde. Ich kann die Herren nicht bezahlen… es ist eine Schuld, für die auch die Meinigen zu leiden haben werden. Du siehst also, Wladimir, daß du mein Sohn nicht werden kannst.«

Von tiefer Bitterkeit erfüllt, gab Wladimir hierauf keine Antwort.

»Dimitri, sagte er dann, ich habe mich verpflichtet gefühlt, dieser traurigen Lage ein Ende zu machen.

– Du?

– Ich besaß ja noch die Summe, die Ihr mir in Pernau ausgeliefert hattet.

– Dieses Geld ist aber dein Eigentum, Wladimir. Es rührt von deinem Vater her. Ich habe dir nur eine von mir bisher aufbewahrte Summe übergeben.

– Ja ja, das weiß ich… das weiß ich; und da das Geld mir gehörte, hatte ich auch das Recht, darüber zu verfügen. Ich nahm also die Kassenscheine, dieselben, die Ihr mir gebracht hattet, und bin damit nach dem Bankhause gegangen…

– Das… das hast du getan! rief Nicolef, indem er gegen Wladimir die Arme ausbreitete. Warum hast du das getan?… Es war dein einziges Vermögen. Dein Vater hat es dir nicht hinterlassen, um damit die Schulden des meinigen zu tilgen.

- Dimitri, antwortete Wladimir, die Stimme dämpfend, die Kassenscheine, die ich den Herren Johausen übergeben habe… diese Scheine sind dieselben, die in der Schenke ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ aus der Mappe Pochs gestohlen worden waren und deren Nummern die Bank sich angemerkt hatte.

– Die Kassenscheine… diese Kassenscheine?…«

Als er die Worte wiederholte, stieß Nicolef, der sich dabei erhoben hatte, einen entsetzlichen Schrei aus, der im ganzen Hause widerhallte.

Fast gleichzeitig wurde die Tür des Zimmers aufgerissen.

Ilka und Jean stürzten herein.

Als sie sahen, in welchem Zustande sich der Unglückliche befand, eilten beide auf ihn zu, während Wladimir, bei Seite stehend, das Gesicht in den Händen barg.

Weder der Bruder noch die Schwester dachten zunächst daran, eine Erklärung zu verlangen. Vor allem galt es ihnen, ihrem Vater beizustehen, der zu ersticken drohte. Sie zwangen ihn, sich wieder zu setzen, und übrigens konnte er sich auch gar nicht mehr aufrecht halten. Seinen Lippen entwanden sich nur noch die Worte:

»Gestohlen… die Kassenscheine gestohlen?

– Mein Vater, rief das junge Mädchen, was ist dir geschehen?

– Wladimir, fragte Jean, was ist vorgefallen?… Ist er von Sinnen?«

Da erhob sich Nicolef wieder und trat auf Wladimir zu. Er ergriff dessen Hände und löste sie von seinem Gesichte. Dann begann er, nachdem er den jungen Mann gezwungen hatte, ihn gerade anzublicken, mit halb erstickter Stimme:

»Jene Scheine, die du von mir erhalten hattest, die du nach dem Bankhause der Gebrüder Johausen gebracht hast… diese Scheine sind die selben, die aus der Mappe Pochs, des ermordeten Poch, geraubt worden waren?

– Ja, sagte Wladimir.

– Ich bin verloren… verloren!« stieß Nicolef hervor.

Ohne daß sie es hätten verhindern können, drängte er seine Kinder beiseite, flüchtete aus dem Arbeitszimmer und begab sich nach seiner Wohnstube hinaus. Er schloß sich hier aber nicht ein, wie er es sonst zu tun pflegte. Eine Viertelstunde später eilte er die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und lief, wie von Furien gepeitscht, in der Dunkelheit durch die Vorstadt hin.

Jean und Ilka hatten von dem schrecklichen Auftritte nicht das mindeste verstanden. Die Worte: die Scheine gestohlen!… Die Kassenscheine gestohlen! konnten sie noch nicht darüber belehren, daß ihr Vater jetzt der Wucht eines greifbaren Beweises erliegen sollte.

Sie wandten sich also wieder an Wladimir, und dieser berichtete, mit niedergeschlagenen Augen und stammelnden Tones, was er getan hätte, wie er, wo er Nicolef habe retten, aus den Händen der Herren Johausen habe befreien wollen, diesen doch nur ins Verderben gestürzt hätte. Wer hätte ihn jetzt noch für unschuldig halten können, wo die aus der Mappe Pochs gestohlenen Kassenscheine, wenn auch nicht in seinem Besitz, doch in den Händen Wladimir Yanofs gefunden worden waren? Dieser hatte bei den Bankiers ja angegeben, daß er die Scheine mit der von Nicolef aufbewahrten Summe von diesem erhalten habe.

Erschüttert von dieser Mitteilung, weinten Jean und Ilka heiße Tränen.

In diesem Augenblicke meldete das Dienstmädchen, daß einige Polizisten nach Herrn Dimitri Nicolef zu fragen da seien. Vom Untersuchungsrichter auf die Denunziation Frank Johausens hin abgesendet, waren sie gekommen, den Mörder aus dem »Umgebrochenen Kreuze« zu verhaften.

Die Nachricht von der bevorstehenden Verhaftung hatte sich in der Stadt noch nicht verbreitet. Niemand wußte, daß die vielbesprochene Angelegenheit eine neue Wendung… voraussichtlich die letzte, genommen habe, mit der diese bald eine endgültige Erledigung finden müßte.

Während die Polizisten das ganze Haus absuchten und sich dabei überzeugten, daß Nicolef jetzt nicht darin war, eilten Jean und Ilka, ohne vorherige Verabredung, sondern nur von dem gleichen Gefühle getrieben, auf die Straße.

Sie wollten den Unglücklichen aufsuchen, ihn auf keinen Fall verlassen, und trotz der erdrückendsten Beweise, die sich mehr und mehr angesammelt hatten, weigerte sich eine Stimme ihres Innern, ihn für schuldig zu halten. Ihre zu Freud und Leid verbundenen Herzen empörten sich bei dem Gedanken an seine Schuld, obgleich die letzten Worte Nicolefs: »Ich bin verloren!… Bin verloren!« wie ein Geständnis klangen, das ihm wider Willen entschlüpft wäre.

Jetzt war es schon Nacht geworden. Mehrere Leute hatten Nicolef durch die Vorstadt hineilen sehen. Wladimir, Ilka und Jean liefen schnell in derselben Richtung hin und erreichten die alte Umwallung der Stadt. Vor ihnen lag nun das offene Land in tiefer Finsternis. Sie schlugen die Straße nach Pernau ein, indem sie einem gewissen Instinkte folgten, der sie nach dieser Seite hintrieb.

Zweihundert Schritte weiterhin blieben alle drei vor einem auf dem Fußwege der Straße liegenden Körper stehen.

Das war Dimitri Nicoles. Neben ihm lag ein blutiges Messer.

Ilka und Jean warfen sich über die Leiche ihres Vaters, während Wladimir nach dem nächsten Hause eilte, um Hilfe herbeizuholen.

Einige Bauern kamen bald mit einer Tragbahre, und Nicolef wurde in sein Haus geschafft, wo der schleunigst herbeigerufene Doktor Hamine nur noch die Ursache des plötzlichen Todes feststellen konnte.

Dimitri Nicolef war ganz ebenso verletzt, wie damals Poch, durch einen Stich ins Herz, und das Messer hatte im Umkreis der Todeswunde einen ganz ähnlichen Eindruck hinterlassen, wie der, der an der Leiche des Bankbeamten gefunden worden war.

Der Unselige hatte sich verloren gefühlt und durch Selbstmord geendet, um der Strafe für sein Verbrechen zu entgehen.

Fünfzehntes Kapitel.

Auf einem Grabe.

Es war also abgeschlossen, dieses traurige Kriminaldrama, das die Bevölkerung der baltischen Provinzen so tief erregt und sie am Vorabend, wo sich die Parteien auf dem Wahlkampfplatze messen sollten, nur noch weiter erhitzt hatte. Noch einmal sollte die deutsche Partei, nach dem gewaltsamen Tode des Schildhalters der Slawen, den Sieg davontragen. Der Streit zwischen beiden Lagern loderte aber sicherlich früher oder später von neuem auf, und endete voraussichtlich erst nach der völligen Russifizierung des Landes unter dem Drucke der Regierungsgewalt.

Und Dimitri Nicolef hatte sich nicht allein entleibt, nein, der unter so schrecklichen Verhältnissen verübte Selbstmord erlaubte auch nicht mehr, an seiner Schuld zu zweifeln, seitdem die gestohlenen Kassenbilletts so unerwartet zum Vorschein gekommen waren. Er besaß also, als er Riga auf das Schreiben Wladimir Yanofs hin verlassen hatte, das ihm anvertraute Depot überhaupt nicht mehr. Ob er aber den Sohn seines Freundes aufgesucht habe, um ihm die ganze Wahrheit einzugestehen, oder ob er wegen Mißbrauchs des ihm geschenkten Vertrauens habe flüchten wollen… das war jedenfalls schwierig zu entscheiden. Dagegen konnte man wohl annehmen, daß Nicolef durch das unerwartete Auftauchen des aus den sibirischen Bergwerken entflohenen Verbannten überrascht worden sei und erkannt habe, daß er jetzt in eine Lage gekommen sei, in der seine Ehre für immer auf dem Spiele stand, da er einerseits Wladimir Yanof die ihm von seinem Vater zugefallene Erbschaft ebensowenig ausantworten, wie die bei den Herren Johausen nach wenigen Wochen fällige Schuld bezahlen konnte… hier war ihm jeder Weg zur Rettung verschlossen. Da wäre er denn auf der Reise mit dem Bankbeamten Poch zusammengetroffen, und der Ertrag des Diebstahls hätte es ihm ermöglicht, die früher veruntreute Summe nach Pernau zu bringen. Die eine Schuld wäre ja damit getilgt gewesen, doch um welchen Preis?… Um den eines zweifachen Verbrechens: eines Mordes und eines Diebstahls!

Als sich dann alles aufgeklärt hatte, als es Licht geworden war in der bisher so dunkeln Angelegenheit, als die von Wladimir Yanof vorgelegten Kassenscheine an ihren Nummern als dieselben erkannt worden waren, die sich in der Mappe Pochs befunden hatten, da hatte sich Dimitri Nicolef, der wahre Schuldige, der Raubmörder, mit demselben Messer, womit er sein Opfer getötet hatte, durch einen einzigen Stich ins Herz umgebracht.

Die Aufklärung dieser Angelegenheit gab selbstverständlich dem Schenkwirt Kroff alle Sicherheit wieder. Es war dazu auch die höchste Zeit gewesen: am nächsten Tage schon hätte Kerstorf den Befehl zu seiner Verhaftung ausfertigen wollen. Von der Stunde an, wo sich die Unstatthaftigkeit eines Einschreitens gegen Dimitri Nicolef zu ergeben schien, konnte ein solches nur gegen Kroff in Frage kommen.

 

Dimitri Nicolef, den Kopf in den Händen, saß an seinem Arbeitstische. (S. 211.)

Dimitri Nicolef, den Kopf in den Händen, saß an seinem Arbeitstische. (S. 211.)

 

Nicolef oder Kroff, das Gericht konnte nach keinem andern Schuldigen forschen.

Bekanntlich war gegen den Schenkwirt auch schon einiger Verdacht aufgestiegen, als der Kriminalbeamte erfuhr, was im Kontor der Gebrüder Johausen vorgefallen war, und er war nicht einer derer, die am wenigsten darüber erstaunten, daß die Schuldlosigkeit Kroffs und die Schuld Nicolefs anzuerkennen wäre.

Kroff nahm also seine gewohnte Lebensweise im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ wieder auf, ja er wußte aus den jetzigen Umständen noch recht ansehnlichen Nutzen zu ziehen. Erschien er nicht wie ein später freigesprochener Verurteilter, nachdem man die Ungerechtigkeit seiner Verurteilung erkannt hatte? Kurz, man sprach von der Sache wohl noch einige Tage, doch dann war sie abgetan. Entging jetzt den Bankiers auch die Schuldsumme, die sie von Dimitri Nicolef zu fordern hatten, so waren sie doch wenigstens im Besitz der achtzehntausend Rubel, die ihnen Wladimir Yanof überbracht hatte.

Nach der Beerdigung des Lehrers zogen sich Ilka und Jean, von dessen Rückkehr nach der Universität in Dorpat jetzt keine Rede mehr war, in ihr Haus zurück, dessen Schwelle gar viele der alten Freunde Nicolefs nicht mehr zu betreten wagten. Nur drei verließen sie in ihrem Jammer nicht: Wladimir Yanof, den hier zu erwähnen kaum nötig ist, Herr Delaporte und der Doktor Hamine.

 

 »Niemals,« entgegnete sie traurig. (S. 222.)

»Niemals,« entgegnete sie traurig. (S. 222.)

 

Die Geschwister sahen ihre weitere Lebensbahn nicht mehr klar vor sich. Alles erschien dunkel, selbst was Dimitri Nicolef anging, den schuldig zu glauben, gegen die Natur zu streiten schien. Sie gingen so weit, zu glauben, daß sein Verstand unter den wiederholten schweren Schicksalsschlägen gelitten haben werde, daß er sich nur in einem Anfalle von geistiger Umnachtung getötet habe und daß dieser Selbstmord keineswegs beweise, daß er der Urheber des Verbrechens im ‘Umgebrochenen Kreuze’ gewesen sei.

Es erscheint wohl kaum nötig auszusprechen, daß Wladimir Yanof dasselbe annahm, daß er sich sträubte, auch die erdrückendsten Beweise anzuerkennen. Wie wäre es aber möglich gewesen, daß jene numerierten Kassenscheine in den Besitz Dimitri Nicolefs gekommen wären, wenn dieser sie nicht von dem toten Poch gestohlen hatte?

Wladimir sprach darüber auch mit dem Doktor Hamine, dem ältesten Freunde der Familie.

»Ich will zugeben, sagte dieser mit unwiderlegbarer Logik, zugeben, lieber Wladimir, daß es Nicolef nicht gewesen ist, der Poch beraubt hatte, obgleich die Diebesbeute sich in seinem Besitz befunden hat. ebenso, daß sein Selbstmord kein untrüglicher Beweis für seine Schuld ist, da er wohl in einem Anfall von Geistesstörung, einer Folge der schrecklichen, ihn überwältigenden Prüfungen, Hand an sich gelegt haben könnte… eine Tatsache überwiegt aber doch das alles: Dimitri hat sich mit derselben Waffe umgebracht, mit der Poch getötet worden war, und vor dieser Tatsache muß man sich wohl beugen, so unglaublich, so entsetzlich das Ganze auch erscheint.

– Wenn es an dem ist, antwortete Wladimir als eine letzte Einwendung, so mußte Dimitri Nicolef ein Dolchmesser dieser Art besessen haben, das sein Sohn und seine Tochter bei ihm niemals gesehen hatten… nein, Herr Doktor, weder Sie noch sonst jemand. Hier zeigt sich noch ein unaufgeklärter Punkt…

– Darauf kann ich nur eine Antwort geben, Wladimir: Nicolef muß dieses Messer besessen haben; wie könnte man daran zweifeln, da er sich dessen zweimal, gegen Poch und gegen sich selbst, bedient hat?«

Wladimir ließ den Kopf sinken; er fand hierauf keine Antwort.

Da nahm der Doktor Hamine wieder das Wort:

»Was soll nun aus den unglücklichen Kindern, aus Jean und Ilka werden?

– Nun, wird denn Jean nicht mein Bruder sein, wenn Ilka meine Frau ist?«

Der Arzt ergriff die Hand Wladimirs und drückte sie mit Wärme.

»Haben Sie denn glauben können, Herr Doktor, daß ich davon absehen würde, Ilka zu heiraten, sie, die ich liebe und die mich liebt, ob ihr Vater schuldig sei oder nicht?«

Wenn er immer noch bei seinem Zweifel verharrte, war es doch, nach allem, was der Doktor Hamine gesagt hatte, nur seine Liebe, die ihm die Kraft dazu eingab.

»Nein, Wladimir, antwortete der Arzt, ich habe nie geglaubt, daß Sie sich weigern würden, Ilka zu heiraten. Trifft denn die Unglückliche eine Verantwortlichkeit?

– Nicht die geringste! rief Wladimir eifrig. In meinen Augen ist sie das beste, das edelste Wesen… ist sie der Liebe eines ehrenhaften Mannes würdig. Unsere Verehelichung wird sich freilich verschieben, doch sie wird erfolgen. Sollten wir diese Stadt verlassen müssen, so wird es geschehen.

– Wladimir, ich erkenne Ihr gutes, edles Herz. Sie wollen Ilka heiraten, doch wird Ilka das jetzt auch wollen?

– Wenn sie sich weigerte, wär es ja ein Zeichen, daß sie mich nicht liebte.

– O, Wladimir, könnte es nicht auch ein Zeichen für ihre Liebe sein, einer Liebe, um deretwillen Ilka nicht wünscht, Sie erröten zu sehen?«

Dieses Zwiegespräch veränderte in keiner Weise die Gefühle Wladimir Yanofs; im Gegenteil blieb dieser entschlossen, seine Vermählung mit Ilka eher zu beschleunigen, sie wenigstens stattfinden zu lassen, sobald es die Umstände gestatteten. Darum, was man in der Stadt sagen, was man von ihm denken würde, selbst um den etwaigen Tadel seiner Freunde, kümmerte er sich ja nicht. Nur eines lag ihm schwer am Herzen: seine augenblickliche Lage.

Von dem Depot, das ihm Dimitri Nicolef ausgehändigt hatte, war ihm nach der Zahlung an die Gebrüder Johausen nur sehr wenig, nur ein Rest von zweitausend Rubeln übrig geblieben. Sein Vermögen hatte er ja hingeopfert, als er nach dem Bankhause ging, den Schuldschein Dimitri Nicolefs einzulösen. Nun, wenn ihn damals die Zukunft nicht erschreckte, warum sollte sie ihn dann heute mehr erschrecken? Er würde arbeiten… für sich und seine Gattin. Mit Ilkas Liebe erschien ihm nichts unmöglich.

So vergingen vierzehn Tage; Jean, Ilka, Wladimir und der Doktor Hamine hatten einander sozusagen niemals verlassen. Der Arzt und zuweilen Herr Delaporte waren die einzigen, die ins Haus des Lehrers gekommen waren.

Wladimir hatte bisher noch kein Wort bezüglich der Heirat fallen lassen, sein Dableiben sprach ja genug für ihn. Auch Jean und Ilka hatten noch keines eine Andeutung davon geäußert. Meist verhielten sich der Bruder und die Schwester schweigend und blieben stundenlang allein in demselben Zimmer.

Da entschloß sich Wladimir endlich, der Zurückhaltung, die das junge Mädchen beobachtete, ein Ende zu machen.

»Ilka, begann er eines Tages mit tieferregter Stimme, als er mit ihr allein im Zimmer war, als ich Riga – es ist nun vier Jahre her – verließ, als ich von dir getrennt und nach Sibirien verwiesen wurde, da versprach ich dir, dich niemals zu vergessen. Sprich: habe ich mein Wort gehalten?

– Ganz gewiß, Wladimir.

– Ich habe dir beteuert, dich immer zu lieben. Haben sich meine Gefühle für dich verändert?

– Ebensowenig wie die meinigen für dich, Wladimir, und wenn ich die Erlaubnis dazu hätte erwirken können, wäre ich schon draußen zu dir gekommen und wäre dein Weib geworden…

– Die Gattin eines Verurteilten, Ilka!

– Nein, nur die eines Verbannten, Wladimir«, antwortete das junge Mädchen.

Wladimir empfand zwar die Unterscheidung, die sie in die Worte legte, er vermied es aber, näher darauf einzugehen.

»Jetzt, liebe Ilka, fuhr er fort, bist du aber nicht mehr genötigt, da hinaus zu kommen, um mein Weib zu werden. Die Verhältnisse haben sich geändert: jetzt bin ich gekommen, dein Gatte zu werden!

– Du hast recht, zu sagen, daß die Verhältnisse sich geändert haben, Wladimir… ach ja… doch in schrecklicher Weise.«

Sie sprach die letzten Worte mit einem so schmerzlichen Nachdruck, daß ihr ganzer Körper dabei erzitterte.

»Meine liebste Ilka, sagte Wladimir darauf, welch grausame Erinnerung es auch in dir wachrufen konnte, ich mußte mich gegen dich einmal aussprechen.

Ich will dich nicht länger quälen. Ich kam nur, dich um Einlösung deiner Versprechungen zu bitten.

– Meiner Versprechungen, Wladimir, antwortete Ilka, die die Seufzer, welche ihre Brust erfüllten, nicht mehr zurückhalten konnte… meiner Versprechungen?… Ach, als ich dir diese gab, war ich dazu noch würdig, doch heute…

– Heute, Ilka, bist du würdig, sie zu halten.

– Nein, Wladimir, wir müssen die Pläne vergessen, die wir einst entworfen haben…

– Du weißt doch zu gut, daß ich sie nie vergessen werde. Wären sie nicht schon seit einigen Wochen verwirklicht worden, gehörten wir heute einander nicht unauflösbar an, ohne das Unglück, das sich am Vorabend unserer Verbindung ereignete?

– Ja freilich, antwortete Ilka resigniert, doch Gott sei gelobt, daß es noch nicht dazu gekommen war. Jetzt brauchst du es nicht zu bereuen, brauchst nicht zu erröten, in eine Familie eingetreten zu sein, über die so unsägliche Schmach und Schande gekommen ist!

– Ilka, erwiderte Wladimir ernst, ich würde es nimmer bereut haben, das schwör’ ich dir, würde nie darüber errötet sein, als der Gatte Ilka Nicolefs dazustehen, an der ja kein Makel haftet.

– Nun ja, Wladimir… ich glaube deinen Worten, rief das junge Mädchen, der das Herz zu zerspringen drohte. Ich kenne den Edelmut deines Charakters. Du würdest es nicht bereut haben, würdest nicht um meinetwillen errötet sein. Du liebst mich von ganzem Herzen, doch nicht mehr als ich dich!

– Ilka, meine angebetete Ilka!« rief Wladimir, der ihre Hand erfassen wollte.

Ilka zog sie sanft zurück.

»Ja, wir lieben einander, antwortete sie. Unsere Liebe ist für uns das Glück, doch eine Verbindung zwischen uns ist jetzt unmöglich geworden.

– Unmöglich? wiederholte Wladimir. Darüber bin ich doch, muß ich doch der einzige Richter sein. Ich bin kein Kind mehr, Ilka! Mein Leben ist bis jetzt kein so leichtes, kein so glückliches gewesen, daß ich mich nicht daran gewöhnt hätte, reiflich zu überlegen, was ich tun will. Da ich dich liebe und da du mich wieder liebst, schien mir endlich das Glück zu winken. Ich hegte die Hoffnung, du werdest so viel Vertrauen zu mir haben, das für recht zu halten, was ich für recht ansähe, und nicht über eine Sachlage urteilen, die du unmöglich richtig beurteilen kannst.

– Die ich beurteile, wie die Welt sie beurteilen wird, Wladimir!

– Was geht mich die Anschauung der Menschen an, die du die Welt nennst, liebe Ilka? Für mich bist du die Welt, nur du allein, so wie ich es doch auch für dich sein sollte. Wir verlassen diese Stadt, wenn du es wünschest. Jean begleitet uns, und wohin wir auch gehen, werden wir glücklich sein, das schwöre ich dir!… Ilka, meine geliebte Ilka, sage, daß du mein Weib werden willst!«

Wladimir sank vor ihr auf die Knie, er bat, er flehte sie an. Es schien aber, als ob Ilka noch mehr vor sich selbst schauderte, als sie ihn in dieser Lage sah.

»Steh’ auf, stehe auf! bat sie ihn. Man kniet nicht vor der Tochter eines…«

Wladimir ließ sie nicht ausreden.

»Ilka, Ilka, rief er immer wieder, halb von Sinnen und die Augen voller Tränen, Ilka, werde mein Weib!

– Niemals, entgegnete sie traurig, niemals wird die Tochter eines Mörders die Gattin Wladimir Yanofs werden.«

Diese Szene hatte beide gebrochen. Ilka zog sich auf ihr Zimmer zurück Wladimir, der sich in seiner Verzweiflung nicht zu fassen vermochte, verließ das Haus, irrte ziellos durch die Straßen und auf dem Lande umher und flüchtete endlich zu dem Doktor Hamine.

Der Arzt erkannte sofort, daß es zwischen den beiden Verlobten zu einer Erklärung gekommen war, zwischen zwei Liebenden, die jetzt ein unüberbrückbarer, von den starren gesellschaftlichen Rücksichten gegrabener Abgrund trennte.

Wladimir schilderte ihm das Vorgefallene und wiederholte, wie er Ilka gebeten, ja angefleht habe, ihren Entschluß zu ändern.

»Ach, mein armer Wladimir, antwortete der Doktor Hamine, ich hatte es Ihnen ja gesagt… ich kenne doch Ilka schon lange, sie wird bei ihrem Entschlusse beharren.

– O, lieber Herr Doktor, rauben Sie mir nicht das letzte Restchen von Hoffnung, das ich mir bewahrt habe!… Sie wird sich meinen Bitten fügen!

– Niemals, Wladimir, bei ihrem so unbeugsamen Charakter. Sie fühlt sich entehrt, und wird nie Ihre Gattin werden, da sie die Tochter eines Mörders ist.

– Wenn sie das aber am Ende doch nicht wäre, rief Wladimir. Wenn ihr Vater jenes Verbrechen doch nicht begangen hätte?«

Der Doktor Hamine wendete den Kopf ab, da er auf diese jetzt ja gelöste Frage nicht antworten konnte.

Wladimir raffte sich zusammen, so daß er alle Selbstbeherrschung wiedergewann, und erklärte fast feierlichen Tones, aus dem ein unverrückbar feststehender Entschluß herausklang:

»Ich habe Ihnen, lieber Doktor, hierüber nur noch eines zu erklären: ich betrachte Ilka als mein Weib vor den Augen Gottes, und ich werde warten…

– Warten? Worauf, Wladimir?

– Daß Gottes Hand noch eingreifen werde.«

Mehrere Monate vergingen ohne jede Veränderung der Sachlage. In den verschiedenen Bevölkerungsklassen der Stadt hatte man sich über den Vorfall allmählich beruhigt. Niemand sprach mehr davon. Die deutsche Partei hatte bei den städtischen Wahlen den Sieg davongetragen. Frank Johausen, der wieder gewählt worden war, gab sich den Anschein, als ob ihn die Familie Nicolef überhaupt nichts anginge.

Jean und Ilka erinnerten sich freilich der Schuldverschreibung, die ihr Vater dem Bankier ausgestellt hatte, und stimmten völlig darin überein, daß es ihre Pflicht sei, sein Andenken wenigstens von diesem Makel zu reinigen.

Das erforderte natürlich einige Zeit. Sie mußten das Wenige, was sie besaßen, zu Gelde machen, das väterliche Haus und die Büchersammlung des Lehrers und überhaupt alles verkaufen, was sich nur veräußern ließ. Wenn sie auch das Letzte opferten, was sie besaßen, reichte es vielleicht hin, die Ehrenschuld zu tilgen.

Was nachher geschehen sollte, würden sie ja sehen. Ilka konnte vielleicht Unterricht erteilen, wenn jemand ihr, wäre es auch in einer anderen Stadt, Vertrauen schenkte, und Jean könnte den Versuch machen, in einem Handelshause Stellung zu finden.

Zunächst galt es freilich, die nötigsten Lebensbedürfnisse zu decken. Ihre Hilfsquellen begannen zu versiegen. Die kleinen Ersparnisse, die Ilka von dem Verdienste ihres Vaters gemacht hatte, gingen von Tag zu Tag mehr zu Ende. Die Veräußerung all ihres Besitzes mußte also schnell erfolgen, und dann wollten Bruder und Schwester überlegen, ob sie in Riga blieben oder nicht.

 

 »Und der Mörder?...« fragte Jean. (S. 229.)

»Und der Mörder?…« fragte Jean. (S. 229.)

 

Nach der bestimmten Absage des jungen Mädchens hatte Wladimir Yanof, schon aus Rücksichten des Anstandes, natürlich das Haus verlassen müssen. Er blieb aber in derselben Vorstadt und nur wenige Schritte davon entfernt wohnen und besuchte es ebenso fleißig, als wenn er noch selbst zu dem Hause des unglücklichen Lehrers gehört hätte. Hier ging er mit seinem Rate zur Hand, das kleine Besitztum vorteilhaft zu verkaufen, um die Gebrüder Johausen voll befriedigen zu können. Natürlich bot er dazu auch an, was ihm von dem väterlichen Erbteil übrig geblieben war. Ilka wollte aber nichts davon annehmen.

In seiner Bewunderung dieser Seelengröße, dieses Adels des Charakters, die ihm das junge Mädchen noch begehrenswerter machten, bat er sie, ihrer Verehelichung zuzustimmen, nicht auf der Anschauung zu beharren, daß sie seiner unwürdig sei, und sich endlich dem Zureden der Freunde ihres Vaters zu fügen; doch nichts konnte er von ihr erreichen, nicht einmal eine Hoffnung auf die Zukunft… alles scheiterte an ihrem unveränderlichen Willen.

Der Doktor Hamine, der wiederholt Zeuge der Verzweiflung Wladimirs gewesen war, versuchte mehrmals, Ilka anderen Sinnes zu machen, es gelang ihm aber ebensowenig, wie den Bitten Wladimirs.

»Die Tochter eines Mörders, antwortete sie, kann nicht die Gattin eines ehrenwerten Mannes werden!«

 

Dieses Geld vergrub er am Fuße eines Baumes in dem Tannenwalde. (S. 230.)

Dieses Geld vergrub er am Fuße eines Baumes in dem Tannenwalde. (S. 230.)

 

In der Stadt waren diese Verhältnisse vielfach bekannt. Jeder bewunderte des Mädchens energische Natur, der von allen Seiten Anerkennung gezollt und tiefes Mitleid entgegengebracht wurde.

Nun verstrich längere Zeit, ohne daß die Lage der Dinge eine Veränderung erfuhr. Da traf am 17. September ein an Jean und Ilka Nicolef gerichteter Brief ein.

Das Schreiben rührte von dem Popen von Riga her, einem siebzigjährigen, von der gesamten orthodoxen Bevölkerung hochverehrten Greise, bei dem auch Ilka mehrmals den Seelentrost gesucht hatte, den allein die Religion zu bieten vermag.

Der Pope forderte die Geschwister auf, sich an demselben Tage in der fünften Nachmittagsstunde auf dem Rigaer Friedhof einzufinden.

Der Doktor Hamine und Wladimir Yanof, die eine gleichlautende Zuschrift erhalten hatten, begaben sich schon zeitig am Vormittage nach dem Hause Dimitri Nicolefs.

Jean wies ihnen den von dem Popen Axief unterzeichneten Brief vor.

»Was mag diese Einladung zu bedeuten haben, sagte er, und warum sollen wir uns alle gerade auf dem Friedhofe einfinden?«

Der Friedhof war derselbe, wo die sterblichen Überreste Dimitri Nicolefs beigesetzt worden waren, ohne daß sich die Geistlichkeit an dem stillen Begräbnis des Selbstmörders beteiligt hatte.

»Was meinen Sie, Herr Doktor? fragte Wladimir.

– Ich denke, wir müssen dahin gehen, wohin der Pope uns gerufen hat. Er ist ja ein ehrwürdiger, weiser und kluger Diener des Herrn, und wenn er uns diese Einladung zugehen ließ, wird er schon seine ernsten Gründe dazu gehabt haben.

– Gehst du auch mit, Ilka? fragte Wladimir, indem er sich an das bisher stillschweigende junge Mädchen wendete.

– Ich habe schon mehrmals auf dem Grabe meines armen Vaters gebetet, antwortete Ilka. Ich werde mitkommen, und Gott möge uns erhören, wenn der Pope Axief seine Gebete mit den unsrigen vereinigt.

– Wir werden Punkt fünf Uhr auf dem Rigaer Friedhofe sein,« versprach der Doktor Hamine.

Darauf zog er sich mit Wladimir zurück.

Jean und Ilka trafen zur festgesetzten Stunde auf der Ruhestätte der Toten ein und fanden hier ihre Freunde, die sie schon an der Eingangspforte erwartet hatten. Alle begaben sich nun nach der Stelle, wo Dimitri Nicolef beerdigt war.

Auf dem Grabhügel kniend, betete der Pope für die Seele des Ünglücklichen.

Bei dem Geräusche sich nahender Schritte hob er den schönen, silberweißen Kopf und richtete sich in voller Höhe auf. Seine Augen leuchteten in außergewöhnlichem Glanze, und er streckte die Hände aus als Zeichen, daß die Geschwister, der Doktor Hamine und Wladimir sich nähern möchten.

Als Wladimir und Ilka jedes an einer Seite des schmucklosen Hügels standen, begann der Pope:

»Ihre Hand, Wladimir Yanof.«

Darauf wandte er sich an das junge Mädchen:

»Und Ihre Hand, Ilka Nicolef.«

Die beiden Hände legte er über dem Grabe ineinander. Die ruhige Kraft seines Blickes, der Ausdruck der Güte in seinen Zügen genügte dazu, daß Ilka ihre Hand in der Wladimirs ruhen ließ.

Dann sprach der Pope mit ernster Stimme die einfachen Worte:

»Wladimir Yanof und Ilka Nicolef, Ihr seid vor Gott dem Herrn verbunden.«

Das junge Mädchen war kaum Herrin ihrer Erregung, die sie antrieb, ihre Hand zurückzuziehen.

»Lassen Sie die Hand nur da, wo sie ist, sagte der Pope sanft, sie gehört dem, der Sie liebt…

– Mich, rief Ilka stöhnend, mich, die Tochter eines Mörders?

– Nein, die eines Unschuldigen, den nicht einmal der Vorwurf des Selbstmordes trifft! antwortete der Pope, der beteuernd die Augen zum Himmel erhob.

– Und der Mörder?… fragte Jean.

– Ist der Inhaber des ‘Umgebrochenen Kreuzes’… der Schenkwirt Kroff!«