Neuntes Kapitel.

Denunziation.

Hier mögen die Vorgänge geschildert werden, die sich am Tage vorher in Riga abgespielt hatten, wohin der Richter Kerstorf, der Major Verder, der Doktor Hamine und Herr Frank Johausen in der Nacht vom 15. zum 16. April zurückgekehrt waren.

Schon zwölf Stunden vorher, noch am Morgen, hatte sich die Nachricht von dem im »Umgebrochenen Kreuze« verübten Verbrechen im Fluge verbreitet. Gleichzeitig damit erfuhr man auch den Namen des beklagenswerten Opfers, Pochs, des Beamten der Bank.

Dieser Unglückliche war in der ganzen Stadt bekannt. Tag für Tag begegnete man ihm ja bisher, eine Geldtasche über der Schulter und unter dem Arme eine Mappe, die von einer an seinem Gürtel befestigten Stahlkette gehalten wurde, wenn er auf dem Wege war, Außenstände für die Firma Johausen einzuziehen. Ein guter, gefälliger Mann von liebenswürdigem Gemüt, hatte er den jeder achtete, überall nur Freunde, aber keinen Feind. Jetzt, wo er nach so langem Warten im Begriffe stand, Zenaïde Parenzof zu heiraten, erlaubten ihm seine Verhältnisse, dank seiner Arbeitsamkeit, seinem Verhalten, der Regelmäßigkeit seiner Lebensführung und dem Wohlwollen seiner Chefs, sich endlich für die Zukunft häuslich einzurichten, wenn er seine Ersparnisse und Einnahmen mit denen seiner späteren Gattin vereinigte. Am übernächsten Tage hatten die Verlobten vor den protestantischen Pastor treten wollen, der ihren Bund segnen sollte. Darauf war eine Feier in der Familie geplant, wozu die Kollegen von anderen Banken ihr Erscheinen zugesagt hatten, um sich an der fröhlichen, weltlichen Besiegelung des Ehebundes zu beteiligen. Man bezweifelte auch nicht, daß die Gebrüder Johausen das anspruchslose Fest mit ihrer Gegenwart beehren würden. Die Vorbereitungen dazu waren schon begonnen, ja zum Teil schon beendigt. Gerade da mußte nun Poch in einem vereinsamt gelegenen Gasthause an einer Landstraße Livlands einer ruchlosen Mörderhand erliegen! Das Aufsehen, das dieser Vorfall machte, kann man sich wohl denken.

Offenbar war es auch nicht zu verhindern, daß Zenaïde plötzlich, ohne jede Vorbereitung davon erfuhr, da sie eine Zeitung las, die die Depesche, doch keine Einzelheiten über den traurigen Fall brachte. Die Unglückliche war wie vom Blitz getroffen. Sehr bald erschienen ihre Nachbarn und dann auch Frau Johausen bei ihr, um sie zu trösten und ihre Hilfe anzubieten. Vielleicht erholte sich die Ärmste überhaupt nicht wieder von diesem furchtbaren Schicksalsschlage.

Wenn man aber das Opfer kannte, so hatte doch noch niemand eine Ahnung, wer dessen Mörder wäre. Im Laufe der beiden Tage, des 14. und des 15., wo der Richter sich mit den anderen Herren nach dem Orte der Tat begeben hatte, um den Vorfall zu untersuchen, war in dieser Beziehung noch nichts in die Öffentlichkeit gedrungen. Dazu mußte man die Rückkehr der Genannten abwarten, und vielleicht hatten auch sie noch nichts von dem Urheber des Verbrechens entdeckt.

Den Mörder, wer das auch sein mochte, traf die Verdammung, der Fluch der gesamten Einwohnerschaft. Niemand erschien es genug, ihn nach aller Strenge des Gesetzes zu bestrafen. Man bedauerte wirklich, daß es nicht mehr die Zeit wäre, wo eine Hinrichtung erst nach den schrecklichsten Folterqualen vollzogen wurde. Hierbei darf man nicht vergessen, daß dieses Schauerdrama in den baltischen Provinzen spielte, wo die Justiz gegen die zum Tode Verurteilten noch vor nicht zu langer Zeit mit unerhörter Grausamkeit auftrat. Man zwickte sie da erst mit glühender Zange und marterte sie mit Stockschlägen, zuweilen mit tausend, ja sogar mit sechstausend wuchtigen Hieben, die dann freilich nur noch einen Leichnam trafen. Man schloß Verbrecher wohl auch zwischen vier Mauern ein, wo sie elend verhungern mußten, wenn es nicht nur auf eine gewisse Zeit geschah, um von ihnen ein Geständnis zu erpressen. Dann ernährte man sie ausschließlich mit Salzfleisch und Fisch, ohne ihnen einen Tropfen Wasser zukommen zu lassen, eine Art der gerichtlichen »Fragestellung«, die oft Antworten zwangsweise zur Folge hatte.

Jetzt herrschen merklich mildere Sitten, so daß die Todesstrafe in Rußland nur für politische Verbrechen beibehalten, für solche gegen das gemeine Recht aber abgeschafft und durch Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken ersetzt ist. Die Deportation für den Mörder im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze«… nein, das konnte die Bevölkerung Rigas nicht zufriedenstellen.

Wie schon erwähnt, waren Anordnungen zur Überführung des Ermordeten getroffen worden, obwohl es dabei nicht etwa in Frage kam, in Riga noch weitere Aufklärung über den Vorgang zu erhalten. In seinem Protokolle hatte der Doktor Hamine die Natur und Gestalt der Todeswunde ebenso wie den Eindruck von dem Stoße des Messers rings um diese sorgfältig beschrieben und festgestellt. Frank Johausen bestand aber darauf, daß die Beerdigung seines Bankbeamten in der Stadt erfolge, ein Begräbnis, dessen Kosten die Firma aus Mitleid und aus Teilnahme ausschließlich auf sich nahm.

Am Vormittag des 16. erschien der Major Verder im Amtszimmer seines Vorgesetzten, des Polizeiobersten Raguenos. Dieser wartete schon ungeduldig darauf, über den Vorfall näher unterrichtet zu werden, um, wenn das nur die schwächsten Anzeichen ratsam erscheinen ließen, seine findigsten Geheimpolizisten auf die Spur des Mörders zu entsenden. Später würde es sich wohl zeigen, ob man gezwungen wäre, auch der Provinzialregierung besonderen Bericht zu erstatten. Bis auf weitere Klarlegung des Falles schien es, daß es sich nur um einen Verstoß gegen das gemeine Recht, um einen Mord in Verbindung mit Beraubung handle.

Der Major berichtete dem Obersten Raguenos alle Einzelergebnisse der Untersuchung, die Umstände, unter denen das Verbrechen begangen worden war, die Indizien, die das Verhör am Orte ergeben, und den Befund, den der Doktor Hamine amtsgerichtlich aufgenommen hatte.

»Ich sehe, antwortete der Oberst, daß Ihr Verdacht besonders auf den unbekannten Reisenden hinweist, der jene Nacht in der Schenke zugebracht hat.

– Besonders auf den, Herr Oberst.

– Und der Schenkwirt Kroff hat bei der Untersuchung kein verdachterweckendes Benehmen gezeigt?

– Natürlich kam uns der Gedanke, daß er der Mörder sein könnte, antwortete der Major, obgleich sein Vorleben völlig einwandfrei gewesen ist. Nach den an dem Fenster im Zimmer des anderen Reisenden zurückgebliebenen Spuren aber, nach seinem so frühzeitigen Weggange, und nachdem wir in dem betreffenden Zimmer das Schüreisen gefunden hatten, womit der Laden offenbar aufgebrochen worden war, konnten wir über den Urheber des Verbrechens kaum noch im Zweifel sein.

– Es wird sich immerhin empfehlen, jenen Kroff zu beobachten.

– Gewiß, Herr Oberst; ich habe auch zwei Mann zur Bewachung des Hauses zurückgelassen, und der Schenkwirt selbst hat sich jede Stunde den Behörden zur Verfügung zu halten.

– Sie nehmen also nicht an, fuhr der Oberst Raguenos fort, daß der Mord durch einen von außen durch das Fenster ins Zimmer eingedrungenen Verbrecher verübt sein könnte?

– Das kann ich weder bestimmt verneinen noch bejahen, antwortete der Major, es ist aber kaum zu vermuten, denn alle verdächtigen Merkmale weisen auf den Reisenden hin, der mit Poch die Schenke aufgesucht hatte.

– Ich ersehe hieraus, daß Ihre Überzeugung schon feststeht, Major Verder…

– Meine Überzeugung, wie die des Richters Kerstorf, des Doktor Hamine und des Herrn Johausen. Bedenken Sie gefälligst, daß dieser Reisende sich stets bemüht hatte, unerkannt zu bleiben, und das ebenso als er nach dem Kabak kam, wie nachher, als er diesen wieder verlassen hat.

– Er hat auch beim Weggange aus dem »Umgebrochenen Kreuze« nicht gesagt, wohin er sich begeben wolle?

– Nein, Herr Oberst.

– Liegt es nicht nahe, anzunehmen, daß er die Absicht hegte, nach Pernau zu gehen, da er Riga mit der Post verließ?

– Das wäre wohl möglich, Herr Oberst, obgleich er seinen Wagenplatz bis Reval bezahlt hatte.

– In Pernau ist in den Tagen des vierzehnten und fünfzehnten auch kein auffallender Fremder bemerkt worden?

– Kein einziger, versicherte der Major Verder, obwohl die Polizei dort scharf aufgepaßt hat, da ihr der Mord noch am nämlichen Tage gemeldet worden war… Wohin sich jener Reisende gewendet hat?… Ob er in Pernau eingetroffen ist?… Wer weiß das?… Könnte er mit dem geraubten Gelde nicht auch die baltischen Provinzen überhaupt verlassen haben?..

– Ja freilich, Herr Major, die Möglichkeit liegt ja auf der Hand, daß er bei der Nähe mehrerer Häfen Gelegenheit zum Entfliehen gefunden hätte…

– Nun eigentlich: bald finden könnte, Herr Oberst, denn vorläufig ist die Schiffahrt auf der Ostsee und im Finnischen Meerbusen wohl kaum schon eröffnet. Nach den mir zugegangenen Berichten hat noch kein Schiff auslaufen können. Beabsichtigt der Reisende also, zur Flucht ein solches zu benutzen, so muß er schon noch einige Tage warten… entweder in einem Orte des Binnenlandes, oder in einem der Hafenplätze, in Pernau, Reval…

 

Das junge Mädchen blieb auf der Schwelle der Haustür stehen. (S. 135.)

Das junge Mädchen blieb auf der Schwelle der Haustür stehen. (S. 135.)

 

– Oder Riga, fiel ihm der Oberst ins Wort. Warum sollte er nicht dahin zurückgekehrt sein, vielleicht gerade in der Absicht, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen?

– Das erscheint mir kaum annehmbar, Herr Oberst; man muß freilich mit allem rechnen, und unsere Beamten haben auch schon Befehl, alle zum Auslaufen bereiten Schiffe streng zu überwachen. Jedenfalls wird das Meer aber vor Ausgang dieser Woche nicht eisfrei, und ich werde nochmals Befehl geben, in Riga Stadt und Hafen besonders scharf im Auge zu behalten.«

Der Oberst billigte die von seinem Untergebenen angeordneten Maßregeln, verlangte aber deren Ausdehnung auf alle baltischen Provinzen. Der Major Verder versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten. Die weitere Untersuchung sollte dem Richter Kerstorf anvertraut bleiben, und man durfte sich auf diesen rührigen Beamten verlassen, daß er alles herauszufinden und zu sammeln wissen werde, was mit der traurigen Angelegenheit irgendwie in Verbindung stände.

Nach diesem Gespräch mit dem Major Verder hegte auch der Oberst Raguenof keinen Zweifel mehr, daß der Mörder kein anderer sei als jener Reisende, der den Bankbeamten Poch nach der Schenke Kroffs begleitet hatte. Auf ihm lastete der Verdacht gar so erdrückend. Doch wer war er?… Wie würde es gelingen, seine Persönlichkeit festzustellen, da er weder dem Schaffner Broks bekannt war, der ihn von Riga erst ganz kurz vor Abgang der Post auf-und mitgenommen, noch dem Schenkwirt Kroff, der ihn in seinem Kabak beherbergt hatte. Weder der eine noch der andere hatte sein Gesicht ordentlich gesehen, so daß beide nicht einmal sagen konnten, ob er jung oder alt wäre. Auf welche Fährte sollte man also die Geheimpolizisten unter solchen Umständen leiten?… In welcher Richtung Nachforschungen anstellen? Erhielt man von anderen Zeugen vielleicht noch weitere Aufklärungen, die es ermöglichten, mit einiger Aussicht auf Erfolg vorzugehen?

Bis jetzt war alles in Dunkel gehüllt.

Bald wird sich jedoch zeigen, wie diese Dunkelheit durch einen Lichtschein erhellt, wie diese Nacht zum Tag wurde.

Nachdem der Doktor Hamine an diesem Morgen sein gerichtsärztliches Gutachten über den Vorfall im »Umgebrochenen Kreuze« aufgesetzt hatte, war er, um diesen abzuliefern, nach dem Amtszimmer des Richters Kerstorf gegangen.

»Nun… keine weiteren Anzeichen? fragte er den Beamten.

– Keine Spur davon, lieber Doktor.«

Beim Weggange von dem Richter begegnete der Doktor Hamine zufällig dem französischen Konsul Delaporte und äußerte sich unterwegs gegen diesen über die schwebende Angelegenheit und die damit verknüpften Schwierigkeiten.

»Ja freilich, meinte der Konsul, wenn es so gut wie gewiß ist, daß jener Reisende das scheußliche Verbrechen begangen hat, so ist es sehr zweifelhaft, ob es gelingt, ihn zu entdecken. Sie, Doktor, legen ja ein besonderes Gewicht dem Umstande bei, daß der Todesstoß mit einer Art Dolchmesser ausgeführt worden sei, dessen Griffzwinge sichtbare Spuren rund um die Wunde hinterlassen habe. Schön… doch wie soll dieses Messer gefunden werden?…

– O… wer weiß? antwortete der Doktor Hamine.

– Nun das wird sich ja zeigen. Doch, da fällt mir eben ein, haben Sie vielleicht Nachricht von Nicolef?

– Von Dimitri? rief der Arzt. Warum diese Frage?… Ist er etwa krank?

– Nein, Doktor, doch wissen Sie denn nicht, daß er verreist ist?

– Verreist?… Wie sollte ich das wissen, da ich doch sechsunddreißig Stunden selbst abwesend war?

– Ah… richtig, antwortete der Konsul. Nun also, Dimitri ist seit drei Tagen von zu Hause weggegangen.

– Seit drei Tagen? wiederholte der Arzt verwundert und etwas betroffen.

– Ja, und auch ohne zu sagen, wohin er gehen wolle.

– Er hätte nicht einmal seine Tochter von seinem Weggange unterrichtet?

– O doch, aber nur mit einigen Worten: daß er zwei oder drei Tage abwesend sein werde.

– Das ist mindestens recht seltsam, bemerkte der Doktor Hamine. Und seit der Zeit hat man keine Nachricht von ihm?

–Keine einzige. Auch ich habe erst gestern, als ich in Nicolefs Wohnung vorsprach, durch Fräulein Ilka etwas von seiner Abreise erfahren.

– Und wann ist diese erfolgt?

– Vergangenen Freitag ganz früh.

– Doch wenn ich nicht irre, sagte dazu der Doktor Hamine, war am Freitag der dreizehnte, und den vorhergehenden Abend, den des zwölften, hatten wir doch bei Dimitri zugebracht, der erst recht spät nach Hause kam…

– Ganz recht.

– Ich denke aber vergeblich darüber nach, ob Dimitri damals von seiner beabsichtigten Reise gesprochen hat.

– Nein, nicht einmal eine Andeutung hat er davon gemacht.

– Und doch mußte die Absicht bei ihm schon feststehen, da er am nächsten Morgen, und ohne zu sagen wohin, fortgegangen ist…

– Ohne darüber ein Wort zu sagen.«

Dem Arzte erschien das unverständlich.

»Und keine Nachricht von ihm? fragte er noch einmal.

– Keine… wenigstens bis gestern war Fräulein Nicolef noch keine zugegangen.

– Kommen Sie, wir wollen Ilka aufsuchen, sagte der Arzt.

– Ja… gern. Vielleicht hat ihr der Postbote heute Morgen einen Brief von ihrem Vater gebracht, oder vielleicht ist Nicolef schon selbst wieder zurückgekehrt.«

Delaporte und der Doktor Hamine begaben sich nun nach der Vorstadt, an deren Ende das Häuschen des Lehrers lag. An der Tür angekommen, fragten sie, ob Fräulein Nicolef für sie zu sprechen sei.

Auf die bejahende Antwort der Dienstmagd wurden sie sofort nach dem Zimmer geführt, worin sich das junge Mädchen aufhielt.

»Meine liebe Ilka, begann zunächst der Doktor, ist dein Vater zurückgekehrt?

– Er ist bis jetzt noch nicht wiedergekommen«, antwortete das junge Mädchen.

An ihrem blassen, sorgenvollen Gesicht erkannte man, wie beunruhigt sie war.

»Sie haben von ihm aber Nachricht erhalten, liebes Fräulein?« nahm der Konsul das Wort.

Ein verneinendes Zeichen war Ilkas einzige Antwort.

»Diese Abwesenheit ist unerklärlich, fuhr der Doktor fort, und nicht minder das Geheimnis, in das er sie gehüllt hat…

– Wenn meinem armen Vater nicht ein Unglück zugestoßen ist, murmelte das junge Mädchen fast mit tonloser Stimme. Seit einiger Zeit kommen in Livland gar so häufig Verbrechen vor.«

Der Doktor Hamine, der über die Abwesenheit des Freundes mehr verwundert als besorgt war, suchte sie zu beruhigen.

»O, man soll nichts übertreiben, liebes Kind; jetzt kann man hier doch wohl noch mit einiger Sicherheit reisen. Freilich, nicht weit von Pernau ist ein Mord vorgekommen, und wenn auch nicht den Mörder, so kennt man doch dessen Opfer… einen bedauernswerten Bankbeamten…

– Da sehen Sie’s ja, bester Herr Doktor, erwiderte Ilka, daß die Landstraßen recht unsicher sind, und mein Vater ist nun schon seit vier Tagen abwesend. Ach, wie ich auch dagegen ankämpfe, mich verläßt die Ahnung nicht mehr, daß ein Unglück…

– Beruhige dich nur, liebes Kind, redete ihr der Arzt, ihre Hände ergreifend, zu, du darfst dich nicht vergessen. Ein junges Mädchen, so kraftvoll, so energisch… nein, ich kenne dich gar nicht wieder! Hat Dimitri von vornherein gesagt, daß er zwei bis drei Tage ausbleiben werde, so kann heute noch von keiner beängstigenden Verspätung die Rede sein.

– Ist das Ihre ehrliche Überzeugung, Herr Doktor? fragte das junge Mädchen mit einem forschenden Blick auf den bewährten Freund des Hauses.

– Gewiß, Ilka, gewiß! Ich würde auch nicht die geringste Unruhe verspüren, wenn mir die Veranlassung zu Dimitris Reise bekannt wäre. Hast du noch bei der Hand, was er dir schriftlich hinterlassen hat?

– Hier!« antwortete Ilka, während sie ein Blatt aus der Tasche zog und es dem Arzte einhändigte.

Hamine durchlas aufmerksam die wenigen Worte, konnte der kurzen Mitteilung Dimitris aber auch nicht mehr entnehmen, als dessen Tochter, die sie gelesen und immer wieder gelesen hatte.

»Er hat sich also, fuhr der Arzt fort, bei seinem Weggange nicht einmal mit einer Umarmung von dir verabschiedet?

– Nein, lieber Doktor, versicherte Ilka, und auch als er das am Abend vorher tat, schien er mit ganz anderen Gedanken beschäftigt zu sein.

– Vielleicht, bemerkte der Konsul, bedrückte den Freund Dimitri irgend eine geheime Sorge…

– Er war, wie Sie sich erinnern werden, Herr Doktor, an jenem Abend später als gewöhnlich nach Hause gekommen… zurückgehalten durch eine Unterrichtsstunde, die sich zufällig länger ausdehnte… wie er vorgab.

– Ja, ja… ganz recht, sagte der Doktor Hamine, er kam mir auch etwas befangen und anders als gewöhnlich vor. Mir, liebe Ilka, ist es aber von Wichtigkeit, zu erfahren, was Dimitri nach unserem Weggange noch getan hat.

– Er hat mir gute Nacht gewünscht und sich in seine Stube zurückgezogen, worauf ich die meinige aufsuchte.

– Er hat danach also keinen Besuch gehabt haben können, der ihn zu dieser Reise bewogen hätte?

– Nein… bestimmt nicht, erklärte das junge Mädchen. Ich glaube, er hat sich damals sofort niedergelegt, wenigstens hab’ ich aus seinem Zimmer an diesem Abend keinen Laut mehr gehört.

– Das Hausmädchen hat ihm auch nicht etwa einen Brief übergeben, der noch später eingetroffen wäre?

– Nein, Herr Doktor; ich kann versichern, daß die nach Ihrem Weggange verschlossene Haustür nicht wieder geöffnet worden ist.

– Danach stände es also fest, daß sein Plan zur Abreise an jenem Abend schon vorlag.

– Darüber kann kein Zweifel bestehen, äußerte hierzu Delaporte.

– Nein… kein Zweifel, stimmte ihm der Arzt bei. Und am nächsten Morgen hast du, liebes Kind, nach Durchlesung des zurückgelassenen Zettels auch nicht zu erfahren gesucht, welche Richtung er beim Fortgange von zuhause eingeschlagen haben mag?

– Wie hätte ich das gekonnt und warum sollte ich es auch versucht haben? antwortete Ilka. Mein Vater wird seine Gründe gehabt haben, sich gegen niemand, nicht einmal gegen seine Tochter, darüber auszusprechen. Ich bin überhaupt weniger deshalb unruhig, daß mein Vater so schnell fortgegangen ist, als deshalb, daß sich seine Abwesenheit verlängert.

– Nein, liebes Kind, o nein! erwiderte der Doktor Hamine, der das junge Mädchen auf jeden Fall beruhigen wollte, noch ist Dimitri ja nicht länger fort, als er vermutet und vorhergesagt hatte, und heute Abend, oder spätestens morgen, wird er schon zurückgekehrt sein.«

Im Grunde sorgte sich der Arzt eigentlich mehr um die Ursache der plötzlichen Reise, als um diese selbst.

Delaporte und er verabschiedeten sich hierauf von Ilka mit dem Versprechen, am Abend wiederzukommen, um Nachricht über Dimitri zu erhalten.

Das junge Mädchen sah ihnen nach, als sie weggingen, und blieb auf der Schwelle der Haustür stehen, bis die beiden Herren hinter einer Biegung der Straße verschwunden waren. Dann begab sie sich nachdenklich und von düsteren Ahnungen erfüllt nach ihrem Zimmer.

Fast gleichzeitig kam im Bureau des Majors Verder eine Tatsache zur Sprache, die mit dem Verbrechen im »Umgebrochenen Kreuze« eng in Verbindung stand und die Behörde auf die Spur des Schuldigen zu führen versprach.

Am Morgen desselben Tages war die von Eck befehligte Polizistenabteilung nach Riga zurückgekehrt.

Bekanntlich war diese Patrouille nach dem Norden der Provinz geschickt worden, wo seit einiger Zeit sich häufende Vergehen gegen Personen und Eigentum vorgekommen waren. Es sei hier auch daran erinnert, daß Eck acht Tage vorher in der Nachbarschaft des Peipussees nach einem aus den sibirischen Bergwerken entwichenen Flüchtling gefahndet und diesen bis in die Nähe von Pernau verfolgen konnte. Der Flüchtling war ihm freilich durch sein Übertreten auf die treibenden Eisschollen der Pernowa aus den Augen gekommen.

Ob der Verbrecher dabei umgekommen sein mochte?… Das war zwar anzunehmen, doch immerhin nicht sicher. Gerade Eck selbst bezweifelte es am meisten, weil niemand die Leiche des Flüchtlings, weder im Hafen, noch an der Mündung der Pernowa, gefunden hatte.

Nach Riga zurückgekehrt, begab sich Eck, den es drängte, dem Major Verder seinen Bericht abzustatten, eiligst nach dessen Amtszimmer. Da hörte er aber von dem Morde im »Umgebrochenen Kreuze«, doch gewiß ahnte niemand, daß er den Schlüssel zu dem so geheimnisvollen Vorgang besäße.

Nicht gering war deshalb auch das Erstaunen, war die Befriedigung des Majors Verder, als er vernahm, daß der Brigadier ihm einige Aufklärung bezüglich des Verbrechens bringen konnte, nach dessen Urheber man noch vergebens spähte.

»Wie?… Der Mörder des Bankbediensteten?

– Er selbst, Herr Major…

– Du hast Poch gekannt?

– Gewiß, und ich habe ihn am Abend des dreizehnten zum letztenmal gesehen.

– Wo denn?

– In dem Kabak von Kroff.

– Du warst also selbst da?

– Jawohl, Herr Major, mit einem meiner Leute, ehe wir nach Pernau zurückkehrten.

– Und du hast mit dem unglücklichen Manne gesprochen?

– Wenigstens einige Minuten; und ich füge noch hinzu: wenn der Mörder, wie alle Umstände vermuten lassen, der Reisende gewesen ist, der Poch begleitete, der Reisende, mit dem er in der Schenke übernachtete, so kenne ich auch diesen…

– Was?… Du kennst ihn? rief der Major Verder eifrig.

– Ja, wenn der Mörder nämlich der in Frage stehende Reisende war…

 

 »Du bleibst bei deiner Aussage?« (S. 138.)

»Du bleibst bei deiner Aussage?« (S. 138.)

 

– Daran ist nach dem Ergebnis der Tatbestandsaufnahme nicht zu zweifeln.

– Nun, Herr Major, so will ich ihn Ihnen nennen. Ich fürchte nur, Sie werden mir nicht glauben wollen.

– Ich werde deiner amtlichen Aussage glauben.

– Diese lautet, antwortete Eck, folgendermaßen: Jener Reisende, mit dem ich jedoch kein Wort gewechselt habe, den ich aber gleichwohl mit Sicherheit erkannte, wenn er sein Gesicht auch mit der Kapuze zu verbergen suchte… war kein anderer als der Privatlehrer Dimitri Nicoles…

– Dimitri Nicolef! rief der Major Verder verblüfft. Er?… Das ist unmöglich!

– Ich hatte Ihnen schon gesagt, daß sie meiner Aussage keinen Glauben schenken würden,« wiederholte der Brigadier.

Der Major Verder war aufgestanden und durchmaß das Zimmer mit großen Schritten.

»Dimitri Nicolef! murmelte er. Dimitri Nicolef?«

Wie, dieser Ehrenmann, der als Kandidat für die nächsten städtischen Wahlen aufgestellt war, der Gegner der einflußreichen Familie Johausen, dieser Russe, auf den sich alles Sehnen und Trachten, alle Forderungen der slawischen gegenüber der germanischen Partei vereinigten, der Günstling der moskowitischen Regierung… der sollte der Mörder des unglücklichen Poch sein?…

»Du bleibst bei deiner Aussage? fragte der Major den Brigadier, vor dem er stehen geblieben war.

– Ich bleibe dabei.

– Hatte Dimitri Nicolef denn Riga verlassen?

– Gewiß… wenigstens weilte er gerade in jener Nacht nicht hier. Das wird sich übrigens leicht näher feststellen lassen.

– Ich werde einen Polizisten nach seiner Wohnung schicken, antwortete der Major Verder, und werde auch Herrn Frank Johausen ersuchen lassen, sich hier einzufinden. Du… du bleibst vorderhand hier.

– Zu Befehl, Herr Major.«

Dieser erteilte zwei wachhabenden Polizisten seine Befehle, und die Leute gingen daraufhin sofort ab.

Zehn Minuten später war Frank Johausen schon beim Major erschienen, und der Brigadier Eck wiederholte vor ihm seine frühere Aussage.

Man kann sich wohl, ohne daß wir hier eigens darauf eingehen, die Empfindungen vorstellen, die die Seele des Bankiers bei dieser Erklärung durchwühlten.

Endlich lieferte ein am wenigsten erwarteter Zwischenfall, ein Verbrechen, ein gemeiner Mord, ihm den Wettbewerber, den er mit seinem Hasse verfolgte, in die Hände!… Dimitri Nicoles… der Mörder Pochs!

Du hältst deine Aussage aufrecht? fragte der Major, an den Brigadier gewendet, diesen zum letzten Male.

– Vollkommen aufrecht! erklärte Eck in einem Tone, aus dem man sein Überzeugtsein heraushörte.

– Wenn er nun Riga aber gar nicht verlassen hätte? sagte jetzt Johausen.

– Er hat und hatte es jedoch verlassen, versicherte Eck. In der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten dieses Monats ist er nicht in seiner Wohnung gewesen, denn ich habe ihn da auswärts gesehen… mit eigenen Augen gesehen… und habe ihn mit Sicherheit erkannt.

– Wir wollen vorläufig die Rückkehr des Mannes abwarten, den ich nach der Wohnung Dimitri Nicolefs geschickt habe, nahm der Major Verder wieder das Wort. Er muß in wenigen Minuten wieder hier sein.«

Frank Johausen nahm einstweilen am Fenster Platz und überließ sich dem Aufruhr seiner Gedanken. Er wollte ja glauben, daß der Brigadier sich nicht getäuscht hätte, und doch lehnte sich in ihm ein gewisses Gerechtigkeitsgefühl gegen eine so schwere Beschuldigung unwillkürlich auf.

Der Polizist kam zurück und meldete das Ergebnis seiner Sendung:

»Herr Dimitri Nicolef sei frühmorgens am dreizehnten von Riga abgereist und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt.«

Damit war die Aussage Ecks, wenigstens zu einem Teile, bestätigt.

»Ich hatte also recht, Herr Major, sagte dieser, Dimitri Nicolef hat seine Wohnung am dreizehnten früh am Morgen verlassen. Poch und er haben die abgehende Postkutsche benutzt. Gegen sieben Uhr abends ist dem Wagen ein Unfall zugestoßen, und dessen beide Insassen sind um acht Uhr in den Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« gekommen, um da die Nacht zuzubringen. Hat nun der eine der Reisenden den anderen umgebracht, so ist Dimitri Nicolef der Mörder!«

Frank Johausen zog sich zurück, einesteils erschüttert, anderenteils triumphierend über diese entsetzliche Nachricht, die sich ohne Zweifel schnell verbreiten würde. Und so geschah es: es war, als ob eine durch die Stadt sich hinziehende Pulverlinie durch einen Funken entzündet worden wäre… Dimitri Nicolef der Urheber des Verbrechens im »Umgebrochenen Kreuze«!

Zum Glück erreichte die Neuigkeit nicht das Ohr Ilka Nicolefs. Ihr Haus blieb dem Gerüchte verschlossen. Der Doktor Hamine wachte darüber. Auch am Abend, als Delaporte und er sich in dem bekannten Zimmer eingefunden hatten, fiel kein Sterbenswörtchen über diese Angelegenheit. Beide hatten übrigens nur mit den Achseln gezuckt: Nicolef ein Mörder?… Nein, das konnten sie nicht glauben.

Inzwischen hatte der Telegraph gespielt. Die Polizeipatrouillen des betreffenden Gebietes waren beauftragt worden, Dimitri Nicolef zu verhaften, wo sie ihn auch fänden.

Dadurch war die Nachricht am Nachmittage des 16. auch nach Dorpat gekommen. Karl Johausen hatte sie als einer der ersten erhalten, und wir wissen ja schon, welche Antwort er Jean Nicolef in Gegenwart von dessen Universitätsfreunden erteilt hatte.

Zehntes Kapitel.

Das Verhör.

Dimitri Nicolef kehrte in der Nacht vom 16. zum 17. nach Riga zurück, ohne auf dem Heimwege erkannt worden zu sein.

Von Unruhe verzehrt, hatte Ilka kein Auge zutun können. Welche Seelenqual hätte aber erst das unglückliche junge Mädchen gepeinigt, wenn es vernommen hätte, welche Beschuldigung auf dem Haupte ihres Vaters lastete.

Eine weitere Sorge bereitete ihr noch am Abend, als Delaporte und der Doktor Hamine schon weggegangen waren, eine aus Dorpat eingetroffene Depesche, die die Ankunft Jean Nicolefs für den nächsten Tag anmeldete, ohne die Veranlassung zu dieser urplötzlichen Reise anzugeben.

Der erdrückendste Alp wich jedoch von Ilkas Brust, als sie gegen drei Uhr morgens ihren Vater die Treppe herauskommen hörte. Da er nicht an ihre Tür klopfte, hielt sie es für ratsamer, ihn ruhig sich niederlegen zu lassen, da er von der Reise wohl angestrengt sein mochte. Am Morgen wollte sie ihn begrüßen, sobald er aufgestanden wäre. Vielleicht sagte er ihr dann, was ihn genötigt hatte, so übereilt und ohne jede nähere Mitteilung zu verreisen.

Vater und Tochter trafen am nächsten Tage schon in früher Morgenstunde zusammen, und jetzt begann Dimitri Nicolef zuerst:

»Da siehst du mich wieder zurück, liebes Kind. Meine Abwesenheit hat etwas länger gedauert, als ich voraussetzte… doch nur vierundzwanzig Stunden…

– Du scheinst aber angegriffen zu sein, lieber Vater, bemerkte Ilka.

– Ein wenig; doch lass’ mich nur den Vormittag noch etwas ausruhen, dann bin ich wieder ganz wohlauf, und ich denke am Nachmittage auch noch einige Stunden zu erteilen.

– Vielleicht, Papa, wäre es besser, das bis morgen zu verschieben. Deine Schüler sind benachrichtigt.

– Nein, Ilka, nein!… Länger darf ich sie nicht warten lassen. Ist während meiner Abwesenheit sonst jemand gekommen?

– Niemand, mit Ausnahme des Doktors und des Herrn Delaporte, die über deine Abreise nicht wenig verwundert waren.

– Ja ja, antwortete Nicolef mit etwas zögernder Stimme, ich hatte ihnen nicht davon gesprochen… Wozu auch… bei einem so kurzen Abstecher, auf dem mich, wie ich glaube, ohnehin niemand erkannt hat.«

Der Lehrer sprach über die Sache nicht weiter, und seine sehr rücksichtsvolle Tochter begnügte sich, ihn nur noch zu fragen, ob er von Dorpat zurückgekommen wäre.

»Von Dorpat?… rief Nicolef etwas verblüfft. Wozu diese Frage?

– Weil ich mir eine Depesche, die gestern Abend gekommen ist, gar nicht erklären kann.

– Eine Depesche? sagte Nicolef lebhaft. Von wem denn?

– Von meinem Bruder, der mir meldet, daß er heute hier eintreffen werde.

– Wie… Jean wird kommen?… Das ist ja auffallend. Was mag ihn hierherführen?… Doch, mein Sohn ist immer sicher, mit offenen Armen aufgenommen zu werden!«

Da er aus der Haltung seiner Tochter jedoch erriet, daß diese ihn gern über die Veranlassung zu seiner Reise befragt hätte, erklärte er freiwillig:

»O, es handelte sich um eine wichtige Angelegenheit, sagte er, eine Angelegenheit, die mich nötigte, ungesäumt aufzubrechen…

– Wenn du nur von dem Ausgange befriedigt bist, lieber Papa, antwortete Ilka.

– Befriedigt… o ja, mein Kind, erwiderte er mit einem verstohlenen Blick auf seine Tochter, und ich hoffe auch, daß die Sache kein unangenehmes Nachspiel haben werde.«

So wie einer, der nichts weiter zu sagen entschlossen ist, ging er gleich auf einen anderen Gesprächsgegenstand über.

Nach dem ersten Tee am Morgen zog sich Dimitri Nicolef in sein Zimmer zurück, ordnete hier verschiedene Papiere und fing dann an zu arbeiten.

Im Hause herrschte wieder die gewohnte Ruhe, und Ilka hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie bald von dem furchtbarsten Blitzschlage getroffen werden sollte.

Kaum war es ein Viertel auf Eins geworden, als sich ein Polizeibeamter in der Wohnung Dimitri Nicolefs einstellte. Er brachte einen Brief, den er der Hausmagd mit dem Auftrage einhändigte, ihn sofort ihrem Herrn zu übergeben. Der Mann fragte auch gar nicht erst, ob der Privatlehrer sich jetzt zu Hause befinde. Ohne daß es jemand aufgefallen wäre, war das Haus aber schon seit dem gestrigen Abend sorgsam überwacht worden.

Dimitri Nicolef öffnete das Schreiben und überflog dessen Inhalt. Es enthielt nur die Worte:

»Der Richter Kerstorf ersucht den Privatlehrer Dimitri Nicolef, sich ohne Säumen in seinem Bureau, wo er ihn erwartet, einzufinden. Dringliche Angelegenheit.«

Nach Durchlesung der wenigen Zeilen machte Dimitri Nicolef unwillkürlich eine Bewegung, die etwas mehr als Überraschung ausdrückte. Er erbleichte, und sein Gesicht verriet eine lebhafte Beunruhigung…

Er meinte aber doch, daß es das Beste sei, der ihm vom Richter Kerstorf so bestimmt ausgesprochenen Einladung Folge zu leisten, und so zog er den Mantel wieder an, und ging nach dem Zimmer hinunter, in dem sich seine Tochter befand.

»Ilka, sagte er, ich habe soeben eine Mitteilung von Herrn Kerstorf, dem Richter, erhalten, der mich ersucht, nach seinem Bureau zu kommen…

– Der Richter Kerstorf? antwortete das junge Mädchen. Was kann er von dir wollen, Vater?

– Ja, das weiß ich selbst nicht, erwiderte Nicolef, der dabei den Kopf abwendete.

– Sollte es sich um eine Angelegenheit handeln, die Jean anginge und ihn genötigt hätte, Dorpat so unerwarteterweise zu verlassen?

– Das weiß ich auch nicht, Ilka… Ja… vielleicht. Nun, wir werden ja darüber sehr bald aufgeklärt sein.«

Der Privatlehrer ging hinaus, ohne daß seine Tochter seine Unruhe bemerkt hätte. Mit dem Polizisten an seiner Seite, schritt er unsicher, sozusagen mechanisch, des Wegs dahin und sah gar nicht, daß er die Zielscheibe der öffentlichen Aufmerksamkeit war, ebensowenig daß einzelne ihm folgende oder begegnende Leute recht mißfällige Blicke auf ihn richteten.

Im Gerichtsgebäude angekommen, wurde er in das Amtszimmer geführt, worin ihn der Richter Kerstorf, der Major Verder und ein Aktuar schon erwarteten. Man begrüßte sich gegenseitig, und Dimitri Nicolef wartete, daß man das Wort an ihn richten würde.

»Herr Nicolef, begann da der Richter Kerstorf, ich habe Sie hierher rufen lassen, um einige Erkundigung über eine Sache einzuziehen, mit deren Untersuchung und Aufklärung ich betraut worden bin…

– Um was handelt es sich, Herr Richter? fragte Dimitri Nicolef.

– Nehmen Sie zunächst Platz und hören Sie mich an.«

Der Lehrer setzte sich auf einen Stuhl gegenüber dem Schreibtische, hinter dem der Armsessel des Richters stand, während der Major am Fenster stehen blieb. Das Gespräch nahm jetzt mehr den Charakter eines Verhörs an.

»Erstaunen Sie nicht darüber, sagte der Richter, daß die Fragen, die ich an Sie zu stellen habe, Ihre Person insofern berühren, als sie sich auf Vorgänge in Ihrem Privatleben beziehen. Es ist sehr notwendig, im Interesse der Sache, wie in Ihrem eigenen, daß Sie mir diese ohne Umschweif beantworten.«

Nicolef, der den Richter mehr nur ansah, als daß er auf seine Worte hörte, verhielt sich einige Augenblicke schweigend und begnügte sich, die Arme gekreuzt haltend, mit einem schwachen Neigen des Kopfes.

Kerstorf hatte das Protokoll der Untersuchung am Tatorte vor sich liegen. Er schlug es auf dem Tische auf und fragte ruhigen, doch ernsten Tones:

»Herr Nicolef, Sie sind einige Tage von hier abwesend gewesen?

– Das ist richtig.

– Wann hatten Sie Riga verlassen?

– Am dreizehnten, ganz früh am Morgen.

– Und wann sind Sie zurückgekehrt?

– Vergangene Nacht gegen ein Uhr.

– Sie waren allein verreist?…

– Ganz allein.

– Und sind Sie auch allein zurückgekommen?

– Ebenfalls allein.

– Sie haben sich der fahrenden Post nach Reval bedient?

– Ja, antwortete Nicolef, doch mit einigem Zögern.

– Für den Rückweg aber…

– Habe ich eine Telega genommen.

– Wo hatten Sie diese Telega gefunden?

– Etwa fünfzig Werst von hier auf der Rigaer Landstraße.

– Es war also am Morgen des dreizehnten, wo Sie abgefahren sind?

– Ja, Herr Richter, früh sechs Uhr.

– Befanden Sie sich im Postwagen allein?

– Nein, darin saß noch ein anderer Reisender.

– Kannten Sie diesen?

– Nicht im geringsten.

– Sie haben da aber doch bald erfahren, daß das ein Bankangestellter des Hauses der Gebrüder Johausen, ein gewisser Poch war?

– Ja freilich; der ziemlich plauderhafte Mann hat sich ja fast unausgesetzt mit dem Schaffner des Wagens unterhalten.

– Er sprach da von persönlichen Angelegenheiten?

– Von nichts anderem.

– Und was äußerte er da?

– Daß er im Auftrage der Herren Johausen nach Reval ginge.

– Schien er es nicht sehr eilig zu haben mit der Rückkehr nach Riga, wo er sich verheiraten wollte?

– Jawohl, Herr Richter, soweit ich mich seiner Worte erinnere, denn ich hörte nur mit halbem Ohre auf das Gespräch der Beiden, das mich ja nicht interessierte.

– Nicht interessierte? fiel da der Major Verder ein.

– Gewiß nicht, antwortete Nicolef mit einem verwunderten Blicke auf den Major. Warum sollte ich Interesse für das gehabt haben, was der Mann schwätzte?

– Das ist gerade, was durch die mir obliegende Untersuchung aufgeklärt werden soll«, erwiderte Kerstorf.

Auf diese Antwort machte der Privatlehrer eine Bewegung wie einer, der nicht begriffen hat, was man zu ihm sagte.

 

 »Was kann er von dir wollen?« (S. 142.)

»Was kann er von dir wollen?« (S. 142.)

 

»Hatte dieser Poch, fuhr der Beamte fort, nicht eine Mappe bei sich, eine von der Art, wie sie Bankdiener gewöhnlich zum Befördern von Geldern tragen?

– Das ist möglich, Herr Richter, bemerkt hab ich es aber nicht.

– Sie können also nicht sagen, ob er eine solche, vielleicht aus Unvorsichtigkeit, hat auf der Sitzbank liegen oder anderen Personen sehen lassen, die an den Pferdewechselstellen an den Wagen herankamen?

– Ich saß in meinen Mantel gehüllt immer in der Ecke, habe wohl auch öfters unter der Kapuze längere Zeit geschlafen und deshalb eigentlich kaum gesehen, was mein Reisegefährte tat oder nicht tat.

– Der Schaffner Broks spricht sich, was das Vorhandensein einer solchen Tasche betrifft, mit aller Bestimmtheit aus, daß Poch eine Mappe bei sich führte.

– Ja, Herr Richter, wenn der Mann das behauptet, wird es ja richtig sein. Ich freilich kann seine Aussage weder bestätigen noch widerlegen.

– Sie haben mit Poch gar nicht gesprochen?

– Wenigstens während der Fahrt nicht. Die ersten Worte haben wir miteinander gewechselt, als wir nach dem Unfalle mit dem Postwagen eine Unterkunft aufsuchten.

– Und den ganzen Tag über haben Sie, die Kapuze sorgsam über den Kopf gezogen, in Ihrer Ecke gesessen?

– Sorgsam, Herr Richter?… Warum sorgsam? fragte Nicolef, der bei dem Worte gestutzt hatte.

– Weil es Ihnen, wie es scheint, sehr darauf ankam, unerkannt zu bleiben.«

Der Major Verder war es, der, das Verhör aufs neue unterbrechend, diese Bemerkung, die offenbar einer Beschuldigung gleichkam, eingeschaltet hatte.

Jetzt reagierte Nicolef darauf nicht so lebhaft, wie auf das von dem Richter ausgesprochene Wort. Einen Augenblick schwieg er, dann sagte er ruhig:

»Zugegeben, daß mir daran gelegen gewesen wäre, unerkannt zu reisen, so glaube ich doch, daß dazu in Livland wie anderwärts jeder freie Mann das Recht hat!

– Eine weise Vorsicht, versetzte der Major, um nicht von Zeugen wieder erkannt zu werden, denen man gegenübergestellt werden könnte.«

Das war wieder eine schwerwiegende Anspielung, deren Ernst der Privatlehrer nicht verkennen konnte und vor der er sichtlich erblaßte.

»Kurz, fuhr der Richter fort, Sie leugnen doch nicht, an jenem Tage den Bankbediensteten Poch zum Reisegefährten gehabt zu haben?…

– Nein, wenigstens wenn das Poch war, der mit mir in der Post saß.

– Darüber besteht kein Zweifel,« ließ der Major Verder sich vernehmen.

Kerstorf setzte die Befragung fort.

»Die Fahrt verlief von einem Pferdewechsel zum anderen ohne jeden Zwischenfall. Zu Mittag wurde eine Stunde Aufenthalt genommen, um etwas zu essen. Sie haben sich da, in einer dunkleren Ecke der Gaststube, von den anderen gesondert auftragen lassen, immer dem Anscheine nach in der Absicht, unerkannt zu bleiben. Dann ist die Post weiter gefahren. Das Wetter war sehr schlecht. Die Pferde konnten gegen den Sturm kaum aufkommen. Später, etwa halb sieben Uhr abends, ist ein Unfall eingetreten. Eines der Pferde war gestürzt, der Wagen, dessen Vorderachse gebrochen war, kam zum Umfallen…

– Darf ich erfahren, Herr Richter, sagte da Nicolef, warum Sie und in welchem Interesse Sie diese Einzelheiten hier anführen?

– Im Interesse der Justiz, Herr Nicolef. Als der Schaffner Broks sich überzeugt hatte, daß mit dem Wagen nicht mehr bis zur nächsten Pferdewechselstelle, der in Pernau, zu kommen war, ist der Vorschlag aufgetaucht, in einer Schenke zu übernachten, die an der Landstraße gegen zweihundert Schritt weit von der Unfallsstelle lag, und Sie sind es gewesen, der auf diese Schenke aufmerksam gemacht hat.

– Die ich bisher aber nicht kannte, Herr Richter, und an jenem Abend zum ersten Male betreten habe.

– Mag sein. Gewiß ist es aber, daß Sie vorgezogen haben, darin die Nacht zu verbringen, statt sich mit dem Schaffner und dem Postillon noch nach, Pernau zu begeben.

– Ganz recht, ich hatte keine Lust, noch gegen zwanzig Werst in dem abscheulichen Wetter zurückzulegen, und zog es deshalb vor, jene Schenke mit dem Bankbediensteten aufzusuchen…

– Den Sie erst dazu bestimmt hatten, Ihnen zu folgen.

– Ich… ich hatte ihn zu gar nichts bestimmt, erklärte Nicolef. Bei dem Unfalle mit dem Postwagen verletzt – er hatte eine Quetschung und Hautabschürfung am Bein davongetragen – wäre er gar nicht imstande gewesen, die Strecke, die uns noch von Pernau trennte, zurückzulegen. Es war wirklich ein Glück für ihn, daß jene Schenke…

– Ein Glück für ihn!« platzte der Major Verder heraus, der, nicht so kaltblütig wie der auf alles gefaßte Beamte, bei diesen Worten fast einen Sprung machte.

Dimitri Nicolef drehte sich um, zuckte aber nur etwas verächtlich mit den Schultern.

Kerstorf, dem ja daran lag, das Verhör nicht aus der Richtung, in die er es geleitet hatte, ablenken zu lassen, beeilte sich, weitere Fragen zu stellen.

»Der Schaffner und der Postillon sind zu derselben Zeit nach Pernau fortgeritten, wo Sie beide den Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ erreichten?

– ‘Zum umgebrochenen Kreuze’? wiederholte Nicolef. Ich wußte nicht, daß das kleine Gasthaus diesen Namen führte.

– Als Sie mit Poch dort eintrafen, wurden Sie von dein Schenkwirt Kroff empfangen. Sie verlangten von ihm ein Zimmer für die Nacht, und Poch ebenfalls. Kroff hat Ihnen angeboten, etwas zu Abend zu essen, was Sie abschlugen, während der Bankbeamte darauf einging.

– Ja, weil mir daran nichts gelegen war.

– Woran Ihnen aber mehr lag, Herr Nicolef, das war, am nächsten Morgen noch vor Tagesanbruch weiterzugehen, ohne den Postschaffner abzuwarten. Sie haben diese Absicht auch dem Gastwirt Kroff mitgeteilt und sich dann sofort in Ihr Zimmer zurückgezogen.

– Gewiß, so ist es gewesen, bestätigte der Lehrer, dem man schon anmerkte, daß diese unausgesetzten Fragen ihn belästigten.

– Ihr Zimmer lag links von der Gaststube, worin noch einige Kunden Kroffs beim Abendtrunk saßen, und es nahm das Ende der betreffenden Hausseite ein.

– Das weiß ich nicht, Herr Richter. Ich wiederhole Ihnen, daß mir das kleine Gasthaus, in das ich zum ersten Male den Fuß setzte, ganz unbekannt war. Und obendrein war es schon finster, als ich hinkam, und noch finster, als ich wieder fortging.

– Ohne den Postschaffner abzuwarten, ein Umstand, auf den ich besonderes Gewicht lege, bemerkte Kerstorf, ohne den Schaffner abzuwarten, der Sie nach Wiederherstellung des Wagens abholen sollte.

– Ohne den Mann abzuwarten, bestätigte Nicolef, da ich bis Pernau nur noch zwanzig Werst zu gehen hatte.

– Mag sein. Sie geben aber wohl zu, diesen Entschluß erst an jenem Abend gefaßt und ihn am Morgen um vier Uhr ausgeführt zu haben?«

Dimitri Nicolef schwieg still.

»Jetzt, fuhr Kerstorf fort, wäre ich so weit, eine Frage an Sie zu richten, deren Beantwortung Ihnen voraussichtlich nicht unbequem erscheint.

– Bitte, Herr Richter.

– Was war der Grund Ihrer Reise, einer Reise, zu der Sie sich so schnell und mit Geheimhaltung entschlossen, von der Sie nicht einmal am Tage vorher Ihren Zöglingen, die darum befragt worden sind, gesprochen hatten?«

Diese Frage schien Nicolef arg in Verlegenheit zu setzen.

»Persönliche Angelegenheiten, sagte er endlich.

– Welcher Art?

– Darüber brauche ich mich hier wohl nicht auszusprechen.

– Sie weigern sich zu antworten?

– Ja, ich weigere mich.

– Würden Sie wenigstens angeben, wohin Sie von Riga aus gehen wollten?

– Auch das kommt hier wohl nicht in Frage.

– Sie hatten einen Platz bis Reval bezahlt. Hatten Sie in Reval etwas zu besorgen?«

Keine Antwort.

»Mir scheint, das wird eher in Pernau der Fall gewesen sein, fuhr der Richter fort, da Sie die Rückkehr des Postwagens nach dem Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ nicht abwarten zu sollen glaubten.«

Dimitri schwieg noch immer.

»Doch hören Sie weiter, sagte der Richter. Sie sind nach der Aussage des Gastwirts gegen drei Uhr morgens aufgestanden. Der Mann hat sein Lager da gleichzeitig verlassen. Als Sie dann in den Mantel gehüllt und die Kapuze, wie am Tage vorher, über den Kopf gezogen aus dem Zimmer getreten sind, so daß man von Ihrem Gesicht kaum etwas sehen konnte, hat Kroff Sie noch gefragt, ob Sie eine Tasse Tee oder ein Gläschen Branntwein wünschten. Das haben Sie abgelehnt und nur Ihr Nachtlager bezahlt. Dann hat Kroff, nach Entfernung der Vorlegebalken an der Tür deren Schloß mit dem Schlüssel, den er bei sich trug, geöffnet, und Sie haben sich, ohne noch ein Wort zu äußern, eiligen Schrittes entfernt und sind inmitten der Dunkelheit auf der Landstraße nach Pernau zu gegangen. Stimmt von dem, was ich eben gesagt habe, etwa nicht jede Einzelheit?

– Nein, es stimmt alles.

– Nun zum letzten Male: Wollen Sie mir den Grund Ihrer Reise und auch noch mitteilen, wohin Sie sich von Riga aus begeben wollten?

– Herr Richter Kerstorf, erklärte jetzt Dimitri Nicolef eisigkalten Tones, ich begreife nicht, wozu alle diese Fragen dienen sollen, ebensowenig, warum ich überhaupt hier aufs Gericht gerufen worden bin. Ich habe dennoch auf alle Fragen geantwortet bei denen ich mich dazu verpflichtet glaubte… auf andere freilich nicht. Das halte ich für mein gutes Recht. Ich bemerke übrigens hierzu, daß ich im guten Glauben gehandelt habe. Wollte ich es verheimlichen, diese Reise gemacht zu haben – und das aus Gründen, worüber mir doch allein ein Urteil zusteht – wollte ich leugnen, daß ich jener Passagier der Post und der Begleiter des erwähnten Bankbediensteten gewesen sei, wie könnten Sie mich des Gegenteils überführen, da, Ihrer eigenen Aussage nach, weder der Schaffner, noch Poch oder irgend jemand anderer mich hatte erkennen können, da ich so viele Vorsichtsmaßregeln beobachtet hätte, unerkannt zu bleiben?«

Hierzu die Bemerkung, daß Dimitri Nicolef das alles mit großer Selbstbeherrschung sagte, der sich indessen ein gewisser Zug von Verachtung beimischte. Desto erstaunter mußte er freilich über die nächste Gegenrede des Beamten sein.

»Wenn Poch und Broks auch nicht wissen konnten, wer Sie waren, Herr Nicolef, so ist doch ein anderer Zeuge vorhanden, der Sie erkannt hat, er…

– Ein anderer Zeuge?

– Ja, einer, dessen Aussage Sie sofort hören werden.«

Der Richter wendete sich an einen Polizisten.

»Führt mir den Brigadier Eck herein«, sagte er.

Einen Augenblick darauf trat der Brigadier ins Bureau, begrüßte seinen Vorgesetzten mit der gewohnten militärischen Ehrenbezeugung und wartete darauf, von Kerstorf befragt zu werden.

»Sie sind der Brigadier Eck von der sechsten Abteilung?« begann dieser.

Der Brigadier gab seinen vollen Namen und seine Stellung an, während Dimitri Nicolef ihn ansah wie einen, den er das erste Mal zu Gesicht bekäme.

»Haben Sie sich am vergangenen dreizehnten April noch am Abend im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ befunden?

– Gewiß, Herr Richter. Ich kam dahin auf dem Rückwege von einer Suche längs der Pernowa, wo wir einen Flüchtling verfolgt hatten, der auf die im Flusse hinabtreibenden Schollen sprang.«

Auf diese Antwort konnte Dimitri Nicolef eine gewisse Bewegung nicht unterdrücken, die Kerstorf auffiel. Der Richter unterließ aber jede darauf bezügliche Bemerkung und wendete sich nun wieder an den Brigadier.

»Teilen Sie uns mit, was Sie zu sagen haben.«

Der Brigadier tat das mit folgenden Worten:

»Ungefähr seit zwei Stunden befand ich mich mit einem meiner Leute im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’, und wir rüsteten uns schon, nach Pernau aufzubrechen, als sich die Tür zum Gastzimmer öffnete. Auf der Schwelle erschienen zwei Herren, offenbar zwei Reisende. Ihr Wagen war auf der Landstraße zerbrochen, und so suchten sie in jener Schenke Unterkommen. während der Schaffner und der Postillon auf den Bespannpferden nach Pernau weggeritten waren. Der eine der beiden Reisenden war der Bankbeamte Poch aus Riga, den ich schon lange kannte, und mit dem ich an jenem Abend etwa noch zehn Minuten gesprochen habe. Der andere Reisende fiel mir auf, weil er offenbar das Gesicht unter der Kapuze seines Mantels zu verbergen bemüht war. Das erschien mir verdächtig, und ich suchte deshalb zu erforschen, wer dieser Fremde sein möchte.

– Damit hast du nur deine Pflicht getan, Eck, warf der Major Verder ein.

– Poch, berichtete der Brigadier weiter, der, am Fuße leicht verletzt, an einem Tische saß, hatte eine Mappe mit den Anfangsbuchstaben der Firma Gebrüder Johausen neben sich gelegt. Da sich noch fünf oder sechs Leute in der Gaststube befanden, empfahl ich Poch, die Geldmappe, die übrigens an seinem Gürtel noch mit einer Kette befestigt war, nicht unnötig sehen zu lassen. Dann trat ich näher an die Tür und beobachtete den Unbekannten, den Kroff schon nach seinem Zimmer führte. Da glitt dessen Kapuze zufällig zurück, und ich konnte einen Augenblick, doch nur einen Augenblick, das Gesicht darunter sehen.

– Und das hat Ihnen genügt?

– Vollkommen, Herr Richter.

– Sie erkannten den Betreffenden?

– Natürlich; ich hatte ihn ja in Riga oft genug auf der Straße gesehen.

– Das war also Herr Dimitri Nicolef?

– Wie Sie sagen.

– Der, der jetzt hier anwesend ist?

– Derselbe.«

Der Privatlehrer, der diese Aussage, ohne sie zu unterbrechen, voll Spannung angehört hatte, nahm jetzt das Wort.

»Der Brigadier, bestätigte er, hat sich nicht getäuscht. Ich glaube, schon weil er es behauptet, daß er sich damals in jenem Kabak befunden hat, nur habe ich auf ihn nicht Acht gehabt, während er mich beobachtet hat. Übrigens, Herr Richter, begreife ich nicht, warum Ihnen daran liegen konnte, uns einander gegenüberzustellen, da ich doch schon allein erklärt hatte, jene Nacht in dem Gasthause ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ gewesen zu sein.

– Das werden Sie sofort erfahren, Herr Nicolef, antwortete der Beamte. Vorher aber frage ich Sie nochmals: Weigern Sie sich, anzugeben, was der Grund Ihrer Reise gewesen war?

– Ich weigere mich… jetzt wie vorher.

– Das kann für Sie unangenehme Folgen haben.

– Unangenehme?… Warum denn?

– Weil eine Aufklärung darüber dem Gerichte vielleicht erspart hätte, Sie überhaupt persönlich wegen eines Vorfalles zu belästigen, der sich in jener Nacht im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ zugetragen hat.

– In jener Nacht? wiederholte der Lehrer.

– Ja. Haben Sie in der zwischen acht Uhr abends und drei Uhr morgens verflossenen Zeit gar nichts Auffälliges gehört?

– Nein, denn ich habe bis zu der Minute, wo ich aufstand, fest geschlafen.

– Auch nichts Verdächtiges bemerkt, als Sie fortgingen?

– Gar nichts.«

Mit einer Stimme, die nichts von Aufregung oder Beunruhigung verriet, setzte Dimitri Nicolef noch hinzu.

»Ich fange an zu ahnen, Herr Richter, daß ich hier in einer sehr ernsthaften Angelegenheit wider meinen Willen eine gewisse Rolle spiele, und daß Sie mich als Zeugen aufgerufen haben.

– Als Zeugen… o nein, Herr Nicolef.

– Nein, aber als Angeschuldigten! rief der Major Verder.

– Herr Major, verwies ihn der Richter strengen Tones, greifen Sie dem Gerichte nicht vor und erwarten Sie dessen Entscheidung!«

Der Major mußte diese Rüge hinnehmen, und es schien, als murmelte Dimitri Nicolef gleichzeitig etwa die Worte:

»Ah… also deshalb hat man mich hierher gerufen.«

Dann fragte er aber mit sicherer Stimme:

»Wessen werde ich beschuldigt?

– Der Bankbedienstete Poch ist in der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten April im Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ ermordet worden.

– Der Unglückliche ist ermordet worden? rief Nicolef.

– Ja, antwortete Kerstorf, und wir haben die Überzeugung, daß sein Mörder der Reisende gewesen ist, der das Zimmer, das Sie innehatten, einnahm.

– Und da Sie, Dimitri Nicolef, dieser Reisende waren… ließ sich der Major Verder vernehmen.

– Ich… ich soll der Mörder gewesen sein!«

Bei diesen Worten stieß Nicolef seinen Stuhl zurück und wandte sich nach der Tür des Bureaus, vor der der Brigadier Eck stand.

 

 »Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen…« (S. 155.)

»Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen…« (S. 155.)

 

»Sie leugnen das, Dimitri Nicolef? fragte der Richter, der sich ebenfalls erhob.

– Es gibt Dinge, die man zu leugnen gar nicht erst nötig hat, weil sie sich geradezu selbst leugnen, antwortete Nicoles.

– Nehmen Sie sich in Acht!

– Aber ich bitte Sie… das kann doch nicht im Ernst gemeint sein!

– In vollem Ernst.

– Es widerstrebt mir, darüber weiter ein Wort zu verlieren, antwortete der Lehrer, sich stolz aufrichtend. Darf ich aber wissen, warum die Beschuldigung sich eigens und einzig auf den Reisenden richtet, der die Nacht in jenem Zimmer des Kabaks zugebracht hat?

– Weil sich auf der Fensterbank desselben Zimmers, erklärte Kerstorf, deutliche Spuren davon erkennen ließen, daß der Mörder es in der Nacht auf diesem Wege verlassen hat, um ins Zimmer Pochs durch ein Fenster darin, nach Aufsprengung des Ladens, einzudringen, und weil sich das zum Aufbrechen benutzte Schüreisen im Zimmer jenes Reisenden, aber verbogen, wiedergefunden hat.

– Wahrhaftig, meinte Dimitri Nicolef, wenn sich alles das hat feststellen lassen, so ist es mindestens sehr seltsam.«

Dann setzte er, so als ob ihn die Sache gar nichts anginge, noch hinzu:

»Angenommen aber, es wäre ausgeschlossen, nach den gefundenen Spuren zu glauben, daß ein von außen eingedrungener Übeltäter das Verbrechen begangen hätte, so beweisen sie doch keineswegs, daß es nicht erst nach meinem Weggange ausgeführt worden wäre.

– Sie sprechen da eine Beschuldigung des Gastwirtes aus, gegen den die Untersuchung an Ort und Stelle doch keinerlei Verdacht ergeben hat.

– Ich beschuldige niemand, Herr Richter, entgegnete Dimitri Nicolef eher noch etwas stolzer, ich habe aber doch wohl das Recht auszusprechen, daß meine Person wohl die letzte hätte sein dürfen, die die Gerichte mit einem Verdachte wegen dieser Schandtat belasteten!

– Der Mord ist auch noch mit einem Diebstahl verknüpft, sagte da der Major Verder, und die Rubel, die der Getötete für Rechnung der Herren Johausen in Reval abliefern sollte, sind spurlos verschwunden.

– Ja, was hat das aber mit mir zu tun?«

Der Richter beeilte sich, das Zwiegespräch zwischen dem Lehrer und dem Major Verder abzuschneiden.

»Sie bleiben also dabei, Dimitri Nicolef, uns weder den Grund Ihrer Reise, noch den Grund dafür mitzuteilen, daß Sie das Gasthaus schon um vier Uhr morgens verließen, und ebenso verweigern Sie die Aussage darüber, wohin Sie von da aus gingen?

– Dabei bleib’ ich!

– Nun gut; so bin ich berechtigt, Ihnen von Amts wegen folgendes zu erklären: Es konnte Ihnen nicht unbekannt geblieben sein, daß der Bankbedienstete eine recht ansehnliche Summe bei sich führte. Nach dem Unfalle mit dem Postwagen ist Ihnen, als Sie Poch nach dem Gasthause ‘Zum umgebrochenen Kreuze führten, der Gedanke gekommen, das Geld zu rauben. Als der Augenblick Ihnen dazu günstig erschien, sind Sie durch das Fenster Ihres Zimmer hinaus-und durch das des Pochschen Zimmers eingestiegen… dann haben Sie den Schlafenden ermordet, um ihn bestehlen zu können, und wenn Sie den Kabak schon um vier Uhr früh verließen, geschah es, um den geraubten Schatz zu verstecken, wo…

– Wo wir ihn schon noch finden werden, fiel der Major ein.

– Also zum letzten Male, fuhr der Richter fort, wollen Sie uns mitteilen, wohin Sie sich von jenem Gasthause aus gewendet haben?

– Zum letzten Male: Nein! antwortete der Privatlehrer. Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen…

– Nein, Herr Nicolef, schloß der Beamte zum größten Erstaunen des Majors Verder. Es liegen zwar sehr gewichtige Verdachtsgründe gegen Sie vor, doch den Befehl, einen Mann in Ihrer Stellung und von lebenslang erprobter Ehrenhaftigkeit zu verhaften, den unterzeichne ich nicht… wenigstens heute nicht. Sie sind frei, doch halten Sie sich jederzeit dem Gerichte zur Verfügung.«

Elftes Kapitel.

Vor der Volksmenge.

Nach diesem Verhör erwartete der Major, daß die Verhaftung Nicolefs sofort angeordnet werden würde, und viele andere glaubten dasselbe: der Privatlehrer hatte es ja abgeschlagen, sich über die Veranlassung zu seiner Reise auszusprechen. Für seine Eile, den Kabak schon am Morgen um vier Uhr zu verlassen, hatte er keinen annehmbaren Beweggrund angegeben und nicht einmal sagen wollen, wo er sich in den drei Tagen vor seiner Rückkehr nach Riga aufgehalten hätte. Natürlich konnte diese Verschlossenheit den auf ihm lastenden Verdacht nur erschweren. Warum war Dimitri Nicolef aber unter solchen Verhältnissen nicht gleich verhaftet worden? Warum durfte er als freier Mann nach seiner Wohnung zurückkehren, statt in eine Zelle der Festung abgeführt zu werden? Gewiß mußte er sich der Behörde zur Verfügung halten, wie leicht konnte er aber von der vorläufigen Freiheit Gebrauch machen zu entfliehen, wo er sich in den Vorfall im »Umgebrochenen Kreuze« so tief verstrickt sah.

In Rußland, wie anderswo, ist an der Unabhängigkeit der Ziviljustiz nicht zu deuteln. Auch dort wahrt man sie mit lobenswertem Eifer. Spielt freilich das politische Element in irgend einen Kriminalfall hinein, so macht sich bald eine Einwirkung der obersten Behörden bemerkbar. Das traf nun bei Dimitri Nicolef zu, der eines schrecklichen Verbrechens angeklagt war, während die slawische Partei ihn gerade auf den Schild erhoben hatte. Das war auch der Grund, warum der Gouverneur der baltischen Provinzen, der General Gorko, sich nicht gleich hatte für eine Verhaftung aussprechen wollen. Diese wollte er jedenfalls nicht anordnen, solange gegen die Schuld des Lehrers nur noch der leiseste Zweifel übrig blieb.

Als ihm am Nachmittage der Oberst Raguenos das Protokoll des Verhörs überbrachte, wollte er sich mit diesem über den beklagenswerten Fall aussprechen, über den er der Regierung zu berichten verpflichtet war.

»Ich stehe Euer Exzellenz zur Verfügung,« antwortete der Oberst auf seine einleitenden Worte.

Der General Gorko las das Protokoll aufmerksam bis zum Ende.

»Mag Dimitri Nicolef schuldig sein oder nicht, begann er dann, jedenfalls wird die germanische Partei die Lage des Mannes auszunutzen suchen, einfach weil er ein Slawe ist. Gerade ihn wollten wir ja im bevorstehenden Wahlkampfe dem deutschen Adel entgegenstellen, den hohen Bürgerkreisen, die in den Provinzen, vorzüglich aber in Riga, fast allmächtig sind, und gerade jetzt trifft ihn die Beschuldigung wegen eines Verbrechens, gegen die er sich sehr mangelhaft verteidigt.

– Eure Exzellenz haben recht, antwortete der Oberst, und das trifft sich noch unter den unseligsten Umständen, wo die Gemüter der Menge schon so erhitzt sind.

– Halten Sie Nicolef für schuldig, Raguenof?

– Darauf kann ich Euer Exzellenz kaum Antwort geben, mindestens wie ich es Dimitri Nicolefs wegen wünschte, der mir von jeher der öffentlichen Achtung würdig erschienen ist.

– Doch warum weigert er sich, über seine Reise eingehend Auskunft zu geben?… Zu welchem Zweck hat er sie unternommen?… Wohin hat er sich begeben?… Er muß für sein Schweigen doch schwerwiegende Gründe haben.

– Ich bitte nur Eure Exzellenz, zu bedenken, daß nichts als der Zufall ihn in Verbindung mit dem unglücklichen Poch gebracht, nichts anderes ihn kurz vor der Abfahrt von Riga in der Postkutsche mit diesem zusammengeführt hat, und daß wiederum ein Zufall die Ursache war, daß beide den Kabak ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ aufsuchten.

– Gewiß, lieber Oberst; ich erkenne auch recht gern das Gewicht Ihrer Bemerkungen an. Der auf Nicolef ruhende Verdacht würde aber doch sehr abgeschwächt werden, wenn er sich offen über die auffallende Reise äußern wollte, von der er nicht einmal gegen seine Familie gesprochen hatte.

– Zugegeben, und doch genügt wohl sein Schweigen darüber noch nicht, daraus den Schluß auf seine Schuld zu ziehen. Nein, obwohl er sich in jener Nacht in der Kroffschen Schenke aufgehalten hat, mag ich, nein, kann ich nicht glauben, daß Nicolef der Urheber des Verbrechens sei!«

Der Gouverneur bemerkte recht wohl, daß der Oberst bestrebt war, Dimitri Nicolef, einen Slawen wie er selbst, zu verteidigen. Auch er wollte sich von der Schuld des Mannes nur überzeugen lassen, wenn dafür unumstößliche Beweise vorlägen, doch auch dann mußten noch mehrere solche übereinstimmen, ehe er sich vor diesen beugen würde.

»Wir dürfen uns immerhin nicht verhehlen, nahm er, in dem Aktenstücke blätternd, wieder das Wort, daß ein ernster Verdacht auf ihm lastet. Er bestreitet nicht, die Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten in jener Schenke zugebracht zu haben, und leugnet auch nicht, gerade in dem Zimmer geschlafen zu haben, an dessen Fensterbank sich noch frische Spuren zeigen, in demselben Zimmer, wo sich das zum Aufbrechen des Ladens benutzte Schüreisen gefunden hat, das es dem Mörder ermöglichte, in das Zimmer Pochs einzudringen.

– Das ist ja richtig, meinte Oberst Raguenof. Die Umstände deuten darauf hin, daß der Mörder jener Reisende gewesen sei, der sich die Nacht in diesem Zimmer aufgehalten hat, und es unterliegt keinem Zweifel, daß Dimitri Nicolef dieser Reisende gewesen ist. Sein ganzes Privatleben, seine stets erprobte Ehrbarkeit verteidigen ihn aber gegen eine solche Anklage. Obendrein, Eure Exzellenz, hat er ja, als er sich zu seiner Reise entschloß, ganz bestimmt nicht gewußt, daß ein Angestellter des Bankhauses der Gebrüder Johausen mit ihm fahren werde und daß dieser beauftragt sei, an einen Geschäftsfreund in Reval eine größere Summe auszuzahlen. Selbst wenn man dann annimmt, daß der Gedanke an das Verbrechen in ihm aufgestiegen sei, als er die Dokumentenmappe, die der Unvorsichtige nicht genügend verborgen hielt, erblickte, so müßte mindestens noch nachgewiesen werden können, daß Dimitri Nicolef gerade in bedrängter Lage gewesen wäre und so nötig Geld gebraucht hätte, daß er es über sich gewann, sogar ein Verbrechen zu begehen, um einen Raub ausführen zu können. Weiß man denn, daß diese Nebenumstände vorgelegen hätten und erlaubt es die stets ehrenhafte und bescheidene Lebensführung des beliebten Lehrers, zu glauben, daß schon ein Geldmangel genügt hätte, ihn zum Mörder zu machen?«

Diese Einwendungen verfehlten nicht, einen tiefen Eindruck auf den Gouverneur zu machen, der sich ohnehin gegen die Mutmaßungen sträubte, die der Major Verder und viele andere schon als Gewißheiten betrachteten. So begnügte er sich denn, dem Oberst Raguenos zu antworten:

»Lassen wir der Untersuchung ihren Lauf. Vielleicht kommen noch andere Dinge an den Tag und geben andere Zeugenaussagen der Beschuldigung eine zuverlässigere Unterlage. Dem mit der Aufklärung der Sache betrauten Richter Kerstorf können wir ja vollständig Vertrauen schenken. Ein unabhängiger, durchaus ehrenhafter Beamter, gehorcht er nur der Stimme seines Gewissens und ist unzugänglich für jede, auch für jede politisch gefärbte Beeinflussung. Die Verhaftung des Lehrers konnte er ohne eine Beratung mit mir nicht anordnen… er hat den Mann auf freiem Fuß gelassen, und daran hat er recht getan. Sollten sich neue Anhaltspunkte ergeben und es rätlich erscheinen lassen, so würde ich der erste sein, Nicolef in der Feste internieren zu lassen.«

In der Stadt entstand inzwischen eine gewisse Aufregung. Die Mehrzahl der Einwohner – das ließ sich nicht bestreiten – glaubte, daß der Privatlehrer nach dem mit ihm vorgenommenen Verhöre in Haft behalten werden würde, die einen, die Zugehörigen der oberen Gesellschaftsklassen, weil sie ihn wirklich für schuldig hielten, die anderen, weil es die Sache mindestens erforderte, daß man sich seiner Person versicherte.

Es erregte deshalb die höchste, mit scharfen Protesten gemischte Verwunderung, als man Dimitri Nicolef frei nach seiner Wohnung gehen sah.

Die schreckliche Neuigkeit war jetzt aber auch bis in sein Haus gedrungen. Ilka wußte, daß ihr Vater eines Kriminalverbrechens wegen angeklagt war. Vor wenigen Stunden hatte sie ihren eben eingetroffenen Bruder mit herzlicher Umarmung begrüßt. Die Entrüstung des jungen Mannes war ganz unbeschreiblich. Er hatte seiner Schwester auch den Auftritt zwischen den Studierenden der Universität Dorpat geschildert.

»Unser Vater ist unschuldig, rief er, und mit Karl Johausen werde ich schon noch Abrechnung halten!

– Ja, er ist ohne Schuld, antwortete das junge Mädchen, dabei stolz den Kopf aufrichtend, und wer, selbst von seinen Feinden, könnte es wagen, ihn einer solchen Schandtat zu zeihen?«

Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß in der vertrauten Umgebung Dimitri Nicolefs dieselbe Überzeugung herrschte, vor allem bei dem Doktor Hamine und dem Konsul Delaporte, die auf die Nachricht, daß der Lehrer vor Gericht gefordert worden sei, eiligst in dessen Wohnung erschienen waren.

Ihre Anwesenheit, ihre ermutigende Zusprache und ihre Versicherungen waren dem Bruder und der Schwester ein lindernder Balsam in deren Leide doch hatte es den ehrlichen Hausfreunden Mühe genug gekostet, die beiden Kinder des Beschuldigten von einer Aufsuchung ihres Vaters im Amtszimmer des Richters abzuhalten.

»Nein, nein, mahnte der Doktor Hamine, bleibt nur mit uns hier. Besser, wir warten alles ruhig ab. Nicolef wird ja völlig gerechtfertigt zurückkehren.

– O, was nützt es denn, rief das junge Mädchen, sein Leben lang ein ehrenwerter Mann gewesen zu sein, wenn man dennoch so abscheulichen Beschuldigungen ausgesetzt bleibt?

– Das nützt einem dazu, sich zu verteidigen! stieß Jean hervor.

– Ja, junger Mann, antwortete der Arzt, und selbst wenn Dimitri sich schuldig bekennen sollte, würde ich es nicht glauben und nur erklären, daß er von Sinnen sei.«

In dieser Geistesverfassung fand also Dimitri Nicolef seine Familie, den Arzt und Herrn Delaporte und auch so einige Bekannte wieder, die sich in seinem Hause eingefunden hatten. Draußen aber waren die Gemüter der Menge so erhitzt, daß er unterwegs hatte vielfache gegen ihn ausgestoßene Verwünschungen hören müssen.

Der Bruder und die Schwester warfen sich ihm in die Arme. Er küßte die beiden mit größter Herzlichkeit. Jetzt erfuhr er auch, wie Jean in Dorpat beleidigt worden war, welch kränkende, abscheuliche Worte ihm in Gegenwart seiner Kameraden der junge Johausen zugerufen hatte. – Jean als der Sohn eines Mörders gebrandmarkt!

Der Doktor Hamine, der Konsul und die übrigen drückten Nicolef warm die Hand. Sie legten durch ihre Worte, ihre Freundschaftsbezeugungen entschieden Widerspruch gegen die unerhörte Anklage ein. Niemals hatten sie an seiner Schuldlosigkeit gezweifelt und niemals würden sie daran zweifeln… alle bemühten sich, ihm die besten Beweise der herzlichsten Zuneigung zu ihm zu geben.

In dem Zimmer, worin sich alle befanden, mußte nun Nicolef, während vor seinem Hause die irregeleitete Menge tobte, berichten, was im Bureau des Richters vorgefallen war, mußte das Vorurteil gegen ihn schildern, das der Major Verder gar nicht verheimlichte, und ebenso das würdige und zurückhaltende Auftreten des Richters Kerstorf. Das tat er nur mit kurzen Worten und in abgebrochenen Sätzen, wie ein Mann, den es anwidert, auf viele dieser Einzelheiten zurückzukommen.

Begreiflicherweise fühlte der Lehrer das Bedürfnis zu ruhen, allein zu n, oder vielleicht in der Arbeit Vergessenheit für das, was ihm widerfahren war, zu suchen, und so verabschiedeten sich denn seine Freunde.

Jean zog sich mit seiner Schwester in deren Zimmer zurück, und Dimitri Nicolef bereitete sich vor, nach seiner Studierstube zu gehen.

 

 »Halten Sie Nicolef für schuldig?« (S. 157.)

»Halten Sie Nicolef für schuldig?« (S. 157.)

 

Beim Verlassen des Hauses sagte Delaporte zu dem Arzte:

»Die Köpfe der Leute sind einmal erhitzt, lieber Freund, und obwohl Nicolef ohne Zweifel unschuldig ist, bleibt es doch dringend nötig, den wirklich schuldigen Täter zu entdecken, sonst wird der Haß seiner Feinde nicht aufhören, ihn zu verfolgen.

– Das ist leider sehr zu befürchten, antwortete der Arzt. Habe ich jemals gewünscht, die Hand der Gerechtigkeit auf einen Verbrecher gelegt zu sehen, so wünsche ich es in diesem Falle. Die Gebrüder Johausen werden den Tod Pochs auszunutzen wissen, und ebenso Franks Sohn Karl, der nicht einmal die Beibringung eines Beweises für die Anschuldigung abgewartet hat, Jean als Sohn eines Mörders zu behandeln.

– Im befürchte übrigens, bemerkte Delaporte, daß diese Sache zwischen Karl und ihm noch nicht erledigt ist. Sie kennen ja Jean; er wird sich rächen wollen, um seinen Vater zu rächen.

– O nein… nein, entgegnete der Arzt, er darf bei der jetzigen Sachlage keine Unklugheit begehen. Ach, diese unglückselige Reise! Warum hat Dimitri sie unternommen und was hat ihm überhaupt den Gedanken dazu eingegeben?«

Natürlich legten sich die Kinder und die Freunde Nicolefs solche Fragen vor, da sich dieser darüber so hartnäckig in Schweigen gehüllt hatte.

Hierzu kommt noch, daß er auch bei der Schilderung des Verhörs vor dem Untersuchungsrichter jede Anspielung auf seine Reise unterdrückte, auch nicht erwähnte, daß der Beamte gerade auf die Beweggründe, weshalb er Riga verlassen hätte, besonders Wert gelegt hatte, und ebenso verschwieg er seine Weigerung, auf diesbezügliche Fragen Antwort zu geben. Die Hartnäckigkeit, womit er hierüber schwieg, mußte mindestens auffällig erscheinen. Vielleicht fand sich dafür aber später eine Erklärung. Die Gründe, um deretwillen er drei Tage abwesend gewesen war, konnten nur ehrenhafter Art sein, ebenso wie die, um deretwillen er dabei beharrte, sich nicht darüber zu äußern.

Und doch hätte er – da es unannehmbar erschien, daß ein Mann von seiner Bildung und seiner gesellschaftlichen Stellung ein solches Verbrechen begangen hätte – der Anklage ohne Zweifel durch ein einziges Wort allen Boden entziehen können, durch ein Wort, das auszusprechen er sich starrsinnig weigerte.

Jedenfalls hatte die Nichtverhaftung Dimitri Nicolefs nach dessen Verhör durch den Richter Kerstorf in der Stadt und vorzüglich unter den die Mehrheit bildenden Deutschen eine große Erregung hervorgebracht. Die Familie Johausen, ihr Umgangskreis, der Adel und die Bürgerschaft erhoben dagegen schwere Vorwürfe. Man beschuldigte den Gouverneur und den Oberst Raguenof, den Lehrer einfach wegen seiner Nationalität zu begünstigen. In gleicher Weise angeklagt, wäre jeder außer einem Slawen schon ins Gefängnis der Feste abgeführt worden.

Warum behandelte man ihn denn nicht wie einen gewöhnlichen Raubmörder? Verdiente er mehr Schonung als ein Karl Moor, ein Johann Sbozar oder ein Jaromir? Gegen ihn sprach ja nicht etwa ein unbegründeter Verdacht, sondern nahezu eine Gewißheit, und das Gericht ließ ihn dennoch frei, gewährte ihm die Möglichkeit zu entfliehen, und er würde also nicht vor das Schwurgericht kommen, das ihn unbedingt verurteilen mußte. Auch dessen Urteil würde freilich noch verhältnismäßig mild ausfallen, da in Rußland die Todesstrafe abgeschafft ist, solange es sich um Verletzungen des gemeinen Rechtes handelt. Höchstens konnte er nach den Bergwerken Sibiriens ausgewiesen werden… er, ein Mörder, der den Tod so reichlich verdient hätte!

Derartige Anschauungen und Urteile herrschten vorzüglich in den vornehmeren Stadtvierteln mit ihrer Überzahl an deutschen Bewohnern. In der Familie Johausen wütete und tobte man gegen Dimitri Nicolef, gegen den Mörder des unglücklichen Poch, im Grunde aber noch mehr gegen den bescheidenen Lehrer, den Gegner des mächtigen Bankiers.

»Keinesfalls, erklärte Frank Johausen, wußte Nicolef, als er sich zu seiner Reise entschloß, daß er mit Poch fahren würde und daß dieser eine größere Geldsumme bei sich führte. Er hat das aber gewiß bald erfahren, und schon als er nach dem Unfalle mit dem Postwagen vorschlug, die Nacht in der Schenke ‘Zum umgebrochenen Kreuze’ zuzubringen, wird er den Plan entworfen gehabt haben, unseren Boten zu bestehlen, wobei er dann auch zur Ausführung des Raubes vor einem Morde nicht zurückgeschreckt ist. Will er die Gründe nicht offenbaren, warum er Riga überhaupt verlassen hatte, so mag er doch wenigstens sagen, warum er noch vor Tagesanbruch und ohne den Postschaffner abzuwarten, aus dem Kabak geradezu entflohen ist. Mag er endlich erklären, wohin er sich gewendet und wo er die drei Tage seiner Abwesenheit zugebracht hat. Das wird er aber nicht tun! Er gestände ja damit sein Verbrechen ein, da er so übereilt davongegangen ist und sein Gesicht immer verhüllt gehalten hat, nur um das dem Opfer geraubte Geld desto leichter in Sicherheit bringen zu können.«

Was Dimitri Nicolefs offenbare Notlage betraf, die ihn zu dem Diebstahle verleitet haben werde, zögerte der Bankier auch mit einer Erklärung hierüber nicht.

»Vom pekuniären Gesichtspunkte aus betrachtet, war die Lage des Privatlehrers wohl eine ganz verzweifelte. Er hatte Verbindlichkeiten, denen er nicht nachkommen konnte. Binnen drei Wochen verfällt ein an uns zu zahlender Wechsel über achtzehntausend Rubel, und ich bin fest überzeugt, daß ihm die eigenen Mittel dazu fehlen und er diese auch nicht anderweitig austreiben könnte. Überdies wußte er, daß jedes Gesuch um Prolongation des Wechsels von mir abgelehnt werden würde, daß meine Nachsicht in dieser Beziehung zu Ende war.«

Das sah Frank Johausen als unerbittlichem, haßerfülltem und rachsüchtigem Manne ganz ähnlich. Was der Bankier ausgesprochen hatte, sickerte auch nach außen durch, und so erhielten Jean, Ilka und Nicolefs Freunde Kunde von dessen Verhältnis gegenüber dem politischen Feinde. Dimitri leugnete nicht, beruhten seine Verbindlichkeiten doch nur auf seinem ehrenwerten Eintreten für die hinterlassenen Schulden seines Vaters. Immerhin war das ein neuer Gegenstand tödlicher Beunruhigung, der zu so vielen anderen hinzutrat.

Bezüglich der Angelegenheit, in die ja auch die Politik hineinspielte, wollte der General Gorko jedenfalls mit vorsichtigster Klugheit vorgehen. Obwohl die öffentliche Meinung die Verhaftung des Lehrers forderte, glaubte er den Befehl hierzu noch nicht geben zu können, dagegen erhob er keinen Einspruch gegen eine Hausdurchsuchung bei dem Angeklagten.

Eine solche erfolgte am 18. April durch den Richter Kerstorf, den Major Verder und den Brigadier Eck.

Dimitri Nicolef ließ die drei Herren nach Belieben schalten; er widersetzte sich keiner ihrer Maßnahmen, beantwortete aber alle an ihn gerichteten Fragen mit verächtlicher Kälte. Man durchwühlte seinen Schreibtisch, seine Schränke, nahm Einsicht in seine Papiere, seinen Briefwechsel und seine persönliche Rechnungsführung. Diese zeigte übrigens, daß Frank Johausen nicht übertrieben hatte, wenn er sagte, daß der Lehrer so gut wie nichts besäße. Er lebte nur vom Ertrag seiner Unterrichtsstunden, doch auch dieser würde ihm ja als Folge der jetzigen Vorkommnisse wenigstens zum größten Teile verloren gehen.

Die Hausdurchsuchung verlief, was den zum Nachteil der Gebrüder Johausen begangenen Diebstahl betraf, ganz ohne Ergebnis. Wie hätte das auch anders sein können, da Nicolef – nach der Meinung des Bankiers – Zeit genug gehabt hatte, das Geld beiseite, d. h. nach der Stelle zu schaffen, wohin er sich am frühen Morgen nach dem Verbrechen begab und die anzugeben er sich wohl hüten würde.

Was die Kassenscheine betraf, deren Nummern der Bankier besaß, so würden diese – das war auch die Ansicht Kerstorfs – nicht eher in Verkehr gebracht werden, als bis der Dieb, wer das auch sein mochte, sagte der Richter, das ohne Gefahr wagen könnte. Höchst wahrscheinlich verging also ein gewisser Zeitraum, bis einer davon irgendwo auftauchte.

Dimitri Nicolefs Freunde lernten bald die Anschauungen der Menge nicht nur in Riga, sondern auch in den Provinzen kennen, wo man sich für die Sache außerordentlich interessierte. Sie wußten, daß die öffentliche Meinung sich im allgemeinen gegen den Lehrer kundgab und daß die deutsche Partei sich bemühte, auf die Behörden einen Druck auszuüben, um dessen Verhaftung und Verurteilung herbeizuführen. Die kleinen Leute, die Handwerker, die Krämer und die eigentlichen Eingebornen, waren weit mehr geneigt für Nicolef einzutreten und ihn, wäre es auch nur infolge Rasseninstinktes, gegen seine Feinde zu verteidigen, wenn sie von seiner Unschuld vielleicht auch nicht völlig überzeugt waren. Was vermochten aber diese armen Leute auszurichten? Bei den Mitteln, worüber die Gebrüder Johausen und ihre Anhänger verfügten, war es ja leicht, auf jene einzuwirken, sie zu Ausschreitungen aufzustacheln und damit auf den Gouverneur einen Zwang auszuüben, daß er sich einer Bewegung fügte, der zu widerstehen hätte gefährlich werden können.

Inmitten der tief erregten Stadt, deren Vorstadt ununterbrochen Gruppen von Bürgern und auch von den niederen Volksklassen durchstreiften, von denen die zweiten für jedermann, der sie bezahlte, zu haben waren, und trotzdem daß es vor seinem Hause zu wiederholten bedrohlichen Ansammlungen kam, bewahrte Dimitri Nicolef doch eine erstaunliche, überlegene Ruhe. Auf die Bitten seiner Kinder hatte der Doktor Hamine ihn wenigstens zu bestimmen gewußt, daß er vorderhand nicht ausginge; er wäre auch jedenfalls gefährdet gewesen, in den Straßen beschimpft, vielleicht gar mißhandelt zu werden. Wohl fügte er sich dem Zureden seines Freundes, wurde aber verschlossener als je und verbrachte die meiste Zeit in seiner Studierstube. Schweigsam, abweisend, wenn jemand auf ihn sprach, und ohne nur mit einer Silbe auf die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen hinzudeuten, ging in seinem Innern offenbar eine Veränderung vor sich, die seine Kinder und seine Freunde nicht grundlos beunruhigte. Der Doktor Hamine, der seiner Freundschaft für ihn bis zur Aufopferung Ausdruck gab, widmete ihm jede Stunde, die seine sonstigen Berufspflichten ihm frei ließen. Delaporte und noch einige Bekannte trafen jeden Abend in seinem Hause zusammen, worin oft feindselige Ausrufe von der Straße hörbar wurden, obgleich die Polizei diese auf Befehl des Obersten Raguenof streng überwachte. Traurige Abende waren es, an denen Dimitri Nicolef so gut wie gar nicht teilnahm. Mindestens waren der Bruder und die Schwester nicht allein in den Stunden, die die Dunkelheit noch unheimlicher machte und die dann so langsam verstreichen. Gingen die Freunde dann fort, so umarmten sich Ilka und Jean noch einmal mit angsterfülltem Herzen, schlichen nach ihren Zimmern und lauschten dem Lärme von der Straße, während sie ihren Vater auf-und abgehen hörten, als könne er keine Ruhe finden.

Selbstverständlich dachte Jean gar nicht daran, nach Dorpat zurückzukehren. In welch peinlicher Lage hätte er sich dort auf der Universität befunden. Wie hätten ihn wohl die Studenten und darunter auch die empfangen, die mit ihm früher in inniger Freundschaft verbunden waren? Vielleicht hätte er in dem wackern Gospodin den einzigen Verteidiger gefunden, wenn die anderen von der öffentlichen Meinung sozusagen angesteckt worden waren. Wie hätte er sich auch Karl Johausen gegenüber beherrschen können?

»O… dieser Karl! klagte er gegen den Doktor Hamine wiederholt. Mein Vater ist unschuldig! Die Entdeckung des wirklichen Schuldigen wird und muß das beweisen. Ob es dazu jetzt aber kommt oder nicht, ich werde Karl Johausen zwingen, mir für seine schimpfliche Beleidigung Genugtuung zu gewähren. Warum sollte ich damit vielleicht lange warten?«

Dem Arzte gelang es nur mit Mühe den jungen Mann einigermaßen zu beruhigen.

»Werde nicht ungeduldig, Jean, ermahnte er ihn, und begehe keine Unbesonnenheit!… Wenn die rechte Stunde gekommen ist, werde ich der erste sein, der dir sagt: Geh’ und tue – deine Pflicht!«

Jean fügte sich dem Rate nicht sofort, und ohne die flehentlichen Bitten seiner Schwester hätte er sich doch vielleicht zu einem Schritte hinreißen lassen, der die Sachlage jedenfalls verschlimmern mußte.

Am Abend nach seiner Rückkehr von Riga und als er nach dem peinlichen Verhör nach Hause gekommen war, hatte Dimitri Nicolef gefragt, ob kein Brief für ihn eingetroffen wäre.

Nein… der Briefträger hatte nur, wie jeden Abend, die Zeitung abgeliefert, die die Interessen der slawischen Partei vertrat.

Am nächsten Morgen trat der Lehrer zur Zeit der ersten Austragung aus seinem Zimmer und wartete auf den Briefträger gleich an der Haustür. Zu dieser Zeit war die Vorstadt noch menschenleer und nur einige Polizisten gingen vor dem Hause hin und her.

Ilka, die ihren Vater gehen gehört hatte, gesellte sich auf der Schwelle zu ihm.

»Du wartest auf den Briefträger? fragte sie.

– Ja, antwortete Nicolef. Er scheint mir heute morgen recht lange auszubleiben.

– Nein, lieber Vater, ich versichere dir, daß es noch nicht zu spät ist. Hier ist es aber etwas kalt; solltest du nicht lieber wieder hineingehen?… Du erwartest wohl einen Brief?

– Ja, mein Kind; es ist aber nutzlos, daß du auch hier bleibst. Geh’ nach deinem Zimmer.«

Seiner etwas verlegenen Haltung nach zu urteilen, hätte man sagen mögen, daß ihm die Anwesenheit Ilkas störend war.

In diesem Augenblick erschien der Briefträger. Er hatte kein Schreiben für den Lehrer, und dieser konnte eine schmerzliche Enttäuschung nicht verbergen.

Am Abend und am nächsten Morgen zeigte sich Nicolef ebenso ungeduldig, als der Mann, ohne ihm etwas abzuliefern, an seinem Hause vorbeiging. Niemand hatte eine Ahnung, von wem Dimitri Nicolef einen Brief erwartete und welche Bedeutung dieser haben könne, ebensowenig, ob er überhaupt mit der so folgenschweren Reise in Verbindung stände. Nicolef selbst aber ließ darüber nichts verlauten.

An diesem Morgen kamen der Doktor Hamine und der Konsul Delaporte schon um acht Uhr früh eiligst nach dem Hause des Lehrers und verlangten Jean und Ilka zu sprechen. Sie benachrichtigten diese, daß die Beerdigung Pochs am nämlichen Tage stattfinden werde. Das konnte Anlaß zu einer feindseligen Kundgebung gegen Nicolef geben, und deshalb empfahl es sich vielleicht, einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen.

Tatsächlich war ja von der gereizten Stimmung der Gebrüder Johausen alles zu befürchten, dafür sprach auch schon der Umstand, daß das Begräbnis des Ermordeten mit aller Feierlichkeit erfolgen sollte.

Zugegeben, daß sie damit ihre Teilnahme an dem Schicksal eines treuen Dieners ausdrücken wollten, der dreißig Jahre lang in ihrem Hause tätig gewesen war; es lag aber zu sehr auf der Hand, daß sie diese Gelegenheit dazu benutzten, die öffentliche Meinung nur noch weiter zu erhitzen.

Ohne Zweifel hätte der Gouverneur besser getan, den von den slawenfeindlichen Tagesblättern angekündigten prunkhaften Aufzug zu untersagen. Freilich lag es bei der jetzigen Stimmung der Menge auch nahe, daß ein Eingreifen der Behörden erst recht zum Widerstande gereizt hätte. So erschien es also noch als der beste Ausweg, die nötigen Maßregeln zu treffen, damit die Wohnung des Lehrers nicht zum Schauplatze persönlicher Tätlichkeiten würde.

Solche waren aber desto mehr zu befürchten, weil sich der Leichenzug, um nach dem Friedhofe von Riga zu gelangen, durch die Vorstadt und unmittelbar an Nicolefs Wohnung vorüber bewegen mußte… ein bedauerliches Zusammentreffen von Umständen, das die Volksmenge gar so leicht zu Ausschreitungen verführen konnte.

Unter diesen Verhältnissen riet der Doktor Hamine, Dimitri Nicolef von dem Begräbnisse überhaupt nichts zu sagen. Da er jetzt gewöhnlich in seiner Studierstube blieb und diese nur zur Stunde der Mahlzeiten verließ, konnte ihm damit manche Unruhe, auch manche Gefahr erspart bleiben.

Das Frühstück, an dem Ilka den Doktor Hamine und Herrn Delaporte teilzunehmen veranlaßt hatte, verlief unter bedrückender Stille. Niemand erwähnte die Beerdigung, die für den Nachmittag angesetzt war. Wiederholt aber schreckten die Tischgenossen vor wütenden Ausrufen von draußen zusammen, mit Ausnahme des Lehrers selbst, der das Geschrei gar nicht zu hören schien. Nach dem Frühstück drückte er seinen Freunden die Hand und zog sich wieder in sein Arbeitszimmer zurück.

Jean und Ilka, sowie der Arzt und der Konsul blieben im Wohnzimmer zurück. Eine peinliche Stunde des Wartens und auch ein peinliches Schweigen, das nur zuweilen von dem Lärm der Zusammenrottung und dem Geschrei der Menge unterbrochen wurde.

Der Tumult nahm immer mehr zu, je mehr Leute aller Klassen der Vorstadt zuströmten und die Volksmenge vor dem Hause des Lehrers vergrößerten. Offenbar war die Mehrzahl davon feindlich gegen den gestimmt, den die öffentliche Meinung als den Mörder des Bankbeamten bezeichnete.

Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, diesen der Gefahr, der erhitzten Menge in die Hände zu fallen, durch seine Verhaftung zu entziehen. War er unschuldig, so trat seine Unschuld nur um so glänzender zutage, weil er dann unrechtmäßigerweise in die Feste gebracht worden wäre. In diesen bangen Stunden mochten der Gouverneur und der Oberst wohl auch den Gedanken gehabt haben, eine solche Maßregel im Interesse Dimitri Nicolefs zu ergreifen.

Gegen halb zwei Uhr verdoppelte sich das Geschrei auf der Straße, als an deren Eingang der Leichenzug auftauchte. Das Haus erbebte fast von den sinnlosen Verwünschungen der Volksmenge. Da verließ der Lehrer, zum Entsetzen seines Sohnes, seiner Tochter und seiner Feunde, plötzlich seine Studierstube und kam nach dem Wohnzimmer herunter.

»Was ist denn jetzt da draußen los? fragte er.

– Zurück, zurück, Dimitri! antwortete der Arzt drängend. Eben wird der unglückliche Poch zu Grabe geleitet.

– Der, den ich ermordet habe! sagte Nicolef mit eisiger Ruhe.

– Ich bitte dich, ziehe dich zurück…

– Vater, bester Vater!« schlossen Jean und Ilka sich der Bitte an.

Dimitri Nicolef, der sich jetzt in einer unbeschreiblichen Gemütsverfassung befand, wollte auf niemand hören; er trat vielmehr an das Fenster des Zimmers heran und suchte es zu öffnen.

»Das wirst du nicht tun! rief der Arzt. Das wäre die schlimmste Unklugheit!

– Und ich tue es dennoch!«

Bevor ihn jemand hätte daran hindern können, zeigte er sich an dem geöffneten Fenster.

Sofort dröhnten tausend Verwünschungen gegen ihn heraus.

 

 »Zurück, ihr Unglückseligen!« (S. 171.)

»Zurück, ihr Unglückseligen!« (S. 171.)

 

In diesem Augenblicke hatte der Trauerzug sein Haus erreicht. Gleich einer tieftrauernden Witwe folgte Zenaïde Parenzof dem mit Blumen und Kränzen überreich geschmückten Sarge. Hinter ihr kamen die Herren Johausen und alle Angestellten der Firma, die den Freunden des Verblichenen vorausgingen, und Parteigänger, denen es mehr darauf ankam, die Feierlichkeit zu einer Manifestation zu benutzen.

Vor dem Hause des Lehrers machte das Gefolge Halt, inmitten des Tobens, der von allen Seiten kommenden Ausrufe und der Todesandrohungen, die diese begleiteten.

Der Oberst Raguenos und der Major Verder waren zwar mit einem ansehnlichen Polizeiaufgebot zur Stelle, es blieb aber dennoch zu befürchten, daß Eck und seine Mannschaft außer stande sein könnten, die Leidenschaften der Volksmenge gebührend im Zaume zu halten.

Gleich als sich Dimitri Nicolef am Fenster gezeigt hatte, scholl es zu diesem »Tod dem Mörder!… Tod dem Mörder!« aus hunderten von Kehlen hinaus.

Die Arme gekreuzt, den Kopf stolz erhoben, eine unbewegliche Statue, die Statue der erhabenen Verachtung, kam kein Wort über seine Lippen. Seine beiden Kinder, der Arzt und Herr Delaporte, die seinen gewagten Schritt nicht hatten verhindern können, hielten sich an seiner Seite.

Inzwischen setzte sich der durch das Gedränge aufgehaltene Zug wieder in Bewegung. Das Schreien und Toben wurde aber nur noch ärger. Die Wütendsten stürzten auf die Haustür zu und versuchten sie zu sprengen.

Dem Obersten, dem Major und den Polizisten gelang es zum Glück, die Unholde zurückzutreiben. Sie sahen aber ein, daß es zur Rettung des Lebens Nicolefs unumgänglich sein werde, ihn in Haft zu nehmen, und auch da fürchteten sie noch, daß er beim Betreten der Straße umgebracht werden könnte.

Trotz des Widerstandes der Polizei war es zuletzt doch nahe daran, daß das Haus gestürmt wurde, doch da brach sich ein Mann durch die Menge Bahn bis zum Hause, sprang die Stufen vor der Tür hinan und stellte sich schützend vor diese hin.

»Zurück, ihr Unglückseligen!« rief er mit Donnerstimme, die den Lärm bertönte.

Vor seiner befehlenden Haltung wichen die Stürmenden lauschend zurück.

Da trat Frank Johausen unvermutet auf den Fremden zu.

»Wer seid Ihr? fragte er.

– Ja… wer seid Ihr? wiederholte der Major Verder.

– Ich… ich bin ein Verbannter, den Dimitri Nicolef um den Preis seiner Ehre zu retten versucht hat, und der jetzt kommt, ihn dafür um den Preis seines Lebens zu retten.

– Euer Name? fragte der Oberst herantretend.

– Wladimir Yanof.«