1

Als die Ferien begannen, verlor mein Vater seinen Job bei den Hamburgischen Elektrizitätswerken. Zwanzig Jahre hatte er Kernkraftwerke im Hamburger Umland gewartet. Er hatte mir sämtliche Schwachstellen von Primärkreisläufen, Brennelementen und Wärmetauschern aufgezeigt, war morgens um sieben mit seiner braunen Aktentasche zur S-Bahn gegangen und nachmittags zurückgekommen, manchmal spät am Abend, ein- oder zweimal im Monat erst am nächsten Tag. Die HEW hatte ihn vor die Wahl gestellt, nach Japan zu gehen - nicht nach Tokio, sondern in eine kleinere Stadt an der Küste Hokkaidos, wo ein Schneller Brüter gebaut wurde - oder eine Abfindung zu akzeptieren, sechzigtausend Mark. Das erzählte er mir beim Frühstück, an einem Sonntag, einige Tage nach dem Gespräch mit Doktor Steinberg, seinem Chef. Er trug das karierte Flanellhemd mit den abgewetzten Manschetten und strich sein Brötchen mit Leberpastete, nachdem er noch einmal den Deckel der Dose geprüft, das Verfallsdatum kontrolliert und am Inhalt gerochen hatte.

»Sechzigtausend Mark«, sagte er und zupfte die Serviette auf seinem Schoß zurecht.

Ich wußte, daß ihm sein Job gefiel. Er schätzte Doktor Steinberg, und er mochte seine Kollegen. Manchmal sprach er von ihnen, als hätten sich leidenschaftliche Bienenzüchter, Schachspieler und Antiquitätennarren, Physiker allesamt, durch einen glücklichen Zufall gefunden, um die Gefahren der Nukleartechnik mit einer Leichtigkeit zu bannen, die mich an den Computerkurs der Projektwoche erinnerte. Er schwieg, wenn bei Familientreffen von Urlaubsplanung, Überstundenausgleich oder Vorgesetzten die Rede war, als wollte er die HEW vor meinen Onkels und Tanten, die ihre Jobs offenbar haßten, durch sein Schweigen schützen.

Während der folgenden Tage saß er mit starrer Miene vor dem Fernseher und nestelte am Manschettenknopf seines Hemdes. Die Serben belagerten Sarajevo, Deutschland verlor in Sofia ein Länderspiel gegen Bulgarien. Ich wollte verstehen, warum er Japan nicht wenigstens in Erwägung zog. Er konnte dort helfen, eine riesige Anlage zu errichten, einen Schnellen Brüter der jüngsten Generation, zusammen mit französischen und japanischen Ingenieuren. Angeblich gab es in der Stadt, in die wir ziehen sollten, sogar eine deutsche Schule. Ich ließ ihn allein; ich war sein stilles Nachdenken nicht gewohnt.

Er stand spät auf und ging früh ins Bett. Nachts hörte ich durch die dünnen Wände den Lattenrost in seinem Bett knarren. Oft, wenn ich eingeschlafen war, weckten mich Geräusche aus dem Bad wieder auf. Ich hatte nur einen Menschen gekannt, der zwischen drei und fünf Uhr morgens aufs Klo ging, meine Großmutter, in deren Wohnung ich ein paarmal auf der Couch übernachtet hatte. Ich drückte mein Ohr an die Wand, um herauszufinden, was er tat, aber ich hörte nur seinen Strahl ans Porzellan prasseln; dann kam minutenlang nichts, bis die Spülung rauschte. Ich stellte mir vor, wie er im Sitzen schlief oder starb, an die Wand gelehnt, oder daß er im trüben Spiegel über dem Waschbecken sein Gesicht betrachtete.

Einmal ging ich auf den Flur und wartete im Dunkeln. Er kam heraus, schloß die Tür, drehte sich um und fuhr zusammen.

»Ich bin's.«

»Spinnst du«, sagte er. »Wie spät ist es. Mußt du aufs Klo?« Er roch nach alter Bettwäsche.

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Du wirst dich erkälten!«

Ich glaubte damals, daß Männer sich von Zeit zu Zeit an einen Tisch setzten und alles miteinander besprachen. Ich hatte das Gefühl, ein solches Gespräch stehe kurz bevor. Aber wir standen um vier Uhr morgens im dunklen Flur, in unseren Pyjamas; ich dachte an seine nackten Füße, an sein Brusthaar oben am Kragen, und plötzlich war er nicht mehr mein Vater, sondern ein Fremder, und ich wollte weg, zurück in mein Zimmer, durchs Fenster nach draußen und über den Zaun.

2

Er hatte das Bad belassen, als lebte meine Mutter noch. Ihr Lou Lou von Cacharel, der rosa Kamm auf der Ablage, kleine weiße Handtücher fürs Gesicht. Sogar ein Päckchen Always Ultra lag noch im Schrank über dem Waschbecken - abgepackt 1987, stand auf der Seite zu lesen. Hin und wieder kamen Frauen und benutzten diese Dinge. Der Spiegel im Parfumflacon sank, in den Zacken des Kammes hingen lange Haare, die Handtücher trugen graue Spuren. Manchmal lag im Mülleimer zerknülltes Papier mit dem Always-Schriftzug.

Da war die Verkäuferin der Schuhboutique am Rathausmarkt. Im Schaufenster hingen Wildlederboots an Nylonschnüren von der Decke, gehüllt in dünne Pelze aus Staub. Zwei der leuchtenden Buchstaben über der Eingangstür waren durchgebrannt: SCH - - BOUTIQUE. Als sie das erste Mal in unser Haus kam, brachte sie einen kleinen Beutel Paranüsse mit, den sie mir mit hochgezogenen Brauen überreichte. Wenn ich am Rathausmarkt vorbeikam, lief ich hinter den Kirschbäumen auf der anderen Seite entlang, um ihren Blicken zu entgehen.

Diese Frau stand eines Morgens in unserer Küche, in einem Morgenrock meines Vaters, zwinkerte und prostete mir mit Orangensaft zu. Sie ging zum Fernseher und schaltete ihn ein, setzte sich in den Ohrensessel, schlug die Beine übereinander und trank in aller Ruhe den Saft. Ich setzte mich zu ihr und sagte etwas über das Wetter, eine Sache, mit der Erwachsene sich oft beschäftigten. Aber sie antwortete mir, wie man einem Kind antwortet; ich spürte, daß sie versuchte, besonders freundlich zu sein. Ich wandte mich dem Fernseher zu und schielte dabei auf ihre Füße. Sie hatte krumme Zehen, dunkelrot lackierte Nägel und ein großes Hühnerauge.

»Mögen Sie Stiefel?« fragte ich.

»Stiefel?« sagte sie und zog ein überraschtes Gesicht.

»Stiefel sind toll«, sagte ich. »Man kann sie zu jeder Gelegenheit tragen. Sie nehmen sogar dem Outfit vom letzten Jahr das Tussihafte.«

Ich hatte den Satz in der »Zeit« gelesen, in einem Interview mit Wolfgang Joop. Sie sah mich eine Weile an, dann sagte sie etwas Dummes, etwas völlig Unpassendes. Ich mußte raus aus dem Wohnzimmer. Ich konnte sie nicht ertragen, ihr Lächeln, die nackte Haut ihrer Beine und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in unserer Küche bediente. Trotzdem gefiel mir etwas an ihr, vielleicht die Tatsache, daß meine Abneigung sie nicht zu stören schien, aber da war noch etwas anderes - das Lou Lou meiner Mutter.

»Ich putz mir die Zähne«, sagte ich und ließ sie im Wohnzimmer allein.

Unter dem Hocker in der Garderobe standen ihre Pumps. Ich wog den linken in meiner Hand, strich mit dem Finger am Absatz entlang, spielte mit den Riemen und roch - ein bißchen Leder, ein bißchen Schuhcreme und dieses seltsame Menschenaroma, anders als meines, anders als das meines Vaters. Ich glaubte, dieses Aroma konnte nur vom Fuß einer Frau stammen, aber ich hatte keinen Vergleich; was meine Mutter an Strümpfen und Schuhpaaren hinterlassen hatte, roch mittlerweile nach Dachboden. Ich holte ein Brotmesser aus der Küche und suchte in meinem Zimmer den Klebstoff, der zum Basteln gedacht war. Ich nahm die Schuhe mit ins Bad, ließ das Wasser laufen, schnitt mit dem Messer die Absätze ab und klebte sie wieder an die Sohlen.

Wir liefen dann ein Stück zusammen, sie zum Bus, ich zum Markt. An der Haltestelle sagte ich »Tschüs«, sie sagte »Ciao« - wieder ihr bemühter Blick, diese Freundlichkeit. Ich bog um die nächste Ecke, blieb stehen, ging ein Stück zurück, duckte mich hinter den Altglascontainer und sah ihr beim Warten zu.

Sie stand einfach da, in der Entfernung kaum größer als meine Fingerkuppe, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie ging zum Fahrplan, sah auf die Uhr, wippte von einem Bein auf das andere, eine nervöse Frau an einer Bushaltestelle. Ich hatte diese Sendung über ein Mädchen gesehen, das in London Schuhe bei John Lobb verkaufte: morgens die Fahrt zur Arbeit, sieben Stunden herumstehen mit entspanntem Gesicht, eine Stunde Gespräche führen: paßt wie angegossen, aber probieren Sie noch den hier, der ist ein bißchen teurer, die Verarbeitung, Sie verstehen. Abends Kartoffeln kochen an einem kleinen Herd in einer Wohnung in Lewisham, das mich an Allermöhe erinnerte, direkt vorm Fenster das Nachbarhaus, im Briefkasten nur die Stromrechnung und Reklame vom Pizza-Service ...

Vielleicht war alles ganz anders, aber nach solch einem Leben sah unsere Schuhverkäuferin aus.

Plötzlich dachte ich, daß mich das alles nichts anging. Ich wollte zurückgehen und sie warnen; ich hatte erlebt, wie ein Mädchen aus der Schule mit gebrochenem Absatz umgeknickt war und mehrere Stunden operiert werden mußte. Dann kam der Bus, und sie stieg ein und fuhr an mir vorbei. Ich sah sie am Fenster sitzen, ein Umriß wie aus Papier geschnitten.

Ich ging zum Markt, kaufte Salat, frische Eier und Karotten. Ich sah ein Töpfchen mit Walderdbeeren und handelte den Preis herunter, probierte orangenen Käse und aß an einem Stand ein Würstchen. Über die Schuhverkäuferin dachte ich nicht mehr nach.

Beim Abendbrot fragte mein Vater, was ich von ihr hielte.

»Und du von ihr?« sagte ich.

»Ein bißchen langweilig«, sagte er.

»Ja«, sagte ich, »und sie verbraucht Mutters Lou Lou.«

Er starrte auf die Walderdbeeren. Ich hatte sie in unserer schönsten Schale auf den Tisch gestellt.

»Es ist nicht einfach, jemanden zu finden«, sagte er. »Ein paar Wochen noch.«

3

Max von der HEW rief an. Er leitete die Presseabteilung, hatte zwei Töchter, die studierten, und spielte am ersten Weihnachtsfeiertag in der Kirche Fagott. Frank aus der Buchhaltung rief auch an. Mein Vater hatte oft mit den beiden im Garten gesessen und Koteletts gegrillt. Sogar Doktor Steinberg rief irgendwann an.

»Ich bin beschäftigt«, sagte mein Vater. »Oder nicht da. Such dir was aus.«

Er bohrte sich ein Stäbchen vom China-Food-Service ins Hosenbein. Die Bezüge der Couch, das Tischtuch, der Gardinenstoff, das ganze Wohnzimmer verströmte nach einer Woche China-Food-Service die Aromen von Ente süßsauer, Pflaumenlikör und Schweinefleisch mit Sojasauce.

»Sag ihnen, ich bin spazierengegangen.«

Damals konnte ich die Nuancen ihrer Stimmen nicht deuten. Die Zahl ihrer Anrufe - allein Doktor Steinberg versuchte es viermal - schien zu belegen, daß mein Vater diesen Männern wichtig war. Er ließ sich weiter verleugnen. Schließlich fragte ich ihn nicht mehr, sondern begann, mir selbst Geschichten auszudenken: Einmal hatte er sich die Schulter ausgekugelt und mußte bis zum nächsten Morgen in der Klinik bleiben, dann war sein Wagen abgeschleppt worden, und er saß in der Stadt fest. Irgendwann blieb das Telefon still. Es kam mir vor, als wäre mein Vater mit dem Sessel verbacken, als nähme seine Haut langsam die Farbe des Polsters an.

Schließlich griff er doch nach dem Hörer, und einige Stunden später stand eine Frau vor der Tür, die, daran konnte ich mich erinnern, in Trines Kombüse am Bahnhof Labskaus und Stintsuppe kochte. Sie war eine dieser älteren Frauen, in deren Gesichtern man gerade noch ein Mädchen ahnen konnte. Sie roch nach süßem Schnaps, und eine breite Laufmasche lief vom Saum ihres Minirocks hinunter bis zum Knöchel. »Bin ich hier falsch?« fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Ich bin der Sohn.«

»Sein Sohn? Da hat er nie von gesprochen.« Ich überlegte, ob sie vielleicht zu jenen Frauen gehörte, die ein Witwer - das hatte mein Vater mir nach dem Tod meiner Mutter erklärt - benutzen müsse wie eine Arznei gegen das eigene Sterben.

Am Abend steckte ich mir Watte in die Ohren, band ein schwarzes T-Shirt um meinen Kopf und versuchte zu schlafen, aber ich schwitzte, träumte schlecht, und als ich aufwachte und durch die Wand das Pumpen der Stahlfedern in der Matratze meines Vaters hörte, war mir, als würde darunter unser Leben zu Staub zermahlen.

4

Als mein Vater am nächsten Morgen aus dem Bad kam, klebte Blut an seiner Lippe. Er hielt etwas Gelbliches zwischen den Fingern. Zuerst sah ich weg, und als ich hinsah, erkannte ich Zähne. Die Frau aus Trines Kombüse war fort.

»Nicht so schlimm«, sagte er. »Ist nur eine Brücke.«

Ich wußte nicht, was eine Zahnbrücke war, und traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Ich legte mich wieder in mein Bett und starrte an die Decke, wo unter einem Himmel aus fluoreszierenden Sternen der Helikopter hing.

Am letzten Schultag hatten wir bei Luigi Garnelen gegessen und waren danach an die Elbe gefahren. Mein Vater hatte den Wagen direkt am Deich geparkt. Er hatte sich die Hände gerieben, den Kofferraum geöffnet und das rote Geschenkband mit seinem Nagelknipser durchtrennt.

»Lassen wir ihn fliegen«, hatte er gerufen.

Dann war er vor mir her an der Böschung entlanggerannt, hatte den Helikopter über die Köpfe der Schafe sausen lassen und sich vor Lachen ins Gras geworfen. Später hatte er die getrockneten Schafsködel mit einem Teelöffel von seinem Trenchcoat gekratzt, naßgeschwitzt und grinsend.

Ich schloß mich im Bad ein und suchte. Als er in den Keller ging, sah ich in seinem Zimmer nach, im Schrank und in der Kommode - die Zähne waren verschwunden.

Ich hörte ihn unten wühlen und fluchen. Nach einer halben Stunde, ich preßte gerade Orangen aus, kam er mit einer angerosteten Moulinex-Maschine unter dem Arm in die Küche; früher hatten die stämmigen Frauen der Arbeiterwohlfahrt mit dieser Maschine das Essen meines Urgroßvaters zu Brei gequirlt.

Den Morgen verbrachten wir vor dem Fernseher. Ich beobachtete meinen Vater von der Seite; als er es merkte, tat ich, als würde ich aus dem Fenster starren.

Beim Mittagsmagazin begann er plötzlich zu schmatzen.

»Ich ruf den Zahnarzt an«, sagte ich und stand auf.

»Laß gut sein«, sagte er und sah mich an mit diesem Blick.

»Okay«, sagte ich und stellte das Telefonbuch zurück ins Regal. »Kann ich irgendwas machen.«

»Ruh dich aus«, sagte er. »Du hast ein langes Schuljahr gehabt.«

Er beugte sich zur Seite und stellte eine leere Flasche König Pilsener in die Nische neben der Heizung, dann sank er zurück in den sandfarbenen Ohrensessel. Früher hatte mein Großvater darin gesessen. An seinem achtzigsten Geburtstag hatte er mich herangewinkt und meine Schultern zwischen seine fleckigen, knochigen Hände genommen, die aussahen wie die Tiefseespinnen aus dem Was-ist-was-Band »Meereskunde«.

»So«, hatte er gesagt, mehr nicht.

Ich hatte ihn angesehen und gewartet. Er hatte sich die Lippen geleckt und dabei gesummt wie ein Insekt.

Ein paar Wochen später stand der Sessel in unserem Wohnzimmer. Im Polster hatte mein Großvater einen schimmernden Abdruck hinterlassen. Mein Vater war in den Keller gegangen, hatte Wachs erhitzt und damit das Birnbaumgestell poliert. Ich fragte mich, wann die abgewetzten Bezüge zu Staub zerfallen würden.

»Wir könnten ein bißchen arbeiten«, sagte ich.

Wir hatten uns vorgenommen, das Treppengeländer zu streichen, eine Chaiselongue zu entwurmen, die Silberfischlöcher im Teppich zu stopfen, die Dusche frisch zu verfugen und eine verchromte Dachrinne anzubringen.

»Fahr in den Süden«, sagte mein Vater. »Jetzt sind Ferien.«

Er blätterte in der Fernsehzeitschrift. An seinen reglosen Augen sah ich, daß er betrunken war.

»Hier ist ein Artikel über den Peloponnes. Man kann das >Theater von Epidauros< entdecken ... da gibt es gebratene Tintenfische und Auberginen in Essig und Öl< ... Flüge nach Kalamata sind gerade ziemlich günstig.«

Er sprach, als glaubte er nichts von dem, blätterte vor und zurück, hielt die Lippen geöffnet wie einer, den der Schlag getroffen hat. Draußen zogen Wolken auf, Vorboten eines Sommergewitters. Schon liefen dünne Wasserfäden an den Fenstern herab.

Ich wollte nicht in den Süden fahren. Ich wollte nirgendwo hinfahren. In der Küche begann das Geschirr zu stinken. Die Zeitschriften auf dem Wohnzimmertisch, deren Anordnung sonst System hatte - die neuesten obenauf, parallel zur Tischkante ausgerichtet, jeder Adreßaufkleber sorgfältig entfernt -, diese Zeitschriften lagen teils auf dem Sofa, mit eingerissenen, von heißen China-Food-Styroporschalen gewellten Umschlägen, die Seiten befleckt mit getrockneter Sojasauce, teils lagen sie zerfleddert auf dem Fußboden; von der Juliausgabe des »Journal of Modern Physics« war nur das Titelblatt übrig, während ihr Abonnent, der gern in die Bretagne fuhr, um seine schwachen Bronchien an salziger Luft zu kurieren, mit zitternder Stimme eine staubige Halbinsel im Süden Griechenlands lobte.

»Ich geb dir das Geld«, sagte er. »Andere Jungen wären froh.«

»Der Süden interessiert mich nicht.«

»Was hast du schon wieder«, sagte er.

»Nichts. Alles in Ordnung.«

Ich ging in die Küche, schrubbte pelzige Reste von den Tellern und räumte einen Teil des Geschirrs in die Spülmaschine. Dann nahm ich aus dem Hängeschrank das in Leder gebundene Buch, in dem meine Mutter Skizzen gemacht und Rezepte gesammelt hatte. Ihre Handschrift war fein, mit zarten Bögen und Punkten, die dünne Schweife aus Tinte trugen wie winzige Kometen. Als ich blätterte, fielen getrocknete Kornblumen auf den Boden; ich hob sie auf und legte sie wieder zwischen die Seiten. Da waren die Ferkel, eins lag auf dem Bauch, das andere auf dem Rücken; von der Sau sah man nur die Zitzen. Daneben stand das Rezept für diesen Salat mit Pinienkernen und Speck. Ich nahm eine Handvoll Rucola aus dem Gemüsefach, stellte den Herd an, brachte Öl zum sieden und legte die Speckscheiben hinein; sie schimmerten in der Pfanne wie grünstichiges Perlmutt. Ich schälte rote Zwiebeln, hielt sie von mir weg, damit mein Vater nicht, wenn er aus der Küche ein König Pilsener holte, fragen würde, warum ich weinte.

Plötzlich knarrte der Sessel. Mein Vater stöhnte; die Bleiglaskaraffen vibrierten zu seinen dumpfen Schritten. Ich nahm den Speck von der Herdplatte. Die Tür zum Klavierzimmer quietschte. Wieder einige Schritte, das Schaben der filzbezogenen Füße des Klavierhockers auf dem Parkett, dann das Knacken trockenen Holzes. Ein kurzes Innehalten. Pfeifende Atemstöße, das Rascheln von Papier, ein Umblättern, schließlich Töne: Debussy, von dem meine Mutter behauptet hatte, daß sie ihn liebe -einen Mann, der vor beinahe achtzig Jahren gestorben war.

Oft hatte ich, wenn sie spielte, hinter ihr gestanden, in die zerfledderten Seiten oder auf ihren Nacken geschaut. Sie hatte mir erklärt, was »Andante très expressif« hieß, und gleich darauf ihre schlanken Finger über die Tasten gleiten lassen. Seit ihrem Tod versuchte mein Vater, »Clair de Lune« zu spielen; er hatte bei Steinway am Ron-denbarg ein Buch für Klavieranfänger gekauft, hatte gelernt, Noten zu lesen, und als nach einigen Wochen die ersten Takte beinahe klangen wie bei dem tschechischen Pianisten auf dieser abgenutzten Platte, war er in den Garten gegangen, hatte sich an den Fluß gesetzt, seine Pfeife angesteckt und ein Schneuztuch hervorgezogen. Seitdem kam er nicht weiter. Er stolperte über die Stelle mit dem Hinweis »Un poco mosso« wie ein Vergeßlicher über die Bordsteinkante vor dem eigenen Haus. Er trat das Pedal durch, bis die Mechanik im Inneren des Klaviers ächzte, spielte Phantasieakkorde, schlug mit der flachen Hand auf die Tasten und nahm dann einen Schluck Bier; ich hörte das Schmatzen, als sich seine Lippen von der Flasche lösten.

»Was brätst du da?« rief er.

»Speck«, sagte ich.

»Was?« rief er, »sprich lauter!«

Ich schwieg. Er begann wieder zu spielen, diesmal ein Stück aus dem Übungsbuch, einen einfachen Walzer. Am Schluß des Stückes begann er von vorn, dann wieder, als wäre er schwachsinnig. Ich stieß mit dem Fuß die Küchentür zu, aber der Walzer drang hindurch; ich schaltete das Radio auf der Fensterbank ein, suchte einen Sender, drehte auf bis zum Anschlag und rührte zu einem Song von INXS, bis die Zwiebeln am Boden der Pfanne schwarze Krusten hinterließen.

Schließlich nahm ich eine Schüssel, legte die Ruco-lablätter hinein, tat einige Pinienkerne, die Zwiebeln und den Speck dazu und träufelte Essig darüber. Ich las noch einmal das Rezept; meine Mutter hatte diesen Salat auf die gleiche Weise zubereitet, und doch hätte, was vor mir stand, aus einem Kuhmagen stammen können. Ich schlug das Buch zu, wischte die Spritzer vom Umschlag und schob es zurück ins Regal.

Im Radio liefen Nachrichten. Ich schaltete aus. Bis auf zwei Wespen, die um die Salatschüssel surrten, war es still in der Küche. Plötzlich tat mir mein Vater leid. Ich ging ins Wohnzimmer, um ihm ein Glas Wasser mit Zitrone zu bringen, aber der Ohrensessel war leer. Im Klavierzimmer stand seine Bierflasche auf dem Parkettboden, daneben lagen die Noten, und dann war da dieser Geruch, der morgens aus seinem Schlafzimmer in den Flur drang, den der Wäschesack verströmte, wenn seine Unterhemden zu lange darin gelegen hatten.

Ein Knall.

Ich stürzte zur Kellertür. Mein Vater lag am Fuß der Treppe, um ihn bunte Scherben, die Messingteller des Schützenvereins und ein ausgestopfter Fasan. Von seinem Kopf rann helles Blut auf den gefliesten Boden. Ich schrie ihn an, schrie: »Laß das!«, und stützte mich am Türrahmen ab. Sein Bein war verdreht, das Knie lag unter seiner Hüfte. Ich stieg die Stufen hinab, eine nach der anderen, hielt mich am Geländer fest, hoffte, er würde aufspringen und über meine Einfalt lachen. Unter meinen Hausschuhen knirschte das Glas der zerbrochenen Flaschen. Der Gestank verbrannter Zwiebeln verlor sich in den Aromen von Kümmel und Mirabellenschnaps. Ich hockte mich neben ihn und sah in sein schlaffes Gesicht, wischte mit meinem Ärmel den Schweiß von seiner Stirn. Das Glas seiner Omega-Uhr war zerbrochen, ein Zeiger wies Richtung Decke. Auf seiner Nase wuchsen Haare - ich sah sie zum ersten Mal -, Haare wie die seiner Koteletten, silberbraun und starr.

Plötzlich zuckte sein Bein. Ich rannte nach oben, riß den Hörer ans Ohr und wählte eins-eins-null. Die Leitung war tot, ich legte auf, hob wieder ab: das Freizeichen. Ich wählte wieder, falsch diesmal. Ich rannte auf die Straße und schrie.

5

Sein Körper ruckte, als wir über das Kopfsteinpflaster am Pfingstberg rasten. Die Sanitäter hatten ihn mit Gurten auf die Liege geschnallt; ich hielt seine blasse Hand. Der blutverschmierte Kopfverband war ihm über die Augen gerutscht. Wenn er stirbt, dachte ich, aber ich zwang mich, nicht weiterzudenken, als könnte ihn das am Leben halten. Am Rand der beschlagenen Atemmaske rann sein blasiger Speichel herab; ich fing ihn auf und wischte meine Finger am Hosenbein trocken.

Sie behielten ihn bis zum späten Abend im Operationssaal. Ich saß am Empfang bei der Telefonistin und zuckte zusammen, sobald Geräusche vom Ende des Ganges kamen, zitterte, als verschwitzte Gestalten mit gesenktem Blick Funkempfänger in die Buchsen der Ladegeräte steckten, bevor sie Richtung Ausgang schlichen; sie waren wie Krieger auf dem Rückzug nach einer verlorenen Schlacht. Dann holte mich ein Pfleger ab und fuhr mit mir im Fahrstuhl nach oben. In seiner Tasche steckte ein dünnes Buch von Georges Simenon, und an seiner Brust war ein schmaler Streifen Stoff eingenäht, auf dem in schwarzen Buchstaben »Mlatko Josic« stand. Ich mußte meine Hände waschen und in einen Kittel schlüpfen. Der Mann, der Mlatko Josic hieß, drehte mich herum und knöpfte mir den Kittel hinten am Rücken zu.

»Komm, brazo«, sagte er.

Mein Vater lag in dem dunklen Zimmer am Ende des Korridors, umgeben von einem Gestrüpp aus Schläuchen und leuchtenden Monitoren. Ich ging einen Schritt auf das Bett zu, dann noch einen, und als ich vor ihm stand und das verkrustete Blut an seinen Wimpern sehen konnte, berührte ich seine Hand. Metallstangen ragten aus seinem Bein wie silberne Mikadostäbe. Er schlief mit offenem Mund, und es war still im Raum bis auf seinen Herzschlag, ein elektrisches Piepsen. Ein hohes C, dachte ich.

Ich besuchte ihn jeden Tag. Wenn ich kam, hob er die Hand zum Gruß und nickte mir zu. Dann stellte ich einen Stuhl ans Bett, setzte mich hin und trank eine Tasse Kamillentee oder Leitungswasser. Wir sprachen nicht viel, meist starrte er zur Leuchtstoffröhre an der Decke. Manchmal schob ich den Kopfverband hoch, der ihm über die Augen rutschte, sobald er sich bewegte; seine ausgetrockneten Lippen formten dann ein tonloses »Danke«. Nachmittags kam Mlatko Josic, um den Inhalt des Plastikbeutels, dessen Schlauch nach zwei Windungen unter der Bettdecke verschwand, in einen Eimer abzulassen und immer die gleichen Fragen zu stellen: ob mein Vater Schmerzen habe, ob er Wünsche habe. Mein Vater zuckte nur die Schultern.

Oft saß er auf der Pfanne mit dem langen Griff; er litt an Verstopfung und mußte dagegen diesen hellen Sirup trinken. Einmal, als er gerade schlief, goß ich ein bißchen davon in den Meßbecher. Ich roch, nippte, lief zum Waschbecken, spuckte aus und spülte sofort mit Mundwasser nach. Wenn Mlatko Josic die leere Pfanne hervorzog, schwenkte er sie, als wollte er ein Spiegelei wenden, zeigte auf die Sirupflasche und zog seine Stirn in Falten.

»Immer schön trinken«, sagte er.

»Ja«, sagte mein Vater und zupfte am Ärmel des hellgrünen Nachthemds.

Mlatko Josic zwinkerte. Mein Vater zwinkerte zurück, führte den Meßbecher an die Lippen, schluckte, wandte den Kopf zum Fenster, sah hinaus und grinste, obwohl am Himmel nur ein paar Vögel und der Schweif eines Jagdflugzeugs waren.

Einmal räumte ich Unterwäsche in den Schrank, als Mlatko Josic das Frühstück brachte - Brötchen mit Dosenleberwurst und einer trockenen Käsescheibe. Er und mein Vater zogen Gesichter, als hätte man sie mißhandelt; dann lachten sie. Mein Vater legte den Käse auf sein Brötchen, kratzte mit der Messerspitze die Reste aus der Leberwurstdose, aß, befeuchtete einen Finger mit Spucke und pickte die Krümel vom Teller, ein Leuchten in den Augen.

Am dritten Tag saß ich dem Professor in seinem Büro gegenüber. Er schob einen Teller mit Butterkeksen in die Mitte des Schreibtisches. Neben dem Telefon standen gerahmte Photographien: Der Professor mit Michael Stich, der Professor in einem Landrover, der Professor beim Zieleinlauf des Hanse-Marathons.

»Und«, sagte er, »mögen Sie auch Debussy?« Seine Augäpfel waren von feinen, hellroten Adern durchzogen. Er lehnte sich zurück; unter ihm knarrte das Gestell des lederbezogenen Sessels.

»Ihr Vater hat Glück gehabt«, sagte er. »Der Kopf ist heil geblieben.«

»Was ist mit dem Bein?« sagte ich.

»Das Beinchen.« Er winkte ab. »Kriegen wir hin. Versprochen.«

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das schwarz war und ihm wie einem jungen Mann ins Gesicht fiel. Ich glaubte, daß er alles verstehe, schließlich traf er ständig Menschen, die Probleme hatten.

»Er redet nicht mit mir«, sagte ich.

Der Professor senkte den Kopf. An der Wand hinter ihm hing ein buntes Plakat, »Kunsthalle Hamburg - Robert Delaunay«: ein Doppeldecker, der Eiffelturm, eine Tänzerin auf einem Hochseil.

»Nun«, sagte der Professor. Er stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und faltete seine Hände. »Ist Ihnen klar, daß Ihr Vater ein Alkoholproblem hat?«

»Natürlich«, sagte ich.

Er machte sich gerade und griff nach den Keksen.

»Erinnern Sie sich, wann Ihnen das zum ersten Mal aufgefallen ist?«

»Vor acht Jahren«, sagte ich. »Weihnachten siebenundachtzig.«

Meine Mutter war gestorben. Mein Vater hatte Urlaub genommen und war mit mir nach Sylt gefahren. Er hatte ein kleines Apartment mit Garage in Rantum gemietet. Tagsüber liefen wir in unseren Daunenjacken den Strand entlang, schaumige Gischt in den Gesichtern, an den Füßen Moonboots, deren Sohlen im kalten Sand runde Abdrücke hinterließen. Wir trugen orangene Rucksäcke, die er in Westerland gekauft hatte. Meiner war gefüllt mit der Feldflasche, einem Säckchen Mandarinen und der neuen »Micky Maus«. In seinem Rucksack steckten Brote, »Stullen«, wie er sie nannte, belegt mit geräuchertem Aal und Mettwurst, ein Band mit Gedichten von Rilke, ein Flachmann und eine Flasche Scotch, aus der er nachfüllte, sobald er den Flachmann geleert hatte.

Abends blies er die Kerzen an unserem Weihnachtsbaum aus, fuhr mit dem Wagen nach Westerland und kam erst nach Mitternacht zurück, Kneipendunst in den Kleidern und so betrunken, daß er einmal auf dem Fußboden schlief, wo ich ihn morgens in einer Pfütze getauten Schnees fand.

»Wie alt sind Sie«, fragte der Professor.

»Sechzehn«, sagte ich.

»Sie sind jung«, sagte er. »Ich habe auch einen Sohn. Er ist gerade neunzehn geworden. Ziemlich guter Surfer.«

Am Telefon leuchtete eine Lampe. Er nahm den Hörer und sagte: »Jetzt nicht.« Er lockerte seine Krawatte, öffnete den oberen Knopf seines Hemdes und lehnte sich wieder zurück.

»Warst du schon mal surfen?«

»Nie«, sagte ich. Daß er mich duzte, gefiel mir nicht.

»Mit sechzehn hatte ich auch Probleme. Meinen Vater haben sie abgeschossen, dreitausend Meter über Brighton. Ich hatte vier Schwestern, und meine Mutter war Näherin in Geestacht.«

»Das tut mir leid«, sagte ich.

Er nahm noch einen Keks.

»Wir haben Milch mit Wasser getrunken wie die jungen Katzen. Damals war mein Lieblingsspielzeug eine alte Blechdose, auf die meine Mutter mit einem Stück Kohle zwei Augen gemalt hatte.« Er starrte über mich hinweg, als wäre etwas in der Luft, was nur er entdecken konnte.

»Ich muß noch einkaufen«, sagte ich.

»So«, sagte der Professor. Er verharrte einen Moment. Schließlich reichte er mir über den Schreibtisch hinweg seine Hand.

»Wenn die Dinge sich ändern, weiß man nicht, was wird«, sagte er. »Aber weiß man, was wird, wenn sie sich nicht ändern?«

»Danke«, sagte ich, und dann ging ich raus, nickte der Sekretärin zu und dachte, daß dieser alte Idiot schlimmer war als alle Erwachsenen, die ich bis dahin getroffen hatte.

Am 23. Juli lief mein Vater zum ersten Mal mit der Krankengymnastin von seinem Bett ins Treppenhaus, wo die Raucher der Station beim Aschenbecher standen und ihm applaudierten. Er lehnte sich an die Wand, lachte und winkte mit seinen Krücken. Manchmal sprach er mit ihnen über Politik oder Sport; sie standen im Halbkreis um seinen Rollstuhl und hörten zu. Er klagte über dies und das, ballte die Fäuste und fletschte die Zähne, erzählte Anekdoten oder schüttelte resigniert den Kopf, während sie brummten und stampften, lachten oder betreten schwiegen. Er gab ihnen Stimmungen vor wie Tonlagen, in die sie bereitwillig einfielen; es war, als schenkte er diesen Menschen in ihren Bademänteln etwas, das er für sich behielt, sobald wir wieder allein waren.

6

Ich rief bei der »Morgenpost« an und gab eine Anzeige auf: »Vater und Sohn suchen Haushälterin. Halbtagsarbeit, dreimal pro Woche.«

»Ist das alles.« Die Frau am anderen Ende der Leitung klang heiser.

Ich hatte solche Anzeigen in der Samstagsausgabe gelesen. Manche von ihnen waren mit einem Zusatz versehen: »Gute Deutschkenntnisse erwünscht«, »kein Sex« oder »Spaß am Bügeln«.

»Das ist alles«, sagte ich. »Danke.«

Ich fragte mich, warum ich nicht früher darauf gekommen war. Im Gerätekeller klemmte hinter dem Stromzähler noch ein Bündel staubiger Hundertmarkscheine.

»Für den Notfall«, hatte mein Vater gesagt und ein sprödes Einweckgummi über das Bündel gerollt. Ich hatte geglaubt, er würde spinnen.

»Möchten Sie, daß per Chiffre oder direkt geantwortet wird?«

Ich gab unsere Telefonnummer durch.

»Auf Wiederhören«, sagte die Frau mit der heiseren Stimme.

Als ich auflegte, war mir klar, daß mein Vater geahnt haben mußte, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Plötzlich freute ich mich auf den Tag, an dem er zurück kommen würde, auf seinen überraschten Blick und das »Willkommen daheim!« einer Frau mit kräftigen Armen, blitzenden Augen und dem Humor meiner Großmutter, die ihm den Hintern versohlt und dafür gesorgt hatte, daß er die längste Zeit seines Lebens ein anständiger Mensch gewesen war.

Ich bügelte Hemden und Socken, legte sie in eine Reisetasche, tat den neuesten »Stern« dazu und brachte alles in die Klinik. Am Abend kippte ich eine Tüte voller verschwitzter Unterhosen, die mein Vater aussortiert hatte, in den Wäschekorb. Dann belegte ich ein Baguette mit gebratenen Fischstäbchen, setzte mich vor den Fernseher und schaltete hin und her: ein seltsamer Film mit Romy Schneider, Schneeleoparden auf Beutezug, Lenny Kravitz auf Tournee.

Mir war warm; ich wollte zum Bootsschuppen, in einem vertäuten Tretboot sitzen und ein paar Steine ins Wasser werfen. Ich schaltete den Fernseher aus, aß das Baguette und stellte mein Saftglas und den Teller in die Spüle. Dann band ich meine Trainingsjacke um, ging zum Bücherregal, zog hinter Großvaters lederner Bibel die Zigarillos hervor und nahm den Haustürschlüssel vom Haken neben der Garderobe.

Der Bootsschuppen lag etwas abseits. Ich lief bis zum Ende der Straße, dann weiter auf einem Pfad durch hohes Gras und Brennesseln, vorbei an der Villa dieses Mannes, der ständig für das Rote Kreuz in Afrika unterwegs war; so mußten Kolonialvillen in Ghana oder Liberia aussehen: drum herum eine hohe Mauer, das Dach zerfressen von Jahren im Wind, Risse quer durch die Fassade, in denen Vogelnester steckten, auf dem Balkon an Wäscheleinen fleckige Unterhemden, im Hof auf Böcken die Karosserie eines ausgeschlachteten Jeeps. Sein Sohn saß oft vor diesem Café in der Fußgängerzone und rauchte. Wir gingen in die gleiche Schule. Er war ein paar Klassen über mir; ich glaube, er stand vor dem Abitur. Er war ein richtiger Frauenheld, verschenkte auf dem Pausenhof Gras und trampte im Sommer durch Marokko.

Ich sprang hoch, um über die Mauer ins Wohnzimmer zu sehen, aber es brannte kein Licht. Manchmal lag er mit einer seiner Freundinnen auf dem Berberteppich und fummelte, was das Zeug hielt. Ich sprang noch einmal hoch, riß eine Heckenrose ab, formte aus der Blüte zwei Knödel und steckte sie mir in die Nase, um den Plastikgeruch des Tretbootes nicht ertragen zu müssen.

Der Mond schien hell. Ich zog das Tor auf und lief über die Liegewiese. Bevor ich beim Schuppen um die Ecke bog, hielt ich den Atem an und horchte. Manchmal saßen um diese Zeit Paare in den Booten. Ich wollte niemanden stören, außerdem wollte ich allein sein. Ich konnte nicht in die Sterne gucken, während vielleicht ein anderer auf meinen Rücken starrte und sich irgend etwas über mich zusammenreimte. Ich stieg in eines der Boote, streckte mich auf dem kantigen Sitz, zündete einen Zigarillo an und blies den Rauch in die Nacht. Dort war der Polarstern, da der Große Wagen. Das Gefieder einer Ente schimmerte im Schilf.

Plötzlich kamen Geräusche vom Schuppen; ich spuckte den Zigarillo ins Wasser und duckte mich hinters Steuerrad.

»Komm«, sagte ein Mann. Ich hatte die Stimme schon einmal gehört. »Schaffst du's? Warte, ich helf dir. Hier, nimm meine Hand.«

Dann liefen sie über die Planken; zwei Personen, dachte ich, ein festes, stumpfes Tapsen und ein hartes, spitzes Klacklacklack.

»Schön«, sagte eine Frau. »All die Sterne. Viel heller als sonst.«

»Das kommt, weil es hier draußen besonders dunkel ist. Keine Straßenlaternen. Keine beleuchteten Häuser.«

»Ah«, sagte die Frau.

Es war die Schuhverkäuferin. Ich hob den Kopf ein Stück und sah sie mit dem Kassenwart der SPD am Ende des Steges stehen. Er hatte seinen breiten Arm um ihre Taille gelegt. Sie blickten nach oben. Der Kassenwart zeigte mit seinem Finger in den Himmel und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte, er lachte auch. Ich fragte mich, was mein Vater täte, ob er einfach den Kopf schütteln oder sich den Kerl schnappen und ihm eine verpassen würde.

»Guck mal«, sagte sie. »Eine Ente.«

»Ja«, sagte er und zuckte die Schultern. »Bißchen mager für den Kochtopf.«

Seine Hand wanderte abwärts und blieb auf ihrem Hintern liegen. Dann küßte er sie; er beugte sich über seinen Bauch und rieb seinen Vollbart in ihrem Gesicht. Beinahe tat sie mir leid. Sie stand auf Zehenspitzen, umklammerte ihn und stöhnte leise, als wollte sie ihn zusammenhalten wie einen riesigen Sack, der aus allen Nähten platzte.

Als ich im Bett lag, dachte ich nach, bis draußen die Drosseln schrien und der erste Frühschichtler die Tür seines Wagens zuschlug. Ich schwor mir, meinem Vater von der Sache nichts zu erzählen. Sie hatte uns verraten. Ich wußte nicht einmal, ob es meinem Vater etwas ausgemacht hätte. Ich selbst kam mir vor wie der Betrogene. Sie war mir auf die Nerven gegangen, ich hatte sie abstoßend gefunden, und trotzdem konnte sie mich enttäuschen wie einen Liebhaber.

7

Ich stellte mir ihre Gesichter und ihre Kleider vor, stellte mir vor, wie sie mit uns Tee aus der Thermo skanne tranken und meinen Vater zum Reden brachten. Neben einer von ihnen würde er beim Fernsehen sitzen. Sie würden zusammen einkaufen gehen, ins Kino, vielleicht ins Theater. Ich schrieb auf einen Zettel, wie diese Frau sein mußte: Mitte Vierzig bis Fünfzig, ein bißchen älter als er, damit sie sich wehren konnte wie eine große Schwester, Nichtraucherin, manchmal ein Bier. Sie durfte keine Ähnlichkeit mit meiner Mutter haben. Ich rückte den Ohrensessel zum Tisch und stellte die Stehlampe daneben. Auf den Tisch legte ich das Photo vom letzten Weihnachtsfest der HEW, auf dem mein Vater in seinem Smoking einen Toast ausbringt, einen Band mit Rilke-Gedichten und einen Jugendstilhandspiegel, von dem er behauptet hatte, nur Leute mit Geschmack wüßten seinen Wert zu schätzen.

Die erste klingelte am Mittag. Sie hatte violettes Haar, trug einen Fuchspelz und fragte, um wieviel Uhr meine Eltern von der Arbeit nach Hause kämen. Sie ließ ihren Tee kalt werden. Ich stand auf und ging in die Küche, um Schokoladenkekse zu holen. Als ich durch den Türspalt zurück ins Wohnzimmer sah, griff sie nach dem Jugendstilspiegel und prüfte ihr Dekollete.

Dann kam eine Frau mit traurigen Augen und einem Bobtail, der an Rheuma und Magenkrebs litt und die Kekse aus ihrer Hand fraß. Sie sah aus dem Fenster und sagte: »So ein schöner Rasen!«

Die nächste nahm den Rilke-Band, las zwei Gedichte vor, seufzte und hielt sich die Brust. Mittendrin klopfte eine ans Fenster, die vor den Serben geflüchtet war und nicht aufhören konnte zu lachen. Zwei weitere warteten schon im Garten, schnatterten, drückten ihre Zigaretten am Stamm der Eiche aus und schnippten die Filter ins Rosenbeet. Schließlich kam eine, die glitzernde Ohrringe und eine breite Goldkette trug. Sie wollte sofort die Waschküche sehen. Als sie das Haus verlassen hatte, war auch der Jugendstilspiegel verschwunden; ich stürzte nach draußen, aber sie bog schon auf ihrem Rad um die nächste Ecke.

Viele Blicke streiften die Photographie meines Vaters. Ich sah den Frauen an, daß sie sich überwanden, keine Fragen zu stellen. In seinem Smoking sah mein Vater »anziehend« aus und »charmant«. Am Revers glänzten die roten Hosenträger, die meine Mutter ihm auf den Champs-Elysées gekauft hatte. Da Doktor Steinberg neben ihm stand, kam seine Körpergröße zur Geltung; Doktor Steinberg trug einen grauen Anzug mit Weste und Schlips. Es wirkte, als wäre mein Vater der wahre Abteilungsleiter gewesen.

Am Abend öffnete ich die Fenster, saugte Kekskrümel vom Teppich, setzte Teewasser auf und überflog die zerknitterte Liste mit Namen und Telefonnummern, als es klingelte. Ich dachte, eine von ihnen hätte etwas vergessen. Durch den Spion war nichts zu erkennen. Ich klinkte die Sicherungskette ein und öffnete die Tür.

»Ich komme wegen der Anzeige.«

Sie war jung, zwanzig vielleicht, eine Ausländerin; ein leiser Akzent lag in ihren Sätzen, wie bei Madame Sauvage, meiner Französischlehrerin.

»Ich weiß, ich bin ein bißchen spät.«

Sie trat einen Schritt nach vorn und berührte die Sicherungskette mit ihrem Zeigefinger. Ich sah diesen hellen Punkt im Braun ihres rechten Auges und drei feine Löcher in ihrer Ohrmuschel, in denen Ringe gesteckt haben mußten.

»Mein Name ist Ada«, sagte sie.

Der Teekessel pfiff, erst leise, dann schrill. Ich hatte Lust, die Kette zu lösen und sie einfach hereinzulassen. Plötzlich dachte ich an meinen Vater. Auf der Liste hatte ich schon den Namen der Frau mit dem Hund markiert.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Die Stelle ist vergeben.«

»Schade.« Sie zuckte die Schultern.

»Viel Glück noch«, sagte ich.

Vom Klavierzimmer aus konnte man die Straße sehen, das Tor und den gepflasterten Weg durch unseren Vorgarten. Sie trug Sandalen, einen halblangen Rock und ein schwarzes T-Shirt. Das Pfeifen des Teekessels hallte durchs Haus; ich wollte in die Küche gehen und ihn vom Herd nehmen, aber irgend etwas hinderte mich daran. Sie drehte sich um, zog das Tor zu, steckte ihre Hand durch das Gitter und schob von innen den Riegel vor.

Plötzlich sah sie hoch. Das Fenster stand noch offen; ich rührte mich nicht, hielt den Atem an, wünschte mir, unsichtbar zu sein, aber sie hob ihren Arm, winkte und rief mir etwas zu, ein oder zwei Worte. Dann ging sie die Straße runter, Richtung Bushaltestelle.

Die Uhr in der Küche zeigte halb sieben. Ich hängte vier Beutel Kamillentee in die Thermoskanne, goß das dampfende Wasser darüber und schraubte den Deckel drauf. Ada, dachte ich: vielleicht die Kurzform eines Namens, der weniger gut zu ihr paßte.

Dann dachte ich an die Frau mit dem Hund, an ihre Art, im Sessel zu sitzen, leicht nach vorn gebeugt, an die rissige Haut ihrer Hände, die der Hund geleckt hatte, aus denen er gierig die Schokoladenkekse gefressen hatte.

Ich ließ die Teekanne stehen, schlüpfte in meine Turnschuhe und lief aus dem Haus, ihr nach. Sie war ein Stück voraus. Ich lief schneller, kam näher, ging für Sekunden hinter ihr. Ein schwarzblauer Fleck in ihrem Nacken; sie mußte sich verletzt haben, oder es war ein Fleck der Sorte, die manche Mädchen aus meiner Klasse nach Partys trugen wie Schmuckstücke.

»Ada.«

Sie blieb stehen. Ihr Lächeln, der helle Punkt im Auge, ihr schwarzes Haar, hochgehalten von einer roten Spange. Mit den anderen Frauen zu reden, ihnen Angebote zu machen, Stundenlöhne auszuhandeln war mir leicht gefallen - nun kam ich mir vor wie ein Kind.

»Es hat sich was ergeben.«

»So.«

Obwohl sie flache Sandalen trug, war sie ein bißchen größer als ich, vier oder fünf Zentimeter vielleicht. »Die Stelle, ich meine, sie ist wieder frei.«

»Das ging schnell«, sagte sie.

Mit Kamillentee ging es ihr wie mir mit Pampelmusensaft: Früher hatte sie ihn beinahe jeden Tag trinken müssen, ohne Zucker, wegen der Zähne.

»Wir haben sonst nichts«, sagte ich.

Ich hatte Tee oder Wasser getrunken und Reste aus der Truhe gegessen, Baguette zum Aufbacken, Coq au vin oder eines der Filets, die mein Vater für seinen Geburtstag beim Heidebauern gekauft hatte.

»Vielleicht ist noch Bier da.«

»Bier«, sagte sie. »Wenn du auch eins trinkst.«

Ich holte aus dem Geräteraum vier Flaschen König Pilsener. Der Spiegel mit den Barockvoluten am Treppenabgang hing schief; mein Vater mußte ihn bei seinem Sturz gestreift haben. Ich sah hinein, fuhr mir durchs Haar und glättete mit etwas Spucke meine Augenbrauen.

»Möchten Sie ein Glas?«

Sie saß in dem hölzernen Schaukelstuhl, schlug die Beine übereinander und zog ihren Rock über die Knie.

»Nein. Sag einfach du.«

Ich holte den Flaschenöffner, öffnete zwei Flaschen und stellte sie auf den Tisch, neben die Photographie.

»Ist der im Smoking dein Vater?«

Sie nahm das Bild in die Hand und betrachtete es eine Weile. Ich setzte mich in den Ohrensessel. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte auf ihren Wangen ein zarter Flaum, wie bei Babys. An ihren Armen hatte sie einige dieser Muttermale. Auf meinem Rücken waren auch welche, dreizehn genau, für die ich mich schämte; ich zählte sie hin und wieder vor dem Spiegel im Badezimmer. Bei Ada sahen sie ganz normal aus. Ich fand sogar, daß sie ihr standen.

»Ihr seht euch ähnlich.« Sie lächelte.

Ich saugte mit den Lippen etwas Schaum vom Hals der Flasche und trank dann einen Schluck Bier.

»Ihr habt sogar die gleiche Frisur.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. Das hatte noch niemand behauptet. Andererseits wirkte mein Vater auf diesem Photo wie ein Mann, in den man sich verlieben konnte, als Frau.

»Das war bei der letzten Weihnachtsfeier. Der andere ist sein Chef.«

Sie nickte und lehnte das Photo gegen den Rilke-Band, so daß wir beide es sehen konnten.

»Das heißt, er war sein Chef.«

Das Bier schmeckte bitter, aber ich wußte, daß sich das änderte, je mehr man davon trank.

»Hat er die Firma gewechselt?«

»Sie haben ihn vor drei Wochen entlassen.«

Ada sah zu Boden. Wir schwiegen, ich konnte sie atmen hören. Draußen begann es zu dämmern. Auf der Terrasse stritten zwei Spatzen um ein trockenes Brötchen, das ich beim Staubsaugen unter dem Sofa gefunden und rausgeworfen hatte, Futter, das ihnen vielleicht für eine ganze Woche reichte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Adas Brust sich hob und senkte.

Ich stellte meine Flasche hin. Dann erzählte ich ihr alles, die Sache mit Japan und weshalb er in die Klinik gekommen war. Ich wußte nicht, warum ich das tat, schließlich war sie nur wegen der Anzeige da.

»Was ist mit deiner Mutter?«

»Verreist«, sagte ich. »Sie hat's nicht mehr ausgehalten.«

»Kann ich eine rauchen?«

»Klar. Mein Vater raucht auch manchmal.«

Sie zog aus ihrer Rocktasche ein silbernes Etui hervor, klappte es auf und hielt es mir hin. Ich nahm eine Zigarette heraus, eine dünne Selbstgedrehte, und steckte sie mir in den Mund. Sie steckte sich auch eine in den Mund, zündete ein Streichholz an und gab mir Feuer, wobei sie mich ansah. Es war nicht dieser Blick, mit dem Erwachsene Kinder ansahen. Es war der Blick, mit dem ein Erwachsener einen Erwachsenen ansah; zumindest glaubte ich das.

»Kommst du aus Frankreich?«

»Aus Lublin.«

»Tschechische Republik«, sagte ich und lehnte mich zurück, wie ich es im Unterricht tat, wenn die Chancen fünfzigfünfzig standen und meine Antwort möglichst überzeugend wirken sollte.

»Polen.« Sie hielt ihr Bier hoch.

»Polen«, sagte ich.

Wir stießen an. Sie trank, dann streifte sie ihre Sandalen ab, streckte die Beine, löste die Haarklammer, legte sie in ihren Schoß und strich sich eine Strähne hinters Ohr. Meine Flasche war beinahe leer. Ich stellte sie zurück auf den Tisch, wo schon ein feuchter Abdruck war. Ich hatte vergessen, die Untersetzer aus der Kommode zu holen.

»Was ist«, sagte sie. »Du mußt noch ein paar Fragen stellen. Um zu sehen, ob ich für euch die Richtige bin, sozusagen.«

»Magst du Musik.«

»Ich liebe Musik.«

»Mein Vater auch. Kannst du Muscheln kochen?«

»Wir Polen sind bekannt für unsere Muschelkochkünste.« Sie lachte. Ich lachte auch, obwohl ich mir ziemlich dumm vorkam, weil ich über Polen nichts wußte außer ein paar Dingen, die ich in der Schule gelernt hatte.

Sie ging zum Fenster und schnippte die Asche ihrer Zigarette hinaus. Dann setzte sie sich aufs Sims, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blies ein Gebilde aus Rauch ins Zimmer.

»Eure alten Möbel. Die gefallen mir nicht.«

»Mir auch nicht«, sagte ich.

Ich hätte gern das Radio aus der Küche geholt und ein bißchen getanzt.

Draußen war es dunkel geworden. Ich schaltete die Stehlampe ein, von der mein Vater behauptete, daß ihr Licht dem Wohnzimmer »Wärme und Grandezza« verlieh. Manche Ansichten der Erwachsenen kamen mir seltsam vor, aber ich ahnte, daß zum Erwachsensein eine Art Treppe führte und daß man, solange man sich auf einer der unteren Stufen befand, bestimmte Ansichten und Gefühle nicht verstehen konnte, während die Erwachsenen wahrscheinlich alles verstanden, aber schon viel erlebt hatten und deshalb ein bißchen gelassener waren. Mein Vater würde nicken und etwas sagen wie: »Freut mich. Fangen Sie mit den Gardinen an.« Für mich war Ada wie ein Geschenk, das einen auf die Frage brachte, warum man es sich nicht schon seit langer Zeit gewünscht hatte.

8

Am nächsten Tag trug sie Schmuck - drei Silberringe in der linken Ohrmuschel, rechts zwei Stecker mit grünen Steinen und um den Hals eine Kette mit einem Herz, einem Kreuz und dem gelben Eckzahn eines großen Raubtiers. Ich trug gestreifte Socken, den besten Pullover meines Vaters (einen blauen »Paul & Shark« von May und Edlich am Jungfernstieg), seine Lackschuhe, die seit dem Gastspiel des Bolschoi-Balletts einige Wochen vor dem Tod meiner Mutter unter seinem Bett verstaubten, und die ein wenig zu kurze Hose meines Konfirmandenanzugs.

Ich hatte mit Adelheid gerechnet oder etwas noch Peinlicherem, aber sie hieß einfach Ada. So stand es in ihrem Ausweis, den sie mir unbedingt zeigen wollte - »Zu deiner Sicherheit«, wie sie sagte -, und ich sah hin, obwohl ich ihr vom ersten Moment an vertraute. Ada Malic, geboren in Lublin am 28.04.1972. Dreiundzwanzig, dachte ich, ein Alter, in dem man alles Verrückte wahrscheinlich schon einmal getan hatte.

Sie ging mit mir durchs Haus, sah sich um und stellte Fragen. Ich dachte an dieses neu gebaute Viertel an der A25. Von meinem Vater wußte ich, daß dort Polen und Russen und Flüchtlinge aus den zerstörten Städten Jugoslawiens lebten. Wenn wir Richtung Hafen fuhren, sah ich die glänzenden Dächer der Häuser, Kinder, die Fußball spielten, und Frauen mit Einkaufstüten. »Emigranten«, sagte mein Vater, ein Wort, das häßlich klang, obwohl beim Vorbeifahren alles ganz normal aussah.

Ich traute mich nicht, Ada zu fragen, ob sie auch in dem Viertel wohnte. Sie sah in den Schrank unter der Spüle, nahm die grauen Lappen heraus und warf sie in den Mülleimer. Schon am Vorabend hatte ich die Blässe ihrer Haut bemerkt, das Schimmern der feinen Adern auf ihrem Handrücken, türkis wie die Küste Griechenlands in unserer Fernsehzeitschrift.

»Soll ich frische Feudel besorgen? Irgendwas gegen den Kalk? Welche Teller spült ihr von Hand?«

Einmal die Woche saugte ich Staub, putzte die Küche und das Bad. Bei diesen Dingen brauchte ich im Grunde keine Hilfe.

»Heute ist nichts zu tun«, sagte ich. »Wir könnten Fernsehen gucken oder ein bißchen Spazierengehen.«

Jogger hatten im Sachsenwald ein weißes Wildschwein gesichtet; das hatte ich am Morgen im Lokalteil der Zeitung gelesen. Ich wollte mit ihr auf den Hochsitz bei den Karpfenteichen steigen, Brote essen und Ausschau halten.

Sie runzelte die Stirn.

»Wie wär's denn mit den Fenstern?«

Am Nachmittag, wenn die Sonne ins Wohnzimmer strahlte, erschienen die Spuren des Regens der letzten Jahre auf den Scheiben, und an der Stelle, wo im März dieser junge Fasan aufgeprallt war, schimmerten Reste eines Flecks.

»Das mache ich schon«, sagte ich.

»Hör mal«, sagte sie. »Wenn dein Vater nach Hause kommt, über den speckigen Boden geht, durch das schmierige Fenster guckt und eine Prise Staub inhaliert, wird er sich fragen, warum du so dumm warst, gerade mir diesen Job zu geben. Und was soll deine Mutter denken!«

Fast berührte meine Nase ihren hellbraunen Gürtel, als ich hinter ihr stand, um sie auffangen zu können. Sie streckte sich auf der höchsten Stufe der rostigen Trittleiter und polierte die Scheibe mit einem alten Ledertuch. Oberhalb ihres Gürtels kamen ein Streifen Haut und dieser spitze Knochen zum Vorschein - »Darmbeinstachel«, ich kannte den Namen aus dem Biologieunterricht. Das schaumige Wasser im Eimer färbte sich dunkelgrau. Sie zupfte ein Spinnennetz von der Tapete, tauchte die Finger ins Wasser und wischte sie an ihrer Bluse ab.

»Ich hol dir ein Handtuch«, sagte ich.

Eine Stunde später schloß Ada das letzte Fenster, stieg von der Leiter und trank ein Glas Wasser. Die Scheiben schienen verschwunden zu sein; man sah keine Schlieren mehr, keine Spritzer, nur noch die Spatzen auf der Terrasse, den Fluß, die Sonne und den Himmel.

»Willst du was essen?« fragte sie.

»Ich kann was kochen«, sagte ich. In der Gefriertruhe lagen noch zwei Beutel Krabben und ein Coq au vin.

»Du darfst den Tisch decken«, sagte sie.

Sie hatte Hackfleisch mitgebracht. Ich holte Kartoffeln aus dem Keller, stellte zwei Teller auf den Tisch, legte Messer und Gabeln dazu, zündete eine Kerze an, blies sie wieder aus und stellte sie auf das Fenstersims.

Kartoffelsalat mit Frikadellen war mein Lieblingsgericht, obwohl ich es selten aß. Mein Vater hatte in den Jahren vor seiner Entlassung begonnen, Zeitschriften für Gourmets zu lesen und in Kählers Feinkostladen französische Tiefkühlprodukte zu kaufen.

»Brot?«

»Gern.«

»Was machst du eigentlich sonst, ich meine, außer der Arbeit?«

Sie fuhr sich mit der Kuppe ihres Daumens über die Lippen. Ich hatte die Servietten vergessen.

»Ich studiere Philologie.« Sie legte ihr Messer neben den Teller. »Und ein bißchen Wirtschaft. Genauer gesagt, ich habe studiert. Jetzt mache ich Übersetzungen.«

Sie sah an mir vorbei zur Wand, wo die Vierländer Kacheln in ihren Messingrahmen hingen.

»Wenn ich nicht gerade putze.«

Für einen Moment glaubte ich, sie sei verärgert oder genervt, und ich hatte Angst, es könne wegen des Jobs sein. »Putzfrau« war dafür kein schönes Wort, aber auch kein falsches.

»Ich übersetze Bedienungshandbücher für Videorecorder und Fernseher, die Philips nach Warschau exportiert. Und ich übersetze Gedichte.«

»Gedichte«, sagte ich. »Fröhliche oder traurige?«

»Eher traurig. Aber auf eine kluge Art, verstehst du? Jemand aus Lublin hat sie geschrieben. Ein kleiner Verlag im Schanzenviertel wird sie vielleicht drucken. Ich schreibe die Rohfassungen und gebe sie einer Freundin, die alles poliert und schleift und mein furchtbares Deutsch verbessert.«

»Dein Deutsch ist gut«, sagte ich.

Sie lachte, schob eine Gabel Kartoffelsalat in den Mund und kaute. Dann schwieg sie.

Sie schwieg noch, während sie abwusch. Ich durfte ihr nicht dabei helfen, nicht mal beim Einsortieren der Teller, und ich ärgerte mich darüber, daß ich Fragen gestellt hatte, die ihr den Nachmittag verdarben.

»Ich muß los«, sagte sie schließlich.

»Wenn du willst, kannst du zum Arbeiten hierbleiben«, sagte ich.

Sie nahm ihre Tasche von der Garderobe.

»Ich störe nicht«, sagte ich. »Bestimmt.«

Auf der Türschwelle blieb sie stehen. Sie drehte sich um und sah mich an.

»Woher hast du das?« sagte sie. »Diese Freundlichkeit.«

Ich dachte, sie würde sagen: bestimmt von deinem Vater, aber sie beugte sich vor und gab mir einen Kuß auf die Wange, den ich noch spürte, als das Geräusch des Busses in der Ferne verebbte.

Ich ging ins Bad und schloß ab - die Badezimmertür schloß ich immer ab, selbst wenn mein Vater fort war. Ich steckte den Stöpsel in die Wanne, drehte die Wasserhähne auf und begann, mich auszuziehen.

Das Badewasser war heiß. Ich setzte mich und wartete mit angehaltenem Atem. Mein Vater hatte einmal die Geschichte seines Onkels erzählt, eines jungen Offiziers auf der Cap San Diego, der in Buenos Aires bei einem heißen Vollbad gestorben war. Ich schrubbte mir mit der Bürste den Rücken, rieb mit einem Waschlappen, bis die oberste Schicht meiner Haut in Krümeln auf dem Wasser schwamm, und zählte noch einmal alle Frauen, die ich nackt gesehen hatte.

Meine Mutter natürlich, beinahe jeden Tag.

Meine Großmutter in ihrer Dusche, vor der sie später ausgerutscht war. Ich hatte das Plätschern des Wassers gehört, durchs Schlüsselloch geguckt und gesehen, wie sie ihr graues Geschlecht wusch; die Haare waren lang und tropften und hingen herunter wie gezwirbelt.

Dann, beim Sport, Theresa. Ich hatte die Tüte mit meinen Turnschuhen in der Halle vergessen. Herr Grundhoff hatte den Umkleideraum für Jungen schon abgeschlossen, ich war durch die Mädchenkabine gegangen. Sie hatte sich umgedreht und geschrien. Ich war einfach stehengeblieben, obwohl ich das nicht wollte, und hatte sie angesehen. Noch Tage später starrte ich ihr im Unterricht auf den Nacken. Sie saß drei Reihen vor mir, das häßlichste Mädchen unserer Klasse; alle Jungen sagten das. Ich zeichnete sie, steckte die Zeichnungen unter die Borke der Eiche, küßte die Sitzfläche des Stuhls, auf dem sie im Musikraum saß - damals spielte sie Bratsche im Landesschülerorchester -, und roch im Winter an ihrer Jacke, die zum Trocknen vorm Lehrerzimmer über der Heizung hing.

Drei nackte Frauen, das war nicht viel.

Ich stieg aus der Wanne, sah in den Spiegel und versuchte mir vorzustellen, wie ich einmal aussehen würde, mit fünfundzwanzig oder dreißig. Ich schämte mich für die breiten Hüften und für meine schmale Brust. Ich hatte kaum Haare am Körper, aber ich war mir sicher, daß sie bald kommen würden. Mein Vater hatte beinahe zu viele, sogar sein Rücken war voller Haare; von hinten sah er aus wie ein Tier. Bei einem Urlaub in der Bretagne hatte ich einmal geweint, als wir am Strand neben einer Familie mit Töchtern in meinem Alter lagen und er sein Hemd nicht anziehen wollte.

Ich nahm seinen alten Elektrorasierer, ein speckiges schwarzes Stück Plastik mit stumpfen Klingen und Zahnpastaspuren. Ich rasierte meine Wangen, das Kinn und die Stelle über den Lippen, dann öffnete ich das Gehäuse und pustete über das Scherblatt, aber kein einziges Barthaar rieselte herab. Wenn mein Vater morgens im Bad war, sich rasierte und wusch, reinigte er den Apparat im Anschluß mit einer kleinen Bürste. Im Waschbecken blieb dann ein dünner Film aus Seife, Speichel und Stoppeln zurück, der schon am frühen Vormittag so hart und trocken war, daß ich ihn nur mit Scheuermittel wieder entfernen konnte.

Ich verteilte eine Portion seines After-Shaves in meinem Gesicht, gurgelte mit seinem Mundwasser, nahm sein Deodorant von Boss, schraubte den Deckel ab, sprühte ein wenig auf die Spitze meines Penis, setzte mich auf die Klobrille und begann, mir die Nägel zu schneiden. Ich schnitt sie eckig, wie ich es von meiner Mutter gelernt hatte, damit sie nicht ins Fleisch wuchsen.

Dann zog ich meinen Pyjama an und sah mich noch einmal um. Frauen, die meinen Vater besuchten, hinterließen Schamhaare, Haarspangen oder wenigstens Spuren in der Toilette. Ada hatte nichts hinterlassen, sie hatte nicht mal die Seife benutzt, die ich am Morgen zwischen den Kamm und das Lou Lou gelegt hatte.

9

Am Einunddreißigsten sollte er kommen. Beim Frühstück warf ich das Milchglas um und verbrannte mir die Finger an einer Scheibe Toast. Gegen zwei hörte ich das Taxi auf der Straße. Ada war im Garten, sie hängte Socken, seine Hemden und sein Bettzeug über die Leine. Ich rückte den Ohrensessel zurecht und stellte die Margeriten, die wir zusammen gepflückt hatten, auf den Wohnzimmertisch.

In seinem blauen Trainingsanzug kam er mir jünger vor. Er hatte den Schnurrbart abrasiert und sich dabei geschnitten, oberhalb seiner Lippe war noch frischer Schorf. Er roch nach Aprikosen wie dieser Spray, den Mlatko Josic morgens in den Krankenzimmern und auf dem Gang versprüht hatte.

»Bin ich erledigt«, sagte er. »Hast du einen Zehnmarkschein?«

Der Taxifahrer stellte die lederne Tasche in den Flur. Ich holte einen Schein aus dem Sparschwein in meinem Zimmer.

»Stimmt so«, sagte mein Vater und nahm mir das Geld aus der Hand. Der Taxifahrer nickte.

»Wie wär's mit Kaffee«, sagte ich. »Habe gerade welchen aufgesetzt. Es gibt Zwetschgenkuchen mit Sahne und Zimt, wie du ihn magst.«

»Guten Tag«, sagte er.

»Entschuldigung«, sagte ich. »Guten Tag.«

Er schnippte einen weißen Fussel vom Ärmel der Trainingsjacke, setzte sich auf den Hocker und lehnte die Krücken gegen die Wand. Aus seinem Bein ragten die metallenen Stäbe hervor. Sie stützten seine Knochen, wie Pfeiler eine Brücke stützen. »Brücken ohne Pfeiler krachen einfach zusammen« - das hatte Mlatko Josic gesagt.

»Soll ich die Tasche nach oben bringen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wem gehören diese Schuhe.«

Diese Sandalen, dachte ich, »Schuhe« war nicht das richtige Wort.

»Sie gehören Ada. Ada läuft meistens barfuß.«

Er sah sich um, als wäre er bei Fremden zu Besuch. Sein Geruch erfüllte den Flur, trotz geöffneter Haustür -künstliche Aprikosen.

»Ada«, sagte ich, »ist unsere neue Haushälterin.«

Als wir am Fenster standen, saß sie im Schneidersitz auf dem Gras, den Blick aufs Wasser gerichtet, und rauchte.

Er humpelte zum Ohrensessel. Ich hatte Angst, er würde mit den Metallstäben irgendwo hängenbleiben. Er ließ sich ins Polster fallen und streckte seine Arme aus.

»Hör mal«, sagte er. »Du kannst nicht einfach ein fremdes Mädchen bei uns arbeiten lassen.«

Ich spürte die Schläge, mit denen das Herz mein Blut durch den Körper pumpte, spürte sie in den Fingerspitzen, im Bauch und im Inneren meines Schädels.

»Heute abend kocht sie für uns Steinbeißer in Weißweinsoße. Ada kocht ziemlich gut«, sagte ich.

Er hob das verbundene Bein auf den Tisch.

»Wie bist du auf diesen Unsinn gekommen? Sag ihr, daß sie gehen soll, und gib ihr zweihundert Mark.«

Ich dachte, ich hätte ein Recht darauf, daß er sich Mühe gab. Erwachsene schienen zu verlangen, daß man ständig mit ihnen spielte, nach Regeln, die sie erfunden hatten und brachen, wenn es ihnen paßte. Plötzlich stand Ada in der Tür, ohne die Ohrringe und ihre Kette, in einem schlichten braunen Rock und einer weißen Bluse.

»Ich habe was gefunden«, sagte sie.

Mein Vater nahm das Bein vom Tisch. Sie ging zum Sessel und hielt ihm eine Muschel hin, kaum größer als ihr Handteller. Auf die Innenseite der Schale war dieser kleine französische Hügel mit der Abtei gezeichnet.

»Sie lag hinter der Waschmaschine.«

Mein Vater nahm die Muschel und kratzte sich unter der Nase wie zu Zeiten, als dort noch sein Schnurrbart gestanden hatte.

»Mont Saint Michel«, sagte Ada.

Drei Jahre hatte die Muschel unter meinem Bett gelegen. Meine Mutter hatte sie meinem Vater bei der Hochzeitsreise geschenkt. Am Morgen, als Ada aus seinem Zimmer die schmutzige Wäsche geholt hatte, war ich in den Keller geschlichen und hinter die Waschmaschine gekrochen. Ich hatte den Stecker gezogen und die Muschel daneben gelegt.

Meine Mutter hatte mir die Geschichte immer wieder erzählt: Auf ihrer Fahrt entlang der nordfranzösischen Küste brach die Vorderachse ihres geliehenen 2 CV.

Sie ließen den Wagen von einem Bauern in die Werkstatt schleppen, nahmen ein Taxi nach Port-en-Bessin, zählten ihr Geld und quartierten sich im Château La Che-nevière ein. Während der folgenden Nacht saßen sie auf der Terrasse, tranken Corton-Charletnagne und sprachen die Sprache der Liebenden, die, das hatte ich selbst erlebt, wenn die beiden sich unterhielten, der Sprache kleiner Kinder ähnelt. Plötzlich - meine Mutter meinte, es sei nach der zweiten Flasche gewesen - glaubten sie, am Horizont den Glockenturm des Mont Saint Michel aus den Fluten des Golfes von Saint Malo ragen zu sehen.

»Da ist er!« rief mein Vater. »Siehst du das weiße Licht?«

Meiner Mutter kamen die Tränen. Im Internat hatte sie Skizzen von Kirchen und Klöstern gesammelt und geschworen, sich von dem Mann, den sie einmal lieben würde, all diese Orte zeigen zu lassen. Sie suchte in ihrer Handtasche nach einer Muschel aus der Brasserie, in der sie gegessen hatten, und zeichnete die Abtei mit ihrem Kohlestift in die Schale. Am Morgen stellten die beiden fest, daß ihr Glockenturm ein Funkmast des Militärstützpunktes jenseits der Bucht war. Die folgenden Tage sollten die schönsten ihres Lebens werden, obwohl sie in ihren Erzählungen nur aßen, tranken und nachmittags vom Château zum Strand liefen, um am Meer zu sitzen, woraus ich folgerte, daß sie vieles für sich behielten.

Nach ihrer Rückkehr hatte meine Mutter ein Dutzend Farbfilme zu einem Photographen am Ballindamm gebracht, dessen Labor in derselben Nacht vollständig ausbrannte, weil im Pfeifengeschäft nebenan die Gasheizung explodiert war. Als letztes Erinnerungsstück der Reise blieb meinem Vater die Muschel; ein anderes, einen Seidenschal, hatte meine Mutter während der Wochen in der Klinik und schließlich zu ihrem Begräbnis getragen.

Mein Vater hatte eine Stütze aus Pappe gebastelt und die Muschel auf seinen Schreibtisch bei der HEW gestellt. Dann war diese Sache mit Doktor Steinbergs Sekretärin passiert: Sie kam wegen einer Aktenmappe in unser Haus und blieb über Nacht, eine Frau mit falschen Nägeln und nachgezogenen Augenbrauen, die mich anwies, saubere Handtücher neben die Dusche zu legen.

Am nächsten Tag rief mein Vater an und bat mich, ihm das gelbe Sakko für ein »spontanes Dinner« ins Büro zu bringen. Als er mir vom Automaten einen Kakao holte, nahm ich die Muschel von seinem Schreibtisch und steckte sie in meine Tasche. Er suchte überall, verdächtigte den Fensterputzer, die neue Praktikantin aus der Buchhaltungsabteilung und schließlich die Sekretärin. Er murmelte »Krähe« und »Miststück« und beschloß, sich nicht mehr mit dieser, ja, nie mehr mit irgendeiner Frau zu treffen -ein Vorsatz, den er nach wenigen Tagen brach, was mich gezwungen hatte, die Muschel weiter versteckt zu halten.

Ich drückte mich an die Wand. Mein Vater drehte die Muschel in der Hand und fuhr mit dem Daumen an ihren scharfen Kanten entlang, rund herum, als wollte er sie mit einem schützenden Zauber belegen. Dann sah er hoch.

»Ich bin Ada.«

»Das weiß ich«, sagte er. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.«

10

Ich sah seinen Blick, wenn sie das Porzellan aus der Vitrine nahm, Unkraut zwischen den Schwertlilien am Fluß jätete oder ihm aus der Küche eine volle Tasse Tee brachte. Manchmal rief er »Vorsicht!«, obwohl sie bloß Pollen vom Fenstersims wischte. Als ihr beim Kochen einer der Töpfe aus den Händen glitt, murmelte er: »Wenn das jetzt die gute Vase gewesen wäre!« Manchmal pickte er Fusseln vom Teppich und ließ sie, während ich zusah, mit beleidigter Miene in den Mülleimer unter der Spüle segeln. Wenn die Suppe dastand, sah er Nachrichten oder die Sportschau. Später brummte er »kalt«, noch bevor er probiert hatte.

Ich blieb in ihrer Nähe. Abends, nachdem sie gegangen war, schloß ich die Tür meines Zimmers ab, zeichnete oder las und rührte mich nicht, wenn er rief. Sie schien das alles nicht zu bemerken, warf mir heimlich Kußhände zu, sang Kinderlieder, trug offenes Haar und kochte die besten Moules a la belge, die ich je gegessen hatte. Sie mixte bunte Getränke - Singapore Sling und Daiquiri -, setzte sich eine Clownsnase vom letzten Lubliner Fasching auf und stieß mit mir in der Küche an, während mein Vater Fußbäder nahm, sich stöhnend über sein Bein beugte und die metallenen Stäbe mit Ethanol polierte.

Ich erzählte Ada, daß er morgens um sechs Uhr aufstand und Briefe an meine Mutter schrieb, die er in Österreich vermutete, bei einer Tante, die Birnbäume züchtete und kein Telefon besaß. Ich rechnete damit, daß mein Vater ein falsches Wort sagen würde, daß Ada meine Lügen erkannte und in mir einen Jungen sähe, der vielleicht noch weitere Geheimnisse in sich trug.

Mein Vater sagte gar nichts. Er saß einfach da, und Ada fand Gründe, die Sache mit meiner Mutter zu glauben: Sie sah ihre vergilbten Skizzen an der Tür des Kühlschranks kleben, zog ihre alten Skihandschuhe zur Gartenarbeit an, und als sie auf Knien den Fuß des Garderobenständers entstaubte, streifte ihre Wange das Fell eines nie getragenen Wintermantels, den mein Vater sechsundachtzig aus Helsinki mitgebracht hatte, meiner Mutter zum Geburtstag, zwei Nummern zu groß.

Am Abend des vierten Tages schlief er im Ohrensessel ein. Sein Mund stand offen, er schnarchte. Im Fernsehen lief »Ein Hauch von Nerz«, einer seiner Lieblingsfilme. Regen prasselte gegen die Scheiben, aufs Dach und auf die Steine draußen; der erste Regen, seit er aus der Klinik zurückgekehrt war.

Ada tauchte die Arme bis zu den Ellenbogen ins Spülwasser, während ich hinter ihr stand und an einer Flasche Cola nippte. Unter dem T-Shirt zeichneten sich ihre Schultern und der BH ab. Er war orange, ich sah es, als ihr einer der Träger über den Oberarm rutschte. In meiner Klasse gab es Mädchen, die schon einiges hatten von dem, was eine Frau haben mußte - gegen Ada hatten sie nichts. Bei ihr wirkte alles selbstverständlich, das matte Rot des Lippenstifts, der Schatten in ihren Achselhöhlen, wenn sie Glühbirnen wechselte, und wie sie sich gab: Sie kreischte nicht, lief nicht weg, verdrehte nicht die Augen, wenn ein Mann in der Nähe war. Sie wusch einfach ab, und ich konnte hinter ihr stehen und meine Cola trinken.

Schließlich trocknete sie ihre Hände, ging ins Wohnzimmer, betrachtete meinen Vater wie eine Statue im Museum, nahm ein Kissen vom Sofa und schob es unter sein Bein. Dann lief sie durch die Pfützen zum Bus, in meinem gelben Friesennerz mit hochgeschlagenem Kragen. Ich sah in der Küche nach, im Wohnzimmer und im Bad, suchte nach etwas, das sie dort vielleicht vergessen hatte, das ich anfassen, einstecken, woran ich riechen konnte, aber es war, als hatte sie das Haus von sich selbst gereinigt.

Ich schaltete den Fernseher aus. Mein Vater schlief noch immer im Sessel. Ich beugte mich über ihn und dachte, daß er wahrscheinlich sterben würde, wenn ich ungefähr fünfzig wäre, und daß man dagegen nichts tun konnte und daß im Grunde niemand wußte, was bis dahin passieren würde. Und ich dachte, daß alle Dinge zum guten Teil Einbildung waren und daß es für uns vielleicht nur diese eine Gewißheit gab: daß er mein Vater war und ich sein Sohn.

Sie kaufte Fichtennadelextrakt, um seinen Nacken zu massieren.

»Was soll der Unsinn«, sagte er.

»Nur ein einziges Mal!«

»Gut«, sagte er schließlich. »Wenn es Sie glücklich macht.«

Sie legte ein Buch von Andrzej Szczypiorski auf den Wohnzimmertisch, das er erst übersah und dann an einem einzigen Nachmittag las. Er zeigte ihr, wie man die Mullbinden um sein Bein wickeln mußte, und ließ sich von ihr stützen, wenn er im Garten Pfeife rauchen und seine Rosen gießen wollte. Sie half ihm, die windschiefen Stöcke wieder aufzurichten - die Provence-Rosen aus Aix mit ihren gefüllten, nickenden Blüten, die Polyanthas, deren Blätter der Falsche Mehltau zerfressen hatte, die langstieligen Chinesinnen, mit denen er vor meinen Onkels protzte, und eine Gloria dei, die abseits stand, sein heimlicher Liebling. Alle wurden gespritzt und mit Bambusstäben gestützt und in Komposterde gebettet, aus der Regenwürmer hervorquollen.

»Wenn Sie Zeit hätten«, sagte er, »könnten Sie mir dann vielleicht noch einmal den Nacken massieren?«

Später, als wir allein waren, lag mein Vater auf der Couch und rauchte Zigarillos.

»Die ist zu gebrauchen«, sagte er. »Wie sie mit den Rosen umgeht!«

»Hab ich ihr gezeigt«, sagte ich. »Als du in der Klinik warst.«

Er sah mich an und schob die Unterlippe vor. Dann zog er die Zigarilloschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes und warf sie auf den Tisch.

»Falls du einen willst.«

Ich öffnete die Schachtel und roch.

»Wie sie kocht«, sagte ich.

»Wie die Frauen in Frankreich.« Er rieb sich den Bauch und grinste.

»Frauen in Frankreich?«

»Köchinnen eben.«

Ich nahm einen Zigarillo aus der Schachtel und steckt ihn an. Wir schwiegen eine Weile, und es war still im Haus bis auf das leise Surren des Kühlschranks in der Küche.

»Was ist das für ein Blick«, sagte er.

»Wo.«

»Warum du so guckst.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Der Sargnagel schmeckt dir wohl.«

»Ziemlich eklig«, sagte ich, obwohl ich mich gefreut hatte, daß er mir einen anbot.

»Dann muß es was anderes sein.«

Mein Vater hielt die hohle Hand an sein Ohr. Ich zupfte an einem Faden, der an der Naht meines Pullis hing.

»Da schmachtet jemand«, sagte er.

»Quatsch!«

Er richtete sich auf und schob den Aschenbecher rüber. Ich dachte zuerst, er würde gleich lachen und eines seiner Bonmots loslassen, aber er sah mich einfach an.

»Sie ...«, sagte ich. Ich aschte ab und überlegte. »Sie ist ...« Ich blies den warmen Rauch des Zigarillos durch die Nase. »Ich meine, sie ist ganz einfach ...«

»Schon gut«, sagte mein Vater. »Verzwickte Sache.« Er seufzte, und in seinem Seufzen lag, wofür mir die Worte fehlten.

Sie kam mit roten Strähnen vom Friseur zurück. Zwischen ihren Schlüsselbeinen pendelte wieder der Raubtierzahn.

Wenn ich morgens die Zähne putzte, ließ ich die Tür zum Bad offen. Sie kam herein, wusch ihre Hände, sah in den Spiegel und fuhr sich durchs Haar, dann begann sie mit der Arbeit. Manchmal erwartete ich sie länger als eine Stunde, tupfte Zahnpasta auf meine Mitesser, gurgelte mit Odol und summte erfundene Melodien.

Einmal sagte sie »Guten Morgen«, klappte den Klodeckel hoch, hob ihren Rock, zog die Unterhose runter und setzte sich einfach hin. Ich starrte an die Wand, während sie dasaß und erzählte, daß sie mit Freunden in Hagenbecks Tierpark gewesen war.

»Montags ist der Eintritt frei. Wir können doch mal zusammen hingehen.«

Sie riß Papier von der Rolle.

»Deinen Vater nehmen wir mit. Wir leihen uns einen Rollstuhl.«

Für einen Moment sah ich hin.

Später ging ich in mein Zimmer, hielt mir die Ohren zu, schloß die Augen und versuchte, mich an diesen Moment zu erinnern. Ich zeichnete sie, zerriß das Blatt und zeichnete sie noch einmal, aber was da in Bleistiftstrichen vor meinen Augen erschien, wirkte blaß und linkisch neben dem Bild in meinem Kopf.

Plötzlich interessierte mein Vater sich für Vögel. Er wies mich an, vom Dachboden den Armeekoffer seines Onkels zu holen, nahm den Feldstecher heraus und steckte ihn neben das Polster des Sessels. Mittags, wenn Ada am Fluß saß und die Füße ins Wasser hielt, beobachtete er den Buntspecht am Stamm der jungen Birke.

Er trug das dunkelgrüne Hemd aus seiner Studentenzeit - »oak green«, eine Farbe, die schon sein erster VW gehabt hatte - und zwängte seinen linken Fuß in einen Slipper aus Florenz. Beim Fernsehen umklammerte er die Krücken und streckte sie über den Kopf, zehnmal, zwanzigmal, fünfzigmal.

»Ein bißchen Bewegung tut gut«, sagte er. »Das solltest du auch probieren.«

Ich sah ihn an und schwieg. Er machte weiter, immer schneller, bis sein Gesicht violett war und die dicken Adern seitlich am Hals hervortraten.

»Mir geht's prächtig«, sagte er und schnippte mit den Fingernägeln gegen die Metallstäbe. »Sobald ich die Dinger los bin, fahren wir zur Alster und mieten ein Ruderboot, was meinst du?«

Ich wollte zu Ada in den Garten.

»Setz dich da hin«, sagte er.

Ich blieb stehen und sah weg.

»Na los, setz dich hin.«

Ich setzte mich auf den Stuhl.

»Was in letzter Zeit passiert ist« - seine Hand beschrieb einen Bogen, der den Ohrensessel, das Haus oder die ganze Welt umspannte - »ich meine, es wird sich einiges ändern. Ich habe darüber nachgedacht. Es gibt bestimmte Gesetze, an die man sich besser hält; in einer Familie ist das nicht anders als in der Schule, im Büro und am Schaltpult eines Reaktors.«

»Selbstverständlich«, sagte ich.

»Das viele Trinken zum Beispiel.« Er beugte sich vor und schüttelte den Kopf. »Dein Großvater hat eine Menge getrunken. Er war kein glücklicher Mensch.«

Solche Gespräche fielen mir schwer, und dafür schämte ich mich. Manchmal wünschte ich mir eine Schwester, die mit uns am Tisch säße, mit der mein Vater reden konnte, wie er es früher gekonnt hatte, als meine Mutter noch lebte.

Einmal hatten die beiden abends im Garten gesessen, Spieße mit Käse, Oliven und Lammfleisch von einem großen Teller gegessen, er in einem blauen Hemd und einer hellen Hose, sie in dem Kleid mit der breiten Schleife an der Taille. Um Mitternacht war ich ins Bett gegangen, und als ich am Morgen aufwachte, hörte ich ihre Stimmen noch immer von der Terrasse. Sie redeten über ihre Freunde, eine Reise nach Cap d'Antibes und die Pläne meines Vaters, ein Patent anzumelden.

Ich ging in die zweite Klasse; es war der Sommer vor dem Herbst, in dem meine Mutter krank wurde. Ich erinnerte mich an fast alles, was in diesem Jahr passiert war, an das Finale der Fußball-WM im Azteken-Stadion von Mexico-City, an den Sturz meiner Großmutter kurz vor ihrer Geburtstagsfeier und an die Heidschnucke, die mich in die Hand gebissen hatte.

Während mein Vater im Sessel saß und seine Krücke stemmte, wünschte ich mir, ihm diese Dinge irgendwie sagen zu können, aber ich hätte Stunden gebraucht, am Ende wäre von dem Gefühl vermutlich nichts mehr übriggeblieben.

Plötzlich tat ich etwas, das ich eigentlich nicht tun wollte: Ich ging hin und umarmte ihn. Sein Bein war im Weg, es war eine ziemlich unbequeme Umarmung. Er hielt mit der einen Hand die Armlehne des Sessels umklammert und klopfte mir mit der anderen ein paarmal auf die Schulter.

Am Abend schmierte ich mir ein Wurstbrot und aß es auf meinem Bett. Mein Vater sah noch fern, ich rief vom Flur aus »Gute Nacht«, nahm mein Mathematikheft, riß die ersten Seiten heraus und schrieb mit schwarzem Filzstift »5. August 1995«. Ich setzte an, zögerte, überlegte und malte Kringel.

11

Am Montag hatte er einen frühen Termin in der Poliklinik. Er mußte gegen sieben los, und Ada sollte ihn hinfahren. Sonntag mittag rief er sie an und bat sie, bei uns zu übernachten.

»Damit wir pünktlich sind«, sagte er in den Hörer. »Sonst müssen wir stundenlang warten.«

Sie kam, stellte ihren Rucksack neben die Wohnzimmercouch und besprach mit meinem Vater, was noch zu erledigen war. Er hatte einen Zettel geschrieben - »Ada«, zweimal unterstrichen:

Wagen waschen, tanken, Öl!

Kuchen bei Dwenger: Pflaume mit Sahne. Nuß ohne.

Ein Pfund Kaffee plus was Ihnen gefällt.

Ich zog mir im Flur die Schuhe an und versuchte, den beiden zu lauschen. Mein Vater sagte etwas, das ich nicht verstand, worauf Ada lachte und rief: »Sie sind einfach unmöglich!«

Dann holte sie aus der Garage unseren BMW, einen alten Fünfer mit Chromleisten an den Rückleuchten. Ich stieg ein, wir fuhren los und kurbelten die Fenster runter. Ich nahm aus dem Handschuhfach diese riesige Sonnenbrille, mit der mein Vater aussah wie Al Pacino in »Scarface«, setzte sie auf und ließ meinen Arm nach draußen hängen. Ada schob eine Kassette von Urge Overkill in den Recorder. Im Viertel waren die Straßen mit Kopfsteinpflaster befestigt; man durfte nicht schneller als dreißig fahren. Kinder spielten in Vorgärten Fußball, und einige Leute gingen mit ihren Doggen und Dackeln spa-zieren; im Seitenspiegel sah ich, wie sie plötzlich stehenblieben und sich nach uns umdrehten.

»Wir könnten zum See fahren«, sagte ich.

Adas Haare wehten im Fahrtwind.

»Zeig mir den Weg.« Sie grinste. »Oder möchtest du ans Steuer?«

Ich wußte, daß sie es ernst meinte.

»Bist du schon mal Auto gefahren?«

»Manchmal«, sagte ich.

»Du lügst.« Sie lachte und kniff mich in den Oberschenkel.

Das aufgeklebte Thermometer zeigte 34 Grad. Wir kauften bei der Jet-Tankstelle zwei Flaschen Bier und Zigaretten. Dann fuhren wir über die Bahngleise, vorbei an dem staubigen Platz gegenüber der alten Gießerei, wo jeden Herbst das Zirkuszelt stand. Hinter dem Autobahnzubringer bogen wir ab Richtung Altes Land.

Der Himmel war klar, man konnte den Blick entlang der Hochspannungstraßen bis zum Horizont wandern lassen. Ich sah die riesigen Windräder, gelbe Felder und Traktoren, die ihre Pflüge in der Ferne durch flimmernde Äcker zogen. Ada steckte sich zwei Zigaretten in den Mund, zündete beide an, hielt mir eine hin und beschleunigte auf hundert.

Der See lag, umgeben von Bäumen, hinter einer Pferdekoppel. Wir stellten den Wagen ab und gingen das letzte Stück zu Fuß. Als die Pferde uns sahen, kamen sie an den Zaun, ein Atlasschimmel und drei Braune. Wir hielten ihnen Scharfgarben, Klee und Zigaretten hin. Die Pferde bliesen durch die Nüstern und fraßen uns aus den Händen.

Ich streckte den Arm und blieb auf Abstand; größere Tiere machten mir angst. Aber Ada sprach mit dem Schimmel und küßte ihn direkt aufs Maul.

»Genug«, sagte sie schließlich und gab ihm noch ein paar Blätter. »Die anderen werden sonst eifersüchtig.«

Der Himmel war blaßblau und wolkenlos, der See nahe dem Ufer grün und weiter draußen beinahe schwarz. Auf der anderen Seite standen zwei Chopper, deren Felgen im Sonnenlicht blitzten, aber es waren kaum Leute da. Gewöhnlich kamen sie abends, Familien, die grillten, oder Paare, die einfach zwischen den Bäumen saßen, aufs Wasser blickten und sich umarmten.

Als ich mich umsah, ließ Ada gerade ihren Rock ins Gras fallen.

»Komm«, sagte sie.

Ich wollte mich nicht ausziehen. Ich nahm meinen Geldbeutel aus der Tasche, legte ihn auf einen Stein und sprang in Hemd und Jeans ins Wasser.

»Du schämst dich!« rief sie und kam hinterher.

Ich schwamm, so schnell ich konnte, am Ufer entlang bis zu der Stelle, wo das vordere Ende des alten Stegs aus dem Schilf ragte. Ich kletterte an den Balken hinauf, setzte mich auf die moosigen Planken und sah ihr beim Kraulen zu.

»Feigling!« rief sie und warf eine Handvoll Schlamm nach mir. Dann drehte sie sich auf den Rücken, streckte die Arme über den Kopf und blinzelte in die Sonne. Sie war ganz nah; ich konnte das Wasser in der Mulde des Nabels erkennen und die Stelle zwischen den Beinen, wo sich der Stoff ihrer Unterhose den Formen des Körpers anglich. Über mir hing der Ast eines Ahorns. Ich zog mich hoch, balancierte ein Stück, griff nach einem noch höheren Ast, schwang mich darauf und robbte zur Spitze. Das Wasser unter mir war nicht tief, ich konnte bis auf den Grund sehen, wo Grünalgen zwischen runden Steinen im Schlick wucherten.

»Ada«, rief ich. »Kopfsprung!«

»Spinnst du«, rief sie. »Das Wasser ist flach. Ich kann sogar stehen, schau mal!«

Sie stellte sich hin und winkte ab. Das Wasser reichte ihr bis zu den Achseln.

»Kopfsprung«, rief ich, »jetzt!«

»Laß den Quatsch«, schrie sie. »Komm wieder runter!«

Ich lehnte mich zur Seite und streckte ihr die Zunge raus.

Als nächstes sah ich das Blut an ihrem Bauch und an meinem Ärmel, helles, wäßriges Blut.

»Idiot«, sagte sie.

Sie zog mir das Hemd aus, preßte ein Papiertaschentuch auf die Wunde, rollte ihren Rock zusammen und schob ihn mir unter den Kopf. Dann zog sie mir die Hose aus und hängte sie zusammen mit dem Hemd über einen Findling.

»Alles in Ordnung?«

»Klar«, sagte ich. Meine Schulter schmerzte, als hätte jemand ein Messer direkt ins Fleisch gebohrt.

»Du bist wirklich ein Idiot.«

Sie drehte mir den Rücken zu. Wasser tropfte von ihrem Haar. Die Sonne war nach Westen gewandert, und im Zenit kreiste ein Späher oder ein Falke oder ein Bussard. Ich sah die blutigen Fingerabdrücke an ihrer Unterhose und ihre Pospalte unter dem nassen Stoff, und plötzlich dachte ich, daß jemand alles geplant hatte, den Himmel, den Wald, die Sonne, Ada und daß ich atmete, statt mit gebrochenem Hals im See zu treiben.

»Ich hab ein Geheimnis«, sagte ich.

Sie schwieg. Ich strich mit den Fingern über das Gras und sog seinen Duft ein. Es war gemäht, die frischen Spitzen kitzelten meine Haut.

»Soll ich's dir verraten?«

»Als ich so alt war wie du, hatte ich auch Geheimnisse«, sagte sie. »Schreckliche Sachen. Ich habe geheult und mich dafür geschämt. Wenn ich heute daran denke, kann ich nur noch lachen.«

Ich dachte, daß sie beleidigt war, weil ich mich verletzt hatte. Ich kannte das von früher: Wenn ich auf der Treppe gestürzt oder von der Schaukel gefallen war, hatte mein Vater mir immer vor Schreck den Hintern versohlt.

»Ich bin verliebt«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»In jemanden aus deiner Schule?«

»In eine Frau«, sagte ich.

»Schade«, sagte sie. »Ich hab gedacht, daß du Jungen magst.« Sie drehte sich um. »Ich glaube, ein Junge würde dir guttun. Du hast ein Gemüt wie ein Mädchen. Du siehst sogar so aus.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich, auf meinen Körper, der nackt war bis auf die nassen Shorts. Der Späher zog nun engere Kreise, als wollte er im nächsten Moment senkrecht nach unten schießen. In meinen Augen standen Tränen, obwohl ich versuchte, mir einzureden, daß mich all das nichts anging, eine Frau in Unterwäsche, der pochende Schmerz und dieses Gefühl, das stärker war als der Schmerz, obwohl ich die Fingernägel durch das Taschentuch in die Wunde bohrte.

»Tut mir leid.« Sie kam heran und strich mir über die Wange.

Ich drehte den Kopf weg und spürte die Kühle der Luft um ihren Körper, die Wassertropfen aus ihrem Haar.

»Willst du mich küssen.«

»Nein.«

»Komm«, sagte sie. »Stell dich nicht an.«

Die Waschanlage war schon geschlossen. Wir putzten den Wagen mit Papiertüchern und etwas Scheibenwasser auf dem Hof der Tankstelle. Bei Dwenger ließ die Verkäuferin gerade den Rolladen runter, eine mürrische junge Frau, die, als sie uns sah, auf ihre Armbanduhr wies und den Kopf schüttelte. Ada lächelte sie an und fragte, ob sie die Spitzenschürze von den Dwengers bekommen oder selbst genäht habe. Sie flirtete mit der Verkäuferin, und dann flirtete sie mit Herrn Dwenger, der nach vorne kam, um zu sehen, wessen Stimmen noch so spät in seinem Laden zu hören waren.

Im Wagen legte ich das Kuchenpaket auf meine Knie, lutschte Salmiakpastillen gegen den Zigarettengeruch und dachte, daß wir meinen Vater nicht angerufen hatten.

»So«, sagte er. »Habt ihr euch amüsiert.«

Die drei oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen.

Er roch nach Rasierwasser.

»Wir waren schwimmen«, sagte ich. Er zuckte die Schultern und seufzte. »Bei dreißig Grad ist das vernünftig.« Er beugte sich im Sessel vor und gab mir einen Knuff, dann wandte er sich an Ada.

»Ich habe uns was gekocht«, sagte er. »Was ganz Besonderes.«

Während des Essens, das von Luigis Lieferservice war -ich sah die Styroporschachteln im Mülleimer unter der Spüle -, sprach er von Gedichten, mit denen er sich befaßte, seit der Band über polnische Lyrik auf meinem Schreibtisch lag. Ada saß aufrecht da und sah ihn an wie eine Schülerin, obwohl ich das Buch gelesen hatte und wußte, daß er Unsinn redete. Ich aß meine gegrillte Languste und dachte an unseren Kuß.

Ada nickte und lachte und ließ sich Saint-Emilion nachschenken; sie hatte den Kuß vergessen oder verbarg, was sie empfand, damit mein Vater keinen Verdacht schöpfte. Er zwinkerte ihr zu, legte den Kopf schief, klopfte am Ende jedes Satzes mit dem Zeigefinger aufs Tischtuch und senkte die Stimme, wie er es tat, wenn er Humphrey Bogart imitierte. Plötzlich sagte er eine Strophe von Julian Tuwim auf:

Du sinnst gefühlvoll, lange. Deine grauen Augen, die Wasserleichenaugen hinter Scheibenhüllen, verfischen sich - und starren prophetisch und saugen das triste Wasser mit erblindeten Pupillen.

Ich schob meine Panna Cotta weg, stand auf, ging in den Keller, setzte mich auf die kalten Fliesen und wartete im Halbdunkel.

Das Eßzimmer lag direkt über dem Raum, in dem ich saß; der Tisch stand ungefähr da, wo sich die Eichenbalken kreuzten. Mein Vater sprach lange, der dumpfe Klang seiner Stimme drang durch die Decke. Ich hoffte, Ada würde aufstehen und kommen, um nach mir zu sehen. Es war, als könnte mein Vater alles, was passiert war, mit einem einzigen Blick zwischen Hauptgang und Nachtisch wieder zerstören.

Als ich schließlich raufging, lag sie im Wohnzimmer auf der Couch, unter der Steppdecke, die ich am Morgen bezogen hatte. Sie las im Licht der Neonlampe, die sonst vor diesem Aquarell mit den jungen Brunfthirschen stand.

»Komm her«, sagte sie.

Ich blieb neben der Couch stehen. Sie richtete sich auf und schlang die Arme um ihre Knie. Ihr T-Shirt von den Chicago Bulls war bleich und am Kragen ausgefranst. Sie hatte sich abgeschminkt; die Grenzen in ihrem Gesicht schienen aufgehoben.

»Was ist mit deiner Schulter?«

»Geht schon.« Ich hielt ihrem Blick stand. Im Keller hatte ich nachgedacht, mir dieses Gespräch vorgestellt in seinen möglichen Verläufen. Ich spürte, daß ich Ada nicht sagen durfte, was ich fühlte, zumindest nicht so, wie ich es am See hatte tun wollen. Es schien eine Regel zu geben, die den Menschen vorschrieb, anderen ihre Gefühle als Rätsel mitzuteilen. Ich hatte einige Sätze über die Ewigkeit im Kopf, über das Glück und über den Tod, aber nun saß Ada da, und ich brachte nichts heraus.

»Du siehst traurig aus«, sagte sie. »Meine Languste war schlecht.« Ich haßte es, wenn andere dachten, daß ich traurig sei. »Brauchst du noch was? Ein Kissen?«

»Danke.« Sie lehnte sich zurück. »Dein Vater hat mir schon eins gebracht.« »Dann gute Nacht«, sagte ich.

12

Ich lag noch im Bett, als ich meinen Vater auf dem Flur hörte. Er stieß sich an irgend etwas und fluchte, und Ada fragte, ob alles in Ordnung sei und wie sie ihm helfen könne. Kurz darauf waren sie draußen und zogen die Tür ins Schloß.

Ich sprang auf, duckte mich hinter dem Fußball auf der Fensterbank und sah, wie sie durch den Vorgarten gingen, mit schlaffen Schultern und ohne zu sprechen, gerade so schnell, wie mein Vater konnte; wahrscheinlich waren sie noch müde. Mein Vater trug seinen beigen Trenchcoat, wenngleich es ein heißer Tag werden sollte, und er sah gut darin aus, wie ein verwundeter Kommissar oder ein Mann, der sich trotz eines Beinbruchs auf Geschäftsreise begab, weil die Firma seine Klugheit nicht entbehren wollte. Ada war seine Assistentin oder seine liebste Tochter, die ihn begleiten durfte.

Sie hielt ihm das Tor auf. Er zögerte, sagte etwas, vielleicht einen Satz, den er schon oft gesagt hatte, dessen Betonung er beherrschte, über den schon andere Frauen an anderen Orten gelacht hatten. Ich mußte an den Vorabend denken, an unser Essen und daran, daß ich eigentlich wütend war. Dabei bedeutete Liebe, jemandes Freude zu teilen - das hatte meine Mutter behauptet.

Ada fuhr rückwärts aus der Garage und wartete, während mein Vater sich auf den Beifahrersitz hievte. Ich lief im Pyjama ins Wohnzimmer, legte mich auf die Couch, zog mir die Decke über den Kopf und drückte mein Gesicht ins Kissen. Es war, als offenbarte der Stoff seine Erinnerung an die Nacht - Adas Creme, ihr Parfum, einige Tropfen ihres Schweißes und dieses säuerliche Aroma, das ich aus dem Bett meines Vaters kannte, das für einige Stunden blieb, nachdem er mit einer Frau in seinem Zimmer gewesen war. Ich rollte mich zusammen und träumte einen Traum, von dem nichts blieb als ein herrlicher, unbestimmter Eindruck.

Als ich aufwachte und mich nach dem Griff des Fensters streckte, sah ich Adas Rucksack. Er stand in der Nische neben der Heizung - ein grüner Soldatenrucksack mit aufgenähten Taschen und durchgescheuerten Lederriemen.

Ich ging in die Küche, goß Milch und einen Schuß Kaffee in ein Glas, setzte mich an den Eßtisch und schlug die »Morgenpost« auf. Ada mußte den Rucksack aus Lublin mitgebracht haben, eines der Familienstücke, die nicht zu einem paßten, die man aber benutzte, weil man sie eben besaß; ich selbst hatte von meinem Vater weiße Feinrippwäsche geerbt, zwei dieser steifen Tweedsakkos und einen Morgenrock, dessen Schultern mir auf Höhe der Ellenbogen hingen.

Ich las einen Bericht über die neue Mannschaft des HSV, verlor die Zeile, blieb hängen an Wörtern, deren Sinn mir entwich. Dann betrachtete ich das Bild, auf dem die Spieler Trikots mit dem Schriftzug des neuen Sponsors trugen. In ihren Gesichtern lag Zuversicht; sogar der Masseur schien sich zu freuen, daß nun die Saison beginnen würde.

Der Rucksack war schwer. Ich stellte ihn auf den Tisch und sah auf die Uhr. Wahrscheinlich blätterte Ada gerade in einem Magazin, während mein Vater mit nackten Beinen im Verbandsraum lag. Ich löste die Riemen, nahm das fleckige Necessaire heraus, öffnete es, zupfte ein Haar aus den Zacken des gemaserten Kammes und steckte es mir in den Mund. Ich leerte den Beutel aus und küßte jeden einzelnen Gegenstand: die Puderdose, einen Tampon, ein Zopfband aus rotem Gummi, den Lippenstift, eine polnische Münze. Ich blätterte in der Bedienungsanleitung des VR674 von Philips und in einem schmalen Band mit dem Titel »Söl« von Wislawa Szymborska. Zwischen den Seiten steckte ein Brief, adressiert an jemanden in Lublin: Jurek Kieslowsky, Ulica Narutowicza 20; Adas Adresse stand links oben, Schanzenstraße 7. Ich schrieb beides auf eine Serviette, ging ins Bad und putzte mir die Zähne mit ihrer Zahnbürste.

Mit dem Tranchiermesser, das mein Vater im Römertopf versteckte, hatte ich schon Briefe an meine Mutter geöffnet, die in den Wochen nach ihrem Tod gekommen waren. Den Kuverts war nichts anzumerken, wenn man nicht ins Papier schnitt und sie mit drei, vier winzigen Tropfen Uhu wieder verschloß. Ich kannte Adas Handschrift von diesen Zetteln, die neben dem Telefon oder beim Herd lagen - »Die Polenta aufwärmen und erst dann essen!«, »Bitte um zwanzig nach sieben das Filet in den Sud legen«. Hastig geschriebene Aufforderungen, Buchstaben, deren Bäuche und Haken miteinander verschmolzen, Schlangenlinien, die Wörter sein sollten wie die Unterschrift unseres Hausarztes auf den Rezepten. Dieser Brief war vollkommen anders, scheinbar mit Bleistift vorgeschrieben und nach mehreren Korrekturen durch einen Füllfederhalter veredelt. Ich las ihn leise, dann laut, und für Momente glaubte ich, der Sinn seiner fremden Sätze könnte sich mir erschließen - »Kochany Jurek« stand da und schließlich, in Großbuchstaben:

KOCHAM CIE, ADA Zwischen den Seiten steckten drei Hundertmarkscheine. Jurek würde verstehen, was in dem Brief stand. Er würde das Geld zur Seite legen, sich vielleicht die Hände waschen, frischen Kaffee kochen, das Papier glattstreichen und lesen, was Ada geschrieben hatte. Er würde an eine Ada denken, die mir unbekannt war, die ihn vielleicht in die Straßencafes der Lubliner Altstadt begleitet hatte. Seine Cousine. Seine Nichte. Eine gute Bekannte.

Ich ließ mir von der Auskunft die Nummer der polnischen Botschaft geben.

»Ambasada polska«, sagte ein Mann am anderen Ende der Leitung.

Ich erklärte ihm, daß ich an einem Schulaufsatz über polnische Lyrik schrieb und Hilfe beim Übersetzen brauchte; ich sei da auf zwei Wörter gestoßen. Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte. »Ich helfe dir«, sagte er, »kein Problem. Du sprichst schon ein bißchen polnisch?«

»Nicht viel«, sagte ich, »wahrscheinlich mache ich bald einen Sprachkurs in Lublin.«

»Dann wird es Zeit«, sagte er. »Weißt du, >kocham cie<, das heißt >Ich liebe dich<.«

Ich schluckte den Rotz und die Tränen runter, holte mein Fahrrad aus der Garage, schob es den Pfingstberg rauf und zielte mit Kieseln auf Katzen, die im Schatten der Hecke lagen. Jurek Kieslowsky! Ich trat einen rostigen Mülleimer um und kauerte mich an die Mauer vor diesem Haus mit dem Wintergarten.

Sie hätten mich bemerken können. Sie fuhren vorbei, schneller, als die Verkehrsschilder vorschrieben, eine junge Frau und ein Mann in einem BMW. Ich sah, wie mein Vater redete, wie er gestikulierte. Eigentlich hatte Ada frei; sie würde ihm ins Haus helfen, sich von ihm verabschieden, ihren Rucksack nehmen und mit dem Bus zum Bahnhof fahren. Vielleicht würde sie ihn fragen, wo der nächste Briefkasten war. Ich setzte mich aufs Rad -zehn Minuten, höchstens zwölf, wenn man die Abkürzung über die Brücke bei den Minigolfplätzen nahm.

Wer sich umsah, fand sofort, wonach er suchte - das Blumengeschäft, den Kiosk, die Fahrkartenautomaten. Die Männer mit ihren Hunden und den zerknitterten Bierdosen. Einen Reisenden, der ankam. Oder jemanden wie mich, der einfach dastand, die Hände in den Taschen. Ich zog mich in die Ecke hinter den Schließfächern zurück.

Sie kam erst nach einer Stunde. Es hatte zu regnen begonnen, nasse Spuren zogen sich über den grauen Boden der Halle und die Treppen hinauf zu den Gleisen. Sie drehte sich nach der Uhr bei den Telefonzellen um. Ich folgte ihr - sie trug ein durchnäßtes, trägerloses Top, ihr Rucksack war gesprenkelt mit dunklen Wasserflecken. Ich hätte nach ihr greifen können, nach ihren nackten Schultern, auf denen Regentropfen im Schein der Neonröhren glänzten. Ein Aktenkoffer schlug gegen mein Knie, eine Frau mit Kind schrie hinter mir her, aber Ada drängte weiter, sie bahnte sich den Weg zu Gleis vier und lief an der S-Bahn entlang, bis aus dem Lautsprecher das metallische »Zurückbleiben bitte« kam. Ich zögerte einen Moment, blieb hinter einer Säule stehen, sprang durch die Türen, als sie schon zischten und aufeinander zuglitten.

Sie lehnte ihren Kopf an die Scheibe. Ich duckte mich auf der bekritzelten Bank am anderen Ende des Wagens, hoffte, sie würde spüren, daß ich in der Nähe war, und mir ein Zeichen geben, aber sie blieb abgewandt, dachte vielleicht an Jurek oder an ein polnisches Wort, das im Deutschen abscheulich klang. Ich gab mir drei Minuten, ein oder zwei Stationen, dann würde ich sie ansprechen.

Viele Männer sprachen fremde Frauen auf der Straße, in Bussen oder in Zügen an, solche Geschichten hörte man ständig. Dabei war mir Ada vertraut - ein Mädchen, das für etwas Geld auf allen vieren Fußböden schrubbte, das man zur Zeit des Römischen Reiches als »Sklavin« bezeichnet hätte, Sklavin eines Mannes, dessen Sohn ich war. Ich starrte auf ihren Hinterkopf, bis ich spürte, daß es Zeit war, endlich aufzustehen, aber die S-Bahn hielt in Tiefstack und schließlich am Berliner Tor, und ich saß immer noch da.

Am Hauptbahnhof sprangen zwei Kerle in den Waggon, ein großer mit Cowboystiefeln und ein dumpf blickender kleiner mit Pomade im Haar. Sie standen im Gang, redeten laut und warfen Ada Blicke zu. Plötzlich sagte der kleine »Fotze«. Er sagte es laut und deutlich, und ich vergrub das Gesicht in den Händen und vergaß zu atmen.

An der Sternschanze stieg sie aus. Sie ging den Bahnsteig entlang zur Rolltreppe, fuhr hinab in den Fußgängertunnel, und plötzlich war sie weg. Ich rannte raus auf die Straße und blieb im Platzregen stehen: Menschen, unter bunte Schirme und Markisen gedrängt, Wasser, das von Autoreifen auf den Gehsteig spritzte.

Sie packte mich am Ärmel und zog mich unter das Vordach des Würstchenstandes. An ihren Wangen rannen dunkle Tropfen hinab, Regen, vermischt mit Wimperntusche.

»Warum tust du das«, rief sie.

Ich sah an ihr vorbei.

»Los,« sagte sie. »Komm mit.«

13

Ihre Wohnung war klein, ein Zimmer mit Bett und Bücherregal, einem Schreibtisch, einer Kleiderstange und einer Kochstelle. Neben der Leselampe stand auf dem Schreibtisch ein alter Computer, ein 386er von IBM. Das gleiche Modell hatte mir mein Vater zum elften Geburtstag geschenkt. Die Wände waren kahl bis auf eine silberne Christusfigur, die über dem Kopfteil des Bettes an einem Streifen Tesafilm hing.

»Du mußt dich umziehen«, sagte Ada. »Hier, probier mal die Hose.«

Sie ging zum Herd, nahm einen Kessel und füllte Wasser hinein.

»Pfefferminz- oder Malventee?«

»Pfefferminz«, sagte ich.

Ich hängte meine nassen Sachen auf einen Drahtbügel, zog die zerknautschte Schlaghose an und schlüpfte in eine schwarze Bluse, die mit Pailletten besetzt war.

»Süß.« Sie strich ihr nasses Haar hinter die Ohren und grinste. »Der Fön liegt im Badezimmer.«

Das Bad war etwas größer als unsere Gästetoilette. Die weißen Kacheln schimmerten dumpf. An der Wand gegenüber der Dusche hing ein Plakat mit Juliette Binoche. Im Wäschekorb lagen zwei helle T-Shirts, im Klo markierte ein brauner Rand aus Kalk den Wasserstand. Ich nahm die T-Shirts und drückte sie nacheinander auf mein Gesicht. Dann roch ich am Shampoo, Mildeen family in einer bunten Vorratsflasche. Ich beugte mich über die Duschwanne, hob ein Schamhaar auf, streckte die Zunge raus, legte das Schamhaar darauf und sah in den Spiegel.

Sie hätte mich fortschicken können. Ich wäre in die U-Bahn gestiegen und nach Hause gefahren. Warum lud eine Frau einen jungen Mann zu sich in die Wohnung ein? Als ich in dieser albernen Bluse in Adas Badezimmer stand, wurde mir plötzlich klar, wie einfach alles war, daß man sich nur bemühen, vielleicht auch ein bißchen leiden mußte, bis man schließlich bekam, was man erhofft hatte. Ich fönte mein Haar, drehte den Hahn auf und pinkelte ins Waschbecken, dann wusch ich mir mit dem Shampoo die Hände. Ich ließ die beiden oberen Knöpfe der Bluse offenstehen und kämmte mir mit etwas Nivea-Creme einen Scheitel.

Ada hatte sich umgezogen, sie trug eine schwarze Trainingsjacke und ausgefranste Jeans mit Flicken an den Knien.

»Ich hab mich verbrannt«, sagte sie. »Mist. Willst du Zucker?«

Sie stellte eine metallene Dose zur Teekanne auf das Tablett.

»Du kannst den Stuhl nehmen«, sagte sie.

Ich setzte mich zu ihr aufs Bett. Das Laken roch frisch gewaschen. Ada goß Tee in die Tassen und zündete eine Kerze an; es war eine dicke Kerze, deren äußerer Rand noch stand. Das matte Licht flackerte wie in einer Laterne.

Sie nahm ihre Tasse und nippte.

»Warum bist du mir gefolgt?«

Ich rückte näher an sie heran.

»War dir langweilig?«

Bei unserem Ausflug zum See hatte sie Sommerspros-sen bekommen. Ich hielt die Hände im Schoß verschränkt. Sie zitterten wie immer, wenn jemand mich beobachtete.

»Möchtest du doch lieber Malventee?«

»Nein, der Pfefferminztee ist gut. Nur ein bißchen heiß.«

Sie band sich das Haar mit dem roten Gummi aus ihrem Rucksack zusammen.

»Heute abend ist eine Party bei meiner Freundin Ag-nieszka. Du kannst mitkommen, wenn du willst.«

Ich drückte mein Knie an ihres, ganz leicht.

»Wir werden ein paar Joints rauchen. Du darfst dir nichts dabei denken.«

»Tu ich nicht«, sagte ich. »Ich weiß, wie so was geht.«

Das silberne Zigarettenetui lag vor dem Bett auf dem Boden. Ich nahm zwei Zigaretten heraus, zündete sie mit der Kerze an und hielt ihr eine hin.

»Danke.« Sie sah auf die glühende Spitze. »Was ist mit deinem Vater? Du solltest ihn anrufen.«

Ich nahm einen Zug und mußte husten.

»Wie spät ist es eigentlich?« Sie berührte mein Handgelenk. »Wieso trägst du keine Uhr?« Sie streckte sich, griff unters Bett und zog einen Wecker hervor.

»Zehn vor drei«, sagte sie. »Viel Zeit.«

Von meinem Vater wußte ich, daß Frauen warteten, bis der Mann das Zeichen gab. Ich legte meine Hand auf ihr Knie. Aus der Wohnung über uns kam leise Musik, ein Impromptu, das meine Mutter manchmal auf dem Klavier gespielt hatte.

Ada hob ihren Arm und strich mir das Haar aus der Stirn. Die Kerzenflamme tanzte in der Dunkelheit ihrer Pupillen. Sie knetete das Wachs, formte daraus eine dünne Zunge, und dann sah sie den Rucksack an, nur für einen Moment - sie selbst hatte diesen Blick vielleicht nicht einmal bemerkt, hätte genauso auf ihre Füße oder zum Fenster schauen können, aber ich war wie versteinert.

Nach einer Weile stand sie auf.

»Ich muß noch arbeiten«, sagte sie. »Du kannst hierbleiben und was lesen. Ich hab ein paar Bücher, die sind, na ja, wie sagt man ... die machen Spaß. Deutsche Bücher, die ich gelesen habe, als ich so alt war wie du.«

Sie nahm ihre Tasse und setzte sich auf den Stuhl beim Schreibtisch.

»Oder du schaust dir das Viertel an. Du könntest für nachher zwei Flaschen Wodka besorgen. Es gibt einen Laden, gleich um die Ecke, wo sie nicht nach dem Ausweis fragen.«

Sie tippte die Glut ihrer Zigarette in einen silbernen Aschenbecher.

»Nimm meinen Schirm mit.«

14

Gegen Abend ließ der Regen nach. Ada trug etwas Rouge auf, benutzte ihren Lippenstift, drehte meinen Kopf ins Licht und tupfte mir Puder auf einen Pickel. Ich durfte den kleinen Reißverschluß hinten an ihrem Kleid zuziehen.

Agnieszka wohnte am Stadtpark in einem der langen Backsteingebäude, die ich früher für Kasernen der Nazis gehalten hatte. Als wir aus dem Bus stiegen, ging die Sonne unter, und aus dem Park wehten die Gerüche von Grillfleisch und Rhododendren herüber. Ich trug die Tüte mit den Flaschen und hielt mich ein kleines Stück hinter Ada, um die schwarzen Netzstrümpfe an ihren Beinen zu betrachten. Sie hatte gesagt, daß einige ihrer Freunde zur Party kommen würden. Frauen, die sich schminkten, schwarze Kleider und Netzstrümpfe trugen, hatten wahrscheinlich nichts anderes im Sinn, als es sich richtig besorgen zu lassen. Ich wollte durch den Park zur U-Bahn gehen und heimfahren, aber ich wußte, daß Ada mich überreden würde, es nicht zu tun, mit Hilfe all der Tricks, die Leute in ihrem Alter kannten.

Eine Frau mit Augenringen öffnete die Tür.

»Das ist Agnieszka«, sagte Ada.

Ihr Haar sah aus wie aufgetürmt. Sie war ein bißchen größer als Ada und vielleicht zehn Jahre älter - wenn sie nicht lachte, blieben die kleinen Falten unter den Lidern da. Sie küßte Ada auf den Mund und drückte ihre Wange an meine.

»So eine hübsche Bluse«, rief sie und zupfte meinen Kragen zurecht. »Du bist also der Schlingel, den wir heute verführen werden!«

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. Wir waren zu dritt in der Wohnung, zumindest kam es mir so vor. Agnieszka faßte uns an den Händen zog uns durch den Flur in die Küche. Sie trug Stiefel, deren Schäfte bis an die Knie reichten, einen knallgrünen Filzrock und um den Hals eine rote Boa mit Federn, die in der Luft tanzten.

»Habt ihr den Wodka mitgebracht?«

Sie stellte drei Gläser auf den Herd und strich mir über den Kopf.

»Schenkst du was ein? Dann sorgen Ada und ich für Musik, ja?«

Sie zwinkerte und zog Ada am Handgelenk in einen Raum, den man von der Küche nicht einsehen konnte. Die beiden redeten polnisch und lachten. Ich dachte, daß sie Dinge besprachen, die mich nichts angingen, nahm die Flaschen aus der Tüte, stellte eine zu den Gläsern, drehte die andere auf und trank einen großen Schluck. Dann goß ich ein, setzte mich hin und lauschte der Musik, erst einem Tango und dann einem Song, den ich schon einmal gehört hatte - »Heaven belongs to you«, gesungen von Nina Simone.

Mein Magen knurrte. Neben dem Spülbecken lagen belegte Schwarzbrotscheiben. Ich aß eine mit pürierter Banane und eine mit Paprikawurst und schob die übrigen Scheiben auf dem Teller zusammen.

»Geht's noch ein bißchen heimlicher?«

Das Mädchen stand plötzlich im Türrahmen. Ihr Haar war lang und braun, und sie trug nur ein Badetuch, das ihre Brüste, den Bauch und die paar Zentimeter darunter bedeckte. Sie nahm die Wurstverpackung vom Tisch, ging zum Kühlschrank und sah hinein. Unter ihren nackten Füßen quietschte das Laminat.

»Hast du die Nagelfeile gesehen?« Sie schüttelte einen Pizzakarton und sah im Mülleimer nach, bevor sie die Feile zwischen den Bananenschalen im Spülbecken fand.

»Meine Schwester ist eine Schlampe.« Sie hielt die Feile mit spitzen Fingern, wischte sie ab und verzog das Gesicht. »Und wer bist du? Der Schnittchenklau?«

Agnieszka kam in die Küche, sie mußte die Stimme des Mädchens gehört haben. In ihrem Mundwinkel hing ein Joint.

»Magda«, rief sie. »Zieh dir was an! Halbnackt hier rumspringen! Schäm dich!«

Magda streckte die Brust raus.

»Dem da gefällt das!« sagte sie und zeigte mit dem Finger auf mich.

»Geh! Wird's bald«, rief Agnieszka. »Laß den armen Jungen in Ruhe!«

Magda ächzte und stolzierte hinaus.

»Meine Schwester«, sagte Agnieszka. Sie verdrehte die Augen. »Gerade vierzehn und will nach L. A.«

»Ist doch nicht schlecht«, sagte ich. »Da kann man Lamborghini fahren und Rührei mit Trüffeln frühstücken.«

»Los Angeles!« rief Agnieszka. »Da wirst du gezwungen, Pornos zu drehen! Na zdrowje!« Sie nahm ein Glas vom Tisch und drückte es mir in die Hand. Während sie sprach, blieb der Joint an ihrer Unterlippe kleben. Sie glich damit weniger einem dieser Junkies aus St. Georg, Typen, die man am Hauptbahnhof sah, wenn man vom Bus in die S-Bahn umstieg, als einer Fernsehkomödiantin, die einen Rockstar imitierte.

»Du bist vernünftig«, sagte sie. »Vielleicht kannst du mit Magda reden.« Sie beugte sich vor und strich mir mit der Federboa über den Hals.

»Über ... Los Angeles?«

»Worüber du willst, mein kleiner Schlingel!«

Sie gab mir einen Kuß auf die Stirn, und ich ekelte mich ein bißchen, denn durch ihr Top konnte ich die Form ihrer Brustwarzen erkennen.

Ada begrüßte die Gäste. Sie wartete an der Tür, verteilte Corona mit Limone und fragte, wie es im Studium lief oder bei der Arbeit. Ein blondierter Koreaner brachte Ingwerplätzchen mit. Zwei Frauen mit papierfarbenen Gesichtern und dicken Brillengläsern stellten ihre Sandalen nebeneinander auf den Fußabtreter. Als nächstes kamen drei Kerle, die braune Lederjacken trugen, johlten und sich auf die Schultern klopften, schließlich ein Dicker mit rot lackierten Nägeln, der nach Lavendel roch.

»Hey Alter!«

»Ihr wollt heiraten?«

»Weißt du noch, damals im Kaiserkeller .«

Es kamen immer mehr Leute. Ich zwängte mich zwischen Ellenbogen, Hinterteilen und Rücken durch. Breite Rücken, verschwitzte Rücken, dazwischen plötzlich ein nackter Rücken, gehüllt in Rauch und Lärm und Gelächter und Fetzen von Nina Simone. Ich sah, wie die Männer in den Lederjacken Ada anstarrten, tuschelten und sich Zeichen gaben, sobald sie sich wegdrehte. Sie lachten, und als ihre Blicke mich streiften, tat ich, als lachte ich mit.

»Sag mal, Kleiner, kommst du vom Film?«

Ich stutzte. Sie zuckten nur die Schultern und wandten sich wieder ab. Ada war überall, sie stemmte die Hände in die Taille, warf ihren Kopf in den Nacken, lachte, verteilte Küsse. Manche Männer küßte sie zweimal, andere umarmte sie nur, die Frauen küßte sie auf den Mund. Sie streichelte Wangen, Bäuche und Hüften. Sie tänzelte durch die Wohnung, strich ihr Haar hinters Ohr, zog die Träger des Kleides hoch und schenkte Wodka nach. Es war, als löste sie sich von der Erde.

Plötzlich schob Agnieszka mich vor.

»Ist er nicht süß? Ein kleiner Engel.«

Die anderen rissen die Augen auf, nickten und klopften mir auf die Schultern wie meine Onkels und Tanten bei der Konfirmationsfeier.

»Poussierstängel«, rief eine der Frauen mit den großen Brillen.

Magda kam zu uns herüber und stellte sich neben mich. Sie roch nach dem süßen Parfum, das die Mädchen aus meiner Klasse benutzten. Über dem Bund ihrer Jeans lugte ihr weißes Höschen hervor. Sie sah in die Runde wie ein Gast, dem schlechtes Essen vorgesetzt wird, dann kniff sie die Augen zusammen und zog mich zu sich heran.

»Warum trägst du diese bescheuerte Bluse?«

»Die ist von Ada«, sagte ich. »Meine Sachen waren naß.«

»Gib's zu, du bist schwul!«

Ada kam.

»Gut«, sagte sie, »jetzt lernt ihr euch kennen!« Sie umarmte das Mädchen. »Hübsch, meine Magdalena, oder?«

»Er ist schwul«, sagte Magda. Sie drehte sich um und ging.

»Ich muß aufs Klo«, sagte ich.

Das Bad wirkte im trüben Deckenlicht alt und dreckig. Ich sah in den Spiegel: zwei kleine Augen, die Narbe über der Braue, blasse Haut, die Köpfe der Mitesser beidseits der Nase und Ohren, die meine Großmutter manchmal, wenn ich sie besuchte, mit Tesafilm an den Kopf geklebt hatte. Ich drehte den Hahn auf, beugte mich vor und wusch mein Gesicht mit Seife.

Jemand hämmerte gegen die Tür.

»Mach auf, wir warten!«

»Da scheißt einer!«

Ich zog die Spülung, schloß auf und zwängte mich zwischen ihnen hindurch. Im Raum nebenan brannten Teelichter, Agnieszka kickte gerade zwei fransige Sitzkissen in die Ecke. Die anderen standen im Kreis, rauchten, lachten und redeten, jeder so laut, dachte ich, wie er konnte.

Hände auf Hintern, Pospalten über tiefsitzenden Gürteln, gespannte Körper, Speicheltröpfchen, Nina Simone: »Love me or leave me.«

Plötzlich kam Ada auf mich zu, sie nahm meine Hand und schmiegte sich an mich.

»Komm«, sagte sie. »Wir tanzen.«

Ich sah zu Boden und drückte sie weg.

»Was ist«, sagte sie. »Die besten Tänzer machen den Anfang!«

Ich wollte mich wehren. Agnieszka kreischte und pfiff auf ihren Fingern. Ada zog mich in die Mitte des Raumes, hockte sich hin, griff mir ans Knie, umfaßte es, und dann kam sie hoch, langsam, wie eine Schlingpflanze.

»Mach einfach mit!« rief sie.

Ich tanzte nicht mal auf Klassenfesten. Wenn mein Vater aus dem Haus war, drehte ich manchmal NDR 2 auf, hüpfte vor dem Spiegel und schrie - Ausbrüche, von denen ich glaubte, so müsse Glück sein. Adas Bewegungen waren anders: Sie ahmte Formen des Rauches nach, spannte mit ihrem Körper Trapeze, schlang die Arme erst um sich selbst und dann um meinen Hals. Ich ging in die Hocke, schwang die Hüften, kippte nach hinten und sprang wieder auf. Ich schlug mir auf die Schenkel, marschierte im Stechschritt um Ada herum, zählte im Takt der Musik und bewegte die Lippen zu Texten, die ich nie gehört hatte, »oxygen tent ... real cool cat ...«

Ada wand und drehte sich vor der Kulisse aus Bierflaschen, Glut und flackernden Teelichtern. Ich sprang auf den nächsten Stuhl, stellte mich auf Zehenspitzen, griff mir zwischen die Beine und grunzte wie ein Schwein. Agnieszka starrte mich an. Ich streckte meine Zunge raus und riß die Augen auf, und als der Rhythmus wechselte, starrten mich alle an.

»Was hast du genommen«, rief der Koreaner.

»Nichts. Mir ist bloß schwindelig.«

Ich stieg vom Stuhl, blies die Rauchwolken weg und ließ mich auf ein Kissen fallen. Als ich die Augen öffnete, saß Agnieszka neben mir. Ich spürte ihr Haar an meiner Wange, ihren Atem an meinem Ohr. Ich wollte nicht mit ihr reden, aber plötzlich lag ihre Hand auf meiner, eine kleine, rauhe Hand mit Fingern, die vielleicht brachen, wenn man sie aus Mitgefühl oder anderen Gründen drückte.

»Du bist traurig«, sagte sie.

Im Schein der Teelichter sah sie jung aus. Ada tanzte inzwischen mit einem blonden Mann, der Prinz Pavel hieß. Er hielt ihre Taille umfaßt, und Ada beugte sich kopfüber nach hinten, bis ihr Zopf den Boden berührte.

»Wir sind alle allein«, sagte ich.

»Was meinst du damit?« fragte Agnieszka.

»Das Leben ist .«

Ich schloß die Augen.

»Es ist .«

Ich konnte es nicht erklären, nicht so, daß sie es verstehen würde. Ich verstand es selbst nicht.

»Du spinnst ja«, sagte sie und lachte. »Ich muß aufs Klo, bin gleich wieder da. Trinken wir dann noch einen?«

Später saß ich neben dem Koreaner in der Küche. Ada spülte Gläser ab, während er versuchte, ihren Rock mit dem Ansatzrohr des Staubsaugers hochzuschieben. Plötzlich warf sie den Schwamm ins Wasser, drehte sich um, nahm das Rohr und lehnte es gegen die Wand. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß, zog seinen Kopf nach hinten und beugte sich über ihn, als wollte sie ihn küssen.

»Mein lieber Joshi«, sagte sie. »Besser, du gehst nach Hause.« Sie sah mich an. »Sei so lieb. Such seine Jacke und bring ihn zur Tür.«

Ich packte den Koreaner am T-Shirt und zog ihn hinter mir her durch den Flur.

»Meine Jacke«, lallte er.

»Keine Jacke«, sagte ich. »Du bist ohne Jacke gekommen.«

Er kratzte sich hinterm Ohr.

»Kann ich mal telefonieren?«

Ich schob ihn ins dunkle Treppenhaus. Er rülpste und torkelte nach unten.

»Licht, bitte«, rief er.

Ich schlug die Tür zu und schloß ab.

Ada rauchte, sie hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und ihre nackten Beine auf dem Küchentisch ausgestreckt. Ihre Fußsohlen waren rot, mit kleinen Schwielen an Fersen und Zehen; die lackierten Nägel glänzten im matten Deckenlicht. Sie gähnte, und ich sah die Mandeln und ihr schlankes Zäpfchen, das ich gern berührt hätte.

»Agnieszka liegt schon im Bett«, sagte sie und drückte die Zigarette aus. »Ich finde, wir sollten dann auch.«

Sie führte mich in eine Kammer neben dem Bad, die nach Kernseife roch. An der Wand lehnten Schrubber und Besen. In einem kleinen Regal standen Schuhe, Gemüsekonserven und eine beinahe völlig zerfetzte Bibel. Am Boden lagen zwei Wolldecken auf einer mit einem oran-genen Laken bezogenen Matratze.