3

Die Unterredung zwischen den beiden ungleichen Brüdern fand wirklich noch am gleichen Abend statt, nur verlief sie anders, als Siegurd von Aarfeld sich das gedacht hatte. Und nicht er war derjenige, welcher diese Unterredung herbeiführte, sondern sein Bruder Pedro, der schon den ganzen Tag in einer freudigen Hochstimmung herumgelaufen war und mit Humor und guter Laune seine Leute auf dem Gut völlig durcheinandergebracht hatte. Selbst Lulatsch, der sich in seinem langen Dienerleben bereits an allerhand gewöhnt hatte, fand es äußerst bemerkenswert, daß ihm der Herr Baron freundlich auf die Schulter klopfte und sagte: »Lulatsch, du kannst heute abend eine Flasche aus meinem Keller trinken, diesmal mit meinem Wissen und meiner Erlaubnis.« Dabei zwinkerte er, und Lulatsch wurde ganz rot. Teufel, Teufel, dachte er, als er sich entfernte, der weiß also, daß ich ab und zu ein Fläschchen für mich abzweige, und hat mich trotzdem noch nicht zur Rede gestellt. Verdammt großzügig von ihm. Famoser Mensch.

Als Siegurd auf dem Gut eintraf und seine Wohnung aufsuchen wollte, kreuzte Lulatsch seinen Weg und teilte ihm mit, daß sein Bruder ihn im Herrenzimmer zu sehen wünsche.

»Da bin ich«, sagte Siegurd zu Pedro. »Was gibt's?«

Pedro wirkte etwas feierlich. Siegurd war überrascht. Der Duft einer guten Zigarre durchdrang das Zimmer.

»Willst du mir etwa mitteilen«, fuhr Siegurd fort, »daß du die Absicht hast, dich ganz deiner Malerei zu widmen und mir das Gut an den schmerzenden Hals zu hängen?«

Das Lächeln, das seine Worte begleitete, war alles andere als echt.

Pedro blickte ihn kurz an, paffte eine Zigarrenwolke in die Luft und erwiderte: »Nein, im Gegenteil, ich setze dich hiermit davon in Kenntnis, daß ich heiraten werde. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind dir bekannt.«

Siegurd hatte kaum mit Überraschung zu kämpfen.

»Wen«, fragte er lauernd, »willst du heiraten? Die Klett?«

Nun war aber Pedro perplex. »Woher weißt du das?«

»Die ganze Umgebung spricht doch schon davon, wie sie dich umgarnt.«

»So?«

»Sie will sich dich unter den Nagel reißen, sagen alle.«

Pedro legte die Zigarre auf den Aschenbecher, atmete tief ein und erwiderte dann mit drohendem Unterton in der Stimme: »Ich möchte jedem raten, ab sofort nicht mehr so von meiner zukünftigen Frau zu sprechen. Das kannst du allgemein bekanntgeben.«

»Pedro«, sagte Siegurd, der erkannte, daß hier schweres Geschütz aufgefahren werden mußte, »ich muß dir über die die Augen öffnen …«

»Wie bitte?«

»Ich kenne sie besser als du, ich komme soeben aus ihrer Wohnung.«

»Aus Ihrer Wohnung? Wie kommst du in ihre Wohnung? Was hast du überhaupt mit ihr zu schaffen?«

»Dumme Frage. Sie hat es eben auch auf mich angelegt, und zwar schon länger.«

Aus Pedros Gesicht wich die Farbe. Langsam erhob er sich.

»Bist du bereit«, fragte er, »deine Behauptungen auch vor Fräulein Klett zu wiederholen?«

»Selbstverständlich. Sei aber nicht überrascht, wenn sie alles ableugnet. Das ist doch das übliche. Du wirst dich dann entscheiden müssen, wem du glaubst: deinem Bruder oder dieser Person.«

»Fräulein Klett ist keine ›Person‹, ich warne dich. Noch genießt sie meinen Schutz …«

»Nicht mehr lange. Ich kann dir nämlich mit Beweisen aufwarten, mit Zeugen …«

»Mit welchen Zeugen?«

»Mit Kellnern aus der Ohio-Bar. Sie kennen dich.«

»Aber ich kenne die nicht! Ich verkehre nicht in solchen Löchern, dazu ist mir meine Zeit zu schade!«

Auf Siegurds Gesicht breitete sich Hohn aus. »Fräulein Klett verkehrt in solchen Löchern …«

»Etwa zusammen mit dir?«

»Erraten.«

»Und?«

»Und führt sich dementsprechend auf.«

Pedro ging zum Fenster, blickte ein Weilchen hinaus, drehte sich dann um zu Siegurd und sagte gefährlich ruhig: »Ich will jetzt wissen, was passiert ist …«

»Frag die Kellner.«

»Ich will es von dir wissen.«

»Sie hat mir die Kleidung halb vom Leib gerissen.«

Pedro wurde noch blasser. »Können das die Kellner bezeugen?«

»Meiner Ansicht nach ja. Es ist aber möglich, daß ihre Ansichten darüber auseinandergehen. Das ist ja immer so: Dem einen genügt ein Knopf, der aufgeknöpft wird, der andere verlangt, daß die ganze Hose gefallen ist.«

»Konkret: Was können die Kellner bezeugen?«

»Daß sie mich geküßt hat.«

»Geküßt?«

»Und wie! Da blieb kein Auge trocken! Ich hatte alle Hände voll zu tun, mich ihrer zu erwehren!«

Seltsamerweise schien Pedro daraufhin etwas erleichtert. Er ging zweimal im Zimmer auf und ab und blieb plötzlich vor Siegurd stehen. »War sie betrunken, als sie dich küßte?«

»Wie … wieso?« stieß Siegurd hervor. Die Frage kam ihm überraschend. Er hatte nicht mit ihr gerechnet.

»Weil es mich interessiert, was du ihr eingeflößt hast.«

»Eingeflößt? Das war nicht nötig, frag die Kellner.«

»Was hattet ihr getrunken?«

»Zusammen eine Flasche Burgunder.«

»Und?«

»Und jeder einen Martini.«

»Und?«

»Und vier Manhattan.«

»Zusammen oder jeder?«

»Jeder, aber was soll das, worauf willst du hinaus?« erregte sich Siegurd, dem dieses Verhör verständlicherweise auf die Nerven ging.

»Ich möchte sehen, wessen du fähig bist, um dir eine Dame gefügig zu machen.«

Siegurd verlor die Beherrschung.

»Einer Dame?!« schrie er. »Sag ›einer Dirne‹, dann stimmt's!«

Das war das zweitemal, daß dem jungen Baron von Aarfeld an diesem Tage ins Gesicht geschlagen wurde. Es war aber keine schwache Ohrfeige mehr, von mehr oder minder zarter Frauenhand, sondern ein wuchtiger Hieb, der ihn gegen den Schrank schleuderte, an den er sich anklammern mußte, um nicht umzusinken. Mit lodernden Augen stand Pedro vor ihm, einen Kopf größer, ein Riese, der sich der Kraft seiner Muskeln wohl bewußt war und ankündigte, daß er sich nicht scheuen würde, beim geringsten noch einmal zuzuschlagen.

»Noch ein solches Wort, und dich holt der Teufel, das sage ich dir!«

Siegurd war zwar benommen, aber soviel konnte er erkennen, daß seine Gesundheit, soweit sie ohnehin nicht schon geschädigt war, an einem seidenen Faden hing. Er wich vor Pedro zurück, retirierte zur Tür, während er sich mit einem rasch hervorgezogenen seidenen Taschentuch das Blut von den aufgesprungenen Lippen wischte. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und sagte: »Das wirst du mir büßen! Mich prügelt man nicht wie einen Hund, laß dir nur Zeit!«

»Hau ab! Am besten verschwindest du ganz vom Gut! Hier bist du von jeher zu nichts nütze!«

Mit lautem Krach schlug Siegurd die schwere Eichentür hinter sich zu, und Pedro sank, nachdem er einen Blick auf die Zigarre geworfen und gesehen hatte, daß sie ausgegangen war, in seinen Ledersessel. Er wischte sich über die Stirn, als wollte er in seinem Kopf das, was sich hier ereignet hatte, auslöschen. So saß er eine Viertelstunde lang, bis er des Aufruhrs in seinem Inneren langsam Herr wurde.

Lulatsch klopfte an die Tür und meldete konsterniert, daß der junge Herr Baron unter Mitnahme des größeren der beiden Wagen das Gut verlassen habe. »Ich fühle mich verpflichtet«, fügte er hinzu, »Ihnen mitzuteilen, was er gesagt hat, Herr Baron …«

»Was denn?«

»Das ganze Gut gehöre in die Luft gesprengt, mit Ihnen an der Spitze, Herr Baron. Er könne nur jedem raten, möglichst bald von hier zu verschwinden.«

»Lulatsch«, sagte Pedro bedrückt, »du weißt, was sich für einen guten Diener gehört …«

»Ich hoffe es.«

»Mein Bruder ist verrückt. Wir hatten eine Auseinandersetzung. Er redet dummes Zeug, wenn er sich aufregt. Manchmal läßt es sich nicht vermeiden, daß ein Diener davon etwas mitbekommt. Und dann zeigt sich der Unterschied zwischen einem guten Diener und einem schlechten. Ein schlechter Diener quatscht herum, ein guter kann sich schon eine Minute später nicht mehr an das geringste erinnern. Wieviel Uhr haben wir jetzt, Lulatsch?«

»Eine Minute später, Herr Baron.«

»Danke.«

»Keine Ursache, Herr Baron.«

Pedro erhob sich.

»Ich fahre noch in die Stadt. Hol mir bitte meinen Wagen aus der Garage.«

»Den Ihren?«

»Ja, natürlich.«

»Herr Baron, ich sagte Ihnen doch, daß der junge Herr Baron mit dem großen Wagen …«

»Wann sagtest du mir das?«

»Soeben.«

Lulatsch wunderte sich. Die müssen ja ganz schön gestritten haben, dachte er. Durcheinander sind sie jedenfalls beide.

»Und was ist mit dem Opel, Lulatsch?«

»Der steht zur Verfügung, Herr Baron.«

»Dann bring mir den.«

»Sehr wohl, Herr Baron. Sind Sie notfalls zu erreichen? Wollen Sie mir eine Adresse hinterlassen?«

»Nein.«

Lulatsch nickte und machte kehrt, um sich zu entfernen.

»Oder doch, Lulatsch: Ich bin bei Dr. Faber.«

Pedro von Aarfeld brauste durch die Nacht. Seine starken Scheinwerfer fraßen einen grellen langen Streifen aus der Dunkelheit vor ihm und ließen die Alleebäume fast weiß erscheinen. Mit der linken Hand steuerte er den Wagen, in der rechten hielt er eine Zigarette, die zitterte. Dies zeigte den Grad seiner inneren Erregung und Spannung an.

Ich muß das alles heute abend noch klären, dachte er. Ich muß Dr. Faber sprechen, auch Marianne. Jahre hatte ich Zeit, mich um meine Verhältnisse zu kümmern … und habe mich um nichts gekümmert. Nur um meine Malerei, aber nicht um die Erhaltung meines Erbes. Und jetzt drängt sich alles praktisch auf Stunden zusammen. Es bleibt mir jedoch nichts anderes übrig, ich muß die Entscheidung fällen.

Übers Lenkrad gebeugt, starrte er auf die helle, von den Scheinwerfern der Dunkelheit entrissene Decke der nächtlichen Straße vor sich.

Marianne, dachte er, und es wurde ihm plötzlich heiß ums Herz und in der Kehle. Marianne – hast du deshalb nein gesagt? Ich will es wissen … heute noch … denn ich liebe dich.

Dr. Edmund Faber saß noch in seinem Arbeitszimmer, als unten vor dem Haus die Bremsen eines Wagens quietschten und kurz darauf bei ihm die Klingel ertönte.

»Nanu?« fragte er sich selbst. »Wer kann denn das noch sein?«

Kopfschüttelnd erhob er sich, stieg die Treppe hinunter und knipste die Außenbeleuchtung über der Haustür an. Dann öffnete er ein vergittertes Fensterchen in der dicken Tür und spähte hinaus. »Sie?« rief er überrascht, als er das Gesicht des Barons Pedro von Aarfeld entdeckte, der mit nervösem Ausdruck draußen stand. Rasch schloß er die Tür auf und bat Pedro herein.

»Was ist denn los bei Ihnen, wo brennt's?«

Der Baron schwieg. Er kannte sich im Haus aus und lief stumm hinauf ins Arbeitszimmer, in dessen Fenster das Licht gebrannt und dem Baron schon draußen gezeigt hatte, wo der Hausherr zu dieser Stunde sich noch aufhielt. Oben ließ sich Pedro in einen Sessel fallen, erst dann sagte er zu Dr. Faber, der ihm kopfschüttelnd gefolgt war: »Ich hätte fast meinen Bruder erschlagen.«

»Um Gottes willen! Wieso?«

Pedro erstattete Bericht.

»Und jetzt«, schloß er, »stößt er wilde Drohungen aus, mit denen er mich allerdings keineswegs erschrecken kann. Nur fürchte ich, daß er vielleicht auch noch Fräulein Klett in die Sache mit hineinzieht, wissen Sie.«

»Dazu gehören zwei: einer, der zieht, und eine, die sich ziehen läßt.«

»Und letzteres glauben Sie, wenn ich Sie recht verstehe, von Fräulein Klett nicht?«

»Nein.«

Pedro seufzte. »Da bin ich nicht so ganz sicher.«

Dr. Faber blickte ihn erstaunt an. »Warum nicht?«

Pedro seufzte ein zweites Mal und antwortete: »Ich muß zumindest auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Fräulein Klett auf der Seite meines Bruders steht …«

»Ach was!«

»Doktor, ich muß Sie da in etwas einweihen, das Sie bis jetzt noch nicht wissen. Fräulein Klett hat mich enttäuscht …«

»Wieso?«

»Sie empfängt meinen Bruder in ihrer Wohnung …«

»›Empfängt‹, sagen Sie? Das glaube ich nicht so ganz. Da müßte ich erst einmal mit ihr selbst reden.«

»Auf jeden Fall war sie mit ihm in der Ohio-Bar.«

»Das weiß ich.«

»Sie wissen das?« stieß Pedro überrascht hervor. »Von wem?«

»Von ihr selbst.«

»Von Marianne?«

»Ja, sie hat es mir gesagt, schon am nächsten Tag.«

»Alles wird sie Ihnen nicht gesagt haben, Doktor, z.B. wird sie Ihnen nicht gesagt haben, daß sie meinen Bruder auch …«

»… geküßt hat, doch, auch das hat sie mir gesagt«, fiel Dr. Faber ein und amüsierte sich über Pedros perplexen Gesichtsausdruck.

Das Haustelefon läutete in diesem Augenblick. Fabers Wirtschafterin wollte wissen, wie es heute mit dem Abendessen stünde. Der vage Bescheid, den sie erhielt, ließ sie innerlich ihren schon mehrmals gefaßten Entschluß, ihre derzeitige Stellung zu kündigen, erneuern.

»Wo waren wir stehen geblieben?« fragte Dr. Faber den Baron, als er den Hörer auflegte. »Richtig, ja, bei den Küssen. Es war nicht nur einer, beichtete sie mir. Mir lief, gestehe ich, das Wasser im Mund zusammen.«

»Doktor, mir ist nicht nach Witzen zumute …«

»Und zuletzt wollte sie von mir noch wissen, was eine Nymphomanin ist.«

»Wie bitte?«

»Eine Nymphomanin.«

Pedro räusperte sich. »Doktor …«

»Hören Sie zu«, wurde er von Faber unterbrochen, der mit sich kämpfen mußte, um nicht über Pedros Mienenspiel der Entrüstung in schallendes Gelächter auszubrechen, »was geht Sie eigentlich, entschuldigen Sie die harte Frage, das Privatleben von Fräulein Klett an? Haben Sie irgendwelche Rechte auf sie?«

»Ich denke schon.«

»Seit wann?«

»Seit … seit heute … nein, seit gestern.«

»Eine enorme Zeit.« Nun platzte aber Dr. Faber doch heraus und rieb sich die Tränen aus den Augen, nachdem er herzlich gelacht hatte. Dann setzte er hinzu: »Auf alle Fälle liegt dieser Ohio-Besuch weiter in der Vergangenheit zurück, das steht zweifelsfrei fest, oder?«

»Zugegeben, Doktor, und ich weiß auch, daß Fräulein Klett angeheitert war, das erklärt vieles – aber trotzdem darf ich von meiner zukünftigen Frau erwarten, daß sie sich auch in animierter Stimmung reserviert verhält. Das hat sie nicht getan, und dieser Stachel sitzt in meinem Fleisch, wenn ich auch zu meinem Bruder etwas ganz anderes gesagt habe.«

Darauf hatte Dr. Faber nur eine Frage: »Baron Aarfeld, in welcher Zeit leben Sie eigentlich?«

Und als Pedro verbissen schwieg, entschloß sich Faber, ihm einmal richtig die Leviten zu lesen. Und wenn mich das die Freundschaft mit diesem Mann kostet, dachte er.

»Wissen Sie was?« legte er los. »Wenn ich die Klett wäre, würde ich gerne auf Sie verzichten. Sie sprechen von Ihrer ›zukünftigen Frau‹, Sie meinen es also ernst. Na, danke! Was hat denn eine an Ihrer Seite zu erwarten? Einengung, Diktatur, mittelalterliche Anschauungen, Freiheitsberaubung, womöglich noch alten Adelsstolz und den Keuschheitsgürtel wie bei den Kreuzfahrern … Moment, unterbrechen Sie mich nicht, ich bin noch nicht fertig. Was bedeutet denn heute noch ›alter Adel‹? Wer fragt heute noch danach, ob Ihre Vorfahren an einem Tisch mit Karl dem Großen saßen oder mit Pippin dem Kurzen auf die Jagd gingen? Auch die Freundschaft Ihres Ahnherrn Sebastian mit Otto dem Bärtigen interessiert heute nur noch die Familienforscher; die breite Masse pfeift darauf. Was Sie heute darstellen, das ist maßgeblich! Wenn Sie heute mit beiden Beinen im Leben stehen, wenn Sie anpacken, wenn Sie einem Erdarbeiter genauso gern die Hand geben, wie Sie die einer Komtesse küssen, dann sind Sie richtig! Mit mittelalterlichen Ansichten aber, mit Standesdünkel, mit den Allüren eines Perückenedelmannes, der alten Gemälden entsprungen ist, sind Sie heute nur noch ein lebender Witz, der herumläuft. Als solcher heiraten Sie besser nie, zum Segen jeder Unglücklichen, die Ihnen in die Hände fallen könnte.«

Dr. Faber verstummte. Es blieb eine Weile still. Die beiden Männer sahen einander schweigend an.

»Danke«, krächzte Pedro von Aarfeld endlich.

»Bitte, keine Ursache«, antwortete Faber. »Sind wir jetzt geschiedene Leute?«

»Wieso?« fragte Pedro, nachdem er sich die Stimme freigeräuspert hatte.

»Weil ich mir vorstellen könnte, daß Sie nun zutiefst beleidigt sind; daß Sie die Nase voll haben von mir.«

In Pedros Gesicht arbeitete es, und plötzlich obsiegte ein Lächeln, das sich in seine Züge stahl.

»Im Gegenteil, lieber Doktor«, versicherte er. »Ich finde, daß mir das einmal gesagt werden mußte.«

Er erhob sich und streckte sich. Er wirkte wie befreit. Er setzte hinzu: »Und ich verspreche Ihnen, mich grundlegend zu bessern. Als erstes werde ich mit Marianne sprechen, das hatte ich ohnehin vor – aber nun wird es in ganz anderer Form geschehen: Ich werde nicht erwähnen, daß ich von ihrer Affäre weiß.«

Dr. Faber hob warnend den Zeigefinger. »Affäre! Schon wieder so ein dummes Wort aus dem Sprachschatz vergangener Zeiten! Marianne Klett hatte einen Schwips und ließ sich von einem Windhund aufs Glatteis führen – mehr nicht! Sie rutschte aus, aber eingebrochen ist sie nicht. Im übrigen hatte sie, wenn Sie das tröstet, enorme Gewissensbisse. Sie war ganz zerknirscht, als sie mir die Sache schilderte. Sie hätte es doch überhaupt nicht nötig gehabt, mir davon auch nur ein Wort zu erzählen. Daß sie es tat, ist doch schon bezeichnend genug, finden Sie nicht auch?«

»Doktor«, rief Pedro mit erhobenen Händen, wie um sich zu schützen, »fangen Sie nicht schon wieder an, mir den Kopf zu waschen! Ich will ja gar nichts mehr gesagt haben.«

»Nehmen Sie Ihre Marianne in die Arme und sagen Sie ihr: ›Mädchen, komm, pack deine Sachen, zieh zu mir nach Aarfeld, es wird geheiratet.‹ So macht man das heutzutage, das ist ein moderner Antrag!«

Pedro von Aarfeld, der stolze Baron, konnte nicht anders, er mußte herzlich lachen.

»Und wissen Sie«, fuhr Faber fort, »daß es, wenn ich Ihnen einen solchen Ratschlag gebe, das eigene Fleisch ist, in das ich mich schneide?«

»Warum?«

»Weil ich eine ausgezeichnete Sekretärin verliere, deren Qualitäten ich in ganz kurzer Zeit zu schätzen gelernt habe. Weiß der Teufel, was mir nach ihr wieder ins Haus steht.«

»Darf ich Ihnen zum Trost eine Flasche Wein spendieren, Doktor?«

»Gern. Haben Sie eine dabei?«

»Nein. Ich dachte an eine aus Ihrem Keller.«

»Ach so!«

Beide lachten, und es wurde noch ein vergnügter Herrenabend. Zuletzt bezog Pedro ein Bett in Fabers Gästezimmer, um den Führerschein keiner Gefahr auszusetzen.

Marianne Klett erschien am nächsten Morgen, wie immer, Punkt acht Uhr vor Dr. Fabers Geschäft. Sie schloß die Ladentür auf, stieß die schweren Eisengitter vor den Schaufenstern hoch, stellte die Tagessignalanlage an und setzte sich im Büro an ihre Schreibmaschine. Sie wunderte sich, daß Dr. Faber ausblieb. Das war sie von ihrem Chef nicht gewöhnt.

Auf ihrem Platz fand sie eine neue Liste für den Katalog, die sie abzuschreiben hatte. Das war rasch geschehen, und sie sah sich um, entdeckte aber nichts anderes, was Dr. Faber für sie noch zur Erledigung bereitgelegt hätte. Sie ging deshalb in den Laden und setzte sich hinter die Glastheke, wo sie etwas zerstreut in einem Kunstbuch blätterte.

Wo bleibt er denn? dachte sie.

Das Büro hatte zwei Eingänge, einen vom Laden her und einen separaten. Plötzlich hörte sie die separate Tür gehen. Dr. Faber war erschienen.

Marianne vernahm seine Stimme, die rief: »Fräulein Klett – Stenogramm!«

Dann ging wieder die separate Tür, und Fabers Schritte verklangen auf der Treppe nach oben.

Nanu, dachte Marianne, Stenogramm in seinem Arbeitszimmer? Das ist ja etwas ganz Neues. Muß eine wichtige Sache sein.

Sie eilte ins Büro, nahm Block und Bleistift, warf in einem Spiegel an der Wand einen prüfenden Blick auf ihr Gesicht und lief dann die Treppe hinauf. Sie klopfte kurz und trat ein.

Ihr erster Blick fiel auf den Schreibtisch – er war leer. Erstaunt wandte sie sich um. Da stand beim Schrank ein großer, breiter Mann und streckte ihr beide Hände entgegen.

»Pedro …«, stammelte sie.

Sie wußte nicht, ob sie erschrocken sein oder sich freuen sollte. Hatte Siegurd schon mit ihm gesprochen? Wahrscheinlich ja.

»Marianne …«

Er hielt die Arme ausgebreitet und wartete darauf, daß sie sich hineinstürzte. Sie tat es nicht, sondern fragte: »Du kommst zu mir, Pedro?«

»Sollte ich nicht?«

»Hat … hat dein Bruder schon mit dir gesprochen?«

»Ja, gestern.«

»Und … und trotzdem kommst du?«

»Trotzdem.«

»Was hat … hat er dir denn erzählt?«

»Alles.«

»Alles? Und das macht dir nichts aus?«

In Mariannes Gesicht ging zögernd die Sonne auf.

»Was soll mir denn etwas ausmachen, mein Engel? Ich bin doch keiner aus dem Mittelalter.«

»Pedro!« Plötzlich löste sich ihre Lähmung, und sie sprang auf ihn zu. »Pedro, ich liebe dich!«

Er fing sie auf, und die gegenseitigen Küsse, mit denen die beiden sich bedachten, stellten alles in den Schatten, was ein Siegurd von Aarfeld je in seinem Leben auf diesem Gebiete erfahren hatte.

»Liebling«, sagte Pedro, als sie ihn endlich wieder zu Atem kommen ließ, »ich darf dir natürlich nicht vorenthalten, daß ich ihn aus dem Haus gejagt habe …«

»Wen?«

»Deinen zukünftigen Schwager.«

»Zukünftigen Schwager? War das etwa ein Heiratsantrag, den du mir da soeben gemacht hast?«

»Ich kann's dir auch anders sagen: Mädchen, pack deine Sachen, zieh zu mir nach Aarfeld, es wird geheiratet.«

»Pedro!!«

Ein neues Küsse-Gewitter entlud sich, doch dann sagte Marianne: »Du hast ihn aus dem Haus gejagt?«

»Ja, er hat dich beleidigt, ich schlug ihn blutig, nun haßt er mich.«

»Mich wohl auch.«

»Dich, mich, das ganze Gut, alles.«

»Ich fürchte ihn, Pedro.«

»Dazu hast du keinen Grund, mein Engel«, sagte er leichthin. »Du stehst unter meinem Schutz. Mit dem werde ich allemal fertig.«

Schon Minuten später dachte Pedro von Aarfeld darüber anders.

Ein Telefon läutete irgendwo im Haus. Die beiden hörten, wie Dr. Faber abhob und sich meldete; dann rief seine Stimme von unten herauf: »Aarfeld am Apparat! Sie werden dringend verlangt, Baron!«

Pedro und Marianne liefen die Treppe hinunter ins Büro, und er ließ sich von Faber den Hörer, den ihm dieser entgegenhielt, geben. Dann wurde er plötzlich blaß und stützte sich, um nicht zu wanken, mit seiner freien Hand schwer auf den Schreibtisch. Erschrocken bemerkten der Kunsthändler und Marianne die Veränderung an ihm.

»Nicht möglich!« schrie er in die Muschel.

Dann lauschte er noch einmal kurz, ließ den Hörer sinken, wandte sich um zu Marianne und Faber und stieß hervor: »Das Gut brennt!«

»Nein!« schrie Marianne auf und klammerte sich an ihn.

Er nickte zum Apparat. »Lulatsch war dran. Alle Feuerwehren der ganzen Umgebung sind schon alarmiert. In der Scheune hat es begonnen. Angeblich Selbstentzündung des Heus …«

Dieses ›angeblich‹ hing schwer im Raum.

»Siegurd?« sagte denn auch fragend Dr. Faber schon nach wenigen Sekunden.

Pedro schwieg. Man sah aber, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Seine Backenknochen bewegten sich, die Zähne mahlten, die aufeinandergepreßten Lippen waren dünne Striche.

»Ich muß los!« stieß er plötzlich hervor und wandte sich zum Ausgang.

Auch in Fabers Gestalt kam Leben. »Wir begleiten Sie!« rief er, Mantel und Hut vom Haken reißend. »Marianne, schließen Sie rasch den Laden, der bleibt heute zu!«

Pedros Wagen brachte die drei nach Aarfeld. Es war eine Höllenfahrt. Faber saß hinten im Fond, Marianne vorne neben Pedro und starrte durch die Frontscheibe auf das heranschießende und unter dem Kühler verschwindende Band der Straße, die nicht enden wollte. Pedros Fuß drückte das Gaspedal ständig durch bis zum Anschlag.

Es ist meine Schuld, sagte sich Marianne. Ich habe alles ausgelöst. Nur aus Rache hat Siegurd das getan. So wahr ich aber jetzt neben Pedro sitze, werde ich ihn dafür zur Verantwortung ziehen mit dem ganzen Haß, dessen nur eine Frau fähig ist. Ich fürchte ihn nicht mehr, ich hasse, hasse, hasse ihn – nicht weil er mir, sondern weil er Pedro das angetan hat.

Mit quietschenden Reifen ging der Wagen in die Kurven, jagte über den Asphalt, hüpfte über die Schlaglöcher des schlechteren Teils der Strecke. Starr saß Pedro am Steuer, nur seine Arme und sein Gasfuß arbeiteten.

Gut Aarfeld brennt!

Das Erbe der Väter!

Das Majorat!

Um die gleiche Zeit saß Siegurd von Aarfeld im Salon der Freiin Mathilde von Bahrenhof und las die Morgenzeitung. Mathilde lehnte am Fenster und schaute hinaus auf den Gutshof, wo zwei Knechte die Pferde zur Koppel trieben.

Sie drehte sich um und blickte ins Zimmer.

»Ich habe dich heute nacht gar nicht wahrgenommen«, sagte sie. »Wann bist du denn eigentlich gekommen?«

»Spät.«

»Und du hast mich nicht geweckt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Er zuckte die Schultern, ohne aus seiner Zeitung aufzublicken.

Ein solches Maß an Mißachtung und Einsilbigkeit ging ihr entschieden gegen den Strich. Rasch trat sie vor ihn hin, schlug von oben mitten durch die ausgebreitete Zeitung, zerteilte sie dadurch in zwei Hälften und fuhr ihn an: »Ich spreche mit dir! Was ist vorgefallen? Das will ich jetzt wissen! Ich kenne dich doch und weiß, daß etwas passiert sein muß!«

»Man hat mich rausgeschmissen, meine Liebe.«

»Rausgeschmissen? Aus der Ohio-Bar?«

»Aus Aarfeld.«

Mathilde glaubte nicht recht zu hören. »Aus dem Gut? Wer hat dich da rausgeschmissen?«

»Dumme Frage. Denkst du ein Knecht oder eine Dienstmagd?«

»Dein Bruder?« Sie wollte es immer noch nicht für wahr halten. »Das ist doch nicht möglich!«

»Doch, doch, meine Liebe. Vor dir sitzt ein Asyl-Suchender.«

Mathilde sank auf einen Lederhocker, der gerade hinter ihr stand. »Und du hast das mit dir machen lassen?«

Er schwieg.

Keine Antwort ist auch eine Antwort, sagte sie sich und explodierte: »Du Schlappschwanz!«

Er zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

»Halt's Maul!« fuhr er ihr grob über den Mund, den sie sich aber nicht verbieten ließ.

»Was bist du denn sonst? Du verzichtest doch damit auf Aarfeld?«

»Haben wir uns nicht geeinigt auf gewisse Bemühungen, die du diesbezüglich walten läßt?«

»Doch, das haben wir«, besann sie sich. »Aber dazu müßte ich den Hampelmann öfter sehen, was seit Tagen nicht mehr der Fall war. Er weicht mir aus. Er gibt mir keine Gelegenheit, meine Netze nach ihm auszuwerfen.«

»Er ist hinter dieser Tippse her. Wenn du dich nicht tummelst, sticht sie dich aus.«

Die Freiin von Bahrenhof, ohne Zweifel eine sehr schöne Frau, lief dunkelrot an. War denn diese schnöde Welt dabei, gänzlich aus den Fugen zu geraten? Eine Schreibmaschinenklopferin? Eine Achtstundensklavin? Eine, die im Büro die Topfpflanzen goß? Die dem Chef in den Mantel half? Ein solches Wesen durfte doch überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden. Aber sie drohte sogar das Rennen zu machen! Gegen eine Edeldame! Ausgeschlossen! Das durfte Gott nicht wollen!

»Siegurd«, schwor Mathilde von Bahrenhof, »der grabe ich das Wasser ab, laß dir nur Zeit.«

»Zeit, meine Liebe, ist das, was du dazu am wenigsten hast.«

Draußen auf dem Hof wurde Hufgetrappel laut. Von einem schweißnassen Pferd sprang ein rußgeschwärzter Reiter, lief die Freitreppe hinauf und klopfte kurz darauf an die Tür des Salons. Erschrocken starrte ihn die Dame des Hauses an, während Siegurd aufsprang und ihm entgegeneilte.

»Paul!« rief er. »Was ist los? Wie siehst du aus? Wo kommst du her?«

»Unser Gut brennt, Herr Baron«, keuchte Paul, einer der Pferdeknechte auf Aarfeld.

»Das Gut brennt?« Siegurd blickte den Knecht ungläubig an, aber der Ruß in dessen Gesicht überzeugte ihn von der Wahrheit der Hiobsbotschaft. »Wo ist mein Bruder? Schickt er dich?«

»Nein. Er ist seit gestern in der Stadt. Lulatsch hat schon nach ihm telefoniert, aber Sie kennen ja die Strecke. Bis er kommt, wird's noch eine Weile dauern. Inzwischen bin ich aus eigenem Entschluß losgeritten, um Sie hier zu suchen.«

»Sehr gut, Paul! Reite sofort zurück, ich folge mit dem Wagen!«

Der Knecht stürzte aus dem Zimmer. Die Freiin blickte ihm nach. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in ihren Augen, seit sie gehört hatte, was sich auf Aarfeld zutrug.

»Wo sind meine Schuhe, mein Jackett?« rief Siegurd, im Zimmer hin und her hastend.

Beides fand er ein Stockwerk höher auf bzw. unter dem Bett, in dem er geschlafen hatte.

»Was rennst du so?« fragte ihn mit spöttischer Stimme Mathilde. »Euer Knecht ist weg, nun kannst du dir das Theater schenken.«

Siegurd blieb wie angewurzelt stehen. »Welches Theater?«

Mathildes Ausdruck in den Augen fand die nötige Aufklärung. Sie antwortete: »Den Brand hast du doch gelegt, mein Schatz.«

»Ich?«

Sie grinste diabolisch und nickte.

Er stieß hervor: »Du bist verrückt. Ich war doch hier!«

»Seit wann? Du sagtest selbst, daß du sehr spät gekommen bist. Außerdem gibt's heutzutage, das habe ich erst kürzlich wieder gelesen, die wunderhübschesten Verzögerungszünder. Verstehst du mich, was ich meine?«

Er starrte sie wortlos an. Und da er nichts sagte, fuhr sie fort: »Ich muß mich entschuldigen bei dir. Du bist keineswegs ein Schlappschwanz. Wie hoch seid ihr versichert?«

»Versichert? Wieso?«

»Weil du dir vermutlich gedacht hast, daß bares Geld, an das wir herankommen könnten, angenehmer ist als wieder nur so ein Bauerngut wie das meine. Sehr richtig, ich stimme dir zu. Aber du hättest doch deine Karten mir gegenüber schon früher aufdecken können, mein Schatz.«

Sein Blick wurde absolut eisig. »Weißt du, was du bist?«

Sie nickte. »Ich glaube, schon.«

»Ein Satansweib bist du!«

»Vergiß das nicht!« rief sie ihm nach, als er aus dem Zimmer stürmte, um sich in seinen Wagen zu werfen.

Schon von weitem sahen Pedro, Marianne und Dr. Faber die Rauchfahne über der Landschaft stehen. Kurz darauf lenkte Pedro den Wagen in einen Pulk von roten Feuerwehrfahrzeugen und hin und her rennenden Männern hinein und hielt mit einem Ruck vor dem großen Tor an.

Der ganze Innenhof lag voller Schläuche, auf fahrbaren Leitern standen die Spritzenmänner und bekämpften mit dicken Wasserstrahlen den Großbrand in der Scheune und den Stallungen, auf die das Feuer auch schon übergegriffen hatte. Zwei Spritzen hielten ständig das Herrenhaus unter Wasser, um ein Überspringen der Flammen auch auf dieses zu verhindern. Die Knechte und Mägde schleppten aus den Stallungen noch immer Geräte heraus, unter hohen Gefahren für ihre Gesundheit, ja ihr Leben. Pedro stoppte als erstes mit lauter Kommandostimme diesen gefährlichen Betrieb.

»Laßt das Zeug, wo es ist!« brüllte er.

Aus der Scheune war ohnehin nichts mehr zu retten, sie stellte ein einziges riesiges Flammenmeer dar, von dem alles Brennbare verzehrt wurde.

Nun sprang Pedro, gefolgt von Dr. Faber und Marianne, die Treppe zum Herrenhaus hinauf. In der Halle stand Lulatsch mit einer Spritze in der Hand und beobachtete die Funken, die an die Parterrefenster flogen. Als er den Baron sah, ging ein sichtliches Aufatmen durch seine lange Gestalt.

Diener durch und durch, ein Mann, der aus seiner Haut nicht heraus konnte, verbeugte er sich automatisch und rief: »Guten Morgen, Herr Baron!«

»Lulatsch, guten Morgen«, antwortete Pedro gezwungenermaßen. »Wer führt hier eigentlich das Kommando?«

»Ihr Herr Bruder, Herr Baron.«

»Wer?«

»Ihr Herr Bruder. Er hat mich hier eingeteilt. In eigener Person befindet er sich seit einer Viertelstunde auf dem Dach und kämpft, weil es dort oben am gefährlichsten ist.«

Pedro blickte Marianne und Dr. Faber an. Versteht ihr das? schien seine stumme Frage zu lauten.

Dann wandte er sich der Treppe nach oben zu. Marianne wollte ihm wieder folgen.

»Du bleibst hier!« rief er ihr über die Schulter zu. »Sie auch, Doktor! Sie sind mir dafür verantwortlich, daß ihr nichts passiert!«

In langen Sätzen hetzte er die Stufen hinauf, lief über den Speicher, kletterte zum Oberboden und zwängte sich durch eine Luke hinaus aufs Dach. Grell und heiß schlug ihm von der Scheune her die flammende Lohe entgegen, es war, als käme er in einen Ofen. Die Luft schien zu kochen. Nach Atem ringend, zwang er sich, weiterzukriechen zum Rand des Daches. Ruß und Schmutz wirbelten ihm ins Gesicht, Funken versengten seinen Anzug. Vor ihm zeichneten sich die Umrisse eines Mannes ab, der aufrecht auf dem Dach stand, diesen lebensgefährlichen Balanceakt nicht scheute, eine Axt und einen großen Einreißhaken in den Händen haltend.

Siegurd.

Ein ganz neuer Siegurd.

Ein Mensch, der dreißig Jahre lang nichts getaugt hatte und sich nun, in der Stunde der Gefahr, zu einem echten von Aarfeld gewandelt hatte. Ganz spontan. Eigentlich ohne es zu wollen. Von einer Minute auf die andere. Der Anblick eines rußgeschwärzten Pferdeknechts hatte einen neuen Menschen, einen wahren Edelmann, zur Welt gebracht.

»Siegurd!« brüllte Pedro. »Zurück! Du stürzt ab!«

Siegurd schaute um, entdeckte den an ihn herankriechenden Bruder, der noch einmal schrie: »Zurück!«

Siegurd schüttelte den Kopf. »Das Dach hier muß eingerissen werden, sonst geht auch das Haus flöten!«

Er mußte nicht weniger schreien als Pedro, um sich im Prasseln und Brausen der Flammen verständlich zu machen.

Schrecklich sah er aus. Brandblasen bedeckten sein Gesicht, seine Haare waren zum Teil schon versengt, sein Hemd war durchlöchert von Funken, die sich auf die Haut durchgefressen hatten.

Aber er hielt aus, und Pedro blieb bei ihm, weil er ihn nicht dazu bewegen konnte, seinen halsbrecherischen Posten zu verlassen. Zum Glück waren dies die Minuten, in denen die Feuerwehren den Brand in den Stallungen unter Kontrolle bekamen. Und die Flammen der Scheune begannen von selbst zu ermüden, da ihnen bereits alles, von dem sie sich nähren konnten, zum Opfer gefallen war. Das Letzte konnte dadurch verhindert werden. Unversehrt blieben Herrenhaus und Dach, von dessen vorbeugender Zerstörung Siegurd nicht abzuhalten gewesen wäre. Die Frage, ob er es geschafft oder sich den Hals dabei gebrochen hätte, blieb so unbeantwortet. Höchstwahrscheinlich letzteres.

Entscheidend war auf alle Fälle sein Entschluß, jede Gefahr auf sich zu nehmen. Pedro konnte dazu gar nichts mehr sagen. Er war ständig am stummen Abbitteleisten. Und Marianne wollte für ihren zukünftigen Schwager nur noch durchs Feuer gehen.

Für Siegurd wurde ein längerer Krankenhausaufenthalt zu seiner völligen Wiederherstellung notwendig.