»Aber ich …«

»Nichts. Kommen Sie schon mit!«

Und dann saß er auf dem Besucherstuhl, die Knie hochgezogen, die Finger im Schoß verschränkt, und ließ die Gelenke knacken. Sein Gesicht war noch immer unruhig und die Augen weit geöffnet. Graublaue Augen starrten Hansen fragend an, während er berichtete.

»Verstehen Sie, Herr Doktor? Karins Stiefmutter, die Vera, die ist doch keine Mutter! Dazu ist sie viel zu jung. Vierundzwanzig, gerade sieben Jahre älter. Dazu noch tierisch eifersüchtig. Und Karins richtige Mutter, die ist ja schon vor Jahren mit einem anderen nach Frankreich abgehauen. Was soll Karin denn da tun? Verstehen Sie, daß sie dann durchdreht?«

Hansen überlegte eine Antwort und erinnerte sich dabei, daß er sich selbst in den Jahren seiner Ehe ein Kind gewünscht hatte. Und daß er dann den Gedanken wieder verwarf – nicht bloß, weil er sich mit Ursula nur sehr begrenzt verstand, sondern da war ja auch der Beruf und die Furcht, es könnte dasselbe geschehen, was er ringsum bei Freunden und Kollegen beobachtete: Kinder, die mit Sprüchen bei der Stange gehalten und mit Geld oder Geschenken ruhiggestellt wurden. Denn nicht wahr: Man hat ja viel zu wenig Zeit! Der Chef, die Karriere, der Job! Man kommt ohnehin kaum um die Runden. Nein, für viel zu viele Kinder fiel in dieser Tretmühle nichts ab. Noch nicht einmal eine Erklärung …

Wie sollte es bei ihm anders sein können?

»Eine traurige, eine sehr traurige Geschichte«, sagte er und unterdrückte schon wieder den Wunsch nach einer Zigarette. »Und du meinst, Thomas – ah, Verzeihung … Sie meinen …«

»Sie können ruhig ›du‹ und Thomas zu mir sagen.«

»Und du meinst, daß es mit dieser Vera keine Verständigungsmöglichkeit geben wird? Keinerlei Basis, auf der man eine Beziehung aufbauen könnte?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Und warum nicht? Daß sie so jung ist, könnte auch dafürsprechen, meinst du nicht?«

»Manchmal klappt sowas schon. Aber die, die macht Karin ständig das schlimmste Theater und tobt rum, wenn sie sich mal einen Fummel von ihr nimmt und ihrer Meinung nach zu kess wird. Die macht sie ständig fertig.«

Hansen nickte.

»Deshalb ging's in der Schule mit Karin bergab«, fuhr Thomas fort. »Das ›Abi‹ schafft sie nie, zumindest nicht in Stade.«

»Wo denn sonst?«

Thomas zuckte die Schultern. »Was weiß ich? In einem Internat vielleicht. Aber das ist dem Alten zu teuer …«

Römer, dachte Hansen plötzlich. Bernhard Römer. Er war doch einer der Direktoren der Odenwald-Schule, und dieses Internat wäre genau das richtige, um ein Mädchen wie Karin wieder aufzufangen. Eine Schule, in der die Lehrkräfte Familienbindung aufbauen, und wo die jungen Menschen nicht nach irgendwelchen Zeugnisnoten, sondern nach ihrer Persönlichkeit beurteilt und ausgebildet werden. Und außerdem: Die Odenwald-Schule lag gar nicht so weit weg von hier, und man könnte dich vielleicht gleich ganz persönlich morgen … Aber die Idee laß besser fallen. Keine Zeit.

»Dann verstehe ich nicht«, sagte er langsam, »wieso der Vater ihr das Geld für eine Ibiza-Reise geschenkt hat?«

»Geschenkt? Nix schenken! Das hab doch alles ich finanziert. Ich wollte sie einfach mal raus haben. Ich lieb sie wirklich. Die Karin ist ein Spitzen-Mädchen. Und daß sie dann den Mut verlor und richtig depressiv wurde, das hängt ja nur mit diesem ewigen Theater zusammen. Das steckt nicht in ihr. Und ich Idiot, ich hab nicht daran gedacht …«

»An was nicht gedacht?«

»Na ja, als sie abfliegen wollte, hab ich so 'nen blöden Satz rausgelassen, sie soll uns nicht den Urlaub verderben, denn sonst wär's aus.«

»Ah so«, sagte Hansen und holte sich doch eine Zigarette. »Rauchst du auch?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Na, und jetzt?« sondierte er vorsichtig. »Wo sie hier in der Klinik ist, was machen wir? Jetzt fliegst du also allein?«

»Ich? Wie kommen Sie bloß dadrauf, Doktor? Ich denk nicht dran. Ich bleib bei ihr. Ich bin doch kein Schwein und laß meine Karin im Stich.«

»Ja, wenn das so ist, wüßte ich vielleicht einen Rat.«

»Wirklich?«

»Ja. Und ich versprech mir viel davon«, begann er. »Ich hab da nämlich einen Bekannten an der Odenwald-Schule …«

Hansen erklärte die Einzelheiten und bat Thomas, ihn am Abend zu besuchen, damit man alles durchsprechen könne. Er kritzelte seine Adresse auf einen Notizblock. »Und wenn du hier kein Hotel findest, kannst du heute nacht auch bei mir schlafen.«

»Ich habe eine Tante in Frankfurt. Bei der kann ich wohnen.«

»Na dann, um so besser …«

Hansen brachte ihn zur Tür, und als er ihn gehen sah, zögernd und bedrückt, dachte er: Ein Sohn, einen Jungen wie Thomas – vielleicht wäre es gar keine so üble Idee …

Als er später den Flur entlang ging, um in Zimmer 12 nach der Patientin zu schauen, rief eine Stimme: »Herr Doktor!«

Er drehte sich um. Da kam wieder dieser Mann vom Schutzdienst. Der Bereichsleiter – oder wie das bei denen hieß.

Der Name? – Ach ja, Brunner hieß er.

»Sie auch noch?« seufzte Hansen.

Der große Mann lächelte. »Ich weiß nicht, Herr Doktor, aber irgendwie habe ich langsam den Eindruck, Sie mögen uns nicht so recht.«

»Ein Eindruck, Herr Brunner«, grinste Hansen zurück, »nichts weiter.«

»Na, um so besser. Aber trotzdem: Hätten Sie fünf Minuten Zeit für mich?«

»Hab ich. Fünf Minuten! Am besten, wir gehen rüber ins Schreibzimmer.«

Dort plazierte er Brunner in der Besucherecke. Dann ließ er sich selbst nieder, schlug die Beine übereinander und betrachtete die Wölbung an Brunners Lederjacke. Eine Kanone schleppt er also auch rum? Muß er wohl …

»Also? Nochmal dasselbe? Wie vor drei Wochen?«

»Richtig. Wir kriegen schon langsam Routine darin. Der zweite Suizid-Fall in einem Monat.«

»Hoffentlich bleibt's dabei für den Rest des Jahres … Selbstmorde sind nicht gerade so mein Geschmack. Und was die Routine angeht: Von mir bekommen Sie dazu die gleiche Antwort. Ich bin gegen eine Einweisung. Und in diesem Fall ganz besonders.«

»Ich wollte ja nur mit Ihnen darüber reden.« Die Stimme Brunners wirkte besänftigend. »Es gehört nun mal zu meinen Aufgaben.«

»Und zu meinen gehört es anscheinend, Ihnen die Gesetzeslage mal klar zu machen, Herr Brunner.«

»Oho?«

»Ja – oho! Grundsätzlich, so bestimmt es der Gesetzgeber, soll immer zunächst versucht werden, das Einverständnis des Kranken zu erhalten. Daß dies im Augenblick nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Der Zustand der Patientin läßt es noch nicht zu. Übrigens: Ob man das Mädchen überhaupt als ›krank‹ bezeichnen kann, weil es sich unter einen Zug schmeißen wollte, ist äußerst fraglich.«

Ein harter Brocken, dieser Doktor, dachte Brunner. »Ja nun – jetzt kann ich Ihnen auch mit dem Gesetz kommen: Die Unterbringung ist dann zulässig, wenn die Anzeichen eines seelischen Ausnahmezustandes gegeben sind und infolgedessen eine Selbstgefährdung naheliegt. Die Selbstgefährdung durch Suizid ist bei uns in Hessen nun mal als Einweisungsgrund anerkannt.«

»Ihr mit eurer Einweiserei! Aber gut, dann steht's halt eins zu eins, und wir sind pari.«

»Ich bin ja durchaus bereit, Ihren Argumenten zu folgen, Herr Doktor, wenn ich endlich klar wüßte, was los ist. Mein ganzer Kenntnisstand stammt von ›Skipper‹, einem Stadtstreicher.«

»Der Mann, der bei der Aufnahme dabei war?«

»Richtig. Der Mann, der das Mädchen gerettet hat. Das ist natürlich eine großartige Idee, nichts dagegen. Aber jetzt werde ich noch größere Schwierigkeiten haben, den ›Skipper‹ vom Airport runterzukriegen. Der will seinen Orden. Oder zumindest, daß ich ihn in Frieden lasse. Das sind so die Probleme, mit denen ich mich herumschlagen muß.«

»Na, wenn's keine schlimmeren sind«, grinste Hansen, »und dieser Kerl, Ihr ›Skipper‹, der machte außerdem noch einen ganz netten Eindruck auf mich.«

»Nett? Na ja, ist er eigentlich auch …«

»Aber zurück zu unserem Fall!« Hansen berichtete und schloß: »Was den seelischen Ausnahmezustand angeht, so haben Sie die Anwendungsbedingung vergessen, Herr Brunner; sie lautet: ›Die Unterbringung eines psychisch Kranken ist dann zulässig, wenn die Gefahr auf andere Weise nicht abgewendet werden kann … ‹«

Brunners Augen waren ganz schmal geworden. Im Grunde ist es wie bei einem Match, dachte Hansen. Gleich schlägt er den Ball zurück. Und da kam er auch schon: »In allen Unterbringungs-Gesetzen sind die Bestimmungen über eilige Notfälle die gleichen. Und die lauten: Einweisen.«

»Ach, Herr Brunner!« Hansen sah auf die Uhr und stand auf. »Streiten wir uns nicht. Seien Sie doch vernünftig. Ich habe Ihnen die ganze Geschichte geschildert. Können Sie sich nicht vorstellen, was in diesem Mädchen vorgeht?« Er wartete keine Antwort ab. »Natürlich können Sie das. Warum zerren wir dann hier an Gummi-Paragraphen herum? Halten wir uns doch an die Bestimmung: ›Wenn die Gefahr auf andere Weise nicht abgewendet werden kann … ‹«

Auch Brunner hatte sich erhoben. »Und Sie könnten dafür einstehen, daß die Gefahr abgewendet wird?«

»Ja«, sagte Hansen. »Ich hab da schon mein kleines Konzept entwickelt. Und das werde ich durchführen … Karin, so heißt die Kleine, hat wirklich genug hinter sich. Wir wollen sie doch nicht noch anderen unnötigen Belastungen aussetzen, nicht wahr? Ich werde dafür sorgen, daß sie hier in der Nähe von Frankfurt in ein Internat aufgenommen und dort von einem guten Freund betreut wird. Heute noch kümmere ich mich darum. Verlassen Sie sich darauf, Herr Brunner. Und nun entschuldigen Sie mich bitte …«

Sie gaben sich die Hand, und für eine, zwei Sekunden behielt Hansen Brunners große, kräftige Hand in der seinen: »Herr Brunner, ich sagte Ihnen ja vorhin schon – ein Eindruck kann trügen. Ich mag Sie. Und Sie können sich darauf verlassen: Wenn es hier mal ein Problem gibt, ein wirkliches Problem oder auch nur ein wirkliches Problemchen, dann gebe ich Ihnen sofort Bescheid.«

»Das ist ein Angebot.« Brunner lächelte.

»Dabei soll's auch bleiben, Herr Brunner …«

»Pollack!« sagte Pollack. »Mit ce-ka und zwei ›l‹.« Er pflanzte sich vor dem Schalter der Fluggesellschaft auf.

Ja, was war denn jetzt? Dieses junge Mädchen in ihrer Uniform sah ihn so komisch an – nein, richtig mißbilligend. Was hat die denn?

»Hier, die Tickets.« Paul Pollack schob rasch die Flugscheine über das Pult.

»Sie sind zu früh dran, Herr Pollack.«

»Was bin ich?« Langsam wurde Pollack sauer. »Zu früh kann man nie sein.«

»Aber das ist nicht der Djerba-Flug. Die Maschine hier geht nach Athen.«

»Was? Da steh ich hier stundenlang in der Reihe und Sie kommen mir mit sowas?!«

»Ich komme Ihnen mit gar nichts. Ich sage nur, dies ist der Flug nach Athen und nicht nach Djerba.«

Nun verdrehte sie auch noch die Augen und diese Idioten daneben fingen an zu grinsen. Unglaublich …

»Unglaublich!« sagte Pollack.

»Der Check-in für Djerba«, erklärte das Mädchen, »beginnt in eineinhalb Stunden. Kommen Sie dazu wieder.«

Kommen Sie dazu wieder … ganz heiß wurde es Paul Pollack im Kopf. Auch an den Ohren und am Hals … Kein Wunder, wenn man da keine Luft kriegt, bei so einer Organisation!

»Komm, Lieschen, nimm die Kinder. Und das Gepäck. Na, was sagst du zu diesem Chaos?«

Lieschen sagte natürlich nichts. Das tat sie nie. Und wenn sie es täte, was würde es schon nützen? Schließlich war es Paul, der plante. Alles, das ganze Leben. Und erst recht so einen Flug ins Ausland. Der erste Flug war's auch noch. Na ja, sonst war Paul ja perfekt auf allen Gebieten – aber das hier …

»Was ist denn, Paul?«

»Nichts.« Er schnappte regelrecht nach Luft.

»Komm, Paul, da drüben gibt's Sitze.«

»Was heißt denn hier Sitze? Und wo stellen wir das ganze Gepäck hin?«

»Daneben«, sagte Lieschen.

Nun gut, das mochte ja angehen …

»Aber stell den Koffer gerade, Bert!« brüllte Paul Pollack seinen zehnjährigen Sohn an. »Wie ich dir's gesagt habe. Sonst rutscht der ja noch runter.«

Schließlich saß er auf einem Stuhl. Sicher, bequem war der schon – aber der ganze Betrieb hier? Schlimmer als auf der Kirchweih in Rotstetten. Schlimmer als auf dem Oktober-Fest. Nur, daß hier nicht gesoffen wurde. Das hätte noch gefehlt.

»Papa?« meldete sich seine Tochter, die siebenjährige Greti, verschüchtert: »Papi, ich hab so Durst. Könnt ich nicht 'ne Cola haben? Da drüben, in dem Restaurant …«

»Das ist kein Restaurant, Greti, das ist eine Bar. Und eine Cola gibt's nicht. Was glaubst du, was die hier für Preise haben. Wir müssen schließlich unser Urlaubsgeld zusammenhalten.«

Das war der Punkt: Wenn er nicht von vornherein jeden Pfennig einteilte, dann wurde dieser Urlaub sowieso zur Katastrophe.

»Lieschen, hast du ein Taschentuch.«

»Hier, Paul.«

Paul Pollack tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Und es war ziemlich viel Schweiß, fand er. Und sein Hemd war auch schon ganz naß. Wie würde das erst in Tunesien werden, verdammt nochmal? Und überhaupt, persönlich zu den Kanaken, und das zudem im Flugzeug? Er würde ja nie geplant haben, irgendwohin zu irgendwelchen Eingeborenen zu fahren, wäre das Angebot nicht so extrem günstig gewesen. Für dieses Geld in ein Luxus-Hotel mit Swimming-pool – das war ja nun doch ein wahres Schnäppchen. Soviel brauchten sie ja beinahe zu Hause.

Paul Pollack öffnete den Kragenknopf. Er beugte den Kopf zurück, schloß die Augen: Also im Flugzeug … zu den Kanaken … und Palmen gibt's … und Kamele … was interessierten ihn die Kamele? Hoffentlich haben sie ein gutes Bier … eine Insel ist dieses Djerba? Somit gibt's auch jede Menge Meer. Und sicher viel Sonne? Die kann er sowieso nicht ab … Langsamer wurden seine Gedanken, mühsam. Ein Flugzeug? … Wie wird denn das sein? Die sperren dich in eine Blechkiste, und dann schießen sie dich hoch. Über zehntausend Meter, hatte er gelesen, halb zum Mond ist das doch … Oh, meine Brust! Was ist denn das? Es kribbelt …

»Lieschen?« flüsterte er. »Sag mal, wollen wir denn wirklich fliegen?«

»Aber wir haben doch das Ticket? Ist doch schon alles bezahlt.«

Das war es ja: Alles bezahlt … Dann haben sie in so 'nem Flugzeug noch nicht mal 'nen Fallschirm, wenn was passierte. Ja, es wird was passieren. Paul Pollack hatte jäh das Gefühl, als presse eine eiserne Faust gegen seinen Brustkorb, unerbittlich, gnadenlos, härter und härter, dann schwerer und schwerer und schließlich, als er aufstehen wollte, um sich gegen die Faust zu wehren, als er stammelnd »Lieschen!« rief und die Kinder herbeirannten, explodierte in ihm ein schrecklicher Schmerz, und er verlor das Bewußtsein …

Die Schwester Lukrezia Bonelli bekam winzige kleine Fältchen an ihrer hübschen Nasenwurzel. Sie entstanden immer dann, wenn etwas sie ärgerte. Wie kam denn die Frau hier rein, um Himmelswillen? Und was sollten die Kinder?

»Mach du das mal fertig, Agnes! Ich kümmere mich um diese Leute!«

Bisher hatte sich Lukrezia gemeinsam mit Agnes eines alten, lederhäutigen Süd-Amerikaners angenommen, der sich im Passagier-Bus eine stark blutende Kopfplatzwunde geholt hatte. Aus Dankbarkeit oder weiß der Teufel, aus welchen Gründen, wollte er sie nun beide einladen. Nach Frankfurt, in sein Hotel. Und nicht nur das, sondern sogar auch auf seine Ranch in Argentinien – in Südamerika hieß das ja Hazienda.

Lukrezia war froh, ihn endlich loszuwerden.

»Hören Sie! Hier können Sie nicht bleiben«, sagte sie zu der Frau und lächelte die Kinder an, die wirklich hübsch waren und völlig entgeistert auf die blutigen Verbände des Patienten und auf die weißen Instrumenten-Schränke blickten. »Was wollen Sie denn? Kommen Sie raus auf den Flur.«

»Mein Mann …«, flüsterte die Frau. Sie war rund, pummelig und stammte wohl vom Lande; zumindest, wenn man sie nach ihrer Kleidung beurteilen wollte. »Mein Mann ist hier. Er ist … ja, wir wollten unser Gepäck aufgeben. Wir müssen doch nach Djerba. Unser Flieger geht doch schon in einer Stunde. Und jetzt diese Verspätung. Er hat sich so aufgeregt, und dann … dann …«

»Wie ist denn der Name?«

»Pollack.« Sie sprach es so leise, daß Lukrezia zweimal fragen mußte, bis sie begriff.

»Moment …« Sie ging zur Aufnahme und kam sofort wieder zurück. »Ja, Ihr Mann ist hier auf der Station.«

»Aber was hat er denn?«

»Er hat einen Infarkt erlitten, Frau Pollack.« Lukrezia streichelte die Haare des kleinen Mädchens. Blaß und wie versteinert blickte es hoch, und nun faßte es ganz plötzlich nach ihrer Hand.

»Komm, wie heißt du denn?«

»Greti.«

»Komm, Greti, wir gehen ins Wartezimmer. Da bekommst du ein paar schöne Bücher und Zeitungen, ja?«

Die Frau zitterte jetzt; sie war so blaß, daß Lukrezia überlegte, ob sie nicht auch ein Kreislaufmittel benötigte. Aber dann ließ sie sich doch ins Wartezimmer führen.

»Er muß sterben, nicht wahr? Mein Vater ist auch an einem Infarkt gestorben. Oh Gott … Warum haben wir das nur gemacht? Er hatte Angst vor dem Flugzeug. Das war es wahrscheinlich. Er gibt ja nie was zu, aber ich spür sowas, Schwester, ich spür das genau. Und jetzt wird er sterben.«

»Nun hören Sie mal mit dem ewigen Sterben auf.« Lukrezia Bonelli wurde resolut. »Was glauben Sie, wieviel Infarkte wir hier reinkriegen? Jede Woche ein paar. Das war sicher ein ganz leichter. Er kann bereits wieder sprechen, hat man mir drüben gesagt.«

Nicht nur sprechen konnte Paul Pollack, er versuchte sogar zu brüllen. Aber das ging nun mal schlecht. Sobald er seine Stimme zu heben versuchte, kam der Schmerz zurück. Und mit dem Schmerz diese verdammte, elende Angst. Und dann bekam er auch keine Luft mehr.

»Ich habe Ihnen das nun schon zum fünften Mal gesagt«, keuchte er, »und jetzt tun Sie endlich was ich verlange. Holen Sie sofort meine Frau hierher!«

»Hören Sie mal, Sie sollen ruhen – ruhen mit langem U! Und vor allem sollen Sie endlich den Mund halten. Sie müssen sich entspannen. Det iss nu mal das erste Jesetz von dem Tanzen.«

»Von Ihnen nehm ich keine Gesetze an!«

Fritz Wullemann nickte in tiefem Staunen. Er kannte schließlich seine Kunden. Er war an Kranke, Leidende und Aufgeregte aller Art und aller Schattierungen gewöhnt. Getreu seiner Devise: ›So ist nun mal der Mensch‹ nahm er die Dinge gelassen. Dieser Typ aber, dieser Pollack? Versorgt war er, eine Infusion war gemacht, jede Menge Spritzen hatte er bekommen, doch nicht einmal die Sedativa griffen. Der Mann wollte sich immer weiter aufregen, versuchte noch immer herumzukommandieren.

»Mann, jetzt schlafen Sie endlich. Dann wird det schon wieder.«

»Schlafen?« schnaufte Pollack. »Sie gefallen mir. Meine Frau will ich!«

»Sie brauchen ja keen Testament zu machen, Herr Pollack. Für letzte Worte iss es bei Ihnen wirklich zu früh … War nur 'n janz leichter Myocard-Schaden. Wahrscheinlich ham Sie sich zuvor auch so aufjeregt wie jetzt – aber da hatten Sie kein Nitroglyzerin dabei. Wollen Sie's denn wieder haben?«

»Ja, verstehen Sie's denn noch immer nicht? Ich will … will kein Testament … ich will … daß sie abfliegt … Und in vierzig Minuten geht die Maschine nach Djerba.«

»Abfliegt?« Wullemann vermochte nur noch benommen zu flüstern. »Sie wollen, daß Ihre Familie wegfliegt, jetzt, da Sie 'nen Infarkt erlitten haben?«

»Der heilt ja wieder aus. Aber das Geld? Dreitausendzweihundert Mark sind das! Ich kann ja nicht mit. Also sind meine siebenhundert schon mal weg, einfach so. Runter den Bach …«

»Jetzt reden Sie nich so viel, Mann!«

»Runter den Bach«, keuchte Paul Pollack und griff sich wieder an die Brust. »Dann sollen … sollen doch wenigstens … die was davon haben … Ich seh doch nicht zu, wie dieser Kanaken-Hotelier sich die Hände reibt, ich verschenk doch mein Geld nicht diesen Gangstern von Reisegesellschaften … Verstehen Sie jetzt? … Also bitte, gehen Sie und sagen Sie meiner Frau, sie soll bloß fliegen … Sagen Sie … sagen Sie ihr einen Gruß und ein Küßchen von Paul … Aber sie soll sich mal amüsieren.«

Amüsieren? Fritz Wullemann schüttelte halb ungläubig, halb beeindruckt den Kopf und wandte sich an die Schwester, die noch im Raum war: »Paß auf, Agnes! Ich bin gleich zurück.«

Und das war Fritz Wullemann auch. Und etwas zögernd trat er ans Bett, aus dem ihm Paul Pollack erwartungsvoll entgegen starrte.

»Sie bleibt hier, soll ick Ihnen sajen. Und die Kinder ooch. Schließlich seien sie 'ne Familie, da könnte man doch den Papa nich alleene lassen. – Sie ham 'ne gute Frau, Herr Pollack. Aber det kann ich Ihnen sajen: Wenn ick mir Sie so ansehe – ick wäre jeflogen. Und schon lange …«

Paul Pollack hörte das gar nicht. Die Nase war nun noch spitzer geworden, die Augen sanken noch tiefer ein.

»Geht's? – Oder Schmerzen?«

Er nickte. Und dann plötzlich lächelte er doch: »Sie haben recht. Ich hab 'ne gute Frau. Und wenn ich's mir so überlege: Ich bin doch ein Riesen-Idiot.«

»Da ham Sie ein jutes Wort jesprochen.« Wullemann sagte es fast feierlich und setzte hinzu: »Einsicht kommt ja bekanntlich nie zu spät …«

Evi Bordes und Dr. Fritz Hansen lagen auf dem Balkon in der Sonne. Evi unter dem Schirm, ein Buch in der Hand. Hansen froh lächelnd und entspannt.

Das Frühstück hatten sie hinter sich. Und was für ein Frühstück Evi aufgebaut hatte! Darin war sie ja Expertin. Das Leben mit einer Stewardeß mochte manchmal etwas anstrengend und immer aufregend sein, aber es hatte bei Gott, auch seine positiven Seiten.

Hansen riskierte einen Blick zum Schirm.

Da lag sie nun, göttergleich und schön und dazu noch tiefbraun gebrannt von der Sonne irgendwelcher exotischer Länder. Er aber? Melancholisch betrachtete Hansen seine weißen Beine.

Vögel zwitscherten. Um sie herum war, was man in Frankfurt-Niederrad so Stille nennt: Vom fernen Flughafen das Fauchen der Düsen und das Dröhnen, wenn eine Maschine startete – und von der Autobahn das Rauschen des Verkehrs, gleichmäßig auf- und abebbend wie der Wellenschlag des Meeres.

Korfu – dachte Hansen wieder einmal. Verflixt, warum wird das nur nichts? Weil du es, nachdem Gräfe ausfiel, noch immer nicht geschafft hast, eine Urlaubsvertretung zu finden.

»Ich flieg mit dir nach Korfu«, hörte er sich sagen. »Und ganz, ganz bald. Soll doch der Laden zusammenkrachen. Und dann …«

»Fliegen?« stöhnte sie.

»Wie bitte?«

Sie drehte ihm den Kopf zu und schob die Brille auf die Nasenspitze. »Korfu oder sonst irgendwas – wenn du mich fragst: Ich bin schon froh, daß ich in Niederrad bin. Hier ist's auch schön.«

»Ein großes Wort für eine so weitgereiste Dame«, erklärte Fritz Hansen andächtig. »Wo findet Evi Borges das Wunder aller Wunder, die Erfüllung ihrer Wünsche, ihr großes persönliches Märchen? Auf einem beschissenen Balkon in Frankfurt. Bei mir.«

»Angeber!« Sie ließ ihr Buch sinken und sah ihn strafend aus grünen Augen an: »Hoffnungsloser Aufschneider …«

»Aufschneider? Das ist doch so ein armer, mißbrauchter Begriff.« Er stieß mit dem Zehen nach ihrem Fuß. »Es gibt diese Aufschneider und jene Aufschneider. Hast du das noch nicht bemerkt bei all deiner Erfahrung mit fliegenden Männern? Nein? – Gut, dann höre: Es gibt solche, die mit Grund aufschneiden, weil nämlich ihre Angabe die Wirklichkeit nie erreichen wird – und es gibt die anderen Aufschneider, die nichts als warme Luft produzieren.«

»Und du bist einer der guten ersten Sorte?«

»Und ob!« Er richtete sich auf. »Was glaubst du, wenn ich jetzt loslege und dir erzähle …«

Er erzählte nichts. Es war ihm etwas eingefallen – und zum Teufel: Seine Armbanduhr zeigte bereits elf Uhr dreißig. Der Besuch bei Römer in der Odenwald-Schule! Hätte er doch glatt verschwitzt. Dabei hatte er jetzt richtig Lust, den Balkon zu verlassen und mit Evi über Land zu fahren.

»Schluß! Klapp das Buch zu.«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Eine Landpartie! – Waldesrauschen. Rucksack. Erdbeer-Eis.«

»Mag ich nicht.«

»Dann Limonade mit Bockwurst«, entschied er. »Hauptsache, du nimmst deinen hübschen Hintern hoch und ziehst dir irgendwas an, womit du unter die Leute gehen kannst.«

»Und zu was und wohin und warum?«

Er erzählte es ihr mit drei Sätzen. Sie nickte verständnisinnig, schüttelte aber gleich darauf bedauernd den Kopf.

»Ich würde ja gern. Geht leider nicht. Da mußt du schon allein …«

»Und wieso das?«

»Stand by«, sagte sie. »Den ganzen Tag.«

Auch das noch! ›Stand by‹ war eine dieser Stewardessen-Foltern: Galt für eines der Mädchen ›stand by‹, hatte sie unablässig und rund um die Uhr an ihrem Telefon herumzulungern, bis es irgendeiner Instanz im Lufthansa-Olymp, die auch noch ›Plan-Verwaltung‹ hieß, gefiel, die Wartende in irgendeine Crew einzuordnen, weil dort das oder jenes geschehen und Not an der Frau war. Kam so ein Anruf, hatte sie gerade noch eine Stunde Zeit, um sich am Airport zu melden.

»Verdammt nochmal«, knurrte Hansen. »Was nützt es mir, daß du so hübsch bist, wenn ich dich nirgends vorzeigen kann? Und was sollen all diese blöden Zehn-Prozent-Flüge, wenn ich nie zu einem komme? Was ist das überhaupt für ein Leben mit uns beiden?«

»Armer Fritz!« Sie war nun doch aufgestanden und nahm die Sonnenbrille sogar endgültig ab, um ihn zu küssen.

Aber danach war ihm nicht zumute.

»Jetzt kann ich den Römer in der Odenwaldschule anrufen, Himmelarsch! An sich geht die Sache mit Karin ja in Ordnung. Hat er wenigstens gesagt. Er wollte nur nochmal mit mir sprechen …«

»Dort ist das Telefon!«

Aber das Telefon meldete sich auf eigene Faust.

Beide saßen sie kerzengerade da und sahen sich an.

»Für dich …«

»Oder für dich?«

Am Apparat war die Airport-Klinik. Und ausgerechnet auch noch Lukrezia Bonelli …

»Herr Doktor«, kam es spitz, »es ist sehr dringend.«

»Ja, was denn? Wer will mich denn jetzt schon wieder?!«

»Ich nicht, Herr Doktor. Ich spreche im Auftrag von Dr. Honolka. Wir haben da eine heftige Ulkus-Blutung, und Olaf Honolka sagt, sie sei lebensbedrohend und er komme damit nicht zurecht und deshalb …«

»Okay, okay.« Hansen atmete tief. »Lukrezia! Tut mir leid, wenn ich gerade ein bißchen harsch gewesen bin. Aber du weißt doch wie das ist, wenn man mal frei …«

»Es interessiert mich nicht«, kam es aus der Leitung, »wie das ist.«

Hansen legte auf.

»Wer war denn das?« wollte Evi wissen.

»Na, wer schon!« stöhnte Hansen und ging seine Hose suchen …

Eva Maria Kanitz erschauerte, als sie im Spiegel die beiden tiefbraunen, mit dunklen Härchen bewachsenen Männerhände auf ihrem nackten Busen ruhen sah. Und als die Finger auch noch mit ihren Brustwarzen spielten, erschauerte sie erneut. Welch aufregender Anblick! Aufregender eigentlich als alles, was sie heute nacht erlebt hatte. Aufregend schon deshalb, weil seine Hände und ihr Busen so gut zueinander paßten. Vielleicht war ihr Busen nicht mehr der allerjüngste, doch perfekt war er. »Wie aus Stein gehauen«, hatte der Schönheits-Chirurg gesagt, nachdem die Korrektur vorüber war.

Ja: Wie aus Stein gehauen. Und er, Peter Straub, streichelte ihn, spielte mit ihren Knospen. »Oh Himmel …«, stöhnte sie. »Peter … ich halt das doch nicht länger aus …«

Es stimmte: Der sehnsüchtige Mund dort im Spiegel, das war ihr Mund. Die verwirrten Augen waren ihre Augen. Und auf ihrer Schulter lag sein Gesicht! – Das ganze Bild war dazu noch zart und raffiniert in das rosafarbene Licht gebettet, mit dem die Innenarchitekten des Sheraton-Konzerns die Badezimmer der Luxus-Appartements ausstatteten.

»Nimm deine elenden Hände weg … Hör endlich auf, an mir herumzuspielen, sonst …«

»Sonst was?«

Strahlend weiße Zähne hatte er, und eindrucksvolle schwarze Augen. Und sein Blick war so berühmt wie das Grübchen an seinem Kinn, wenn er lächelte. Jawohl! Berühmt und beliebt beim Millionenheer der Fernsehzuschauer.

Vielleicht war es das, was für Eva Maria alles so verrückt, so aufregend machte: daß Millionen von Frauen sich genau nach dieser Situation sehnten. Daß sie davon träumten, so – ganz genau so! – von Peter Straub gestreichelt zu werden.

»Die Finger weg, du Bestie«, keuchte sie. »Sonst bist du nochmals dran! Jetzt …«

Seine Lippen strichen über ihre Halsmuskeln. Dabei sah er unverwandt in den Spiegel.

»Komm«, flüsterte sie, »komm, bitte … Tun wir's nochmal.«

Er lächelte, mit seinen weißen Zähnen. »Wir müssen jetzt vernünftig sein, mein Schätzchen.«

»Vernünftig? – Ja, wie denn? Und warum?«

»Vernünftig bleibt vernünftig, da gibt's kein ›warum‹«, lächelte er, ließ los und trat einen Schritt zurück. »In zwei Stunden geht mein Flieger nach Salzburg. Und da bin ich an Bord. So ist's nun mal im Leben.«

Er trat an das andere Becken und massierte sein Gesicht. Zuerst die Augen, dann die Schläfen. »Vernünftig heißt zum Beispiel, daß man sich vor der Premieren-Probe von einer Frau nicht total demontieren läßt.«

Er warf sich Wasser ins Gesicht und prustete. Das Handtuch. Und wieder eine Massage. Dann irgendein After-Shave-Lotion – und sie, sie stand da, stumm und enttäuscht.

»Nun komm schon, Eva Maria! Die Götter neidisch machen, welch menschlich Herz …«

»Hör auf mit deinen Klassiker-Sprüchen.«

»Das ist Schiller.«

»Für mich ist das Quatsch.«

Sie sah an sich herab: Die langen Beine, die lackierten Zehen, der Tanga-Slip. Sie hatte doch so gehofft … Nun ja, ein schönes zweites Frühstück zumindest, vielleicht noch einen Spaziergang unternehmen, alles abklingen lassen – und nun?

»Scheiß-Premiere!« sagte sie erbittert.

Er nickte. »Da hast du bei Gott recht.« Und dann ließ er sie einfach stehen, ging hinüber, öffnete die Schranktür im Ankleidezimmer, holte den Anzug heraus, zögerte bei seinen Hemden herum – genau wie Heinz, wenn er zu einer seiner Vorstandssitzungen oder einer wichtigen Geschäftsreise aufbrach. Und sie, sie stand da, nackt, und konnte zusehen …

»Weißt du, Eva Maria, ich finde, du bleibst nachher besser im Hotel.«

»Ich bring dich zum Flugsteig, Peter.«

»Aber hör mal! Eine Frau wie du; eine … wie sagt man so schön … eine ›Frau in deiner Position‹ sollte sich nicht unnötig Risiken aussetzen. Ich kann's ja auch nicht ändern, aber ich bin nun mal bekannt wie ein bunter Hund. Und sowas ist in den Klatsch-Zeitungen rum, ehe du nur Pieps sagen kannst.«

»Heinz liest keine Klatsch-Zeitungen. Den Wirtschaftsteil und den Börsenteil liest er. Damit hat's sich.«

»Deshalb?« Er lachte und berührte mit dem Zeigefinger ihr Kinn: »Deshalb, nicht wahr? Zuviel Börsenteil.«

In diesem Augenblick haßte sie ihn. Liz hatte also doch recht gehabt: »Es ist nicht alles Gold, was glänzt, mein armer Liebling«, hatte Liz gesagt. »Schauspieler und vor allem Stars wie Peter Straub sind nun mal Darsteller. Und das heißt, daß man sich von ihnen mehr verspricht, als sie halten können.«

In jeder Beziehung hatte Liz recht. Sie mußte es ja schließlich auch wissen. In ihrer Glitzer- und Klunkerbude auf der Düsseldorfer Kö verkehrte die Prominenz. Sie war's ja auch gewesen, die ihr Peter vorgestellt hatte. »Ein Ehebruch pro Quartal« – auch so ein Spruch von Liz – »erhält das Selbstgefühl und beugt den Falten vor!« Richtig. Und sie wußte ja, was Heinz so auf seinen Geschäftsreisen trieb …

»Na, wenn du auf deiner Schau bestehst«, lächelte Peter Straub und band sich die Krawatte, »dann auf dein Risiko.«

Es war ausgestanden …

All das »Herzlichen Dank, Herr Straub!« und das »Beehren Sie uns wieder!« und die verstohlenen, neugierigen Blicke – sie brauchten nur die Straße zu überqueren, und das Stimmengewirr und die tosende Anonymität des Airports hatte sie wieder.

Auch hier drehten sich Köpfe, blieben irgendwelche Leute stehen, um ihnen nachzusehen. Auch hier wurde der große Mann mit dem braunen Gesicht und dem Römer-Profil erkannt: »Ist das denn nicht der Straub? Klar, das ist er!« Aber man hatte dann doch wieder mit sich selbst zu tun, hatte es eilig oder hing genauso wie vorher apathisch hinter irgendeiner Zeitung in den Sesseln und wartete auf den Aufruf.

Eva Maria Kanitz und Peter Straub passierten den Meeting-Point. Einen kurzen, quälenden Herzschlag lang stoppte plötzlich Eva Marias Schritt, dann begann ihr Puls umso heftiger zu hämmern.

Hinter der Säule dort drüben stand ein Mann im schwarzen Nadelstreifenanzug. Und die breiten Schultern, der runde Kopf – war das nicht Heinz …?!

»Was ist denn?« lächelte Straub auf sie herab.

»Nichts. Aber vielleicht bin ich doch ein wenig überanstrengt. Ich seh schon Gespenster.«

»Wieso denn?«

»Ach, nichts. Komm, nehmen wir dort drüben noch einen Kaffee. Jetzt haben wir doch noch ein paar Minuten Zeit …«

»Aber sicher.«

Es muß ein Irrtum gewesen sein, dachte Eva Maria, was denn sonst? Heinz ist doch in New York. Am Donnerstag wird er mit der ›Concorde‹ nach Paris fliegen und von Paris dann mit dem Lufthansa-Anschluß nach Düsseldorf. In Düsseldorf hole ich ihn am Flughafen ab. So ist es geplant, so geschieht es.

Er konnte also nicht in Frankfurt sein. Was sollte er auch hier, vier Tage vor seiner geplanten Ankunft?

Außerdem: Männer in schwarzen, grauen und blauen Nadelstreifenanzügen rannten zu Hunderten im Airport rum, Frankfurt, das war die Stadt der Banker, und genau wie ein Banker sah Heinz auch aus. Hatte er im übrigen nicht sogar irgendwo eine eigene Bank …?

»Komm, Schätzchen, setz dich!« Straub hatte den Stuhl für sie herangezogen und drückte Eva Maria sanft auf das Polster.

»Also? Einen Kaffee?« Er winkte dem Kellner. Sie schüttelte den Kopf.

»Mineralwasser?«

»Mineralwasser? Ja, spinnst du? Wenn schon Abschied, dann mit Stil. – Kellner, zwei Piccolo!«

Die Ohrringe für Eva Maria hatte Dr. Heinz Kanitz im Gepäck.

Der Eigentümer der ›Kanitz-AG – Industrieeinrichtungen‹ ließ Leben wie Beruf nach genau festgelegten Regeln ablaufen. Wo käme man sonst hin? Woher nähme er die Zeit?

Diesmal hatte er sogar Zeit gewonnen: Die Verhandlungen in New York mit der Chase-Manhattan-Bank hatten bereits am Nachmittag nach seiner Ankunft zu einem vollen Erfolg geführt. Der Vertrag war unterschrieben, und so blieben nur noch die Gespräche mit den Leitern seiner Niederlassung.

Sonst? Nun, es war in New York eigentlich immer dasselbe: Die Geschäftsbesprechungen, die Golfrunde mit seinem alten Freund Bobby Heller in New Jersey, am Schluß noch die Besorgung eines Geschenks für Eva Maria – ein kleiner Schmuck-Einkauf, den Kanitz besonders genoß: Liebstock, Park Avenue 22.

Er kaufte weder bei Tiffany noch in der Van Cleef-Niederlassung. Individuell wollte er beraten werden, und keiner machte das besser als der alte Liebstock. Diesmal wurden es ein paar Ohrringe, wirklich wunderhübsch, Smaragd mit einer Rosette von Brillanten … Und falls sie Eva Maria nicht gefielen, war's ihr Problem. Er jedenfalls hatte sich amüsiert. Die kleine Rothaarige, die ihm Heller in die Hotel-Suite geschickt hatte, war einsame Spitzenklasse gewesen.

Das Kinn hoch, mit kurzen, harten Schritten wie immer, folgte Heinz Kanitz dem Chauffeur, den ihm die Deutsche Bank in den Airport geschickt hatte: Jetzt noch das Gespräch mit Wilms über das Bilbao-Projekt, dann reichte es vielleicht noch für den Sechzehn Uhr fünfzig-Flieger. Er würde um halb sechs in Düsseldorf und, wenn er Glück hatte, sogar schon um sechs zu Hause sein.

Eva Maria würde staunen …

Doch nun blieb Heinz Kanitz wie vom Blitz getroffen stehen.

Und staunte selbst.

Gleich am ersten Tisch des Cafés dort, es waren nicht mehr als zwanzig Meter: Eine rosenholzfarbene, weitgeschnittene Seidenjacke. Ein Arm, der sich hob, gleichfalls rosenholzfarben umweht. Eine Hand, die das Gesicht eines Mannes streichelte …

Eva Maria …?!

Ja, das ist sie doch! Die Jacke haben wir gemeinsam gekauft … Auch wenn du nur den Hinterkopf erkennen kannst, den schmalen Nacken mit dem hochgetürmten dunkelbraunen Haar – sie ist es! Und flirtet, was heißt flirtet, fummelt an diesem Kerl dort rum.

»Verzeihung, Herr Doktor …« Der Fahrer der Deutschen Bank sah Kanitz verwundert an: »Ist etwas?«

Ist etwas, sagt der? – Oh ja, da ist etwas: Meine Frau!

Sie war es tatsächlich, er hatte sie jetzt im Profil: Eva Maria in flagranti – und welches flagranti! Wie sie diesen Typ anhimmelt! Und dazu noch in aller Öffentlichkeit. Mitten im Airport, auf dieser gigantischen Schaubühne, auf der ständig Zehntausende von Menschen herumstanden: Banker, Journalisten, leitende Angestellte, Leute aus der Branche womöglich, dankbar für jeden Klatsch, geil auf jeden Skandal!

»Falls Sie es jetzt wünschen, Herr Doktor …«

»Moment, Moment … Bleiben Sie hier stehen und warten Sie auf mich. Ich habe etwas zu erledigen.«

Heinz Kanitz marschierte los. Im Gehen lockerte er die Schulter. Vor zwei Jahren noch hatte er Box-Training genommen, immer Dienstag früh, ehe er sich ins Büro fahren ließ – jetzt war er froh darum.

Sekt trinken sie, prosten sich zu! Der hält dabei auch noch ihre Hand. Vor aller Augen. Ihn zum Gespött machen? Rufschädigung ist das. – Ja nun, wenn sie den Skandal haben wollten, konnten sie ihn kriegen.

Kanitz ging jetzt etwas langsamer. Noch zehn, noch fünf Schritte … Das Gesicht des Liebhabers kannte er. Richtig, es war dieser aufgeblasene Schauspieler-Schnösel, der Hübschling, der in der Düsseldorfer Kunsthalle die Lesung gehalten hatte. Auch noch Schauspieler, so professionell wie eine Hure.

Derart jäh und unerwartet war Heinz Kanitz hinter Eva Marias Stuhl aufgetaucht, daß sie zu keiner Reaktion fähig war.

»Du?« flüsterte sie nur.

»Ja. – Ich …«

Der Kerl hielt noch immer ihre Hand, was heißt hielt – er umklammerte sie. Und jetzt stand er auf.

»Straub.« Ein arrogantes Grinsen. »Und wer sind Sie? Könnten Sie sich nicht eine angenehmere Art zulegen, einen anzugucken?«

»Könnte schon«, hörte Kanitz sich sagen. »Nur: Ich hab keinen Grund.«

»Ach wirklich? Versuchen Sie's doch mal.«

Was dann passierte, geschah ohne einen einzigen weiteren Gedanken. Kanitz hatte es sich vorgenommen, gut – aber daß es so einfach sein würde bei einem derartigen Scheißkerl, bei einer so langen Latte von Mann, hätte er nicht gedacht.

Es wurde ein Schwinger. Kanitz warf sein ganzes Körpergewicht hinein und traf auch tadellos. Höchst präzise, an die rechte Kinnseite … Der Mann wurde richtiggehend hochgehoben, segelte durch die Luft und krachte mit ausgebreiteten Armen auf den nächsten Tisch. An dem hatte Gott sei Dank niemand Platz genommen.

Eine Frau schrie. Es war nicht Eva Maria.

»Jetzt mal halblang!« kam der Kellner angerannt. Kanitz griff in seine Westentasche und zog eine Visitenkarte heraus: »Hier, meine Adresse. Wenden Sie sich an mein Büro wegen der Schadensregelung – falls es überhaupt einen Schaden gegeben hat.«

An der Bar, hinter der Bar, an den anderen Tischen, in der Halle: Überall waren die Menschen stehengeblieben. Irgendwie wirkte es komisch. Es sah aus wie bei einer Blitzlichtaufnahme: Alle standen und starrten. Und alle hatten sie denselben Gesichtsausdruck.

Außerdem kam auch noch Wilms' Fahrer angerannt.

Eva Maria aber? Sie saß noch immer. Geisterblaß. Nun, das war uninteressant. Die ganze Eva Maria war es bereits. Sie existierte nicht mehr. Sie wußte es nur noch nicht.

Kanitz drehte sich um und rieb die schmerzenden Knöchel.

»Sind Sie eigentlich verheiratet?« fragte er den Fahrer.

»Wie bitte?« stotterte der. »Ja, Herr Doktor … jawohl.«

»Nun, ich war es mal. Und Ihnen, mein Lieber, würde ich raten … Aber lassen wir's! Bringen Sie mich zu Herrn Dr. Wilms. Der hat es wirklich nicht verdient, daß ich ihn warten lasse.«

Das erste, was Peter Straub erkannte, als er einigermaßen wieder zu sich kam, waren Tischbeine. Dann Männerbeine, Hosen …

Benommen versuchte er sich klarzuwerden, was eigentlich geschehen war. Doch es gelang ihm nicht, der Schmerz drohte seinen Mund zu zerreißen. Und es war nicht der Schmerz allein, es war auch diese grauenhafte Übelkeit, das Würgen im Magen, in der Speiseröhre … Alles, was die rebellierenden Nerven verlangten, war: Luft, Luft! Ich muß atmen, Luft, Hilfe … ich ersticke!

Es wurde schwarz vor Peter Straubs Augen.

Seine Hand zuckte, riß ein Tischtuch herunter. Mit letzter Kraft versuchte er sich zu erheben, doch sein Körper schien schwer wie Blei, es ging nicht … Nichts ging mehr … alles schwarz! In einem letzten Aufflammen seines Bewußtseins sah er ein Mädchengesicht über sich. Fühlte eine Hand, die ihm den Kopf zurückriß; eine andere Hand, die seinen Mund öffnete, den Kiefer auseinander schob.

Er konnte jetzt atmen – ja!

Wie ein silberner Strom drang Sauerstoff in seine Lungen, machte ihn einige Herzschläge lang blind vor Glück. Doch dann kam die Übelkeit zurück, der Magen revoltierte, krampfte sich zusammen.

Bloß nicht! – Er dachte es und versuchte den Brechreiz niederzukämpfen: Der Straub – der große Straub … da liegt er im Dreck, hat einen k.o. verpaßt bekommen … da liegt er und kotzt Tischbeine an … Und warum, warum nur?

Es war ihm sowas von übel. Und mit einem Rest von Klarheit sah er sich wie immer: von anderen beobachtet und angestarrt. Und das Stück war so mies, die Inszenierung eine einzige Katastrophe …

Vorhang!

Doch es gab hier ja keinen Vorhang.

Peter Straub wußte nur noch einen einzigen Abgang: Eine gnädige, nein, eine gekonnte Ohnmacht …

»Was soll denn das mit deiner ›Sensation‹?« protestierte Britte Happel. »Du kannst mich doch nicht auf den Arm nehmen! Ich sitze da, trinke meinen Milk-Shake – und da kommt so 'ne aufgemotzte Schickimicki-Tante herein und ein Typ mit Locken …«

»Was heißt hier Typ mit Locken?« Lukrezia Bonellis Augen wurden rund wie nie: »Ja, Britte! Hast du ihn nicht sofort erkannt?« Sie starrte Britte Happel an, als hätte sie ein seltenes Tier im Zoo vor sich.

»Ja, wie denn? Erst mal hab ich gar nicht hingeguckt. Mein Milk-Shake war mir wichtiger. Und dann, als es rund ging …«

Oberpfleger Fritz Wullemann kam an den Tisch in der Kantine der Airport-Klinik, das Tablett mit Bier für sich und den jungen Arzt Fred Wicke und Kaffee für Lukrezia und Britte in den Händen. »Dein Kaffee, Brittchen. Jeht auf Kosten des Hauses. Oder vielmehr: Det iss 'ne Wullemann-Spende. Airport-Schwester rettet in Kaffee-Pause Welt-Star! Iss det nischt? Haste wenigstens 'n Autogramm?«

Britte schüttelte den Kopf.

»Icke schon!« Triumphierend griff Fritz Wullemann in die Tasche seines Pflegermantels und zog ein Foto hervor.

Auf dem Bild ein strahlendes Gesicht, und darunter stand schräg, bis zur Brusthöhe: PETER STRAUB.

»Wat sagste nun?« fragte er stolz.

Britte sagte gar nichts. Sie riß die Zuckertüte auf und schüttete den Inhalt in ihren Kaffee. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte den Kaffee gleich mitgenommen. Diese idiotischen Sprüche. Was ging sie ein Peter Straub an? Ihr wurde es einfach zuviel …

»Er wird dich einladen, hat er jesagt. Der war ja richtig besoffen vor Dankbarkeit. Und wo du steckst, wollte er wissen. Aber da warste ja im OP, nich?«

Britte nickte.

»Na schön. Morjen kriegste Karten. Für Salzburg. Da muß er nämlich hin. Hat sich jerade noch seine Millionen-Visage abjewischt, wollt von mir 'nen Kamm und iss losjerannt, zu seinem Fliejer.«

»Ja, und die Frau? Und überhaupt, Britte, warum erzählst du denn nicht endlich?« Lukrezia Bonellis Augen fieberten vor Aufregung: »Der Straub! Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, daß er … ich meine, wenn ich den Straub … Also, wie war denn das mit seinem Gspusi?«

»Die ist ab. – Sofort.« Britte trank ihren Kaffee. Zu heiß. Sie stellte ihn hastig auf die Untertasse zurück.

»Und ihr Straub wäre beinahe über den Jordan«, erklärte der junge Wicke. »Sowas kann ganz schön gefährlich werden. Der Mann wäre um ein Haar glatt draufgegangen an seinen falschen Zähnen.«

»Was? Der Straub hat falsche …?« Nun waren nicht nur Lukrezias Augen, nun war auch noch ihr Mund kreisrund.

»Natürlich hat der. Die meisten ham schließlich. Und Schauspieler schon janz früh. Und die kriejen die zweiten Zähne ooch nich vom Kassenarzt …«

»Oben war's eine Totalprothese«, ergänzte der junge Wicke, »aber unten hatte er nur 'ne Brücke. Die Schneidezähne … Und dann macht's ›bum‹, einfach so – muß ja wirklich ein fabelhafter Schlag gewesen sein –, und der kriegt die Brücke direkt vor den Osophagus, das arme Schwein.«

»Kannst ruhig Speiseröhre sajen. Hier glooben doch sowieso alle, daß de bald mit 'nem Doktortitel rumläufst.«

»Okay, Speiseröhre! Aber das Ding, die Prothese, hat ihm auch noch die Trache … also die Luftröhre und den Kehlkopfeingang blockiert. Und nun wurde es schwierig für den armen Straub; jetzt hatte er ein Problem: Die Luftzufuhr war abgeschnitten, und lang geht sowas nie gut. – Aber siehe, die Hilfe war ja nah!« Wicke machte eine elegante Handbewegung: »Wer nuckelte, gerade zehn Meter weiter, an einem Milk-Shake? Wer ließ den stehen, holte unserem Star mal rasch die Prothese heraus und hat sich somit, wo immer der Schwarm aller Frauen Theater spielen wird, Freikarten gesichert?« Wicke nahm einen großen Schluck Bier. »Nehm ich wenigstens an. Zu seinen Gunsten …«

Britte trank den Kaffee aus und stand auf. »Ja dann – bis später.«

Sie sahen ihr nach, wie sie zur Tür ging.

»Was hat sie denn?« fragte Wicke. »Was hat sie überhaupt in letzter Zeit?«

»Stell mir 'ne leichtere Fraje«, brummte Fritz Wullemann. »Aber so oder so, ick jedenfalls mag sie …«

»Hier spricht Eva Maria Kanitz. Soweit mir bekannt ist, hat mein Mann einen Termin mit Herrn Dr. Wilms. Ich muß aber meinen Mann dringend sprechen und hätte daher gerne gewußt, ob er bereits bei Ihnen eingetroffen ist?«

Eva Maria Kanitz lehnte sich an die Metallwand der Telefonzelle im Restaurant und ließ das Kabel durch ihre Finger gleiten. Jetzt werden wir's sehen. Natürlich wird er versuchen, mich abzuwimmeln, doch was nützt ihm das?

»Ach ja, Frau Kanitz.« Die gepflegte, beherrschte Frauenstimme im Hörer zeigte keinerlei Überraschung. Wilms' Büro-Tante? Na, die sind ja alle gleich … »Wir erwarten Ihren Gemahl jeden Augenblick, Frau Direktor. Herr Wilms hat ihm den Wagen an den Flughafen geschickt. Aber leider – jetzt, Moment mal. Ich glaube, da kommt er.«

Na, um so besser.

Stimmen hörte man. Nun drang ein Lachen aus dem Hörer; das war wohl Wilms' Begrüßungslachen. Und dazwischen nun ein: »Wie bitte?« Der Baß von Heinz.

Sie sah die Szene vor sich: sein irritiertes Gesicht; der Mund, der nun noch schmaler wurde. Wunderbar, daß ich ihn erwischt habe, dachte sie. Vor Wilms kann er sich schließlich nicht die Blöße geben, mich einfach abzuwimmeln. Hätte die Besprechung bereits begonnen, wäre es etwas anderes.

Und das war er schon: »Kanitz.«

»Hör zu, Heinz! Mach jetzt nicht den Fehler, einfach aufzuhängen, ehe ich ausgesprochen habe.«

»Wie? – Hm.«

»Du wirst mir jetzt auch keine Antworten geben können; ich meine, in dieser Situation.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Nun ja. Trotzdem. Ich werde dich so schnell nicht wieder anrufen. Also hör zu, denn das nächste Mal wird sich mein Anwalt bei dir melden. Deinen Standpunkt habe ich ja vernommen.«

»Aha? – Ja.«

»Punkt Nummer eins, mein Lieber: Der Mann, den du im Flughafen angegriffen hast, kam ins Krankenhaus.«

»Da gehört er hin.«

»Ach ja?« Doch seine Antwort machte ihr nun zu schaffen. Dabei mußte sie klar denken, klar wie noch nie in ihrem Leben. Eva Maria beobachtete drei Kinder, die draußen vor der Zelle herumrannten. Lieber Gott, dachte sie, warum das alles? Was war überhaupt geschehen? Und Straub – ein Idiot, der bei der ersten Gelegenheit auch noch seine Zähne verliert, seine falschen Zähne. Wer hätte gedacht, daß der falsche Zähne … Und ich? Ich … Nimm dich zusammen, Herrgott! »Heinz«, sagte sie, »du hast Glück, daß du nicht ins Gefängnis kommst und dazu gleich noch dort drüben in deiner Deutschen Bank verhaftet wirst.«

»Ich?!«

»Ja, du! Der Mann wäre nämlich um ein Haar erstickt. Er war schon ganz blau im Gesicht. Er konnte erst im letzten Moment gerettet werden. Du kannst dir wohl vorstellen, daß du schon bald auch von ihm eine Klage an den Hals kriegst.«

»Dem seh ich mit Gelassenheit entgegen. – Aber was heißt ›auch‹?« Er blieb eiskalt. Ein Stück Stein war er. Nein: ein Monster!

»Damit wären wir bei Punkt zwei, Heinz«, sagte Eva Maria. »Ich will gar nicht verhehlen, daß ich mit Peter Straub ein kurzes und äußerst oberflächliches Verhältnis hatte …«

»Eines von vielen.«

»Du übertreibst. Und wirst außerdem nichts, aber auch gar nichts beweisen können … Bei dir wiederum, lieber Heinz, liegen die Dinge ein wenig anders: Ich habe deine Seitensprünge und Ehebrüche hübsch sauber registriert. Und dies seit Jahren. Dabei rede ich nicht etwa von den Pipi-Mädchen in deinen Vorzimmern, auch nicht zum Beispiel von den New Yorker Nutten, mit denen dich dein Freund Heller versorgt, obwohl auch sie in meiner Sammlung sind – nein, ich hab ja noch ganz andere Kaliber …«

Sie hörte seinen Atem, was heißt Atem, sein Schnaufen. Das hatte ihm die Sprache verschlagen. Und was für ihn das Schlimmste sein mußte: Er war wehrlos dort in diesem feinen Bankbüro. Nichts konnte er tun. Konnte nicht protestieren, nicht reden – und vor allem nicht brüllen.

»Ach ja?« kam es jetzt zögernd. »Und darf ich fragen, woher diese – äh – Kenntnisse stammen?«

»Von Leuten«, antwortete sie honigsüß, »die darauf spezialisiert sind, solche ›Kenntnisse‹ zu sammeln. Das kostet zwar ein wenig, aber wie man sieht: Es lohnt sich. Es handelt sich um gut angelegtes Geld – findest du nicht auch? Mein Anwalt wird dir die Sammlung bald vorführen können. Es ist ja eine richtige Kartei daraus geworden. Auch die Presse hätte ihre Freude daran. Da bin ich mir absolut sicher, darauf geh ich jede Wette ein.«

Die Pause wurde sehr lang.

»Das sollten wir vielleicht besser nochmals bereden«, meinte er schließlich, »Liebes …«

»Beredet wird es ja auch«, erklärte sie hart.

»Wir zwei, Eva Maria. Unter uns.«

Und nun hörte sie ein Seufzen – oder war's auch bei ihm der Lufthunger? Litt auch er nur an Sauerstoffmangel, wurde er schon blau wie Peter?

»Ich meine … ich glaube – wie soll ich sagen? Man sollte solche Sachen … nicht dra … nicht dramatisieren.«

Es war für Eva Maria eine überwältigende Genugtuung: Ein Heinz Kanitz, der stotterte! Nie, seit sie ihn kannte – und das waren immerhin sechzehn Jahre –, hatte sie so etwas erlebt.

»Deshalb mein Vorschlag«, kam es jetzt mühsam: »Wir treffen uns noch heute.«

»Und wo?«

»Zu Hause, Liebes. Wo sonst? Zu Hause natürlich. Wir nehmen uns eine gute Flasche Wein dazu. Du kennst doch mein Leib- und Lebensmotto: Nichts übereilen! Und wieso eigentlich auch? Wenn man es genau bedenkt: War doch alles nichts als eine Bagatelle …«

Der Rächer und Attentäter Karl Roser befand sich in voller Aktion. Die Hauptversorgungsstränge des Frankfurter Flughafens liefen in einem Gang im Innern der Tragmauern, und der war von einer Stahltür geschützt. Das hatten sie sich clever überlegt. Aber bei den Leitungen gab es Verbindungsstellen, und dort, wo sich die Abzweigungen trafen, konnte man ansetzen. Vorn beim Ibero-Büro zum Beispiel. Er erinnerte sich genau, denn er selbst hatte damals den Schaltkasten montiert und die Hart-PVC-Platten, die den Kasten deckten, wieder angeschraubt. Und auf der anderen Seite, bei den United Airlines, war sogar eine Art Schalt-Zentrale, von wo man Anschlüsse für die Überwachungs-Kameras im C-Bereich gebündelt hatte.

Was also zuerst? Karl Roser hatte sich längst entschieden: Die Stromsperrung für die Klinik gehörte zu seiner ›Operations-Phase zwei‹. Er würde mit einem Paukenschlag beginnen. Mit den Kameras …

Er setzte den Werkzeugkasten auf die Leiterplattform, öffnete, suchte sich die passenden Schlüssel heraus und begann die Schrauben zu lösen. Er war jetzt vollkommen ruhig, selbst sein Herz schlug wie immer. Zehn Minuten zuvor, als er den Flughafen betrat, war alles anders gewesen. Da hatte er Mühe gehabt, seine Hände zu kontrollieren. Doch jetzt? Irgendwie war es, als habe er eine letzte, endgültige Grenze überschritten. Ein Zurück gab es nicht mehr. Und genau dieser Gedanke war es, der ihm seine Konzentrationsfähigkeit und den inneren Frieden zurückgab.

Es war wie immer: Er tat, was zu tun war …

Mit einer Zange hob er die Platte ab und deponierte sie neben sich. Da lagen sie, die ersten Kabel. Lagen da wie Nervenbahnen, ihr Anblick gab ihm einen neuen Impuls der Entschlossenheit und Tatkraft.

Er drehte sich ein wenig und sah Köpfe, so viele Köpfe … dort drüben aus dem Gewühl lösten sich zwei Uniformen. Kampfanzüge waren das. Bundesgrenzschutz. Mit Maschinenpistolen.

Jetzt wurde es interessant …

Ganz ruhig schraubte Karl Roser weiter. Was würden sie schon sehen? Einen Elektriker, der wie alle auf dem Airport beschäftigten Handwerker den Arbeitsanzug der Haus-Angestellten trug. Und an seiner Brusttasche baumelte, hübsch in Plastik gepreßt, der ID-Ausweis der Airport-Gesellschaft. Die Fälschung des Sicherheitsvermerks auf dem Ausweis hatte sich als verhältnismäßig einfach erwiesen; da brauchte nur ein Datum geändert zu werden. Kitzliger war es, eine falsche Bescheinigung des Sonderauftrags herzustellen. Karl Roser schaffte es durch eine Kopie des Auftrags, bei dem sein Sohn Werner den schweren Unfall erlitten hatte. Wieviel Mühe, wieviele Anrufe und welche Bettelei – »Schließlich sind wir alte Kollegen; gebt doch wenigstens dem Jungen eine Chance!« – hatte es gekostet, damals den Auftrag für seinen Sohn im zentralen Planungs-Büro herauszuschinden!

Die Typen vom Bundesgrenzschutz kamen näher. Sie legten die Köpfe schief und blickten hoch. Auch das noch! Na, jetzt wollen wir mal sehen …

»Hören Sie, Meister«, sagte der größere mit dem Winkel auf dem Oberarm, »können wir uns Ihren Auftrag angucken? Sie wissen ja, wie's ist.«

Und ob er wußte, wie's ist!

Er brachte sogar ein Grinsen zustande, griff in die Hosentasche und kam ein paar Stufen der Leiter herab.

»Hier, bitte …«

Und nun spürte er, wie seine Handflächen feucht wurden.

Der Streifenführer warf einen kurzen Blick darauf. »Okay«, nickte er. »Na dann – und fallen Sie uns nicht runter da oben. Oder können Sie fliegen?«

Der andere lachte. Hielten das noch für einen Witz, die Herren. Werden sich wundern, wozu so eine Leiter gut sein kann. Bis die nächste Streife kam, war er hier weg – falls ihm nicht noch der Flughafen-Schutzdienst dazwischenpfuschte.

Flughafen-Schutzdienst, Bundesgrenzschutz, Polizei, Zoll – zweitausend bewaffnete Affen sorgten hier für die ›Sicherheit‹. Selbst Panzer hatten sie da draußen stehen. Und er montierte gerade seelenruhig einen kleinen Zünder in ihre Kameraschaltung. Und brauchte noch nicht einmal das Amonal, den Plastiksprengstoff.

Der würde später kommen. Dann, wenn's richtig rundging. Dann würden hier die Fetzen fliegen!

Aber für die paar Drähtchen hier reichte ein Zünder …

»Lassen Sie mal sehen …« Chefarzt Dr. Fritz Hansen drückte vorsichtig tastend drei Finger in das Fleisch des großen, grauhaarigen Mannes, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Tut das auch weh?«

Friedhelm Brunner, Bereichsleiter des Frankfurter Flughafen-Schutzdienstes, gab ein undeutliches Brummen von sich und schloß die Augen.

»Und wenn Sie sich jetzt wieder ein wenig auf die Seite drehen, so … Hier? Das?«

Brunner stöhnte leise.

»Nun ja«, sagte Hansen, »ein ganz hübsches Hämatom haben Sie hier. Aber nicht weiter schlimm. Es ist halt eine Rippenprellung. Aber an den Nieren ist nichts; das würde nach hinten ausstrahlen.«

Brunner zuckte mit den Achseln.

»Setzen Sie sich auf, ich will mir nochmals den Rücken ansehen …« Hansen tastete weiter und begegnete dabei Lukrezia Bonellis Blick. Er lächelte ihr zu. Als Brunner herein kam, hatte sie sich als erste um ihn gekümmert und so arbeiteten sie nun zusammen.

Lukrezia? – ›Luzi‹ sagte Oberpfleger Wullemann zu ihr, und Hansen erinnerte sich jetzt, wie schön er den Namen ›Lukrezia‹ einst gefunden und wie andächtig er ihn manchmal vor sich hin gedacht hatte. Dabei, Wullemann hatte schon recht: Luzi paßte besser zu ihr. Luzi, die Nette und Rücksichtsvolle, die es umsichtig immer so einrichtete, daß sie nicht gemeinsam den Dienst versehen mußten.

»Alles in Ordnung!« Hansen tätschelte liebevoll Brunners muskulösen und behaarten Rücken: »Jetzt noch der Finger … Oh je, ganz schön geschwollen. Das müßten wir schienen. Scheint zwar kein Bruch drin, wir werden das noch nachchecken müssen, aber so eine Stauchung stört die Gewebeversorgung, und das kann dann zu Komplikationen führen. Soll ich Sie dienstfrei schreiben?«

»Na, Sie sind gut«, knurrte Brunner. »Wer macht dann meinen Job?«

»Sie scheinen genau so ein Idiot zu sein wie ich.«

»Mit Sicherheit der größere, Herr Doktor.«

»Und wo haben Sie sich das alles eingesammelt?«

»Wo?!« Der giftige Blick, den Brunner zur Tür warf, galt dem ganzen Airport. »Sind Sie Fußball-Fan, Doktor?«

Hansen schüttelte den Kopf.

»Ich aber. Und das werde ich mir in Zukunft wohl abschminken. Wissen Sie, was mir heute wieder mal aufgegangen ist? Daß die Menschheit aus drei Gruppen besteht: erstens den Total-Idioten, zweitens denen, die sie zu Idioten machen und davon profitieren, und drittens den paar Volltrotteln, die dann den ganzen Scheiß der anderen aufwischen dürfen.«

»Schön gesagt, Herr Brunner …« Hansen grinste. »Ich bin auch ständig am Wischen. Aber lassen wir die Philosophie … was ist passiert?«

»HSV gegen Frankfurt – das ist passiert! Ein Freundschafts-Spiel. ›Freundschaft‹ groß geschrieben. Die haben sich schon im Stadion gekloppt. Dann brach so ein Haufen heulender Derwische in die Abflughalle Inland ein. Und was machten sie? Schmissen mit Bierdosen um sich und schnappten sich gleich mal ein Mädchen, wollten der an den Rock, zogen ihr die Bluse aus. War dazu noch eine Stewardeß, eine kleine Siamesin von der Thai-Airways … Wir haben sie wieder rausgeholt. Und die schlimmsten Brüder sitzen im Knast. Aber bis es soweit war – na!« Er grinste schief. »Sie sehen es ja.«

»Ich sehe und wiederhole: Ich kann Sie dienstfrei schreiben, Herr Brunner. Und das mit bestem Gewissen.«

Statt zu antworten, griff Brunner nach seiner Jacke. Gerade, als er sie vom Stuhl ziehen wollte, meldete sich das Funkgerät, das noch unter seinem Hemd verborgen lag. Es war ein kräftiges Summen.

»Da sehen Sie's ja!« Er zog den Mund schief und nahm den Apparat: »Brunner! – Ja. Wo? – Okay. Verstanden. Ich komme …«

Er hob leicht die Hand und lächelte bekümmert: »Tschüs, Doktor. Ich muß … Und auch noch aufs Vorfeld. Da draußen, das sage ich ihnen, braut sich vielleicht ein Wetter zusammen! Haben Sie's noch nicht gesehen?«

»Ich? – Ich hab doch noch nicht mal Zeit, durchs Fenster zu gucken, Herr Brunner.«

»Na, dann wischen Sie mal weiter!« sagte Brunner. »Und vielen Dank auch …«

Die Türe schloß sich. Zu spät fiel Hansen ein, daß er noch etwas mit Brunner besprechen wollte. Was war das gleich gewesen? Ach ja, diese üble Geschichte mit den Moniereisen. Unfall in Halle fünf. Der Junge, das Opfer, lag noch immer in der Krise. Hansen hatte sich schon dreimal erkundigt. Aber immerhin, es ging aufwärts mit ihm … Blieb die Drohung, die sein Vater ausgestoßen hatte: »Ich werde den ganzen Laden hier hochgehen lassen …«

Nun, trotz des Kinnhakens, den er bei dieser Geschichte auch noch einfangen mußte: Die Ankündigung war ja wohl nicht ernstzunehmen. Was brauchte er Brunner damit zu belästigen? Der hatte genug um die Ohren.

Hansen ging nun doch zum Fenster und blickte hinaus in das Unwetter.

Die Männer, die arbeiteten, hielten ihre Mützen fest. Ihre Hosenbeine flatterten. Staubfahnen trieben über den Beton und wirbelten Papierfetzen vor sich her.

Der Orkan kam von Nordosten. Im Lagezentrum des Meteorologischen Dienstes hatte man das Vorrücken des Tiefdruck-Gebiets schon lange beobachtet: fast konzentrische Ringe, die sich von der Ostsee über Berlin und Leipzig in Richtung Frankreich bewegten, und zwar in einem beachtlichen Tempo. Vom Wetteramt Halle waren Sturmgeschwindigkeiten von 120 bis 130 Kilometer gemeldet worden, und das bedeutete erheblichen Trouble.

Für 16 Uhr rechnete man mit dem Eintreffen der Wetterfront, also ausgerechnet dann, wenn die Flugbewegungen ihre Spitzenwerte erreichten und die Leute im Tower sich mit dem Abflug und der Landung von einigen Dutzend Maschinen abzuplagen hatten. Die Hälfte davon waren Langstrecken-Flüge, die traditionell Vorrangbehandlung genossen.

Falls der Orkan seine Wucht nicht verminderte und Gebirgshindernisse wie Harz, Thüringer Wald oder die Rhön ihn nicht abbremsten, stand Ärger ins Haus: Umleitungen, Verspätungen, Probleme bei Landungen und Starts. Das könnte den gleichmäßigen Puls der technologischen Monster-Organisation Airport, die sich mit ihren armähnlichen, langen Flugsteigen wie eine Beton-Krake ins Land schob, durcheinanderbringen.

»Jetzt geht's los!« sagte Brunner draußen zu seinen Leuten Rabe und Scholz.

Der Himmel hatte sich zu tiefem Grau verdüstert. Gewaltige, fahle Wolkenberge schoben sich über Hochspannungsleitungen und Gebäude. Die fröhlichen Farben der Luftfahrt-Gesellschaften an den Leitwerken, das strahlende Silber der großen Maschinen – es wirkte jäh schmutzig und stumpf. Auf den Besucher-Terrassen rannten letzte einsame Gestalten, nach vorn gebeugt, die Hüte festhaltend, in den Schutz des Gebäudes.

Die Staubpartikel, die von den Böen gegen Brunners Gesicht geschleudert wurden, brannten wie Nadelstiche. Und dazu noch das verdammte, schmerzhafte Tuckern in seinem geschwollenen Finger, die Stiche in seinem Brustkorb …

Asylanten-Abschiebung! – Mein Gott, wie er diese Aufträge haßte! Und jetzt auch noch dieses Scheiß-Wetter.

Asylanten? Aus allen Ländern hatten sie die schon hier gehabt. Indonesier, Libanesen, Palästinenser, Südamerikaner, Inder, Yugos, Tschechen, Kubaner. In letzter Zeit sogar Russen und Ukrainer.

Heute war es also ein ›Bimbo‹, um den es ging. Das hatten sie durchgegeben. Ein Afrikaner aus Nigeria …

Was macht man mit einem Nigerianer, der ausrastete? dachte Brunner, während die Sohlen seiner Schuhe durch Wasserströme platschten und der Regen ihm den Nacken peitschte.

»Das ist drüben bei B-42!« rief einer von der Streife. »Gleich unter der Transit-Halle, in der Nähe des Bus-Transfers.«

Es war schon nicht mehr Regen – Hagel war das! Ein Nigerianer im Hagel … Tausende von armen Schweinen gab's, die wie Postpakete aus dem D-Mark- und Speck-Paradies ins Elend zurückbefördert wurden.

Aber auch einer, dachte Brunner, der uns nicht länger auf der Tasche liegen wird …

Wie man's auch nahm, ein Scheiß-Job blieb's. Sollten doch die Ober-Stempler mit ihren Bürokraten-Löchern die Leute in die Flugzeuge packen! Aber die machten sich den Arsch nicht naß.

»Mehr rechts! Zum Bus-Transfer!« Rabe mußte brüllen, und trotzdem konnte sich seine Stimme in dem Gewitteraufruhr kaum behaupten. Scholz, der zweite Mann der Streife, rannte voraus und verschwand im Regen.

»Der Nigerianer hat dem Polizisten einfach die Pistole abgenommen?« schrie Brunner und war schon ziemlich außer Atem. »Wie hat er das geschafft?«

»Keine Ahnung, Chef! Muß 'ne ganz schöne Flasche gewesen sein, der Kollege.«

»Na, wir werden ja sehen. Der ganze Bockmist geht uns sowieso nichts an. Wir sind Werkschutz, und das ist Polizei-Sache. Was heißt denn hier überhaupt Verstärkung? Wozu brauchen die uns?«

»Da fragen Sie mich zuviel, Chef!« schrie Rabe durch den Aufruhr zurück. »Geht's noch?«

»Muß ja!«

Ein Blitz, ein einziges blauweißes Feuergeäder überzog den Himmel. Nun der Donner – und schon kam ein neuer Regenschauer. Und wie!

Das war ein Regen, wie er ihn mit den Stammesbrüdern in Zaranda beim Antilopen-Tanz getanzt hatte, bis der Himmel endlich ein Einsehen hatte und seine Wolken schickte …

Namdi hatte sich in die hinterste Ecke des blauen Lastwagens gedrückt. Hagel knallte jetzt auf die Plane. Der Nigerianer saß auf einer Kiste. Nach der Aufschrift handelte es sich um einen Werkzeugkasten. Werkzeuge für was? – Das war nicht wichtig. Nichts war wichtig. Nur das Ding in seiner Hand, die Pistole, war wichtig! Eine 9-mm-Automatik mit einem Zwölfer-Magazin.

Namdi kannte sich damit aus. Ehe ihn die frommen ›padres‹ nach Kano in die Ingenieurs-Schule geschickt hatten, war er zum Militär befohlen worden. Aber dort schmissen sie ihn bald wieder raus, weil er zum Stamm der Ibos gehörte. Auch die Schule mußte er vor der Prüfung verlassen. Und dann hatte im Hafen von Lagos seine große Flucht als blinder Passagier begonnen. Neue Häfen, Gendarmen, manchmal Gefängnis. Dann Spanien, wo er mit seinem Vetter Schmuck auf den Landmärkten verkaufte. Und wieder weiter, denn die Polizei saß ihm im Nacken: Frankreich, die Schweiz. Schließlich Deutschland, von dem sie alle träumten und das dem Nigerianer Namdi für zwei lange, ruhige Jahre wie eine Burg erschien. Er hatte Anna getroffen. Sie nahm ihn auf, und sie liebte ihn, und alles schien wunderschön …

Bis sie sagte: »Sie haben deinen Antrag endgültig abgelehnt. Sie werden dich abholen, Namdi. Ich kann's auch nicht ändern …«

Letzte Woche war das, in ihrer kleinen Wohnung in Mannheim. Er hatte es nicht geglaubt, konnte es nicht glauben.

Aber sie kamen. Und dort drüben wartete das Flugzeug nach Lagos. Und wartete noch immer. Die anderen saßen schon drin, und die Polizei stand noch draußen …

Sollen sie dich doch umbringen! Er hatte es gedacht, als der Regen losbrach und er den Polizisten ansprang, ihm die Pistole aus der Hand riß, in die verblüfften, nassen Gesichter der Beamten sah und losrannte.

Jetzt nahm er die Pistole, drehte sie in der Hand und blickte in das bösartige, schwarze Loch im Stahl. Nein, du nicht! Die anderen sollen es. Es tut nicht weh. Es sind so viele gestorben. Warum nicht ich? Aber diese Polizisten sollen es tun …

Namdi lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er lauschte. Alle suchen sie dich. Wenn Anna nur hier wäre … Aber sie hatte ja keine Zeit gehabt. Und warum auch? Sollte sie mit ansehen, wie er, einem Stück Schlachtvieh gleich, ins Flugzeug geführt würde? Sie hätte geweint. Oder die Männer in den Uniformen beschimpft, so, wie es seine Mutter getan hatte, als sie den Vater holten. Sicher hätte sie das. Und dann wäre Anna womöglich auch noch in einen Polizeiwagen gekommen, wie er zuvor … Anna! Liebe, liebe Anna …

Er spürte, wie das Zittern zurückkam, ein Zittern tief in ihm. Es erfaßte seinen Körper, die Hände und kroch den Rücken hoch bis in den Kiefer. Namdi biß die Zähne zusammen. Das nicht!

Seine Hände, diese bebenden, zitternden Hände strichen über das Hemd. Klatschnaß war es. Er fröstelte. Die Brieftasche? – Hier! Er klappte sie auf, aber es war viel zu dunkel, um Annas Gesicht auf der Fotografie zu erkennen. Es war eine schöne Fotografie. Ein Straßen-Fotograf hatte sie von ihnen geschossen, als sie das Heidelberger Schloß besuchten. Und Anna lachte so hinreißend.

Er hätte dieses wunderschöne Lachen jetzt gern gesehen. Es hätte ihm neue Kraft gegeben.

Durch den Regen drang jetzt das hohe Singen eines anlaufenden Düsentriebwerks. Nun fiel das zweite ein, das dritte, das vierte …

Vielleicht war es die Maschine nach Lagos? Wegen eines Namdi Sokoto würde sie nicht warten. Deutsche Maschinen starteten pünktlich, wie deutsche Züge. Vielleicht …

Namdi fuhr hoch. Da war jemand am Wagen, unter dessen Plane er saß. Ja, ganz deutlich. Und nun hörte er auch eine Stimme, vernahm Schritte.

Namdi Sokoto setzte sich steil auf. Und als habe ihn eine Geisterhand berührt, waren auch das Zittern und seine Angst verschwunden. Ja, ganz ruhig war er nun.

Kommt, dachte er, kommt nur – und hob die Pistole.

Und sie kamen.

Die Plane wurde zurückgeschlagen. Was Namdi als erstes sah, war ein junges, nasses und entgeistertes Gesicht unter einer Schirmmütze.

Das Gesicht verschwand wieder, doch nun traf ihn der harte, gleißende Strahl eines Handscheinwerfers. Traf ihn so schmerzend, daß er die Lider schließen mußte.

»Kommen Sie da heraus!« Dies war keine junge Stimme, sondern die Stimme eines älteren Mannes, der genau wußte, was er sagte. »Verstehen Sie deutsch, Herr Sokoto?«

Die Pistole in Namdis Hand zuckte. Doch der Lauf behielt seine Richtung. »Ja«, sagte er, »ich schon. Ein bißchen. Genug.«

»Na schön«, sagte die Stimme. »Das heißt, schön ist eigentlich gar nichts. Und was hier läuft, Herr Sokoto – Sie können es mir glauben! – finde ich genauso beschissen wie Sie. Aber wir beide werden nichts daran ändern. Deshalb, bitte, seien Sie vernünftig …«

Namdi fühlte, wie der Zorn in ihm hochkroch. Sie redeten ja immer so. Sagten immer das gleiche. Daß sie nichts ›dafür‹ könnten. Sie hatten den Mund voll mit dem Gras der Lügen, damit man nicht erkannte, was für Raubtiere sie waren.

»Also?« sagte die Stimme.

Das Licht, das fast seine Lider durchdrang und seine Augen in einen roten Nebel hüllte, wurde schwächer. Namdi sah auf. Die Plane war zurückgeschlagen, und er sah einen breitschultrigen, grauhaarigen Mann. Beide Arme hatte er auf die Wagenplatte gestemmt und war unbewaffnet – zumindest hielt er seine Waffe nicht in der Hand, sondern nur den Scheinwerfer, dessen Lichtfocus er in die Mitte des Wagens leitete.

»Also?«

»Also was?«

»Das fragen Sie? Sehen Sie, Herr Sokoto, das Ding da in Ihrer Hand, diese Kanone, gehört schließlich nicht Ihnen. Sie haben sie einem meiner Kollegen abgenommen. Deshalb, seien Sie so freundlich und legen Sie sie genau dorthin, wo ich gerade hinleuchte. Sie können sie auch werfen. Bitte.«

Namdi rührte sich nicht. Er versuchte ruhig zu atmen, seine Gedanken zu sammeln. »Und Sie?« sagte er dann. »Sie keine Angst haben?«

»Ach, Herr Sokoto, was nützt Ihnen da schon eine Antwort? Was ändert es, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich vielleicht genauso viel Angst habe wie Sie? Aber sehen Sie … ich habe auch Angst um Sie. Hier stehen nämlich im Kreis lauter Männer, die zwar keine Pistolen, dafür aber Maschinenwaffen haben. Und wenn wir beide oder einer von uns, Sie oder ich, jetzt nur den kleinsten Fehler machen, dann geht's los. Dann schießen die. Die schießen nicht nur den Wagen, die schießen auch Sie zusammen wie ein Sieb.«

Namdi Sokoto nickte wie jemand, der ganz genau die Antwort erhalten hat, die er erwartete.

»Dann sollen sie es tun«, sagte er.

»Nein, das sollen sie nicht. Es liegt an Ihnen.«

»Es sind Feiglinge«, sagte Namdi. »Feiglinge und Lügner … Sie sich Mühe gemacht, mein Herr … Ich danke Ihnen … Recht herzlichen Dank.«

Und dann ging alles sehr schnell. Zu schnell, als daß Brunner reagieren konnte. Namdi Sokoto spreizte die Beine, hob das linke Knie an, drückte den Lauf der Waffe gegen seinen Oberschenkel, schloß die Augen und zog den Abzug durch.

Die Wucht des Geschosses riß ihn von seiner Kiste. Die Pistole flog klirrend auf den Wagenboden und schlitterte Brunner entgegen. Namdi Sokoto aber lag und hielt stöhnend die Wunde umklammert, während im Licht der Lampe die Blutlache größer und größer wurde.

»Verdammter, elender Mist!« fluchte Brunner und schwang sich in den Wagen. »Eine schöne Bescherung, Herr Sokoto! Tut's sehr weh?«

Welch dämliche Frage, dachte er im selben Augenblick.

Er drehte sich um und brüllte: »Stau-Binde! Hat einer von euch 'ne Stau-Binde dabei?!«

Die Infusion lief von der Minute an, als der junge Arzt Fred Wicke mit dem Notarztwagen am Flugsteig B-42 eingetroffen war.

Und verdammt notwendig war's auch: Der arme Hund hier hatte literweise Blut verloren.

Dr. Hansen entfernte die Kompressen, die Wicke angelegt hatte: Da haben wir's also. Der Nigerianer muß die Pistole direkt aufs Fleisch gesetzt haben. Das ganze Wundgebiet ist verschmaucht.

»Schußwunde auf der Innenseite des Oberschenkels, etwa zehn Zentimeter oberhalb des Kniegelenks«, sagte er, als diktiere er ein Protokoll. »Transversaler Kanal. Ausschuß – ja, hier. Nicht mal so wild!« Hansen hatte viel größere Ausschußwunden erlebt, faustgroße sogar, häßliche Krater. Zum Beispiel bei diesem Polizisten, den die Hannover-Gangster angeschossen hatten …

Eine 9-mm-Dienstpistole, hatte Brunner ihm erklärt. Ein Geschoß aus dieser Waffe entwickelt eine, gewaltige kinetische Energie. Ob es bei dem Mann hier den Knochen mit erwischt hatte, werden wir auf der Aufnahme sehen …

»Gib mir mal die Kopfsonde, Britte. – Gut. Und jetzt die Pinzette.«

Er begann mit der Untersuchung und spürte die leichte, unwillkürliche Muskelspannung des Verletzten, als er die Pinzette in die Ausschußöffnung einführte, weil sich dort irgendetwas Helles zeigte. Ein Knochen? Ein Splitter vielleicht …

Er richtete sich auf und betrachtete den dunklen, langgestreckten, im Licht schimmernden Körper des Patienten auf dem OP-Tisch. Trotz der Beatmer-Maske konnte er sehen, daß der rechte Mundwinkel leicht nach oben gezogen war und dem Gesicht des Afrikaners den Ausdruck eines leichten, fast ironischen Lächelns verlieh. Es war ein gutgeschnittenes Gesicht, bei Gott. Es hatte Hansen von Anfang an beeindruckt, dieses lange, fast edle Gesicht, auf dem eine steinerne Ruhe lag, obwohl der Mann doch nicht nur die Angst des gehetzten Wildes, sondern auch üble Schmerzen empfinden mußte.

Er berührte leicht den Rippenbogen: »Hören Sie mich?«

»Kann er doch nicht«, meldete sich Dr. Maier-Blobel, die Anästhesistin. »Ich habe ihm genügend gegeben.«

»Ist ja gut, Berta. Was macht der Druck?«

»Fast wieder normal.«

»Ich glaube, wir sollten ihn ein wenig senken. Es muß bei ihm die Femoralis erwischt haben; die Hauptarterie, die das Bein versorgt. Ich werde sie jetzt schließen. Und dann muß er ab in die Klinik. Dort sollen sie ihn weiter versorgen. Sind die Röntgenbilder gemacht?«

»Ja.«

»Das Wichtigste ist, daß es schnell geht. Wenn er dort ist, müssen sie ihm als erstes die Femoralis flicken und die Durchblutung wieder freigeben. Mehr als eineinhalb Stunden sind da nicht drin. Also, los! Britte, das Skalpell …«

Hansen schnitt das von den Hitzegasen der Waffe blau und schwärzlich verbrannte Gewebe heraus und ging tiefer, bis er, bläulich schimmernd und blaß, den von der Kugel durchschlagenen Gefäß-Stumpf erkennen konnte. Er blutete noch immer. Auch die Druckmanschette hatte nur eine annähernde Abdrosselung der Blutversorgung bewirken können. Die kleinen diffusen Blutungen hier konnte er leicht mit dem Druck des Stieltupfers stillen.

»Die Overhold-Klemme.« Er lächelte Britte zu, die bereits das Instrument in der Hand hatte. Machte sich, das Mädchen, schlug sich tapfer – trotzdem, irgendwas gefiel ihm nicht. Er mußte mal mit ihr reden … Was einem alles durch den Kopf ging in solchen Sekunden!

Er faßte die zwei, drei mittleren Gefäße an ihrer Basis und unterband sie mit Catgut-Fäden. Schneller! Der Mann brauchte einen Gefäß-Chirurgen. Verdammt! Er mußte sogar noch umstechen! – Jetzt rausschälen. Endlich, da haben wir die Femoralis frei. Klemm sie an der Seite an. Vorsicht …

»Hier brauch ich die Pott-Klemme … Danke.«

»Jetzt! Catgut. Nadel. Wir machen eine fortlaufende Naht.«

Was noch? Die Zeit – Herrgott, dauerte doch länger, als er gedacht hatte. Diathermie? Nein, mit den Metall-Clips geht's einfacher und schneller …

»Clips!« sagte er und schloß noch zwei kleinere Gefäße, die bluten konnten. So, dachte er, raus mit ihm! Ist wie beim Stafettenlauf. Und den hier werden wir gewinnen – kein Problem. Und außerdem kommt der Mann den Kollegen im Klinikum einigermaßen gut vorbereitet auf den Tisch …

Er richtete sich auf und sah Wullemann an, der gerade den OP betrat. »Ab mit ihm, Fritze!«

Vor Hansen auf dem Schreibtisch lag ein Foto.

Er nahm es hoch und betrachtete es: Das Bild zeigte eine jüngere Frau, er schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Sie trug ein breites, blaues Band um den Kopf, das die vielen rotbraunen Locken zusammenband. Und sie blickte genau in die Kamera und lächelte …

Das zweite Gesicht, das über die Schulter der Frau blickte, war dunkel, fast schwarz. Es war das Gesicht, das er kannte – das Gesicht eben aus dem OP. Und im Hintergrund sah man die Silhouette des Heidelberger Schlosses.

Hansen dachte an die Szene von vorhin, an die grauen Flecken auf Sokotos Wangen, den flehenden Blick der dunklen Augen des Nigerianers, an die Worte: »Herr Doktor, in meinem Hemd … ein Foto. Bitte! Sie nehmen … Steht Telefonnummer darauf. Frau Anna Schmidt. Mannheim. Bitte anrufen …«

Hansen hatte es versprochen.

Er drehte die Fotografie um. Hier – tatsächlich, da stand es in feinen, wie gestochenen Großbuchstaben: ANNA SCHMIDT, MANNHEIM-KÄFERTAL. Dazu die Straße und die Nummer.

Er nahm den Apparat und wählte. Es dauerte lange, das Freizeichen quäkte. Schließlich, er wollte schon auflegen, vernahm er doch eine schüchterne Stimme, die Stimme eines sehr jungen Mädchens: »Bitte … Wer ist denn da?«

»Oh? Ein Freund von Namdi Sokoto.«

»Namdi? … von Namdi?«

»Ja. – Und wie heißt du?«

»Bärbel.«

»Hör mal, Bärbel: Ist die Mami da? Kann ich sie mal sprechen?«

Er vernahm unterdrückte Geräusche, verwaschene Stimmen, und da war sie, die ›Mami‹: »Schmidt.«

»Frau Schmidt! Hier spricht die Airport-Klinik. Hansen.«

Ein tiefer Atemzug, und nun ein leises, gepreßtes: »Ja?«

»Frau Schmidt, es ist leider Gottes mit Herrn Sokoto etwas passiert.«

»Ja?!«

»Herr Sokoto … er … erlitt eine Schußverletzung. Er hat sie sich selbst beigebracht. Ich bin der behandelnde Arzt. Er hat mich gebeten, Sie anzurufen und es Ihnen mitzuteilen.«

Eine lange Pause entstand, unterbrochen von kurzen, nervösen Atemzügen. Schließlich sagte sie: »Und das Flugzeug?«

»Wie bitte?«

»Das verdammte Flugzeug?!« Sie schrie es beinahe. »Hat es ihn denn nicht mitgenommen?«

»Aber wie denn, Frau Schmidt? Ich versuche Ihnen doch gerade zu erklären …«

»Dann ist er also noch immer hier?«

»Natürlich. Er liegt in der Rotkreuz-Klinik. Ich kann Ihnen die Adresse geben …«

»Das brauchen Sie nicht. Die will ich nicht. Hören Sie mal: Rufen Sie ihn doch an! Sie wissen ja, wo Sie ihn hingeschafft haben. Sagen Sie ihm … sagen Sie, ich kann nicht mehr … Und sagen Sie dazu noch, ich will auch nicht mehr. Sonst versteht er das nicht … Der versteht ja gar nichts, überhaupt nichts …«

»Aber Frau Schmidt, Sie können doch zumindest …«

»Gar nichts kann ich, gar nichts werd ich … Sie verstehen mich auch nicht. Niemand versteht es, was das heißt – diese ganzen Schikanen, der ganze Ärger. Er ist ein lieber Kerl, ja, aber ich steh das nicht durch! Und überhaupt, woher soll ich denn das Geld nehmen? Ich hab zwei Kinder. Ich kann den Kerl doch nicht auch noch die ganze Zeit durchschleppen! Ja, wie stellt ihr euch das eigentlich alles vor?!«

Ein wildes Schluchzen war das letzte, was Hansen hörte. Dann hatte sie aufgelegt.

Er griff sich eine Zigarette. Das war inzwischen einfach geworden. Er brauchte dazu nur den Deckel des kleinen Holzkästchens auf der rechten Seite des Schreibtisches zu öffnen. Das Kästchen war wunderschön geschnitzt. Kleine Frauenfiguren in weiten Schleiern tanzten darauf. Dazu sah man Lotusblumen und Palmen und sogar Elefanten. Evi hatte es ihm aus Indien mitgebracht.

ER IST EIN LIEBER KERL, ABER ICH STEH DAS NICHT DURCH …

In dieser Situation? Wieso versuchte diese Frau nicht wenigstens zu helfen? Verdammter Egoismus! – Nein, auch sie hat ihre eigene Geschichte, und die kennst du nicht. Vergiß die Sache. Sei endlich vernünftig, und das heißt nur eines: Denk an die Dinge, die du selber zu tun hast! Oder denk wenigstens an was Angenehmes. Es gibt schließlich sogar noch was Angenehmes, das du zu tun hast …

DAS VERDAMMTE FLUGZEUG, HAT ES IHN DENN NICHT MITGENOMMEN?

Hansen stand auf und drückte die angerauchte Zigarette im Aschenbecher zu Tode. Rosen wolltest du kaufen! Und eine Dose Kaviar. Auch wenn das Zeug sauteuer ist und Evi nicht viel davon hält, weil sie die kleinen schwarzen oder roten Kügelchen ständig in der Ersten Klasse servieren muß. – Du magst sie. Na also …

Und um achtzehn Uhr fünf wird sie landen. LH-449. Aus Houston.

ICH KANN DEN KERL DOCH NICHT AUCH NOCH DURCHSCHLEPPEN …

Evi ist das Thema – konzentrier dich! Da gab's doch eine Schwierigkeit? Richtig, bei der Einsatzplanung. Ein Austausch in der Service-Crew. Und deshalb, hatte sie gesagt, könnte es möglich sein, daß es vielleicht gar nicht der ›vier-vier-neun‹ wird, sondern womöglich der Flug 437 am nächsten Tag … »Aber das abzuchecken, Fritz, ist ganz kinderleicht.« Da brauche er nur eine dieser superklugen LH-Nummern anzurufen, die sie ihm hinterlassen hatte.

Und wo ist der verdammte Scheißzettel wieder?

Hansen zerrte die Schublade auf und wühlte. Briefe. Jede Menge Aufschriebe. Eine Packung Plastik-Rasierapparate. Was tun die eigentlich hier? – Und da, ja, auch noch auf die Rückseite einer Visitenkarte gekritzelt, da hast du sie …

WAS WOLLT IHR DENN EIGENTLICH NOCH ALLES VON MIR?! Die Frau hatte es richtiggehend ins Telefon geschrien. Nichts, Frau Schmidt. Aber vielleicht gibt es da jemand, der es erwartet hätte …

Hansen tippte die neue Nummer der Lufthansa.

»Dienststelle vierzehn«, meldete sich eine kühle Frauenstimme. »Wie bitte? Wer? – Ach so … Einen Augenblick, Herr Doktor.«

Fritz Hansen vernahm sanftes Computer-Klappern, dann wieder den einzigartig unverwechselbaren, sicher noch patentierten LH-Singsang: »Ja, die Evi Borges wurde ausgetauscht. Sie kommt morgen mit dem LH-434-Flug. Ankunftszeit …«

»Ich weiß schon«, sagte Hansen. »Zehn Uhr fünfundfünfzig.« Und legte auf.

Sein Kreuz schmerzte.

Er blieb sitzen und betrachtete seine kurzgeschnittenen Chirurgen-Fingernägel und die vom vielen Waschen mit den antiseptischen Lösungen rosa aufgequollene Haut, stand dann doch auf, verließ sein Zimmer – und traf drei Meter vor seiner Tür auf einen großen, leicht humpelnden Mann.

»Sagen Sie jetzt bloß nicht zu mir«, grinste Brunner vom Flughafen-Schutzdienst, »ich hätte Ihnen ›gerade noch gefehlt‹!«

»Doch«, erwiderte Hansen erbittert, »das sage ich.«

»Hab ich's mir doch gedacht.«

Hansen stieß erneut die Türe auf und wies auf den Besucherstuhl. »Bitte, Sie können sich setzen, aber ich bleibe stehen. Ich weiß ja, was jetzt kommt: Wir müssen diesen Namdi Sokoto aus Afrika in Gewahrsam nehmen. Stimmt's? – Aber nicht hier, Herr Brunner. Ich hab unseren Freund schon weiterspeditiert. Fahren Sie mal ins Rotkreuz-Krankenhaus, wenn Sie schon nicht anders können.«

»Ach, Doktor …« Brunner schloß die Augen. »Mir tut das arme Schwein genauso leid wie Ihnen.«

Nun setzte Hansen sich doch: »Ich habe gerade mit seiner Freundin telefoniert. Eine Frau namens Anna Schmidt. Hier – hier haben Sie sie.« Er schob Brunner das Foto über die Tischplatte. »Sehen Sie sie sich an. Die hat mich gleich erst mal angebrüllt. Und wissen Sie, wieso? Weil der Flieger ihn nicht mitgenommen hat, nach Lagos oder wo immer er herkam.«

»Ja nun, so ist das wohl, Doktor …«

»So ist was? So sind wir, Brunner. Wir!! Soll ich Ihnen was sagen? Bei uns Ärzten gibt's einen Spruch, den beten wir uns ständig vor, damit wir bei der Arbeit die größten Fehler vermeiden. Er lautet: Man kann nicht jedes Leiden mitleiden, jeden Tod mit sterben … Ist ja auch völlig in Ordnung. Nur könnte man noch dazusetzen, Brunner: Man kann nicht jedes Schicksal miterleben wollen. – Richtig. Auch in Ordnung. Aber ein bißchen Mitgefühl und persönliche Anteilnahme sollte man sich doch noch erhalten, finden Sie nicht?«

Brunner sagte keinen Ton. Er saß nur da und starrte den Arzt an. Selbst seine Augen waren grau. Hansen stellte es zum ersten Mal fest.

»Versuchen sollte man es wenigstens, Herr Brunner. Das jedenfalls ist meine Meinung. Wenn wir es nur versuchen würden, ab und zu wenigstens, sähe es hier ganz anders aus.«

Brunner schwieg weiter, und Hansen griff schon wieder nach einem dieser verdammten Glimmstengel.

»Geben Sie mir auch eine?« fragte Brunner. »Übrigens, ich komme wegen etwas anderem. Ich hätte jetzt doch ganz gerne meinen Finger geschient. Der tut nämlich ganz verdammt weh.«

»Na, dann lassen Sie mal sehen …«

»Hübsche Augen hast du … Wie sagt man: Kornblumenblau? Was nehmen wir zuerst? Das linke Auge – oder das rechte? Eine deiner Kornblumen wirst du verlieren. Es ist nichts als ein kurzer Stich.«

Sie fuhr hoch. Die Stimme war wieder bei ihr: die Stimme des fremden Monsters, des Mafia-Verbindungsmannes Radonic. Manchmal flüsterte sie ihr sogar bei der Arbeit zu, dann drang sie erneut in die Träume ein. Leise, heiser, drohend.

Als am Abend das Gewitter nochmal über Frankfurt hereingebrochen war, hatte Britte Happel die Jalousien ihrer Wohnung heruntergelassen und Tabletten genommen, um schlafen zu können. Es war ihr freier Tag nach einer Woche Nachtdienst. Doch die Mistpillen halfen nichts. Sie nahm immer mehr davon, immer stärkere. Und am Tag brauchte sie all ihre Kraft und all ihren Willen, um durchzuhalten. Selbst dann zitterten die Hände manchmal bei der Arbeit. Hansen hatte es vielleicht bemerkt, die anderen nicht; die sagten nie etwas.

Britte setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und preßte die Handballen gegen die schmerzenden Schläfen.

»Nur ein Stich?!« hatte das Schwein gesagt. Sie hatte das Gefühl, als habe sie Dutzende, Hunderte von Stichen empfangen.

Mühsam stand sie auf, versuchte mit zwei, drei taumelnden Schritten ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen, ging zum Fenster, zog die Jalousie hoch: Regen. Nicht mehr so stark wie zuvor, doch noch immer das gleiche nasse, trostlose Grau. Die Autos fuhren mit angeschalteten Scheinwerfern. Britte blickte auf ihre Uhr: Sieben.

Sie ging in die Küche, um sich ein Mineralwasser zu holen. Im Korridor kam sie am Spiegel vorbei und sah sich an: War sie das tatsächlich selbst? Geschwollene Augen, das Haar stumpf und strähnig, der Mund schlaff.

Sie holte die Flasche aus dem Kühlschrank und trank wie eine Verdurstende. Auf den Kacheln, neben dem Eisschrank, standen weitere Flaschen. Leere Weinflaschen. Es war immer so: Hatte sie Nachtdienst, ließ Elli in der gemeinsamen Wohnung die Puppen tanzen. Und Ewald, dieses ›einzigartige, unvergleichliche Miststück von Mann‹, verbrachte dann jede Nacht mit ihr, denn nicht wahr, in seiner Dachbude ist es halt so eng, und nicht mal 'nen Hifi hat er da! … Ewald begann mit Tschaikowsky und endete stets mit Soul. Einmal hatte Britte es erlebt. Und konnte nicht mehr schlafen von dem Krach, den sie machten.

Jetzt zitterte ihre Hand schon wieder. Nein, sie würde keine Tablette nehmen. Das Mineralwasser half wenigstens etwas. Zum Teufel mit Ewald. Elli mit eingeschlossen. Zum Teufel auch mit Rolf Gräfe. Und Hubert Lawinsky? Wie hatte Radonic gesagt: »Da kann er hundertmal Purser sein und durch die Welt gondeln – vor uns kann sich keiner verstecken …« Hubert hatte der Teufel schon geholt.

Ja, zum Teufel mit allen Männern …

Es läutete. Wieso? Der Uhr nach müßte es Elli sein. Vielleicht hatte sie den Schlüssel vergessen.

Sie ging zur Tür, trug nur ihren Slip und ein T-Shirt. Irgendeiner Eingebung folgend drückte sie das runde Metallblättchen am Spion zurück und sah hinaus. Was sie sah, war ein vom Regen schwarz gefärbter Trench-Coat und darüber der Teil eines männlichen Gesichtes. Und dieser Mund – das war doch … das konnte ja gar nicht sein?

Im Bad riß sie sich ihren blauen Frotteemantel vom Haken und schlüpfte hastig hinein. Hansen? Der Chef? Was suchte der hier? Wenn er es ist und sieht mich so, in dieser Verfassung …

Sie zog trotzdem die Tür auf. Es war wirklich Hansen, die Haare klatschnaß, so daß sie ganz dunkel und glatt um seinen Kopf lagen. Im Gesicht ein halb betretenes, halb munteres Lachen.

»Herr Doktor!«

»Jawohl. Persönlich. Staunste – was, Mädchen?«

Britte schnürte den Gürtel des Bademantels eng um die Taille. »Ich … ich bin gerade erst aufgestanden … Ich wollte ein bißchen schlafen. Sie wissen ja, wie das so ist an den freien Tagen. Und außerdem dieses schreckliche Gewitter.«

»Kann man sagen: Schreckliches Gewitter. Der ganze Tag war's.«

Hansen blickte an ihrer Schulter vorbei in den Korridor. »Hübsch hast du's hier. Prima Tapete. So lustig.«

Sie nickte.

»Darf ich reinkommen?«

Sie trat zögernd zwei Schritte zurück. »Ich bin ein bißchen … na, ich bin noch gar nicht so richtig auf der Welt. Außerdem seh' ich aus wie 'ne Vogelscheuche.«

»Du? Kannst du ja gar nicht.« Hansen ging weiter, ging an ihr vorbei, streckte den Kopf ins Wohnzimmer, dann in die geöffnete Küchentür, drehte sich um und zeigte plötzlich ein betretenes, ernstes Gesicht. Das Gesicht eines Menschen, dem zu Bewußtsein kommt, daß er sich im Grunde unmöglich benimmt.

»Ich stör dich?«

»Aber nein.«

»Komm, lassen wir die Floskeln. Natürlich störe ich, und du kannst mich auch rauswerfen. Weißt du: Ich wollte einfach mal nach dir schauen. Ich hatte die Idee, daß es vielleicht ganz gut sein könnte.«

Sie sah ihn nur an. Sie fühlte schon wieder, wie diese elenden Tränen in ihre Augen zu steigen versuchten.

»Ich hab mir auch frei genommen. Evi ist in Houston steckengeblieben. Da sagte ich mir: Was willst du zu Hause in deiner Wohnung? Warum fährst du nicht zum Abendessen mal nach Sachsenhausen? Da wohnt doch Britte, in der Schongauerstraße. Und dort, gleich um die Ecke, ist ja mein Lieblingsgrieche. Also schaust du bei ihr vorbei und fragst, ob sie nicht mitkommen will.«

Sie blieb noch immer stumm.

»Na, was hältst du davon?«

Er duzte sie die ganze Zeit. Das tat er normalerweise nie; nur bei der Arbeit. Warum eigentlich jetzt? Nicht aus Vorgesetztenarroganz, dazu war er nicht der Typ.

Die Tränen drängten aus ihren Augen, und sie konnte nicht mehr dagegen ankämpfen.

Sie drehte sich um und wollte in ihr Zimmer, blieb aber dann doch stehen, lehnte sich an die Wand und sagte: »Ich bin hysterisch, Doktor. Ich weiß.«

»Es gibt für alles Gründe, Britte. Das hat mit Hysterie nichts zu tun.«

»Ja … Ich bin deshalb hysterisch geworden, weil's noch jemanden gibt, der sich über mich Gedanken macht.«

»Aber Mädchen …«

»Und weil Sie das sind.«

»Sei nicht ungerecht, Britte! Nicht nur ich. Auch Fritz Wullemann hat mir gesagt, wir müssen uns um dich kümmern. Und wenn du nichts dagegen hast …«

Nun schluchzte sie, preßte die Hände gegen die Augenballen, als könne sie alles zurückdrängen, was sie quälte.

»Britte«, sagte er weich. »Ich geh jetzt runter ins ›Athen‹. Und dort warte ich auf dich. Die haben einen prima Retsina. Und Quarktaschen. Und irgendso'n Zeug, das man in Weinblätter einwickelt. Ich warte dort. Und du fängst jetzt nicht damit an, deine Haare zu waschen und dich sonst irgendwie aufzumachen. Du kannst ja diesen Zopf flechten, das ja. Der steht dir immer so gut. Und dann kommst du einfach so. – Abgemacht?«

Sie nickte.

»Das ist ja nicht zu fassen! Der wollte mit der Schere deine Augen …?«

Britte nickte. Doch jetzt, wo sie das ungläubige Gesicht Hansens sah, wurde auch ihr diese Szene vollkommen unwirklich. Radonic, Hubert Lawinsky … in ihrem Bewußtsein wurden sie Figuren aus einem Horrorfilm, waren keine Menschen aus Fleisch und Blut mehr.

»Ein Sadist«, stöhnte Hansen.

»Ich weiß das nicht so genau, Herr Doktor.«

»Nein? Aber er hat …«

»Er hat vielleicht nur eine Schau abgezogen, denke ich manchmal. Denn für ihn war das alles nichts als eine Art Routine.«

»Na, um Gottes willen …«

»Routine, die zu seinem Job gehört, meine ich. Er wollte wissen, wo Lawinsky steckt, weil der elftausend Dollar von dem südamerikanischen Mafia-Geld geklaut hatte. Da ich es diesem Radonic nicht sagte, wollte er es aus mir herausquetschen. Mit seinen Mitteln. Er war nun mal ein Professioneller, ein Mafioso oder sowas – obwohl man die sich ja immer ganz anders vorstellt. Der sah eigentlich eher aus wie ein verfetteter Musik-Professor. Aber er wußte, was er tat. Das wußte er ganz genau. Er hat mir sogar noch zum Abschied gute Ratschläge gegeben. Ich soll die Finger von Lawinsky lassen, denn den würden sie umbringen. Das haben sie dann wohl auch getan …«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe einen seiner Kollegen getroffen, der ebenfalls Purser bei der australischen Fluglinie ›Quantas‹ ist. Der sagte es mir – das heißt, er wollte es mir zartfühlend und ganz schonend beibringen; doch schon, als er die erste Bemerkung machte, wußte ich, was passiert war.«

»Und wie ist es passiert?«

»Seine Eltern haben irgendwo bei Brisbane ein Landhaus. Er hat mir oft davon erzählt. Er hat bei der ›Quantas‹ wohl Urlaub genommen. Und dann machte er den Fehler, dorthin zu fahren.«

»Sie haben ihn umgelegt?«

Britte schüttelte den Kopf. Es war das erste Mal, daß sie mit einem Menschen über diese Sache sprach. Und das Gute daran: Es machte ihr nicht einmal Schwierigkeiten. Sie erzählte, als habe sie das alles in einer Zeitung gelesen. »Ein Unfall, Herr Dr. Hansen. Er kam in einer Kurve von der Fahrbahn ab und fiel in eine Schlucht. Der Wagen explodierte. Hubert Lawinsky war sofort tot. Wirklich ein Unfall? Für mich war's das nicht …«

Hansen schwieg. Sie hatten gegessen, hatten den Retsina dazu getrunken, und nun waren sie beim Metaxas. Er spürte, wie sich die Wärme des Cognacs in seinem Körper ausbreitete und seine Stirn erhitzte. Um ihn herum saßen viele Menschen, der Laden war gerammelt voll. Gäste, Gelächter, griechische Musik. Auf den Tischen brannten Kerzen. Alle schienen fröhlich und zufrieden. – Nur sie beide, Britte und er, saßen wie auf einer Insel … Herrgott, was hatte sie alles durchgemacht.

Er griff voller Anteilnahme nach ihrem Handgelenk und ließ es nicht mehr los: »Warum, zum Teufel, hast du nie einen Ton davon erzählt?«

»Wem?« fragte sie einfach.

»Rolf zum Beispiel …«

Ein Kellner kam an den Tisch: »Darf ich den Herrschaften noch einen Retsina bringen?«

Britte schüttelte den Kopf.

»Aber bringen Sie mir noch einen Metaxas«, sagte Hansen und lächelte: »Ich bin sowieso mit dem Taxi da … Also, nun sag schon: Warum nicht Rolf?«

»Warum nicht Rolf, warum nicht Rolf?« wiederholte sie ungeduldig. »Ja, wie denn? Rolf hat sich geweigert, mit mir zu sprechen. Nicht mal sehen wollte er mich. Soll ich in die Universitäts-Klinik rennen und ihm das in die Ohren schreien?«

Hansens Zeigefinger drückte ein Stück Weißbrot zusammen. Es knirschte und wölbte sich an den Enden auf. Der Kellner brachte den Cognac.

»Unser Freund Doktor Rolf Gräfe ist ein Idiot«, sagte er. »Oder, was schlimmer ist: ein gottverdammter Betonkopf. Er riegelt sich in seine Sturheit buchstäblich ein, verletzt seine Freunde, leidet darunter und ist dann nochmals doppelt stur. Das ist Rolf.«

»Er ist einsam«, verteidigte sie ihn. »Und er kommt mit dieser Stadt nicht zurecht. Er hat sie immer gehaßt. So wie ich …«

»Wirklich?« Hansen runzelte die Stirn. »Haben Sie schon mal daran gedacht, wieder in Ihre Heimat zurückzukehren? Freudenstadt ist das, nicht wahr?«

»Freudenstadt – ja …« Sie wich der intensiven Frage in seinen Augen aus. Die ganze Zeit hat er dich jetzt geduzt, und nun, wo es für ihn anscheinend um ein sachliches Problem geht, fängt er mit dem Sie an. Und in der Klinik? Da läuft's genau umgekehrt: Erst fängt er mit dem Sie des Chefs an, um dann im OP den Kumpel zu spielen.

»Waren Sie schon mal in Freudenstadt?« fragte sie.

»Einmal. Durchgefahren.«

»Sie müßten mit dem Zug ankommen. Da fahren Sie durch den Schwarzwald und dann von oben in einen Kessel, und unten, da liegt es, so richtig niedlich. Alles Kirchen, Kloster, Fachwerkhäuser …« Ein Schatten ging über ihre Augen; so, als blättere sie im Geiste die Seiten eines längst vergessenen Buches durch, um darin eine besonders schöne Stelle zu finden. »So hübsch eigentlich, daß man daran ersticken kann. Die Schwarzwald-Berge ringsherum sind einfach zu hoch. Und ich …«, sie zögerte. »Eigentlich wollte ich immer nach Tübingen. Tübingen, das war mein Traum. Nicht Frankfurt.«

»Studieren?«

»Ja. Aber es hat nicht gereicht. Das Abitur schon, aber nicht das Geld meiner Eltern. Wir sind vier Geschwister. Ich sollte Beamtin werden. Na, da bin ich lieber nach Frankfurt … 'ne tolle Idee war das nicht. Was suche ich eigentlich in Frankfurt?« Ihre Stimme schwankte wieder wie zu Beginn. »Was suche ich überhaupt? Ich bin doch zu nichts zu gebrauchen.«

Zum zweiten Mal griff er nach ihrem Handgelenk. »Britte! Sagen Sie das nicht nochmal! Was hielten Sie davon, es noch einmal in Angriff zu nehmen. Ich meine Tübingen – das Studium?«

Sie wollte ihm die Hand entziehen, er hielt sie fest.

»Wie alt sind Sie?«

»Vierundzwanzig.«

»Na also!«

»Kommen Sie, Doktor, was soll denn das? Sie meinen es ja gar nicht so. Sie wollen mich jetzt nur besänftigen. Eine Art Therapie, und das ist ja auch richtig. Im Grunde gehöre ich wohl schon längst zum Psychiater …«

»Jetzt ist Schluß, Britte! Hören Sie mir mal ernsthaft zu. In einer Krise stecken wir alle hin und wieder. Und auch in der berühmten Sinn-des-Lebens-Krise … Nein, lassen Sie mich ausreden, verdammt nochmal! Ich habe Sie beobachtet. Ich beobachte Sie schon seit Wochen. Und ich weiß, was Sie bringen. Das ist exzellent. Und von Ihrem Engagement will ich gar nicht erst anfangen. Sie haben's einfach in sich, und Sie könnten noch besser sein, wenn Sie mit dieser dämlichen Tabletten-Lutscherei wieder aufhören würden.«

»Das haben Sie gemerkt?«

»Na klar hab ich das. Deshalb wollte ich auch heute mit Ihnen reden. Ich bin doch nicht blind, Britte. Aber das ist jetzt nicht das eigentliche Thema. Das Thema ist Ihre Zukunft … Halten Sie durch, Britte. Das ist kein Sprücheklopfen. Wenn Sie noch eine Weile bei der Stange bleiben, dann verspreche ich Ihnen, daß ich alles dransetzen werde, um Sie bei der Uni unterzubringen.«

»Und das … das meinen Sie im Ernst?«

»Natürlich meine ich das im Ernst. Dazu kennen Sie mich doch schließlich lange genug. Nehmen Sie den Kopf endlich wieder hoch! Hübsch genug ist er ja. Es gibt nicht den klitzekleinsten Grund, ihn hängenzulassen!«

»Gib noch mehr Kontrast auf den Bildschirm, Walter! – Ja, so. So ist's richtig. Siehst du da drüben, an der Seilschranke, bei Condor … Der Typ in der Jacke, der mit dem weißen Hut, das ist er.«

Schichtführer Lübbe nahm in der Zentrale des Frankfurter Flughafen-Schutzdienstes das Kommando-Mikrophon an den Mund. Dabei ließ er die Monitorbilder an der Wand nicht aus den Augen, die von den Kameras zu ihm heraufgesandt wurden. Na, diesmal wird's klappen. Todsicher wird's klappen.

»Hier Delta eins. Hörst du mich?«

»Delta vier. Ja.«

»Hör mal, du stehst doch an Punkt vierzehn?«

»Richtig.«

»So, und wenn du dich jetzt seitlich zu den Anzeigetafeln stellst, dann hast du genau die beiden Lufthansa-Schalter und den Condor-Schalter der Information vor dir.«

»Ja.«

»Siehst du diesen Itaker-Typ dort drüben? Den mit dem weißen Hut? Er trägt eine weiße Windjacke und Jeans. Zirka vierzig Jahre alt – das heißt, soweit ich das von hier schätzen kann. Vielleicht auch jünger.«

»Den seh ich. – Zugriff?«

»Nein. Nur im Notfall. Du wartest, bis die Leute vom K.K.-26 bei dir eintreffen. Die sind bereits in Trab und müssen jede Sekunde bei dir auftauchen. Aber geh noch näher ran, geh ziemlich nah an ihn ran. Den Hut schnappen wir als letzten. Seine beiden Kollegen bereiten gerade eine neue Aktion vor, und wenn das anläuft und wir schon jetzt dazwischengehen, dann merken die was. Und diesmal muß es hinhauen, hörst du, muß! – Ende.«

»Ende«, kam es zurück.

Lübbe seufzte. Zum wievielten Mal lief das heute? Zum vierten, nein, schon zum fünften Mal. Weiß der Teufel, was diesen Sommer los ist. Schon die ganzen Jahre zuvor hatten sie Klauerei bis zum Stehkragen. Aber nun? Wie die Heuschrecken, nein, wie die Ameisen überschwemmten die Ganoven den Airport. Aus allen Ecken kamen sie, angelockt von der Glitzer-D-Mark oder dem angeblich unbeschränkten Reichtum der Deutschen … Jede Menge Russen seit neuestem, Türken, Griechen, selbst Bulgaren hatten sie schon geschnappt, und dazu natürlich die Stamm-Crews aus Andalusien und Italien. Na, die dort drüben, das schienen zwei Italiener? Arbeiteten mit der armseligen AAA-Masche: anrempeln – abgreifen – abhauen …

Aber das, dachte Lübbe grimmig, nicht mehr lange. Sein Blick glitt an der Wand der Bildschirme entlang bis zum ersten Monitor in der obersten Reihe. Da! Bereich 12, da waren sie – nein, waren gewesen.

»Sind die beiden Italiener nicht mehr im Bild?«

»Nein. Aber Losek und Hans Herbst könnten zulangen. Die haben eine alte Dame auf dem Korn.«

»Na dann – viel Glück! Und …«

Der Satz blieb Lübbe im Hals stecken. Ungläubig, mit weit geöffneten Augen, starrte er auf die Bildschirme. Die ganze Reihe, ein ganzer Block, der gesamte C-Bereich – nichts als ein grausam widerwärtiges, schwarzweißes Schneeflimmern!

»Was ist denn das, Herrgott nochmal?!«

»Störung!« schrie Walter.

»Was heißt denn Störung? Was soll denn das?«

»Stromausfall.«

Lübbe fluchte nochmals. Das Licht brannte doch noch! Waren denn alle bescheuert? Und außerdem: Für den Fall, daß die Versorgung des Flughafens von außen ausfiel, sprang das airporteigene Kraftwerk an. Und wenn es selbst dann noch eine Störung gab – die wichtigsten Nervenzentren der Airport-Organisation hingen darüber hinaus noch an einer Notversorgung. Dazu gehörte auch das Schutzdienst-Zentrum. Es war an alles gedacht.

»Das«, flüsterte Lübbe, »das gibt's nicht. Das kann es einfach nicht geben. Und ausgerechnet jetzt! Wir hatten sie doch beinahe schon in der Tasche …«

Er steckte das Kommando-Mikrophon zornig in die Halterung und drehte sich um und sah Brunner dort durch die Tür stürmen. Einen Friedhelm Brunner, den er noch nie so verblüfft gesehen hatte wie in dieser Sekunde.

»Na ja, Chef – Feierabend, was?«

»Es muß 'ne Leitung sein.«

»Aber die werden doch regelmäßig gecheckt?«

»Trotzdem«, sagte Brunner.

»Dann ist es nicht nur eine Leitung, dann sind es ganz schön viele.«

Und so war es. Die Störungs-Sucher des Hausdienstes fanden es eine halbe Stunde später heraus: Der Schaden wurde hinter einer Wandverkleidung südlich des Ibero-Büros entdeckt. Als sie den Deckel eines Schaltkastens abnahmen, fanden sie ihn von dunklen Hitzespuren überzogen, und innen entdeckten sie schwarzverschmorte Kabel, die zum Teil sogar zerrissen waren.

»Was ist denn das?« Der Werkmeister schüttelte ratlos den Kopf.

»Ein Kurzer. Was denn sonst?«

»Ein Kurzer bei 'ner Kamera-Zuführung? Das ist doch sowas wie 'ne Antenne.«

»Vielleicht haben sie irgendwo einen Verstärker?« In Elektronik waren sie beide nicht besonders sattelfest. Und das ausgeglühte Metallröhrchen der Zündhülse hatten sie sowieso übersehen. Es war beim Abnehmen des Schaltkasten-Deckels über den Kastenrand gerutscht und nach unten zwischen Wand und Verkleidung gefallen.

Sie machten sich wieder an die Arbeit. Es dauerte noch keine dreißig Minuten, dann war der Schaden behoben, und oben an der Monitorwand zeigten sich wieder die gewohnten Bilder.

»Na also! Doch nur eine Störung.«

An diesen erleichterten Stoßseufzer erinnerte sich Friedhelm Brunner drei Stunden später. Eine Sekretärin der Flugplatz-Leitung brachte ihm ein Kuvert: ›An die Direktion der Frankfurter Airport-AG‹, stand in Computer-Schrift darauf. ›Dringend!!!‹

Brunner überflog die Hausmitteilung, die angeheftet war. Das Kuvert war bereits geöffnet worden. Er zog ein zusammengefaltetes DIN-A-4-Blatt heraus. Es war in derselben Computer-Schrift geschrieben wie die Adresse. Es begann zu lesen:

›SEHR GEEHRTE HERREN,

WAS HEUTE MIT IHREN ÜBERWACHUNGSKAMERAS PASSIERTE, WAR NICHTS ALS EIN KLEINER TESTLAUF. SIE WISSEN SELBST, DASS ES BEDEUTEND LOHNENDERE UND WICHTIGERE ZIELOBJEKTE AUF DEM AIRPORT GIBT, ALS IHRE LÄCHERLICHEN FERNSEHAUGEN.

SIE WERDEN BALD WIEDER VON MIR HÖREN. INZWISCHEN WERDEN SIE ALLERDINGS ERLEBT HABEN, WAS AUF DEM FRANKFURTER FLUGHAFEN ALLES GESCHEHEN KANN. ICH EMPFEHLE IHNEN: ERINNERN SIE SICH AN DEN 18. JUNI …

Ypsilon.«

Die Besprechung mit dem Chefredakteur fand im Anschluß an die Vormittags-Nachrichtenkonferenz statt. Und schon dort, am großen Tisch, vor der ganzen Redaktion, hatte Rüdiger seinen Knüller gelandet: eine Quittung. Groß als Dia auf die Leinwand geworfen und ausgestellt von der Finanzabteilung der SÜBA.

Eine Quittung über satte 84.000 D-Mark, also beinahe hunderttausend Mäuse! Und darauf die Empfänger-Unterschrift, klar und deutlich, wie gestochen: Martin Reinbacher, Staatssekretär.

Sogar Haupt, der Chef der Redaktionsabteilung Politik, hatte gestaunt: »Wo haben Sie denn das Ding her?«

»Großes Dienstgeheimnis, Herr Haupt«, hatte Rüdiger gesagt. »Aber damit haben wir Reinbacher am Kanthaken. Da kommt er nicht raus.«

Rüdiger schielte dabei zum Kopfende hinüber, wo Chefredakteur Hensche saß. Der machte, wie immer in solchen Momenten, den großen Mandarin und nuckelte an seiner Pfeife.

»Reinbacher wird natürlich sagen«, fuhr Rüdiger fort, »er habe die Vierundachtzigtausend an die Partei abgeliefert. Aber damit kommt er nicht durch. Die werden ihn nicht decken … Und ich habe klare Beweise dafür, daß das ganze Material für den Pool- und Sauna-Anbau in der Honnefer Villa des Herrn Staatssekretärs von der SÜBA stammt. Wir haben nicht nur die Paletten-Aufschriften; Margot Hoffmann schoß auch jede Menge Fotos davon.«

»Und die wollen Sie jetzt bringen? Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Haupt.

»Das besprechen wir anschließend«, sagte Hensche. »In meinem Büro. Rüdiger Göttner und ich. Sie haben ja jetzt genug zu tun, Herr Haupt.«

Es war so ziemlich der einzige Satz, den der Chefredakteur bei der Konferenz abgesondert hatte.

Auch jetzt, im Chef-Büro, die Tasse Kaffee vor sich, die ihm Frau Kemp, seine Sekretärin, gebracht hatte, zeigte er sich nicht besonders gesprächig, sondern wiederholte nur Haupts Frage: »Na, Rüdiger? Und wie stellen Sie sich den Ablauf vor?«

Rauchwolken. Paff-paff-paff …

Rüdiger Göttner rutschte auf dem Sessel weit nach vorne. In dem dämlichen Ding sackst du glatt ab, dachte er; dabei brauchst du jetzt Durchblick wie nie. Powern, das war die einzige Chance. Er sah die Schlagzeile vor sich:

›STAATSSEKRETÄR IN KORRUPTIONS-SKANDAL VERWICKELT! – Von Rüdiger Göttner.‹

Seite eins, jawohl, der Aufmacher womöglich. Seine Chance war's – der Durchbruch!

»Angriff«, sagte er. »Kein Einzel-Interview, Herr Hensche. Nichts Privates. Angriff vor den anderen. Auf dem Markt gewissermaßen. Auf der Agora.«

»Agora?« Hensche lächelte amüsiert. »Jetzt kommen Sie mir auch noch mit griechischer Bildung, Rüdiger? Überfordern Sie sich da nicht?«

»Vielleicht sollte ich einiges klarstellen, was meine Wenigkeit angeht, Herr Hensche … Aber nicht heute. Sache ist jedenfalls: Martin Reinbacher fliegt morgen nach Rom. Zu den Agrar-Verhandlungen. Und da er in Frankfurt für einen Tag unterbricht, fällt für die liebe hessische Presse eine Pressekonferenz im Airport ab. Und zwar in der Senator-Lounge. Beginn sechzehn Uhr.«

»Und da wollen Sie …?«

»Was ich will, ist folgendes: Erstens bei ihm einen Schock erzielen. Zweitens die Reaktion darauf dokumentieren. Und das geht immer am besten vor großem Publikum.«

»Dokumentieren heißt fotografieren?«

»Genau.«

»Und die Fotos schießt natürlich Ihre Freundin, die Hoffmann?«

»Vielleicht ist Margot Hoffmann meine Freundin, Herr Hensche – sicher aber ist sie die reaktionsschnellste Fotoreporterin im ganzen Stall.«

Hensche lächelte noch immer: »Und wie wollen Sie ihn erreichen, den Schock?«

»Ich hab die Quittung. Und ein paar interessante Briefchen. Und Margot hat mir das ganze Material auf 18/36 vergrößert, schön groß aufgeblasen, damit es selbst ein halb Blinder lesen kann. Ich kann es rumzeigen, ich kann es ihm unter die Nase halten.«

»Können vielleicht. Aber das werden Sie nicht tun, Rüdiger. Wissen Sie, warum? Weil das Theater ist! Schmierenkomödie. Nicht Journalismus. Und schon gar kein Stil.«

Rüdiger Göttner nagte an seiner Unterlippe. Mist! Bei sich hatte er die Szene, nein, den Szenen-Effekt ein Dutzendmal durchgespielt. Aber jetzt beschlichen ihn nicht nur Zweifel, vielmehr erkannte er: Der Alte hat recht.

»Ich werde mir etwas anderes einfallen lassen, Herr Hensche.«

»Schon besser. Tun Sie das.«

Hensche sah auf seine Uhr.

»Ich könnte zum Beispiel zunächst mit Fragen beginnen …«

Der Chefredakteur lehnte sich zurück und zeigte sein berühmt-berüchtigtes Lächeln: »Hören Sie zu, Rüdiger! Ich habe einen Verleger. Den Satz kennen Sie ja. Also wissen Sie auch, was er bedeutet. Wenn Sie Ihr Spiel mit Ihren Karten spielen wollen – für mich ist das in Ordnung. Aber falls es die falschen Karten sind, sind Sie dran, nicht ich.«

»Das ist mir klar.«

»Na schön. Also will ich's mir gar nicht anhören. So kommen Sie auch nicht in die Versuchung, sich auf mich zu berufen. Ist auch das klar?«

»Ja.«

Rüdiger Göttner wollte grinsen. Im allgemeinen gelang ihm das schnell und leicht. Diesmal allerdings schaffte er es nur unter Schwierigkeiten …

Zeit hatten sie noch, genug Zeit. Als Rüdigers roter verbeulter BMW in die Auffahrt glitt, fing es schon wieder an zu nieseln. So war's seit Tagen, seit diesem dämlichen Gewitter. Es regnete, hörte auf, fing wieder an. Und die Welt sah so aus, wie sie es vermutlich war: verschmiert, grau, dreckig.

»Wo willst du denn jetzt hin?« fragte Fotoreporterin Margot. »Die Parkhaus-Einfahrt ist dort drüben.«

»Wirst du gleich sehen, Mädchen.«

Er steuerte den BMW mit Schwung in eine Garageneinfahrt. Es war die Einfahrt zu den Personalgaragen der Flughafen-AG.

»Guckste, was?«

Margot nickte. »Die schmeißen dich auch gleich wieder raus.«

»Von wegen! Ich hab Herberts Stellplatz. Und damit du nicht fragen mußt, sag ich's dir gleich: Herbert ist hier Ingenieur und obendrein mein Schwager. Herbert haßt seine Karre, denn er ist dazu auch noch ein Grüner. Und welcher Grüne leidet schon, wenn er seinen Wagen in der Werkstatt hat? Dort steht er nämlich schon seit drei Monaten; 'ne verrostete Ente. Herbert fährt unterdessen mit dem Fahrrad und ist glücklich. Und ich hab seinen Parkplatz und bin's auch. Kapiert?«

Sie nickte. Es war ihr egal. Dieser verrückte Hund von Rüdiger kam ihr sowieso ständig mit seinen einmaligen Rüdiger-Göttner-Tricks. Man gewöhnte sich auch daran … Nur, wie er die Kiste wieder durchziehen wollte, war ihr noch nicht klar.

»Also?« sagte Margot. »Jetzt das Programm.«

Er fuhr den Wagen auf den Parkplatz, schnappte sich sein Tonbandgerät, schob ihr die Kameras zu und wartete geduldig, bis sie sie alle umgehängt hatte. Dann schloß er ab.

»Kein Programm, Margot'sche. Zero. Null. Man muß die Dinge auf sich zukommen lassen. Kennst mich doch. Im Improvisieren bin ich Weltmeister. Wir halten es wie immer: Wenn ich an meine Nase fasse, drückst du auf den Knopf.«

»Okay.« – Und dann marschierte sie hinter ihm her dem Ausgang entgegen. Von dieser Garage hier war's nun wirklich ganz einfach, den Meeting-Point – das Herz des Flughafen-Gewühls – zu erreichen.

»Wo ist denn diese Senators-Lounge?« fragte sie.

»Warst du noch nie dort?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Na, dann komm!« Er winkte. Es war ein lässiges Wedeln mit der abgeknickten Hand. Mit der anderen schob er sich die blonde Haartolle zurück, die immer die Tendenz hatte, sich hochzuwölben wie ein Hahnenkamm. In solchen Augenblicken mochte sie ihn wirklich. Man konnte über Rüdiger Göttner sagen, was man wollte: Für eine Schau war er immer gut. Und das machte das Leben mit ihm so interessant …

Noch immer ging er voraus, vornübergebeugt, mit langen, raumgreifenden Schritten, die Hände in den Taschen, die Schultern eingekrümmt und nach vorn geschoben. Als habe er einen Widerstand zu beseitigen. Als marschiere er gegen den Sturm.

Und Margot rannte hinterher und hielt die Kameras fest. »He! – Rüdiger!« keuchte sie.

Sie befanden sich jetzt auf der Abflug-Ebene am Flugsteig A der Inland-Flüge. ›A-2‹ las Margot. Und dann, tatsächlich, in ganz vornehmer Schrift: SENATORS LOUNGE.

»Hast du den Presseausweis?«

Ja, den brauchten sie. Vor dem Eingang hatten sich zwei Männer des Bundesgrenzschutzes postiert. Daneben stand noch ein dritter, der indessen keine Uniform trug, sondern den verfetteten Körper in einen dunkelgrauen Nadelstreifen-Zweireiher verpackt hatte. Ein Bürokrat, Mitglied der Minister-Entourage. Wahrscheinlich einer von Reinbachers Referenten. Die nahmen's hier ja ganz schön genau!

Rüdiger Göttner zog den Presseausweis aus der Brusttasche. Cool, ganz cool – das Wort war längst sein Arbeitsleitspruch geworden. Nun allerdings spürte er, wie ihm Nervosität und Erregung die Stirn heiß werden ließ.

Endlich! dachte er …

Drei Monate lang hatte Rüdiger Göttner den Fall verfolgt. In Bonn. Und in Pforzheim, wo die Zentrale der SÜBA saß. Er hatte mit Sekretärinnen geflirtet, Werkschutz-Leute bestochen, Anwälte oder Lkw-Fahrer besoffen geredet. Und dies alles, um nachzuweisen, daß es bei den Baustoff-Aufträgen für den Autobahn-Ausbau der neuen Trasse nach Magdeburg nicht mit rechten Dingen zuging. Und daß sich Staatssekretär Martin Reinbacher, der dynamische Bonner Überflieger, von den Bevorzugten verwöhnen ließ.

Jetzt, jetzt endlich war's soweit! Jetzt, dachte Rüdiger Göttner, jetzt weiß ich genau, wie es den Fahndern am Ende der Jagd zumute ist; dann, wenn sie die Pistole entsichern, weil das Kommando ›Zugriff‹ gegeben wurde.

»Nun komm schon«, zischte er Margot zu, hob den Presseausweis und wollte zwischen den beiden BGS-Wachen durch.

»Einen Augenblick bitte!« Einer der Beamten nahm ihm den Ausweis ab und reichte ihn dem Mann im grauen Zweireiher.

Was sollte das Gedöhns? Rüdiger warf einen Blick in die Lounge. Einen großen Bahnhof bekam er nicht. Vielleicht ein halbes Dutzend Kollegen. Und dort, er sah ihn: Reinbacher war größer und jünger, als er ihn nach den Fotos eingeschätzt hatte.

»Tut mir leid, Herr Göttner.« Der Zweireiher-Typ gab ihm den Presseausweis zurück. Er tat es mit ganz spitzen Fingern und arrogant hochgezogenen Brauen.

»Was tut Ihnen leid?«

»Wir können und werden Sie hier nicht reinlassen.«

»Sie werden was nicht?«

»Das haben Sie bereits vernommen.«

»Sie wollen … Sie wollen die Presse bei der Ausübung ihrer …«

»Nicht die Presse, Herr Göttner. – Sie! Sie ganz persönlich. Ihretwegen stehe ich sogar hier, um die Gäste zu kontrollieren. Und was die Ausübung Ihres Berufes angeht: Wir wissen inzwischen Bescheid, wie Sie den ausüben. Der Herr Staatssekretär läßt Ihre – hm – Ihre Machenschaften bereits seit einiger Zeit verfolgen. Sie haben auf unstatthafte Weise Sekretärinnen bedrängt und sich Korrespondenzen beschafft … Aber lassen wir's. Diese Fragen werden Sie alle noch von unserem Anwalt erklärt bekommen. Hier aber, um das auch klarzustellen, besitzen wir Hausrecht. Und das heißt …«

»Das heißt was?« Rüdiger Göttner berührte mit dem rechten Zeigefingernagel seine Nase – ein Zeichen für die Fotoreporterin – und starrte dabei aus schmalen, wutglitzernden Augen den anderen an.

Margot hatte schnell geschaltet. Wie immer. Das erste Blitzlicht flammte auf.

»Ihren Namen! Ich möchte sofort Ihren Namen.«

Wieder der Blitz.

»Aha! Den wollen Sie mir noch nicht mal geben? Gut, dann werde ich ihn mir von Herrn Reinbacher holen. Und das kann ich Ihnen auch schon sagen: Die Geschichte hier wird nicht nur den Presse-Rat beschäftigen, sondern auch die Bundesregierung. Dafür sorge ich!«

Rüdiger Göttner hob den Ellbogen, um die beiden BGS-Typen, die sich nun wie eine Mauer vor ihm aufgebaut hatten, auseinanderzuschieben: »Lassen Sie mich durch!« Er spannte den Rücken, setzte seine ganze Kraft ein und betete dabei: Hoffentlich schießt die Margot wieder … Ja! Gut. Sehr gut!

»Lassen Sie den Quatsch«, sagte einer der Männer. Blond war er und jung und trug einen winzigen Bart auf der Oberlippe. »Ich warne Sie!«

»Ja, von wegen«, keuchte Göttner und setzte den rechten Fußballen auf, um sich noch mehr Schub zu verleihen. Wer wird sich denn von einem solchen Scheiß-Bullen abschmettern lassen? Er doch nicht!

Doch dann wurde ihm der Fuß plötzlich weggeschlagen. Er fühlte, wie er stürzte, spürte den heftigen Aufprall; den Schmerz, der wie eine sengendheiße Flamme war und vom Arm zum Herzen stach. Der Ellenbogen … Himmelherrgott nochmal, schon wieder das Gelenk … Wie in Kitzbühl … Oh Gott! Oh Scheiße, tut das vielleicht weh …

Er schrie auf. Und dann jammerte er: »Mein Arm … Seid Ihr denn verrückt geworden?! Oh – au, mein Arm!«

»Sie wollten es doch so«, sagte der BGS-Mann.