Sie stand schon seit einiger Zeit auf der Terrasse des Flughafen-Restaurants, hatte innerlich erregt das eiserne Gitter umfaßt, blickte starr auf das Gewühl unter ihr und sah kaum die hin und her rollenden Gepäckwagen, die Follow Me-Autos und die großen Busse, die Knäuel aus eng aneinander gedrängten Reisenden zu den Flugzeugen irgendwo auf dem weiten Flugfeld brachten. Die in der Sonne glitzernden Zufahrtsstraßen endeten an der langen, breiten Startbahn, wo zum Abflug bereite Maschinen zu ihren Plätzen rollten oder auf weitere Anweisungen vom Tower warteten. Ein quirlendes, faszinierendes Leben, das jeden immer wieder in seinen Bann zieht, wenn er hier steht und den Platz überblickt, von dem aus unzählige Menschen zu weit entfernten Zielen starten.

Die Maschine dort drüben, ein Jumbo mit dem Zeichen der aufgehenden Sonne, fliegt gleich nach Japan. Und da hinten rollt eine andere Maschine mit einem springenden Känguruh am Leitwerk, fährt langsam und majestätisch zur Rollbahn und hat 26 Stunden Flug vor sich – nach Australien, um die halbe Welt. Zum Flugsteig B 15 donnert mit gedrosselten Motoren ein Jumbo aus Singapore in Richtung des herausfahrenden Laufstegs, den man »Finger« nennt. Die Welt liegt offen da, zusammengeschrumpft auf einige Stunden. Es gibt keinen einzigen Platz mehr auf dieser Erde, der nicht erreicht werden kann. Der Planet ist erobert, und hier, von diesem Platz aus, sieht man, wie aus allen Himmelsrichtungen die Welt in eine einzige große Hand paßt: Air-Port … das Tor zu allen Ländern und allen Menschen.

Es war ein warmer Tag, doch hier oben auf der Terrasse des Restaurants wehte immer ein Wind, mal schwächer, mal stärker, aber er war da, als wolle er zeigen, daß nicht nur die glitzernden, donnernden und nach Kerosin stinkenden Riesenvögel die Luft beherrschten.

Der Wind hatte auch die blonden Haare der Frau am Geländer erfaßt, hatte sie durcheinander gewirbelt, wehte die Strähnen mal über ihr Gesicht, mal nach hinten in ihren Nacken. Sie ließ es geschehen, faßte sich nicht einmal an den Kopf und band keinen Schal um ihre Haare. Sie stand da an dem eisernen Gitter, unbeweglich, als sei sie eine große Puppe. Man konnte denken, sie falle um, sobald man sie anstößt. Ein Gebilde aus Plastik, kein lebender Mensch.

Das dachte auch der Kellner Josef Hellerfas, der die Frau schon seit geraumer Zeit durch die großen Fenster beobachtete. Er hatte sie nicht ins Restaurant kommen und auf die Terrasse gehen sehen. Ganz plötzlich war sie da gewesen, stand am Geländer, starrte regungslos über das Flugfeld und ließ ihr Haar vom Wind zerzausen.

»Da stimmt was nicht!« sagte Hellerfas zu Sybille, die das Büffet betreute und vor allem die kalten Speisen, die fertigen Platten herausgab. »Die steht nun fast eine Stunde da.«

»Na und?« Sybille warf einen kurzen Blick auf die Terrasse und die regungslose Gestalt. »Wenn's ihr Spaß macht.«

»Das ist doch nicht normal.«

»Es braucht ja keiner so normal zu sein wie du«, meinte Sybille schnippisch. »Mein Gott, wenn'st keine Ruhe hast, geh raus und frage sie: Warum bewegen Sie sich nicht?«

»Genau das werde ich tun!«

»Bitte … blamier dich nur. Du spinnst ja, Jupp!«

Josef Hellerfas brachte noch ein Gulasch mit Nudeln und eine Flasche Pils zu Tisch 7, öffnete dann die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Der Wind erfaßte ihn sofort, zerrte an seiner Jacke und ließ die Hosenbeine flattern. Umso mehr wunderte er sich, daß die Frau am Geländer so einen Sturm fast eine Stunde lang aushielt, ohne sich zu rühren.

Ungefähr fünf Schritte von ihr entfernt sprach er sie an: »Gnädige Frau, darf ich Ihnen …«

Es war, als habe die Frau einen Faustschlag in den Rücken bekommen. Sie zuckte heftig zusammen, warf sich herum und starrte Hellerfas an mit einem Blick, in dem blankes Entsetzen lag. Ein Blick war es, der Hellerfas wie ein Messer durchdrang. Ein kurzer Blick nur, ein Aufflammen der Augen … dann warf sich die Frau herum, griff wieder nach dem Geländer, stemmte sich hoch, hob die Beine und wollte sich in die Tiefe stürzen.

Im letzten Augenblick konnte Hellerfas gerade noch in ihr Kleid fassen, während sie schon jenseits des Geländers im Freien schwebte und mit weit aufgerissenen Augen auf Hellerfas' Hände zu schlagen versuchte. Dabei strampelte sie mit den Beinen und stieß sich mit ihnen immer wieder vom Gitter ab.

»Hilfe!« brüllte Hellerfas. »Hilfe! Ich kann sie nicht mehr halten!« Verzweifelt warf er einen Blick zurück ins Restaurant. Dort hatte man den Vorfall bemerkt, drückte die Nasen an den Scheiben platt, aber niemand eilte zur Hilfe heraus. Am Büffet schrie Sybille hysterisch, es klang wie eine Sirene. Erst nach langer Verzögerung bewegten sich zwei Gäste, rannten endlich zur Terrassentür, rissen sie auf.

Hellerfas hörte, wie das Kleid der Frau zu reißen begann, wie ihr wildes Strampeln den letzten Halt zerfetzte. Nur noch ein paar Sekunden fehlten, bis der Stoff so weit einreißen würde, daß er nicht mehr hielt und die Frau in die Tiefe stürzte.

»Hilfe!« schrie Hellerfas noch einmal und hatte das Gefühl, als werde er vom Gewicht der Frau selbst über das Geländer in die Tiefe gezogen. »Hilfe!«

Die beiden Gäste erreichten Hellerfas in dem Augenblick, als der Stoff unter seinen Händen endgültig zerriß und die stumme, strampelnde Frau wie aus einem Futteral herausrutschte. Einen Sekundenbruchteil zu spät griffen die vier Hände nach den Beinen und Armen der Frau … hilflos, mit verzerrten Gesichtern und mit Entsetzen in den Augen, sahen sie zu, wie der Körper hinunterstürzte in das Gewühl aus Menschen, Gepäckkarren, Koffern und Taschen.

Einer der Gepäckwagen, der aus unerfindlichen Gründen – denn es regnete ja nicht – mit einer Plane überdeckt war, wurde für die stürzende Frau zur Rettung. Sie fiel auf die Plane, und die Koffer und Taschen darunter federten den Sturz zusätzlich ab.

Mit einem klatschenden Laut schlug sie auf. An ihrem Kopf platzte die Kopfhaut, Blut überschwemmte das Gesicht – denn nichts blutet mehr als eine Kopfwunde –, und als von allen Seiten die Menschen herbeistürzten, hatte sie die Besinnung verloren.

»Mann, hat die ein Glück gehabt …«, stotterte Hellerfas und wischte sich den Schweiß vom Gesicht, »'ne Minute später, und sie wäre voll auf den Beton gekracht. Aus! So etwas Idiotisches, hier runterzuspringen. Wenn man sich umbringen will, gibt's angenehmere Todesarten.«

Drei Flughafenarbeiter hoben die Frau vorsichtig von dem Gepäckwagen und trugen sie zu einem der Follow Me-Wagen. Einer zog sein Hemd aus und wickelte es um ihren blutenden Kopf.

Dann raste der Wagen laut hupend los und verschwand um eine Ecke.

»Wo bringen Sie die jetzt hin?« fragte einer der Gäste, die Hellerfas zu Hilfe geeilt waren.

»In die Airport-Klinik.«

»Airport-Klinik? Was ist denn das?«

»In unsere Klinik, mein Herr.«

»Was? Der Flughafen hat 'ne eigene Klinik? Davon habe ich noch nie was gehört. Eine richtige Klinik?«

»Seien Sie froh.«

»Eine Klinik mit allem Drum und Dran?«

»Ja … mit fünf Ärzten, einundzwanzig Schwestern und Krankenpflegern, mit OP und allen Einrichtungen, wie sie auch die Stadtkliniken haben.«

»Und keiner weiß das?!«

»Die es nötig haben, wissen's dann. Diese Selbstmordkandidatin wird die Airport-Klinik nie vergessen, das sag ich Ihnen.«

Hellerfas blickte noch einmal auf die Stelle, wo die Frau auf den Gepäckkarren gestürzt war, wandte sich dann ab und ging in das Restaurant zurück. Vier neue Gäste waren unterdessen gekommen … einmal Schnitzel natur, zweimal Kohlroulade, einmal Bockwurst mit Pommes frites.

Das Leben ging weiter. Das Leben, das ein Mensch hatte wegwerfen wollen.

Chefarzt Dr. Hansen war jetzt zehn Stunden im Dienst und hatte Lust auf ein Glas Bier – ein riesiges Glas, dachte er, und ich zische es weg in einem Zug. Außerdem sehnte er sich nach der gemütlichen Couchecke in seiner Wohnung, nach seinem seidenen Hausmantel, nach Musik von einer CD – irgendetwas von Mozart, das ihn umschmeichelte. Und er freute sich auf Evi. Evi Borges, Stewardeß bei der Lufthansa. Laut Flugplan würde sie in etwa einer Stunde, von Karatschi kommend, landen.

Sie würde dann in das nächste Taxi springen und zu ihm fahren, ihm um den Hals fallen und sein Gesicht mit Küssen bedecken. Er würde sie ins Zimmer tragen, und ein Abend und eine Nacht würden beginnen, in der er sagen konnte: Ja, ich bin glücklich. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt!

Und in dieser Nacht würde er auch vergessen, daß eine andere Frau in seinen Armen lag, wenn Evi irgendwo in weiter Ferne durch die Luft schwebte. Eine Frau, die vor Leidenschaft glühte: Lukrezia Bonelli. Schwester Bonelli aus der Airport-Klinik. Heute machte sie Nachtschicht … vor Überraschungen war man also sicher.

Dr. Hansen, genannt der ›schöne Fritz‹, war eigentlich der Prototyp eines Gynäkologen und nicht der eines Chirurgen; denn nach der Volksmeinung hat ein Frauenarzt so auszusehen, daß jedem weiblichen Patienten das Herz und der Puls schneller schlagen. Gerade hatte er jetzt in der Klinik seinen weißen Arztkittel ausgezogen, als das Telefon klingelte.

»Wär ich bloß schon weg …«, sagte er zu seinem Kollegen Dr. Rolf Gräfe, blickte kurz hinüber zu Schwester Bonelli, spitzte die Lippen, warf ihr einen Kuß zu und zog sein Jackett an. Fritz Wullemann, der Oberpfleger, hatte inzwischen den Hörer abgenommen und lauschte der aufgeregten Stimme am anderen Ende der Leitung.

»In Ordnung«, sagte er dann. »Kleiner Fisch! Keine Aufregung …«

Er legte auf und wandte sich zu den Ärzten um.

»Na, was ist?« Dr. Hansen lachte. »Kleiner Fisch? Ist's eine festsitzende Blähung?«

»Eine Selbstmörderin!« Oberpfleger Wullemann fuhr sich mit der Zange über die Oberlippe. Er war ein breiter, bulliger Kerl mit Händen, die selbst einem Catcher imponiert hätten – aber diese Hände konnten unglaublich vorsichtig und zart sein; so millimetergenau beim Assistieren, daß sich die Ärzte immer wieder darüber wunderten, wie feinfühlig derartige Pranken sein konnten. Fritz Wullemann war beinahe unentbehrlich in der Airport-Klinik. Was immer auch passierte, wenn zum Beispiel ganze Flugzeugladungen total besoffener Rückkehrer aus den alkoholfeindlichen arabischen Emiraten in die Klinik geschleppt wurden – Wullemann war wie ein Fels in der Brandung. Ihn erschütterte nichts. »Dat is nun mal der Mensch!« war seine Lebensphilosophie. Das konnte niemand widerlegen.

»Die Frau ist von der Terrasse des Restaurants gesprungen. Mitten auf einen Gepäckkarren … wird gleich hier sein …«

»Schwer verletzt?« Dr. Gräfe winkte zu den drei Schwestern hinüber, die im OP-Zimmer standen. »Sauerstoff fertig machen, Röntgen vorbereiten, OP-Tisch bereit halten …« Er blickte zu Dr. Hansen, der seinen Trenchcoat überziehen wollte: »Ich mach diese Stunde noch, ehe die Ablösung kommt. Das ist doch was für dich als Unfallchirurg.«

Dr. Hansen blickte auf seine Armbanduhr. Diese Stunde noch? In einer Stunde würde Evi draußen bei ihm sein in Niddenheim. Na, etwas Zeit war noch drin … für die Erstversorgung der Patientin würde es reichen.

»Na denn!« sagte Dr. Hansen wohlwollend und zog Mantel und Jacke wieder aus. Schwester Bonelli hielt ihm den Arztkittel hin. »Dann woll'n wir uns die Springerin mal ansehen.«

Zwei Sanitäter mit einer Rolltrage waren unterdessen aus der Station gelaufen und schoben die Bahre vor die Tür der Klinik. Mit knirschenden Bremsen hielt der Follow Me-Wagen vor ihnen, der Fahrer warf sich fast aus dem Auto.

»Wir haben nicht gewartet, bis ihr mit eurem Wagen kommt!« schrie er. »Vielleicht geht's hier um Minuten. Verdammt, die versaut mir mit ihrem Blut die ganzen Polster.«

Schnell, geübt, mit sicheren Griffen zogen die Sanitäter die bewußtlose Frau vom Rücksitz und legten sie auf die Bahre. Das um ihren Kopf gewickelte Hemd war durchgeblutet, ihr Gesicht war, kaum zu erkennen, nur noch ein roter, bizarrer Fleck.

»Komm mit!« sagte einer der Sanitäter. »Los, komm mit …«

»Warum denn?« Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Was hab ich damit zu tun? Ich muß sehen, wie ich das Blut wieder wegkriege.«

»Du mußt den Tathergang schildern …«

»Tathergang! Die saust von der Terrasse herunter und knallt aufs Gepäck. Das ist alles.«

»Das erzähl mal den Doktors und der Polizei. Los, avanti, avanti …«

Die Sanitäter liefen mit der Rolltrage los, der Fahrer folgte ihnen fluchend und dachte an die versauten Polster.

Dr. Hansen, Dr. Gräfe und natürlich Wullemann beugten sich sofort über die Selbstmörderin. »Tot isse nich!« war das erste, was Wullemann sagte.

Dr. Gräfe, der den Puls fühlte, nickte: »Puls flatternd und sehr schwach.«

Dr. Hansen, der das blutige Hemd von ihrem Kopf wickelte, beugte sich tief über sie. »Platzwunde an der Stirn. Das ist harmlos. Lukrezia: Sauerstoff! Britte: Cordalin! Strophanthin!«

Ein anderer Sanitäter wusch der Frau jetzt das Blut vom Gesicht. Zwei Schwestern begannen die Bewußtlose vorsichtig auszuziehen. Dr. Hansen kontrollierte Arme und Beine. »Gebrochen ist nichts. Hat Glück gehabt. Röntgen fertig?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Dann rüber mit ihr. Vorsichtig, Leute! Sie kann innere Verletzungen haben. Was meinst du, Rolf?«

»Nach inneren Blutungen sieht sie nicht aus. Vielleicht hat sie wirklich unverschämtes Schwein gehabt.«

Zwanzig Minuten später sahen die Ärzte klarer. Röntgenbilder, Puls, Blutdruck, Atmung waren ohne Befund. Den Kreislauf hatte man stabilisiert. Die Frau lag noch unter der Sauerstoffmaske, die Platzwunde auf der Stirn hatte Dr. Gräfe zusammengezogen und mit einem Spezialpflaster fixiert. Eine Naht machte er nicht; es sollte später keine unschöne Narbe zurückbleiben. So blieb vielleicht nur ein dünner, hellerer Strich, den man mit Make up leicht unsichtbar machen konnte. Innere Verletzungen waren nicht feststellbar; Blutdruck und Puls sprachen dagegen.

»Da hat ein Engel die Hand dazwischengehalten!« meinte Dr. Hansen, ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände und Unterarme. »Schon herausgefunden, wie sie heißt?«

»Nein. Sie hat keinerlei Papiere bei sich.« Wullemann hatte ihre Kleidung untersucht – jedenfalls das, was nach dem Zerreißen des Kleides noch übriggeblieben war. »Aber wenn sie aufwacht, wird sie's uns sagen.«

Im Vorraum hörten sie jetzt Stimmen. Eine Schwester kam in den OP und zeigte mit dem Daumen nach hinten.

»Die Polizei, Chef …«

»Natürlich. Ein Protokoll muß sein. Rolf, wenn sie aufwacht, hol mich sofort.«

Dr. Hansen ging zum Warteraum, in dem sonst die Verwandten oder Bekannten der eingelieferten Patienten saßen, um zu erfahren, wie es weiterging und in welches Krankenhaus der Stadt man die Kranken bringen würde. Jetzt war der Raum fast leer. Nur zwei Uniformierte standen herum, ein Angehöriger der Air-Port-Polizeiwache und ein Inspektor des Flughafenschutzdienstes.

»Uns ist gemeldet worden, Herr Doktor …«, begann der Polizeibeamte.

Hansen winkte sofort ab: »Ja, es stimmt. Eine Frau hat sich von der Restaurantterrasse gestürzt. Warum, wissen wir noch nicht. Die ist noch nicht vernehmungsfähig.«

»Wird sie überleben?«

»Ich hoffe es stark. Ihre Verletzungen sind wunderbarerweise nicht schwer. Man könnte sie, wenn sie wieder aufwacht, nach Hause entlassen. Aber das halte ich für falsch. Ich möchte sie in psychiatrische Behandlung überstellen. Ich hab – begründen kann ich es nicht, es ist so ein Gefühl – den Verdacht, daß sie es wiederholt. Und dann gelingt es ihr sicher. Das sollten wir verhindern. Ich werde gleich mit der psychiatrischen Uni-Klinik sprechen. Suizidwillige sind immer ein Problem. Und zum Problem gehört auch die Unterbringung. Mehr kann ich Ihnen noch nicht sagen.«

»Wann etwa könnte sie vernehmungsfähig sein? Wir brauchen Name, Adresse, nächste Angehörige. Grund des Selbstmordversuches …«

»Wozu?«

»Rechtlich gesehen ist die Tat eine fahrlässige Gefährdung der Öffentlichkeit. Sie hätte ja auf einen anderen Menschen stürzen können und ihn schwer verletzen …«

»Hat sie aber nicht.«

»Es kommt nicht darauf an, ob das geschehen ist, sondern daß sie es getan hat. Es könnte ja …«

»Ich halte es für unwahrscheinlich, daß ein Selbstmörder vorher das Gesetzbuch durchliest und dann seine Selbsttötung so einrichtet, daß kein anderer gestört wird. Aus der Sicht der Frau ist es Strafe genug, daß sie überlebt hat und gerettet wurde. Das wird sie uns sogar zum Vorwurf machen. Und deshalb halte ich eine Unterbringung für sehr nötig.« Dr. Hansen nickte den beiden Männern zu. »Sie entschuldigen mich, meine Herren. Ich muß zurück zu der Patientin.«

»Sagen Sie uns Bescheid, wenn sie vernehmungsfähig ist?«

»Natürlich. Aber das kann noch 'was dauern.«

Er verließ den Warteraum ziemlich abrupt und warf die Tür hinter sich zu.

Der Polizist sah den Inspektor betroffen an: »Er scheint uns nicht zu mögen.«

»Typisch Arzt. Sobald sie ihren weißen Kittel anhaben, fühlen sie sich wie die Götter. Arrogant bis zum Kotzen! Da kenn ich einen Professor in der Uni-Frauenklinik. Geht meine Frau zur Vorsorge-Untersuchung hin, und da fragt der Kerl: Wie oft haben Sie mit Ihrem Mann ehelichen Verkehr? – Das muß man sich bieten lassen! Ich kann Ihnen sagen – ich hab einen Horror auf die Ärzte …«

Die junge Frau hatte man unterdessen aus dem OP gerollt. Sie lag jetzt betreut von Schwester Britte Happel, in einem Bett der Durchgangsstation und öffnete die Augen. Große blaue schimmernde Augen. Obwohl sie bei Besinnung war, schien sie ihre Umgebung nicht wahrzunehmen; die Augen blickten ins Leere.

»Puls normal. Blutdruck 120 zu 80 …«

»Na, wer sagt's denn!« Dr. Hansen trat an das Bett. »Das hätten wir geschafft.« Er beugte sich über das Fußteil weit zu der Selbstmörderin hin. »Es ist doch schön, zu leben – nicht wahr?«

»Sie spricht kein Wort.« Schwester Britte hob resignierend die Schultern. »Ich kann sagen, was ich will … sie schweigt.«

»Lassen Sie uns bitte allein, Britte.«

Dr. Hansen kam um das Bett herum und setzte sich auf die Bettkante. Das Gesicht der Frau war jetzt dicht bei ihm. Ein schönes, ebenmäßiges Gesicht. Eine schmale Nase. Geschwungene, nicht zu volle Lippen. Ein kleines rundes Kinn. Und diese Augen! So blau, als hätten sie einen Teil eines wolkenlosen Himmels aufgesogen. Das einzige, was störte, war der große Pflasterverband auf ihrer Stirn.

Schwester Happel verließ lautlos das Zimmer.

»Jetzt sind wir allein«, sagte Dr. Hansen sanft und legte seine Hand auf ihre übereinandergelegten Hände. »Wer sind Sie?«

Schweigen.

»Warum haben Sie das getan?«

Schweigen.

»Das Leben ist so schön und kurz, das wirft man doch nicht einfach weg. Da blühen die Blumen. Der Wind rauscht in den Blättern der Bäume. Da ist ein kleiner See, und die Sonne spiegelt sich in seinem glitzernden Wasser. Da sind die Straßen, die Geschäfte, voll von Wünschen. Man hört ein Kinderlachen, Musik klingt aus dem Radio, Tanzmusik oder Beethoven. Da ist eine Disko, ein Theater, ein Kino … die ganze Welt liegt vor einem, weit, weit offen. Das Meer. Das Gebirge, Strände unter Palmen. Oder das Läuten der Kuhglocken auf den Almen. Und über allem ein herrlicher, unendlicher Himmel, von der Sonne bestrahlt und vom Mond gestreichelt. Mein Gott, ist das Leben schön, auch wenn man nur trocken Brot ißt oder nur Wasser trinkt – denn auch das sind Wunder. Das Wachsen des Getreides und das Wasser der Quellen und Bäche und Flüsse und Ströme … das ganze Leben ist trotz aller Mühsal ein Wunder. Und das werfen Sie so einfach weg! Ist eine Rose in Ihrer Hand nicht viel mehr wert als aller Kummer des Alltags?«

Schweigen.

Nur in den blauen Augen geschah etwas. Sie wurden feucht, begannen zu schwimmen. Tränen rannen an der Nase herunter und über die Wangen.

»Soll ich lieber gehen?« fragte Dr. Hansen.

Schweigen … nur ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln. Aber das war Antwort genug. Dr. Hansen atmete auf. Der Panzer um ihr Herz war aufgebrochen.

»Ich will nicht fragen, warum Sie Ihr Leben wegwerfen wollten. Sie brauchen mir nichts zu sagen. Es ist ganz allein Ihr Wille, Ihr Entschluß gewesen. Sie werden jetzt denken: Warum hat man mich nicht sterben lassen? Warum hat man mich gerettet? Ihr habt mir damit keinen Gefallen getan, ihr habt die Qual nur wieder zurückgeholt … Sie sehen das falsch. Es gibt nichts im Leben, das man nicht überwinden könnte. Es gibt immer einen Weg, und wenn er noch so steinig und steil ist. Aber es sind Wege, die ins Leben hinein und nicht hinaus führen.«

Die Frau bewegte den Kopf, drehte ihn zu Dr. Hansen und plötzlich sagte sie mit einer schönen, wohlklingenden Stimme: »Was wissen Sie denn, wie grauenhaft das Leben sein kann!«

Dr. Hansen spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Sie spricht, sie ist nun wirklich ins Leben zurückgekommen.

»Ich sehe als Arzt viel Kummer, viele schreckliche Situationen und tiefe Verzweiflung. Aber aus allem gibt es einen Ausweg …«

»Ja. Den Tod.«

»Kein Mensch lebt ewig. Sterben müssen wir alle. Gewiß, eine verdammt billige Weisheit, aber an ihr gibt es nichts zu deuteln. Doch kein Mensch sollte diesem Schicksal zuvorgreifen und Gott ins Handwerk pfuschen.«

»Gott?« Die blauen Augen, von den Tränen umgeben, wurden hart. »Gibt es denn einen Gott?«

»Ja! Nur nennt und sieht ihn jeder anders. Wenn ich hier in der Klinik einen Menschen retten kann – nach einem Herzinfarkt oder einer Gehirnblutung oder einem schweren Unfall – dann bin ich als Arzt so gläubig, um hinterher zu sagen: Gott sei Dank! Und auch Sie sollten jetzt sagen: Gott sei Dank, daß ich weiterlebe …«

Die Frau schloß die Augen: »Sie hätten auch Priester werden können.«

»Ein bißchen davon steckt in uns allen.« Er beugte sich über sie und strich ihr mit der anderen Hand eine Strähne der schönen blonden Haare aus der verpflasterten Stirn. »Wollen Sie mir jetzt sagen, wer Sie sind?«

»Herta Frieske …« Sie sprach so leise, er konnte sie kaum verstehen.

»Darf ich Herta zu Ihnen sagen?«

Sie nickte und umfaßte plötzlich mit ihren Fingern seine Hand.

Er fragte: »Was ist so schrecklich, daß man nicht mehr leben will?«

Wieder Schweigen. Sie hielt die Lider geschlossen, aber unter ihren Wimpern quollen wieder die Tränen hervor.

»Ich habe kein Herz mehr«, sagte sie nach einer ganzen Weile. »Man hat mein Herz zerrissen. Und ohne Herz kann man nicht leben.«

»Du lieber Himmel!« Dr. Hansen richtete sich auf. »Das darf doch nicht sein! Ein Mann, nicht wahr? Wegen eines Mannes werfen Sie Ihr Leben weg? Herta …«

»Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben. Sie werden es nicht begreifen. So eine Liebe gibt es nur einmal.«

»Das ist Blödsinn … verzeihen Sie das harte Wort. Jeder Liebende glaubt, daß seine Liebe einmalig ist. Daß kein anderer jemals so lieben kann wie er.«

»Wir waren zwölf Jahre lang in der Ehe verbunden, mit zweiundzwanzig habe ich geheiratet. Zwei Kinder haben wir, zwei Mädchen, jetzt zehn und sieben Jahre alt. Ich habe sie zu meiner Mutter gebracht. Dort haben sie ein Zuhause. Dort wird alles für sie getan …«

Sie schluckte und hielt still, als Dr. Hansen ihr die Tränen vom Gesicht wischte. »Vor zwei Jahren ist Horst gestorben, mein Mann. Ein Unfall. Auf der Autobahn Würzburg-Nürnberg. Es regnete, und ein anderer Wagen schleuderte und prallte voll auf Horsts Wagen. Er sei sofort tot gewesen, sagte die Polizei. Das Lenkrad stak halb in seiner Brust. Damals glaubte ich, die Welt gehe unter. Ich konnte es nicht begreifen. Drei Stunden vorher hatte sich Horst, wie immer, mit einem Kuß verabschiedet … und dann kam er als zerfetzter Körper zurück. Wissen Sie, wie das ist?«

Dr. Hansen nickte. »Ja, ich bin Unfall-Chirurg.«

»Ein ganzes Jahr brauchte ich, um wieder ein Mensch zu sein«, sagte sie leise. »Und dann lernte ich bei einem Theaterbesuch Helmut kennen. Ein attraktiver Mann, Architekt, selbständig, vermögend. Er fuhr einen Jaguar und wohnte in einem Penthouse, das er selbst gebaut hatte. Ein Mann mit Kultur und Geist, witzig und charmant … ich war fasziniert von ihm.

Ich fühlte zum erstenmal wieder, daß ich eine Frau bin, und es begann eine Liebe, die ich nie für möglich gehalten habe. Ich wußte überhaupt nicht, daß es so etwas Wunderbares gibt. Der Himmel war auf der Erde, alles um uns herum war wie ein Paradies. Es war, als lebten wir zwei auf einer Insel, ganz allein. Auf einer Insel mit weißem Strand und rauschenden Palmen. In einem Bungalow am Meer vor einer nie untergehenden Sonne. Und wir liefen herum wie im Garten Eden und liebten uns, eingebettet in eine völlige Zeitlosigkeit. So ungeheuer war mein Traum, so greifbar für mich … und wenn ich bei ihm in seinem Penthouse war, dann sagte ich: Jetzt sind wir auf unserer eigenen kleinen Insel, hier kann uns keiner mehr vertreiben. Ich war so unbeschreiblich glücklich. Können Sie das verstehen, Doktor?«

»Ja …« erwiderte Dr. Hansen nur. Was sollte man mehr dazu sagen?

»Und dann erfuhr ich, daß meine Insel mit dem blauen Meer, dem weißen Korallensand und den wiegenden Palmen ein Traum war, der mich blind machte. Eine Flucht in eine große, unerfüllbare Sehnsucht.«

Sie schluckte wieder, aber ihre Stimme war fester geworden. »Gute Freunde – es sind ja immer die guten Freunde – sagten eines Tages zu mir: Ja, bist du denn blind? Weißt du und siehst du denn nicht, was alle wissen? Helmut hat eine andere Geliebte. Er hat ihr ein Haus im Taunus gebaut, eine klotzige Villa. Und zwei Kinder hat sie von ihm. Wenn er angeblich zu Bauten unterwegs ist, geht er meistens zu ihr. Du bist nur ein hübsches Spielzeug für ihn. Ein Püppchen, das man an- und ausziehen kann und das alles mit sich machen läßt. Drei Tage Schwarzwald, zwei Tage in Rom, eine Woche in Zypern … und du schwebst im siebten Himmel, läßt dich aus der Wirklichkeit entführen. Fällst heraus aus der echten Welt, sobald du mit ihm im Bett liegst und er dich umarmt und du seinen Körper spürst. Er weiß das, ganz genau weiß er das und nutzt es schamlos aus. Und während du dich noch glücklich, völlig wahnsinnig vor Liebe, im Bett reckst und nach ihm sehnst, ruft er vom Wohnzimmer aus seine Geliebte im Taunus an: Mein Herzchen, heute abend, es kann aber spät werden, bin ich bei dir … So etwas sagen einem die guten Freunde.«

»Und da haben Sie durchgedreht?!«

»Ich bin in den Taunus gefahren, habe vor der Villa gestanden und die beiden Kinder gesehen und sie … sie … eine wunderschöne Frau, südländischer Typ, lange schwarze Haare, jünger als ich … ich bin jetzt sechsunddreißig … und dann bin ich nach Hause gefahren und habe zu mir gesagt: Das war's, Herta! Das war dein Leben. Jetzt ist es zu Ende. Laß deine Insel versinken und spring ihr nach. Warum soll ich dieses Leben noch ertragen? Ich bin ja innerlich schon tot … auf die leere Körperhülle kommt es nicht mehr an.«

»Und deshalb fahren Sie zum Flughafen, um sich von der Terrasse zu stürzen? Warum gerade dort? Es gibt doch so viele andere Möglichkeiten.«

Sie nickte und faltete dann die Hände. »Es hängt mit meiner Trauminsel zusammen. Auf der Terrasse des Restaurants haben Helmut und ich einmal gestanden, in der Zeit, wo es nichts gab als unsere Liebe. Wir haben damals den abfliegenden Flugzeugen nachgeblickt, und Helmut hat dann auf eine der Maschinen gezeigt und gesagt: ›Sieh da, die fliegt nach Kenia‹. Oder: ›Da fliegt eine nach Mauritius. Eine wunderschöne Insel mit paradiesischen Stränden. Und da, der Jumbo: nach Japan. Japan … die Kirschblüte. Das ganze Land ein Meer von blühenden Bäumen; so etwas mußt du gesehen haben. Zur nächsten Kirschblüte fliegen wir nach Japan‹ … Es war so wunderschön, ich habe alles geglaubt. Ich schwebte in den Wolken … und nicht weit davon entfernt warteten seine Geliebte und seine Kinder auf ihn. Aber das wußte ich ja damals noch nicht. Heute, wo ich ein Ende machen wollte, bin ich auf diese Terrasse gegangen – an den Ort, wo ich von meiner großen Liebe träumte. Dort wollte ich nun auch sterben. Ist das so unverständlich?«

»Jetzt nicht mehr. Aber Sie leben. Und Sie werden weiterleben. Sie haben zwei Kinder … eine Großmutter kann nie die Mutter ersetzen. Sie haben den Sprung getan, und das Schicksal hat entschieden, daß Sie bleiben sollen. Der Tod will Sie noch nicht haben. Akzeptieren Sie das! Lassen Sie die böse Vergangenheit ruhen, schließen Sie dieses Kapitel Ihres Lebens. Weglaufen ist keine Lösung … das Leben anpacken, das hilft weiter. Bedenken Sie, was Sie mit ihren sechsunddreißig Jahren noch alles erwarten dürfen! Haben Sie einen Beruf?«

»Ja. Ich war vor meiner Ehe Journalistin. In der Feuilleton-Redaktion der ›Rundschau‹. Dort habe ich auch Horst kennengelernt. Er war Presse-Fotograf und deshalb immer unterwegs. Als das erste Kind kam, habe ich bei der Zeitung aufgehört.«

»Sie könnten wieder als Journalistin arbeiten, Herta.«

»Ich habe keinen Mumm mehr, Doktor. Ich bin innerlich leer.«

»Es braucht Zeit, bis sich die Seele wieder füllt.« Dr. Hansen erhob sich von der Bettkante. »Ich komme gleich wieder, Herta. Nur ein paar Minuten. Wir haben noch manches miteinander zu besprechen.«

Sie nickte, und zum erstenmal huschte ein schwaches Lächeln um ihre Mundwinkel.

»Danke, Doktor …«

Dann schloß sie wieder die Augen, und Dr. Hansen verließ das Zimmer.

Im Warteraum saßen noch immer die Polizeibeamten und blätterten in alten, vergriffenen Illustrierten. Sie standen auf, als Dr. Hansen eintrat.

»Können wir jetzt?« fragte der Inspektor.

»Nein. Die Patientin befindet sich noch in einem lebensbedrohlichen Schockzustand.« Und sarkastisch fügte er hinzu: »Man nimmt sich ja nicht öfter das Leben. Es ist unmöglich, sie jetzt zu verhören. Ich muß das ablehnen. Im übrigen kann sie ja auch nicht sprechen in ihrem Zustand. Aber die Personalien kann ich Ihnen geben. Die Frau heißt Herta Frieske.«

Der Beamte notierte sich den Namen in ein Notizbuch. »Wohnhaft?« fragte er dann knarrend.

»Keine Ahnung.«

»Sie haben nicht danach gefragt?«

»Ich sagte Ihnen doch: Sie steht unter Schock. Der Name war das einzige, was wir aus ihr herauslocken konnten. Kommen Sie morgen wieder.«

»Bleibt Frau Frieske hier in der Airport-Klinik?«

Üblich war es, daß die Patienten nach der Erstversorgung sofort in die umliegenden Krankenhäuser überwiesen wurden. Dafür standen vier Krankentransportwagen und zwei Notarztwagen zur Verfügung.

»Ich weiß es nicht. Ich gebe Ihnen morgen Nachricht, wo sie sich befindet.«

»Wir müssen aber die Angehörigen benachrichtigen!« Der Polizist klappte sein Notizbuch provokant laut zu. »Ist sie aus Frankfurt?«

»Keine Ahnung.« Dr. Hansen hob die Schultern. »Angehörige – so habe ich es in Erinnerung – werden von der Polizei vor allem bei Todesfällen benachrichtigt. Aber Frau Frieske lebt … Guten Tag, meine Herren!«

»Ein arroganter Pinkel!« knurrte der Inspektor, nachdem Dr. Hansen verschwunden war. »Gott in Weiß. Dabei ist Arzt ein Beruf wie jeder andere …«

Im Untersuchungszimmer traf Dr. Hansen auf Schwester Lukrezia Bonelli. Sie schnitt kleine Strips von einer Pflasterrolle und warf die Stücke in einen vernickelten Kasten.

»Sehen wir uns morgen, Liebling?« fragte sie. »Morgen früh um halb acht kann ich bei dir sein. Du hast doch morgen deinen freien Tag.«

»Und den sitze ich in Bad Homburg bei einem Kongreß der Intensivmediziner ab.«

Er trat neben sie, legte den Arm um ihre Schulter und küßte sie in den Nacken. Sie beugte den Kopf zurück, schloß die Augen und seufzte leise. Obwohl sie einen italienischen Namen trug und aussah wie eine glutäugige Schönheit aus Neapel oder Palermo, war sie Deutsche, in München geboren. Mit der Airport-Klinik kam sie in Verbindung, als sie sich auf eine ausgeschriebene Schwesternstelle meldete.

Daß es zwischen ihr und Dr. Hansen zu einem Liebesverhältnis kommen würde, hätte man fast voraussehen können. Vom Temperament, von der Lebensauffassung und von der Genußfreude her schienen sie sich so ähnlich, daß eine intime Beziehung geradezu zwangsläufig war. Von der Stewardeß Evi Borges, die es außerdem im Leben von Dr. Hansen gab, mit ihren leuchtend roten Haaren genau das Gegenteil der schwarzmähnigen Lukrezia, ahnte sie nichts. Es hätte sonst ohne Zweifel ein sizilianisches Drama gegeben. Dies gehörte zur Kunst von Dr. Hansen, seinen Zeitplan so zu jonglieren, daß es zwischen Evi und Lukrezia nie zu Überschneidungen kam. War Evi beruflich unterwegs nach Australien, Singapore, Hongkong oder flog sie nach San Francisco, ließ er sich von Lukrezias sexueller Wildheit hinreißen. Befand sich Evi hingegen für zwei oder drei Tage ›auf dem Boden‹, war er für Lukrezia nicht erreichbar. Er wies dann auf seine große Verwandtschaft hin und daß er sich reihum mal sehen lassen müsse. Wie alle Verliebten glaubte ihm auch Lukrezia diese Ausreden. Es war ja immer nur für drei Tage. Danach konnte sie erneut wie eine Raubkatze über ihn herfallen.

Bewundernswert war dabei nur Dr. Hansens Durchstehvermögen. Aber wer erst Ende Dreißig ist … na ja.

»Ich liebe dich«, flüsterte Lukrezia jetzt im Untersuchungszimmer und drängte sich an ihn. »Jeder Tag, jede Nacht ohne dich macht mich verrückt.«

»Du übertreibst, mein Schatz!« Dr. Hansen blickte auf seine Armbanduhr. In wenigen Minuten würde Evi landen, falls die Maschine pünktlich war. Er mußte sofort in die Wohnung fahren und alles für ihren Empfang vorbereiten. Eine Flasche Champagner, Hummer thermidor, Schinkenröllchen mit Spargel – alles schon besorgt, – um dekorativ auf dem Tisch angerichtet zu werden. »Mach's gut …«

»Ist das alles, Liebling?«

»Du hast einen anstrengenden Nachtdienst vor dir.«

»Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß ich dir untreu werden könnte?«

»Nie. So etwas wie mich findest du nie wieder.«

»Eingebildeter Affe!« Sie lachte, als er sie wieder küßte und bog sich in seiner Umarmung. »Aber du hast ja recht … wie meist. Schlaf gut!«

»Danke, mein Schatz.«

Dr. Hansen ging noch einmal hinüber zur Bettenstation, um nach Herta Frieske zu sehen. Sie saß im Bett und lächelte ihm entgegen.

»Uns geht's jetzt gut, nicht wahr?« sagte Dr. Hansen.

»Mein Kopf brummt und sticht.«

»Ein bißchen Strafe muß sein bei soviel Unsinn! Schwester Britte wird Ihnen ein Schmerzmittel geben. Und dann bringt Sie ein Krankenwagen in die Nord-Klinik.«

»Warum das denn, Doktor?« Ihre blauen Augen wurden wieder groß und rund.

»Wo wollen Sie denn sonst hin?«

»Nach Hause.«

»In diesem Zustand?«

»Ich habe keinen Zustand.«

»Sie wollten sich das Leben nehmen, das ist ›Zustand‹ genug. Wer garantiert mir, daß Sie nicht hier rausmarschieren und sich vors nächste Auto werfen?«

»Ich verspreche es Ihnen, Doktor.«

»Versprechungen von Selbstmördern sind gleich Null.«

»Man kann mich ja zu meinen Kindern bringen, zu meiner Mutter – ist das keine Garantie?«

»Ich … ich habe Zweifel, Herta.«

»Sie wollen mich in eine Klapsmühle einweisen, nicht wahr?«

»Ein hartes Wort. Sie sollen psychiatrisch beobachtet werden.«

»Das ist das gleiche. Als Reporterin hab ich mal so eine Klinik besichtigt … es war die Hölle! Nächtelang konnte ich nicht mehr schlafen. Mir war der Hals wie zugeschnürt.«

»So sehen sie das, die Gesunden. Für die Kranken ist es eine Geborgenheit.«

»Und da wollen Sie mich hinbringen? Doktor, eher springe ich wirklich vor ein Auto.«

»Nach den gesetzlichen Vorschriften muß ich Sie einweisen. Ein Suizidversuch …«

»Wer braucht das denn zu wissen? Und warum?«

»Mein Krankenbericht …«

»Sie können auch hineinschreiben: Kopfplatzwunde infolge eines Sturzes. Das stimmt sogar. Da müssen Sie noch nicht einmal lügen.«

»Bei der Polizei stehen Sie bereits in den Akten.«

»Sie haben ihnen meine Adresse gegeben?«

»Nein. Die weiß ich ja selbst nicht. Nur Ihren Namen.«

»Damit können sie wenig anfangen, Doktor. Lassen Sie mich gehen. Bitte …«

»Sie verlangen Ungesetzliches von mir.«

»Nein … nur Menschliches.«

»Mit Ihnen zu diskutieren, Herta, ist Schwerstarbeit. Ich werde mit dem Kollegen Dr. Gräfe sprechen und nehme an, er läßt Sie mit einem Krankenwagen nach Hause bringen.«

»Danke, Doktor!« Sie streckte beide Arme nach ihm aus. »Sie sind wunderbar.«

Er nahm ihre Hände, küßte sie und verließ schnell das Zimmer.

Es muß auch Verrückte wie mich geben, dachte er, denen das Gefühl manchmal wichtiger ist als der Verstand – auch wenn das hier selten angebracht ist. Ein Glück, daß wir in der Klinik ein verschworener Haufen sind … genau genommen, habe ich mich jetzt nicht ganz korrekt verhalten.

Eine halbe Stunde später brachte ein Krankenwagen Herta Frieske zu einem Reihenhaus in der Nähe von Bad Schwalbach.

Als sie auf die Klingel drückte, hörte sie von innen die Stimmen ihrer Kinder.

Da drückte sie die verpflasterte Stirn an den Türrahmen und begann zu weinen. Doch es war ein ganz anderes Weinen als bei dem versuchten Todessturz in die Tiefe …

Schwester Britte Happel war nervös.

Dr. Gräfe bemerkte es schon seit geraumer Zeit … er beschäftigte sich gerade mit einem Fluggast, der plötzlich eine Nierenkolik bekommen hatte und vor Schmerzen jammerte und immer wieder rief: »Jetzt komme ich nicht nach Mailand, Doktor! Ich muß morgen in Mailand sein, sonst platzt ein großes Geschäft. Ich bin Stoffhändler, und wenn mir die Konkurrenz die Kollektion wegkauft, stehe ich nackt da. Ich muß nach Mailand, Doktor!«

»Das Flugzeug ist eh weg!« sagte Dr. Gräfe. Er hatte dem Koliker eine starke Schmerzinjektion gegeben, die in zehn Minuten wirken mußte. Aber das war nur eine Ruhigstellung. Der Kranke mußte in einem Krankenhaus weiterbehandelt werden.

»Dann nehme ich die nächste Maschine, Doktor! Es gibt nach Mailand noch einen Spätflug.«

»Da sehe ich sehr schwarz.«

»Wieso? Ich habe doch die Spritze und in einer halben Stunde bin ich wieder fit! Begreifen Sie nicht: Ich muß nach Mailand. Wenn ich nicht morgen früh bei der Musterung dabei bin, bekomme ich von den Stoffen nur noch den Schrott. Das kann mich ruinieren.«

»Die besten Stoffe nützen Ihnen nichts, wenn Sie in der engen Kiste liegen!« antwortete Dr. Gräfe ziemlich grob. Er warf erneut einen Blick hinüber zu Britte; schon wieder schielte sie unruhig auf die Uhr. Und schnitt eine große Lage Mull zurecht, die für einen auf einer Liege ausgestreckten jungen Mann bestimmt war. Die Flughafenpolizei hatte ihn volltrunken eingeliefert; irgendwo hatte er sich den Unterarm aufgerissen. Ein zugeschwollenes linkes Auge deutete darauf hin, daß er auch in eine Schlägerei verwickelt worden war.

»Das ist nicht meine erste Nierenkolik!« sagte der Stoffhändler.

»Eben!« nickte Dr. Gräfe. »Und deshalb werden Sie gleich ins Krankenhaus gebracht. Ich rufe das St. Elisabeth-Krankenhaus an; dort sind heute noch Betten frei.«

»Ausgeschlossen!« Der Patient zuckte hoch, wollte aufspringen, aber das gelang ihm noch nicht. Die Injektion wirkte bereits, die Schmerzen ließen merklich nach. »Nur in Vollnarkose kriegen Sie mich ins Krankenhaus.«

»Die können Sie auch haben. Wenn ich Sie entlasse, müssen Sie einen Revers unterschreiben, daß es auf eigene Gefahr und eigenes Risiko erfolgt.«

»Ich unterschreibe Ihnen alles, wenn ich nur nach Mailand komme!«

»Wie Sie wollen …«

Dr. Gräfe ließ ihn allein und ging hinüber zu Schwester Britte Happel. Wie ihr nordischer Vorname es suggerierte, so sah sie auch aus: Groß, schlank, hellblond, sportliche Figur. Ein Mädchen, das aus der Frische des Meeres oder aus einem goldenen, wogenden Kornfeld zu kommen schien. Daß Dr. Gräfe und sie sich liebten, war bisher geheim geblieben. Bei der Arbeit in der Klinik verhielten sie sich absolut korrekt und unpersönlich – von ein paar Scherzen abgesehen, wie sie jeder einmal macht.

»Was hast du eigentlich?« fragte Dr. Gräfe leise und stellte sich neben Britta.

»Nichts.«

»Du bist heute so kribblig?«

»Es ist wirklich nichts, Rolf.«

»Aber ich seh's doch. Da gibt es irgendetwas, das dich nervös macht. Sag es mir! Wenn ich dir helfen kann … Wieder Streit mit deinem Stiefvater?«

Sie schüttelte den Kopf – zu heftig, um es glaubhaft zu machen.

»Vielleicht ist es … weil du drei Tage nicht mehr bei mir warst …«, sagte sie. »Kann doch wohl sein, daß ich Sehnsucht nach dir …«

»Nun komm! Wir werden heute abend zusammen ausgehen. Da haben wir beide frei. Wir fahren in den Elsaß, essen fabelhaft und schlafen in einem Himmelbett. Abgemacht?«

Sie nickte und ging hinüber zu dem Betrunkenen mit dem aufgerissenen Unterarm. Dr. Gräfe setzte sich an seinen Schreibtisch und füllte den Revers für den Stoffhändler aus.

Er muß gleich landen, dachte Britte Happel, während sie die Wunde des Armverletzten verband. Die Quantas-Maschine aus Sydney war in Bombay zwischengelandet und befand sich jetzt bestimmt im Anflug auf den Airport. Mit ihr kam auch Hubert Lawinsky, einer der Purser der australischen Fluggesellschaft; ein smarter, trotz seiner 40 Jahre fast jungenhafter Typ und immer elegant, wenn er seine Uniform mit der Zivilkleidung wechselte. Ein Mann von Lebensart mit guten Manieren, der Freude am Genuß hatte und immer wieder mit Überraschungen aufwartete. Zuletzt hatte er ein großes Stück Baumrinde mitgebracht, bemalt mit den bunten Sagenfiguren der Aborigines, der Ureinwohner Australiens, die immer noch in den weiten Steppen- und Wüstengebieten des Outback lebten und denen die Erde der Vater, der Himmel die Mutter waren.

Lawinsky schien so ganz anders als Dr. Gräfe. Er plante nicht, er ordnete nicht sein Leben, er lebte einfach in den Tag hinein. Er nahm alles wie es kam und machte das Beste daraus. Kummer schien er nicht zu kennen. Sorgen waren ein Fremdwort für ihn. Immer war er fröhlich; ein Strahlemann, dessen Lachen jeden mitriß. Bei den Passagieren war er deshalb der beliebteste Purser der Quantas. Er wußte das, nutzte es für Verbindungen aus und hatte im Laufe der Jahre einen Bekanntenkreis aufgebaut, der vom Industrieboß bis zum Ölmagnaten reichte. Eine ganze Anzahl der Vielflieger begrüßte ihn schon wie einen alten Freund. Ein Filmstar aus Beverly Hills hatte ihn sogar mal in sein weißes Schlößchen eingeladen, wo er eine ganze Woche lang blieb und täglich eine andere Hollywood-Schönheit vernaschte. Überall auf der Welt eine ›Station‹ haben – das gehörte zur Lebensfreude des Hubert Lawinsky.

Britte hatte er in der Airport-Klinik kennengelernt, als er einen Flugpassagier zur Aufnahme brachte, der eine Rolltreppe hinuntergestürzt war und sich einige Verstauchungen zugezogen hatte.

Schon erste Blickkontakte mit Britte genügten Lawinsky, um festzustellen, daß er bei der blonden Schwester zumindest Interesse erweckt hatte. So etwas spürt ein Meister des unsichtbaren, lautlosen Kontaktes.

Es war einfach, zu erfahren, wann die blonde Schwester ihren Klinikdienst beendete. Lawinsky stand draußen in der Halle und ging auf sie zu, als habe er schon immer auf sie gewartet.

»Ich mußte Sie wiedersehen«, sagte er mit entwaffnender Jungenhaftigkeit. »Entschuldigen Sie …«

Britte reagierte mit leichter Abwehr im Gesicht, doch das störte den erfahrenen Frauenliebling nicht.

»Warum wollten Sie mich wiedersehen?« fragte Britte. Daß sie nicht einfach weiterging, war schon ein Erfolg.

Lawinsky schoß seinen ersten Treffer ab: »Warum? Sie brauchen nur in einen Spiegel zu schauen.«

Britte suchte nach einer Entgegnung, fand aber keine. Stattdessen sagte sie: »Dem Gestürzten geht es gut. Wir haben ihn nach Hause entlassen können. Nur ein paar Prellungen und eine kleine Abschürfung am Knie.«

»Ich habe mir überlegt, was ich anstellen könnte, um in Ihre Klinik zu kommen und von Ihnen behandelt zu werden. Genügt eine Beule?«

»Nein.« Sie mußte lachen, und wer lacht, verliert den Panzer. »Das muß schon mehr sein. Ein Bruch, ein Infarkt, eine große Wunde …«

»Kann ich mir alles nicht leisten.«

»Ab und zu haben wir eine Frühgeburt hier …«, sagte Britte.

»Auch damit kann ich nicht dienen, wirklich nicht.« Lawinsky zeigte sein unwiderstehliches Grinsen. »Aber ich könnte einen Kreislaufkollaps spielen.«

»Den Trick würden unsere Ärzte sofort erkennen. Schon beim Blutdruckmessen.«

»Mein Blutdruck wird auf 220 steigen, wenn ich Sie sehe.«

»Dann bekommen Sie eine Spritze und müssen sich eine Weile in einer Kabine ausruhen. Und dort sind Sie allein.«

»Keine Chance?«

»Nein.«

»Und wenn ich Sie zu Ihrem Wagen begleite?«

»Dr. Gräfe fährt mich nach Hause. Er wartet am Tor 32.«

»Bringt Dr. Gräfe Sie immer nach Hause?«

»Nur ab und zu.«

»Dann morgen?«

»Sie haben keinen Dienst?«

»Ich komme gerade aus Australien und habe jetzt zwei Tage frei.«

»Australien?« Britte zog die Augenbrauen hoch. »Da möchte ich mal hin. Und nach Neuseeland … es muß wunderbar dort sein.«

»Ein Land wie Samt und Seide. Wenn Sie Hubert Lawinsky – das ist mein Name – nicht vor das Schienbein treten, könnten solche Träume wahr werden. Kann ich Sie nicht wiedersehen? Sie haben doch eine Telefon-Nummer.«

»Vielleicht …«

Vielleicht ist ein halber Sieg. Lawinsky wußte es und bekam diese Erfahrung wieder einmal bestätigt. Britte Happel kritzelte ihm ihre Nummer auf den Rezept-Block.

Unbeirrt und mit sanft schnurrendem Motor glitt ein schwarzer BMW auf der Autobahn A-43 nach Norden. Mochte auch der gewaltige Airport Frankfurt am Main, die zentrale Verkehrsdrehscheibe Europas, alle anderen Fahrzeuge wie ein mächtig hämmerndes Herz in die Stadt pumpen – der Fahrer des BMWs ließ sie an sich vorüberziehen.

Dr. Fritz Hansen fuhr nach Hause. Langsam, wie immer nach dem Dienst. Für ihn fast ein Ritual: War die Schlacht geschlagen, ließ er in Gedanken noch einmal die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen – eine wirkungsvolle Methode, sich gegen den tempogeladenen und knochenbrechenden Strudel der Ereignisse zu behaupten, in den die Klinik-Arbeit ihn Tag um Tag zu zerren versuchte. Kopf hochhalten, nicht untergehen – das war seine Richtschnur.

Heute zum Beispiel hatte er bereits um acht Uhr an seinem Schreibtisch gesessen, um wenigstens den notwendigsten Verwaltungskrempel aufzuarbeiten, und doch nur die Hälfte geschafft. Denn schon bald war es losgegangen. Allein sechsmal hatte er im OP die akutesten Notfälle versorgen müssen: eine Bronchial-Spülung bei einem alten Herrn, der anscheinend aus lauter Flug-Angst erbrechen mußte und dem ein Teil des Mageninhalts in die Luftröhre geriet; dann die üblichen Kreislaufzusammenbrüche, Wundversorgungen, Magen- und Nierenkoliken. Und am Ende noch, als krönender Abschluß, diese Selbstmörderin, der er eine Predigt über den Sinn des Lebens gehalten hatte.

»Sie hätten Priester werden können …«, hatte sie gesagt, und es war die reine Ironie gewesen. Doch später hatte sie sich bei ihm bedankt. Woher nur, fragte er sich jetzt selbst, hast du diese Worte genommen? Etwas pathetisch zwar, sicher – aber er hatte damit wohl genau den Punkt in ihr getroffen, der wieder zum Schwingen gebracht werden mußte. Und so war es der gute Abschluß eines bösen Tages geworden. Na also! Und obendrauf gab es noch eine Belohnung: Evi, die rothaarige junge Stewardeß.

Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und trat wie im Reflex den Gashebel durch, um auszuscheren. Verdammt, womöglich steht sie schon vor der Wohnungstür? Sie hat ja keinen Schlüssel, denn Schlüssel zu verteilen, das wäre ja nun doch zu gefährlich!

LH-Flug 637, Karatschi – Teheran – Ankara – Frankfurt. Mehr als viertausend Kilometer sind es. Über sieben Stunden Flugdauer, in zehntausend Meter Höhe über zwei Kontinente, über Wüsten, Berge, Städte, Länder. Auf der einen Route der Zeit vorauseilen, auf der nächsten gegen sie ankämpfen – einmal wirst du jünger, das nächste Mal älter. Die Zeitzonen-Karten zeigen es dir. Das Weltzeiten-System unterliegt genauen Gesetzen. Man hat an alles gedacht und alles berechnet – doch der Körper kennt seine eigene Uhr und hat seine eigenen Regeln. Im ersten Jahr merkst du nichts, nur manchmal ein wenig Übelkeit, und dann die Schläfrigkeit, die in den Fingerspitzen prickelt oder gegen die Schläfen drückt. Im zweiten, dritten Jahr aber kann es problematisch werden. Manche schaffen's nicht länger und scheiden aus. Und die anderen? Nun, sie sagen, sie hätten sich daran gewöhnt. Doch was wirklich in dir geschieht – wer weiß es? Irgendwann und irgendwo zeigt dir dein Körper die Grenzen.

Zerschlagen und todmüde fühlte sich Evi Borges, als sie ihren Koffer vom Förderband nahm und auf den Gepäckkarren setzte.

Dabei war die Maschine nur zur Hälfte besetzt gewesen und damit wieder mal weit unter ihrer Rentabilitätsgrenze geflogen. Nun, der Gesellschaft tat das weh; für die Kabinen-Crew jedoch, für den Purser und seine elf Stewardessen war es so ein durchaus angenehmer Flug geworden: Nur die Hälfte der Gurte waren zu kontrollieren, die Hälfte der Zeitungen, Kopfwehtabletten und Essensportionen auszugeben. Es gab die üblichen Reklamationen, die üblichen dummen Fragen und die üblichen Komplimente, wobei die Visitenkarte eines Herrn Alyan Singh, Präsident der ›Singh Constructions‹, doch ein wenig hervorstach: »Sind Sie wundersam schönes Frau mit Prachthaar. Werd ich sehr einsam sein in Frankfurt. Sie nicht wissen Rat?«

Evi hatte den Kopf geschüttelt, und da eine Stewardeß in jeder Situation Höflichkeit zu bewahren hat, hatte sie dem ›Präsidenten‹ die Karte mit einem: »Sorry, nein« zurückgereicht.

Aber nun war's vorbei. Nun hatte sie den Koffer, warf ihn auf den Karren und schob ihn der Zollschleuse entgegen. Und wie sie so ging, hochgewachsen, ihre rotgoldene Mähne in einem mit einem grünen Band durchflochtenen Pferdeschwanz gebändigt, müde und doch diesen unnahbaren, ihr selbst längst nicht mehr bewußten Evi-Hochmut auf dem schönen, klargeschnittenen Gesicht – folgten ihr noch immer die sehnsüchtigen Blicke der männlichen Passagiere. Mein Gott, dabei hatten sie doch nun wirklich genug Zeit gehabt, sie anzustieren! Und jetzt? Das gab's doch nicht? Das durfte doch gar nicht wahr sein …

Wie immer, und diesmal voll guten Gewissens, hatte Evi in der Zollschleuse den grünen Kanal für ›nicht Zollpflichtige‹ angesteuert. Doch dem Zoll-Typ, der die Abfertigung kontrollierte, schien dies nicht zu gefallen. Er winkte sie heran. »Nein«, stöhnte Evi. »Muß das denn sein?«

»Manchmal schon. Das wissen Sie doch, oder?«

Zur Erhaltung des Prestiges, aber auch um die fliegende Besatzung nach einem langen Flug nicht noch peinlichen Situationen auszusetzen, gab es gleich neben der Zoll-Schleuse einen Raum, der für die meisten Crew-Mitglieder in übler Erinnerung war und deshalb von ihnen ›der Keller‹ genannt wurde. Dort, unter kaltem Neonlicht, setzte Evi Koffer und die Reisetasche auf den Tisch und sah ohnmächtig und zitternd vor Zorn zu, wie sich dieser schmallippige Horror-Zöllner durch ihre Wäsche tastete.

»Aber ich sage Ihnen doch: Da ist nichts drin, was Sie interessieren könnte, also wirklich nicht.«

»Nein? Und was haben Sie denn da in der Tasche?«

»Einen Elefanten.«

Er hielt den Kopf schräg; er war jung, hatte graue Fischaugen und Pickel auf der Stirn. »Sie machen wohl gerne Witze, was?«

Sie sind selber einer – hätte sie gern zurückgeschossen, aber sie schenkte es sich. Sie wollte nicht noch weitere Scherereien.

Der Reißverschluß war offen, die Hand des Zöllners tauchte hinein, und seine Stirn bekam Falten, als er den schwarzen, ebenholzschimmernden, mit Perlmutt-Intarsien verzierten Elefanten herauszog. Evi hatte ihn acht Stunden zuvor nach langem Feilschen bei einem Antiquitäten-Händler in Karatschi erstanden.

»Und was ist mit dem? Wollen Sie den verkaufen?«

»Mein Gott!« fauchte Evi. »Das ist ein Geschenk. Und falls es Sie interessieren sollte: Ich bringe es einem Mann, der Elefanten liebt, sich aber deshalb nicht gleich benimmt wie ein Elefant.«

Er wurde nun doch rot, nahm aber seine Niederlage stumm hin.

Er öffnete ihr sogar die Tür: »Alles klar. Na denn, bis zum nächsten Mal …«

Brannten die Kerzen, liebte Hansen seine Wohnung. Und so ließ er sie auch dann brennen, wenn er einen Abend allein verbrachte. Tagsüber befand er sich selten genug hier in dem Appartement in der Waldhaus-Straße. Abends jedoch hörte er sich über Lautsprecher gern die ›Vier Jahreszeiten‹ von Vivaldi an. Dann brach sich das Licht in Kristallgläsern und in all den Bildern, welche die Wände des hohen, mit einer Galerie versehenen Raumes schmückten.

Heute, zum Empfang von Evi, hatte er den Eßtisch hübsch arrangiert. Zwei Rosen steckten in einer Kelchvase. Behaglich wie in einer Höhle war es, denn auf das Arrangement einer auch ästhetisch zur Liebe passenden Atmosphäre verstand sich Fritz Hansen. Und so hatte er schon während seiner Studienzeit in Göttingen seinen Spitznamen weg: ›Der schöne Fritz‹.

Als wolle er dies auch jetzt unterstreichen, trug er bereits seinen seidenen Hausmantel. Nicht nur er selbst, nein, auch jedes Ding hier im Raum schien auf das rothaarige Phänomen Evi zu warten – und da läutete es auch schon.

Gutes Timing, dachte Hansen, gehört schließlich zur Stewardessen-Ausbildung, und die Kerzen sind auch noch ganz frisch.

Er öffnete.

Das erste, was er sah, war ein Elefant. Er bekam ihn direkt unter die Nase gestreckt. Und was für ein Exemplar!

»Mensch!« staunte er. »Mensch, Evi, der ist vielleicht Klasse …«

»Einen Kuß!«

Hansen küßte – nein, wollte küssen. »Den Elefanten, du Trottel. Um ein Haar hätte ihn mir nämlich ein Idiot von Zöllner weggeschnappt. So, und jetzt laß mich endlich rein.«

Dr. Fritz Hansen trug den kleinen Elefanten in den großen Wohnraum und setzte ihn, zärtlich mit den Händen streichelnd, auf das Holzbord, auf dem sich bereits eine ganze Elefantenherde versammelt hatte: Elefanten aus Uganda, aus Borneo oder Thailand. Sogar Elefanten aus China; kleine, mattweiße Elfenbein-Kunstwerke. Der neue war nicht der größte, aber wie er nun so stand und das Licht auf sich fallen ließ, schimmerten die Intarsien wie Silber und die Messingverzierungen wie reines Gold. Er überstrahlte alle anderen.

Evi, seine Evi …

Er wandte sich ihr zu. Da stand sie, Schatten unter den Wangenknochen, blaß um die Nasenspitze, ausgelaugt vom Flug. Er kannte das schon. Gleich würde sie in die Badewanne steigen, er würde ihr die Schultern massieren, und es würde vielleicht sein, wie so oft, wenn sie zurückkehrte: Sie würde wie blind und unansprechbar ins Bett taumeln.

»Was hältst du von einem Glas Champagner?« fragte er. »Jetzt gibt's nichts wichtigeres, als den Kreislauf in Schwung zubringen.«

Aber sie setzte sich nicht. Sie blickte sich nur um, stützte die Hände auf einer Sessellehne, als müsse sie aus einem Traum erwachen und sich in einer neuen Realität wiederfinden.

»Ziemlich müde, mein Armes, stimmt's?«

»Müde? – Tot!«

»Hunger? Nun schau, was ich da alles hingestellt habe.«

Obwohl sie lächelte, schüttelte sie den Kopf.

Also doch: Das Spiel lief streng nach ihren Regeln. Was hatte sie heute wieder? Bringt ein Geschenk und sieht mich an, als sei ich ein Stück Holz – nein, nicht viel mehr, als ein Schatten.

Seit er sie kannte, hatte er sich viele Gedanken über sie gemacht, ohne ihr Wesen recht ergründen zu können.

Vor acht Monaten stand sie plötzlich in der Ambulanz, großgewachsen und so schön, daß es den Augen schmerzte. Mit dieser Haarmähne, die wie Feuer zu knistern schien. Und die Leute starrten sie an. Auch er. Er war einfach verblüfft. – Weibliche Schönheit, so wie sie von ihr verkörpert wurde, rief bei den meisten Menschen im ersten Augenblick eher ungläubiges Staunen als Begehren hervor. Eine Bewunderung, die schüchtern machte und sozusagen seit undenklichen Zeiten nur der Vollkommenheit vorbehalten ist.

»Tut mir leid, Herr Doktor, wenn ich hier einfach so reinschneie«, hatte sie gesagt, »aber könnten Sie sich das mal ansehen?«

»Mit Vergnügen. Das ist schließlich mein Job.« Eine Schwindelei, denn eigentlich war die erste Kontaktnahme Aufgabe der Aufnahme-Schwester oder des Assistenten – aber mußte er ihr das auf die Nase binden?

An ihrer rechten Hand war die Innenseite dick verschwollen. Eva kam von irgendwo aus Afrika, Johannesburg, oder war es Pretoria? Jedenfalls: Freunde hatten sie zu einem Ausflug eingeladen, und als Souvenir brachte sie nun einen in der Hand steckenden dicken Kakteendorn an, der inzwischen zu einer Vereiterung geführt hatte, so daß sie den Finger nicht mehr bewegen konnte. Es bestand die Gefahr, daß die Keime zu streuen begannen. Der Achsel-Lymphknoten jedenfalls war deutlich tastbar. Als Evis Lufthansa-Bluse auf den Untersuchungstisch abgelegt war, bot sich Hansen ein Anblick, der ihn die Verpflichtung zu nüchterner medizinischer Sachlichkeit beinahe vergessen ließ.

Sie schien es bemerkt zu haben. Ein kurzer, prüfender Blick aus den grünen, ernsthaften Augen – und er schämte sich bereits ein wenig.

»Wissen Sie, Doktor, das tut schon verdammt weh. Und ich fürchte, ich komme mit diesem Ding nicht nach Hause. Ich hab noch eine Stunde Weg mit dem Auto.«

»Wo wohnen Sie denn?«

Es war Spätdienst und kurz nach elf.

Der Ort, den sie ihm nannte – Dieburg – lag etwa vierzig Minuten von Frankfurt entfernt in Richtung Darmstadt.

»Sie haben recht. Mit dieser Hand können und sollen Sie nicht fahren. Jetzt bekommen Sie erst mal eine Spritze, dann machen wir einen Schnitt und räumen den Dreck da raus. Nur, zuwarten geht nicht. Es muß ohne Verzögerung, es muß sofort passieren.«

»Und dann?«

»Ja, dann«, hatte er gelächelt, »dann sehen wir weiter …«

Mit einer verbundenen, wenn auch gut versorgten Hand war es noch schwieriger, Dieburg zu erreichen. Nun, die Lufthansa sorgte für ihre Angestellten, und in Frankfurt waren nicht nur in der Personalunterkunft, sondern auch in den Hotels stets Plätze frei. Daß sie trotzdem sein Angebot, er wohne in der Nähe und habe stets ein Bett für liebe Gäste mit einem einfachen Kopfnicken wie selbstverständlich annahm, überraschte ihn.

Damals hatte er, genau wie jetzt, als erstes die Flasche Champagner aus dem Kühlschrank geholt. Und sie hatte damals, wie auch jetzt, abgelehnt. Alles, was sie verlangte, war ein Glas Milch.

Anschließend hatte er sie ans Bett des kleinen Gästezimmers gebracht. Sie hatte »Danke« gesagt, sich hingelegt, die Augen geschlossen und sich umgedreht. Und alles, was ihn am nächsten Tag an sie erinnerte, war ein kleiner Zettel auf dem Eßtisch: »Danke. Habe wunderbar geschlafen. Vielleicht sehen wir uns wieder.«

Es hatte tatsächlich ein Wiedersehen gegeben. Keine zwei Wochen waren vergangen, da tauchte sie in der Klinik auf. In dem Paket, das sie unter dem Arm trug, befand sich ein kleiner, wunderschön geschnitzter afrikanischer Elefant. Und seither war die Reihe der Elefanten länger und länger geworden, und Dr. Fritz Hansen dachte bereits daran, ein zweites Bord für seine Elefantenherde anbringen zu lassen. Aber Milch würde sie bei ihm heute nicht bekommen. Und auch das Gästezimmer war schon längst außer Mode. Das wenigstens hatte er erreicht. Gott sei Dank …

Tiefstrahler knallten ihr kalkiges Licht auf den Sandboden, und da wieder mal einige der Strahler ausgefallen waren, ließen schwarze Schlagschatten die Hindernisse noch bedrohlicher wirken, als sie dem auf einem Motorrad sitzenden Dr. Rolf Gräfe ohnehin erschienen.

Er hatte die Geländemaschine vor der Nummer vier ausgerichtet – einer Sprungschanze, hinter der sich ein Graben zog. Die Rampe schien direkt in den schwarzen Nachthimmel zu weisen.

Rechts davon, in einem Meter Abstand vielleicht, sah er Benni Radek. Die Lederjacke schimmerte, mit dem Daumen rieb er sich den schwarzen Schnauz. Gräfe betrachtete ihn und die ganze Szene so distanziert sachlich, wie man eine Röntgenaufnahme ansieht. Der Kitzel war plötzlich verflogen und machte einer tiefen, beinahe verwunderten Nüchternheit Platz und wieder einmal fragte er sich: Verflucht nochmal, was suchst du eigentlich hier? Reicht's denn nicht? Statt dir nach einem Zehn-Stunden-Dienst in der Klinik einen schönen Abend zu gönnen oder dich einfach in deiner Wohnung auf die Couch zu hauen, allein oder zu zweit, riskierst du auf diesem vergammelten Hindernis-Kurs deine Knochen und läßt dich von einem Typ wie diesem Neandertaler von Benni Radek zur Sau machen. Wieso eigentlich? Was willst du bloß auf dieser Scheiß-Piste loswerden?

Er trat jetzt den Kickstarter durch. Die Honda röhrte auf, zitterte.

»Na, zeig's, Doktor!« brüllte Radek.

Gas! Weich, jetzt den zweiten, nicht zuviel, sonst drehen die Räder wieder durch und du verlierst Fahrt – nein, es faßt, tadellos, Vollgas …

Er spürte die Kühle des Abendwindes durch den Lederanzug, beschleunigte noch mehr. Das Hindernis wuchs vor ihm auf, nicht mehr Steigung, nicht Rampe, sondern eine dunkle Wand …

Gräfes Herz trommelte. Wer sagt eigentlich, daß man in solchen Momenten ganz ruhig wird? Wo soll auch das ganze Adrenalin hin? Von wegen ruhig! Aber die Maschine blieb auf der Spur, der Magen preßte sich zusammen – und dann flog der Mensch auf dem Motorrad über den Graben, hoch aufgerichtet, auf den Pedalen stehend. Er spürte, wie das Hinterrad auftraf, war stolz, empfand ein jubelndes Gefühl – aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn nun wollte die Scheißkiste schon wieder wegrutschen. Er versuchte gegenzusteuern, wollte das Vorderrad hochreißen – nichts half, kein Trick, keine Anstrengung.

Rolf Gräfe flog durch die Luft, schlug mit der Schulter auf, und der Schmerz durchschoß seinen Leib. Er schloß die Augen, kreiselte auf dem harten Boden um sich selbst, kam zur Ruhe, während die Cross-Maschine noch immer durch den Sand pflügte.

Er stützte sich ab. Zwischen seinen Zähnen knirschte irgendwas; er spuckte es aus. Dreck und Sandkörner. Versuchte aufzustehen. Das ging auch – aber die Schulter! Das im Fahreranzug eingenähte Polster hatte die Wucht des Aufpralls kaum mindern können.

Radek brüllte: »Mensch, Rolfi, was haste da wieder für 'n Mist gebaut? Alles in Ordnung?«

Gräfe nickte, doch nichts war in Ordnung. Und Radek hatte völlig recht: Wieder Mist gebaut …

Ihm fiel ein, wie Fritz Hansen ihn in der vergangenen Woche zusammengestaucht hatte: »Cross- oder Hindernisfahren? Ja, piept's bei dir, Rolf? Geh von mir aus ins Spielkasino oder in die Puffs, züchte dir Haie im Aquarium – aber Cross- und Hindernisfahren, und das als Chirurg?! Daß wir Chirurgen verrückt sind, weiß ich selbst am besten, aber zwischen Verrücktheit und Schwachsinn ist noch immer ein Unterschied. Ja, ist dir denn klar, was du da jedesmal aufs Spiel setzt?«

Es war ihm klar. Als es letzte Woche den Krach mit Fritz Hansen gab, war er im OP ausgefallen, weil er sich das rechte Handgelenk verstaucht hatte.

Und heute? – Vorsichtig, ganz vorsichtig bewegte Rolf Gräfe die Finger in den Handschuhen. Es waren die Finger der linken Hand. Ging. Na, Gott sei Dank, nichts gebrochen. Nur eine Schulterprellung. Ein bißchen Mobilat drauf, vielleicht noch eine Novocain-Spritze, dann hat sich das …

Radek kam angelaufen: »Kommt da runter wie 'n Putzkübel. Hast das Gewicht nicht ruhiggehalten, Doktor. Das iss es.«

»Ach, steig mir doch …«

Gräfe ging hinüber zum Schuppen. Das Club-Telefon fand er neben einem leeren Whisky-Karton, der Radek als Behälter für ein paar Dutzend öliger Kerzen diente. Die verletzte Hand pochte, als er Brittes Nummer tippte. Es tat weh, verdammt nochmal! Wenn ich das nicht bis morgen wegkriege? Was dann? Ganz einfach: Dann gibt's schon wieder Zunder …

In der hübschen, fröhlich bonbonrosa gestrichenen Dachwohnung in einem Altbau der Schongauer-Straße in Frankfurt-Sachsenhausen legte Britte Happel, die zweite OP-Schwester der Airport-Klinik, den Hörer auf die Gabel zurück. Nicht zornentbrannt, doch sehr entschieden.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?«

Die Frage kam aus der Küche. Dort briet Elli Wondrasch, Brittes Freundin und Wohnungsteilhaberin, irgendetwas in der Pfanne, das sie ›Tortilla‹ nannte. Vor vier Tagen war Elli braungebrannt und aufgekratzt von ihrem Ibiza-Urlaub zurückgekommen, und seither gab es für sie nur noch spanischen Wein, spanischen Cognac, spanische Gerichte und Erinnerungen an spanische Männer.

»Hör mal, soll ich dir nicht auch ein Stück auf den Teller legen?«

Sie erschien mit dem Tablett. Tatsächlich: spanischer Wein! Doch vermochte dieser Anblick Brittes Laune nicht zu verbessern.

»Also, was ist los?«

»Rolf hat angerufen. Er wollte mich zum Italiener ausführen. Und jetzt, jetzt hockt er noch immer in seinem dämlichen Motorrad-Club, weil anscheinend wieder mal was schiefgelaufen ist.«

»Ah ja?«

»Was heißt denn ›ah ja‹?«

»Ah ja drückt eine milde Form von Staunen aus, wenn du's wissen willst. Und zwar ein Staunen darüber, was du dir alles von dieser Mickymaus von Chirurgen bieten läßt.«

Mickymaus? Britte runzelte die Stirn.

»Nun komm, nun iß schon!«

Britte blickte angewidert auf die braune, verbruzzelte Masse, die eine ›Tortilla‹ sein sollte oder wie immer dieses Zeug heißen mochte. »Wie kommst du denn auf Mickymaus?«

»Na, der Allergrößte ist er ja wohl nicht. Ich meine, was seine Länge angeht, bleibt er noch immer einen halben Kopf unter dir.«

»Deshalb brauchst du Rolf doch nicht Mickymaus zu nennen. Kann er was für meine ein Meter neunundsiebzig? Er ist ein netter Kerl. Und ein prima Arzt. Und wenn er spinnt – welcher dieser Typen spinnt denn heutzutage nicht? Kennst du einen?«

Damit hatte sie recht, Elli mußte es zugeben. Sie stach die Gabel in ihre Tortilla, schnitt sich ein Stück ab und schob es in den Mund. Schmeckte hervorragend – doch was sagte Britte da gerade?

»Vielleicht hast du sogar recht«, hörte sie staunend Brittes Worte. »Ich brauch's mir wirklich nicht bieten zu lassen. Wieso auch?«

Sie griff sich eine Zigarette, zündete sie an und ließ sich in den Segeltuch-Sessel in der Ecke fallen. Aus Freudenstadt im Schwarzwald war sie in diese verrückte und verwirrende Frankfurter Welt gekommen. Gut, mit ihrer Ausbildung in Tübingen und ihrem Können konnte sie genauso zufrieden sein wie mit ihren Aussehen; mit dem trotz der Größe perfekt geformten Körper, dem glatten, langen blonden Haar und dem jungen und erwartungsvoll hübschen Gesicht. Das Schwäbische, das ›hosch‹ und ›bisch‹, hatte sie sich sowieso fast abgeschminkt – aber dennoch: Unter ›Frankfurt‹ hatte sie sich etwas anderes vorgestellt. Und außerdem kam sie ja gar nicht dazu, die Stadt kennenzulernen. Sie war von der Klinik vereinnahmt worden.

»Das hier ist keine Klinik, sondern ein Gefängnis, Mädchen!« hatte Rolf Gräfe sie schon von Anfang an gewarnt. »Und wenn du die Knochenmühle endlich hinter dir hast, dreht sich das Karussell trotzdem weiter. Du kannst nicht einfach in die Heia wie normale Menschen. Du willst, mußt irgendetwas tun. Und meist hast du Lust auf was ganz Ausgefallenes.«

So wie er? Ein Chirurg, der nach Dienstschluß seine Geländemaschine über Hindernisse jagte …

Sie mochte den Rolf Gräfe. Er wirkte zwar ziemlich verschlossen, aber er konnte auch zärtlich und manchmal unheimlich lustig sein. Doch jetzt? Bestellt und nicht abgeholt? – Von wegen!

»Ich geh mit diesem Quantas-Typen essen«, verkündete sie.

Elli nahm den Kopf hoch. »Mit wem?«

»Ein Purser von der Quantas.«

»Und was ist denn schon wieder Quantas?«

»Die Luftlinie der Australier. Er sagte, er ruft um neun Uhr an. Schwarze Haare, grüne Augen – und ein Kopf größer. Der Mann ist eine Schau!«

»Purser? Was ist das denn?«

»Chef der Kabinen-Crew, Über-Steward oder sowas.«

»Die sind doch alle schwul, Schätzchen. Da laß mal lieber die Finger davon.«

»Schwul? Der?! – Der doch nicht.«

»Ein Australier? Und du mit deinem Englisch?«

»Das ist gar nicht so schlecht, mein Englisch. Aber er spricht fließend deutsch. Er heißt Hubert, hat 'ne deutsche Mutter.«

Sie sah auf ihre Uhr: »Wenn's jetzt läutet, und es ist Rolf, dann sagst du, ich sei ausgegangen. Und falls es der andere ist …«

Es läutete. Elli nahm einen Schluck von ihrem spanischen Wein, stöhnte, ging zum Apparat und hob ab.

»Ja? Wer? – Ach so … Bitte einen Augenblick … Ja, sie ist da.«

Sie reichte Britte den Apparat, mit der anderen Hand schlug sie das Kreuzzeichen. Britte mußte lachen.

»So guter Laune?« klang es aus dem Hörer. »Stimmt mich ja geradezu hoffnungsvoll. Wie ist das mit uns beiden? Ich würde ja auch gerne kichern, aber mein Magen knurrt so laut. Gehen wir zusammen essen? Irgendwohin, wo es gemütlich ist und es was Ordentliches zu futtern gibt? Was halten Sie davon?«

»Viel«, sagte Britte. »Sehr viel sogar …«

Sie hatten ihn! Aus der S-Bahn konnte er nicht mehr raus.

Keine Frage, der Typ war fertig. Den hatten sie schon halb in der Wurstmaschine. Der wußte nur noch nicht, wie tot er schon war. Er meinte womöglich noch, weil die S-Bahn so bumsvoll war, hätte er 'ne Chance. – Ja, von wegen!

»Immer mit der Ruhe!« grinste Tacker. Aus drei Augen grinste er, denn der Typ dort hinten hatte ihm tatsächlich 'n Veilchen verpaßt. Mitten auf dem Parkplatz. Vor allen Leuten. Sowas steckt ein Tacker nicht weg.

»Wir sin brave Bürger«, grinste Tacker. »Iss schließlich 'ne S-Bahn, 'n öffentliches Verkehrsmittel. Und wir halten uns an die Vorschriften.«

»Immer mit der Rolle!« schrie sein Kumpel Mumba. »Immer mit der Rolle durch die Wolle!«

»Und raus«, fiel Ronny ein, der dritte im Bunde, »raus aus dem Zug muß er auch.«

»Und dann«, sagte Tacker und betrachtete aus seinen Veilchenaugen versonnen den Schlagring, den er sich schon über die Finger gesteckt hatte, »dann sind wir richtig lieb zu ihm …«

Und der Typ linste schon wieder herüber. Dem ging der Arsch mit Grundeis.

»Immer mit der Rolle durch die Wolle!« gröhlten sie. Und die Leute glotzten.

Das Fußballspiel im Waldstadion war ein Reinfall gewesen. Der Club hatte verloren. Aber jetzt, wenn sie diesen Luxus-Jungen von Alfa-Fahrer, diesen Yuppie oder was der war, durch die Mangel drehen würden, dann hatte sich der Ausflug von Dortmund nach Frankfurt vielleicht doch noch gelohnt …

Lichter flogen vorbei. Der S-Bahnzug donnerte durch den Tunnel. Thilo Reinartz spürte genau, daß die drei Kerle ihn beobachteten und über ihn sprachen. Er zwang sich, den Blick geradeaus zu halten. Dreckige Fratzen, dachte er, Abschaum, Fußball-Zombies, Halbwilde, Killer.

Sein Blick glitt hoch zu dem runden, roten Griffbügel der Notbremse. Wäre das eine Möglichkeit? Hilft dir ja keiner. Das ist es doch … Aber wieso mußtest du auch den Wagen am Waldstadion parken? Als ob du nicht wüßtest, was dort nach einem Spiel los ist? Kennt man doch vom Fernsehen, liest man in der Zeitung: Fußball-Rowdies, Schläger, Primitivlinge. Und auch noch aus dem Ruhrpott! Die Antenne hatten sie ihm schon abgeknickt. Den Alfa wollten sie ihm auch noch verkratzen. Und daß er dem Typ, der da besonders aktiv war und die Antenne abriß, eine schmierte, war nur ein Reflex gewesen – und ein Fehler obendrein.

Sie jagten ihn über den ganzen Parkplatz. Er hatte noch gedacht, er könne sich in die S-Bahn retten, aber auch das war eine Illusion. Die Leute sahen nur zu und rührten keinen Finger.

Thilo Reinartz spürte, wie ihm die Angst in die Knie kroch.

Sein Arm ging hoch. Der fremde Mann, der neben ihm stand, stieß ihn an und zeigte ihm sein fleischiges, dickes, bebrilltes Gesicht. Mit empörten Augen hinter den Gläsern fragte er: »Was wollen Sie denn da?!«

»Sehen Sie doch. Das Ding da ziehen.«

»Das Ding da? – Das ist die Notbremse. Mann! Sowas kann lebensgefährlich werden. Da fliegen wir doch alle durcheinander. Ja, sind Sie verrückt geworden?«

»Ich nicht. – Die!«

Thilo Reinartz deutete mit dem Kinn zu dem grinsendem Haufen am Ende des Wagens. »Die sind das. Wahnsinnig sind die. Die wollen mich zusammenschlagen. Das haben sie schon auf dem Stadion-Parkplatz versucht. Und jetzt sind sie hier im Wagen.«

»Aber hören Sie: Wieso legen Sie sich mit solchen Kerlen an? Sie sehen doch gar nicht so aus.«

»Das ist es doch … Weil ich nicht so aussehe! Die Autoantenne haben sie mir abgerissen. Dann fingen sie an, den Lack zu zerkratzen. Und dann ging's gegen mich.«

»Zeiten sind das!« Der Mann starrte ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen an, als sei er für die Zeiten verantwortlich. »Passen Sie auf, wir sind ja gleich am Flughafen. Da gibt's doch überall Polizei. Da machen Sie mal gleich 'ne Anzeige. Dort trauen die sich nicht.«

Thilo holte tief Atem und dachte: Hoffentlich …

»Nächster Halt Airport«, klang es aus dem Lautsprecher über seinen Kopf.

Der Zug hielt, die Türen glitten auf. Schon während der Einfahrt in die große Station suchte sein Blick unter all den Zivilisten, die herumstanden, verzweifelt nach einer Uniform.

Nichts. Kein einziger Beamter. Wenn du sie mal brauchst …

Aber die Rolltreppe? Er stand im vorderen Teil des Wagens und das bedeutete Vorsprung. Er wird sich doch von solchen Drecksäcken nicht fertigmachen lassen.

Thilo sprang heraus, drei, vier Schritte versuchte er in beherrschter Eile zu gehen, vielleicht hatten sie's aufgegeben – doch nein, er hörte sie hinter sich, ehe er sich umdrehte und sie kommen sah.

Na, los schon! – Thilo Reinartz war achtundzwanzig. Zweimal die Woche spielte er Squash. Im Training zu bleiben, fit zu sein, das verlangte schon sein Job an der Börse.

Thilo rannte.

Und es war wie zuvor auf dem Parkplatz: Augen, die starrten. Gesichter, die sich ihm zudrehten. Eine alte Frau, die die Hand vor den Mund nahm. Männer, die die Arme hängen ließen – und niemand, keiner, kein Schwein, der ihm half!

Neben ihm war jetzt ein Schatten.

Die Rolltreppe. Und der Typ hechtete nach seinem Bein. Irgendwas Rotes leuchtete auf. Eines dieser läppischen Piratentücher, die sie sich um den Schädel gebunden hatten. Thilo keilte den Absatz zurück, traf, hörte Gebrülle – weiter, rauf!

Ein Dicker versperrte ihm den Weg. Er schob ihn zur Seite. »Lassen Sie mich durch!«

»Sind Sie denn wahnsinnig?«

Auch noch? Ausgerechnet ich … Schneller, schneller. Sie sind hinter dir. Rote Kopftücher. Ein ganzes Rudel. Er hörte ihren Atem. So muß es sein, wenn du Wölfe im Genick hast, keinen Ton, nur das Keuchen. Und das Geräusch ihrer Sohlen … Und Frauen, Männer, die sich ängstlich zur Seite drückten.

Das war die Ankunfts-Ebene. Hier mußte doch irgendwo …? Niemand. Zwei Piloten kamen ihm entgegen, in voller Uniform, und schoben ihr Gepäck. Aber wahrscheinlich waren das nur so Scheiß-Stewards. Jedenfalls hielten sie ihren Handkarren an und glotzten. Nichts. Keine Reaktion.

Er kannte sich aus am Airport. Dort drüben in der Bar hatte er kürzlich Uschi verabschiedet. Und hier die Geschäfts-Passagen: Elektrogeräte, Haushaltswaren, Supermarkt … Lichter … Reklame … Und immer das Getrampel hinter sich!

Thilos Herz raste jetzt. Die Luft wurde knapp. Die anderen stießen die Leute zur Seite, bügelten sie einfach nieder, holten rechts und links auf. – Ein Parfümerie-Laden. ›Guerlain‹ und ›Lavin‹, dann ›Baimain‹ … Alles rosa und zartblau. Und eine Frau, die Angestellte wahrscheinlich, die ihm mit ausgebreiteten Armen und entsetzten Augen den Eingang versperrte.

Gleich daneben war noch eine Türe.

Thilo stieß sie auf: Kacheln, Waschbecken und Spiegel empfingen ihn. Nun gab es kein Zurück, kein Ausweichen, kein Weiterrennen. Dies war die Falle. Mit zitternden Beinen, keuchend, lehnte er sich gegen eine Kachelwand.

Da waren sie …

Irgendein braunhäutiger Mensch trocknete sich neben ihm hastig die Hände ab.

»Hau ab, Kanake!« hörte er.

Der Mann drückte sich an ihnen vorbei und verschwand. Thilo drehte sich um. Nie im Leben hatte er sich so einsam gefühlt.

Der erste, der auf ihn zukam, war das Schwein, der die Antenne am Alfa abgerissen hatte; und so, mit dem geschwollenen blauen Auge, war die Fratze noch widerlicher als am Waldstadion.

»Hören Sie mal«, keuchte Thilo, »wir können das doch regeln. Ich meine, ich kann doch bezahlen – falls irgendwelche Unkosten …«

»Du? Du zahlst nichts. Jetzt zahl ich, amigo …«

Etwas blitzte vor Thilos Augen auf, als die Faust heranflog. Er duckte sich und dachte im selben Sekundenbruchteil: Ein Schlagring … der hat einen Schlagring!

Er spürte den Schmerz an der Schulter. Versuchte noch mit der Linken abzuwehren. Diesmal traf er das Kinn, und er spürte den Schlag, als habe ihn ein Hammer getroffen. Jedes Gefühl, selbst der Schmerz erlosch. Thilo Reinartz brach in die Knie.

Und dann waren sie über ihm …

Krankenschwester Britte Happel und Hubert Lawinsky von der australischen Fluggesellschaft ›Quantas‹ saßen in der Nische des ›Öfchens‹, einer kleinen, gemütlichen Weinbeize in Frankfurt-Sachsenhausen. Das Essen hatten sie hinter sich; Britte spürte, wie der Wein ihr Gesicht glühen ließ, es war sogar angenehm; nein, sie hatte nichts dagegen, da waren seine Augen, grün wie ein Bergsee, jawohl, lächelnd, nicht drängend, eher abwartend und von derselben Farbe, vom selben Grün wie die Steine, die er ihr zeigte: Es waren fünf Türkise. Sie schmückten den schweren Silberreif, den er ohne jeden Kommentar gerade aus der Tasche der eleganten Leinenjacke gezogen und auf den Tisch gelegt hatte.

»Gefällt er dir?«

Sie nickte.

»Dann zeig mal, wie er dir steht. Probier doch an, komm!«

Er nahm ihre Hand, und sie spürte den Druck seiner Finger auf der Innenfläche. Dazu dieses Lächeln und die kühle Berührung des schweren Silbers am Gelenk.

»Passt. Wie gemacht für dich. Weißt du, in La Paz gibt's jede Menge Touristen-Kitsch. Meist fälschten sie sogar noch das Silber, nehmen einfach Blei und legen es in ein Bad. Aber dieses Ding hier ist wirklich von einem Künstler, einem alten Indio-Meister. Ich kenne ihn seit langem. Er macht die wunderschönsten Arbeiten.«

»Und für wen ist er?«

»Für dich.« – Ja. Augen wie Türkise! Und das Lächeln darin. Es war so verdammt gefährlich. Aber trotzdem: Es tat gut; nein, es steigerte die Erregung, die sie fühlte. Eine Spannung, die ihr neu und unbekannt war. Das Prickeln der Gefahr …

»Die Frau, der ich ihn schenken wollte«, lächelte er, »war auch blond. Blond und verheiratet. Sie hat mir eine Menge Geschichten erzählt. Kann man ihr nicht übel nehmen. Tun Frauen meistens. Und es ist auch ihr gutes Recht, doch ein bißchen Wahrheit sollte schon dabei sein …«

Eine innere Stimme warnte Britte Happel: Zieh den Armreif ab. Gib ihn zurück. Steck ihn dem Mann notfalls in seine schicke Jacke. Und dann sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren, nach La Paz, Honolulu, Neu Dehli, Lima oder sonstwohin. Vor allem soll er dich mit seinen endlosen Aufschneider-Stories in Frieden lassen!

Stattdessen lächelte sie und der Armreif funkelte, und Hubert Lawinsky goß ihr noch ein Glas Wein ein …

Es war der letzte Eindruck, den Britte mit klarem Bewußtsein aufnahm.

Was anschließend geschah, blieb undeutlich wie ein Traum. Sie wußte nur, sie hatte eine Grenze überschritten und wollte nicht zurück. Die Kellnerin brachte die Rechnung und steckte, ohne mit der Wimper zu zucken, zehn Mark Trinkgeld ein. Zehn Mark! Dann die Taxifahrt. Wohin? Egal, alles egal …

Britte hielt die Augen geschlossen und genoß es, daß die langen, gebräunten erfahrenen Finger, die sie vorhin schon bewundert hatte, im Taxi ihren Nacken streichelten. Dann ein Hotel-Empfang. Und was für eine Halle: Schimmerndes Furnier, elegant gekleidete Leute, ein Portier mit rosa Bäckchen, der sie noch nicht einmal ansah, als er mit einem »Bitte, Herr Lawinsky« den Schlüssel über die Theke schob. Die schweigende Fahrt im Aufzug, das Sich-Anlächeln, der Puls im Zauber der Erwartung – und schließlich das Zimmer.

Es war ein großes Zimmer. Das Bett stand in der rechten hinteren Ecke, und der Boden war bedeckt von einem dichten, malvenfarbenen Teppich.

Noch einmal spürte Britte tief im Inneren einen einzigen Alarmruf, zitternd und undeutlich: Was tust du hier? Was soll das alles? Aber es war schon zu spät. Nicht einmal das Bett erreichten sie. Sie hörte das knisternde Geräusch, als er ihr mit einem Ruck den Reißverschluß ihres schwarzsilbernen Abendanzugs öffnete. Bis zum Gürtel hinunter; weiter ging's ja nicht. Sie hakte die Gürtelschnalle auf. Und dann – ja, dann drückte er sie nach unten, voll unwiderstehlicher Kraft, tief auf den Teppich. Es gab keinen Protest und kein Sich-Wehren. Er wollte sie hier lieben, und er würde es tun, auf diesen malvenfarbenen See, der sie verschlang.

Und als er schließlich in sie eindrang, war irgendwo hoch über der Stadt das pfeifende Geräusch eines Flugzeugs zu hören und rief in ihr, in einer letzten Sekunde, die Erinnerung wach an die Klinik, und ganz in der Ferne tauchte wie im Nebel die Frage auf, was Rolf wohl …

Aber auch das war gleichgültig. Alles war gleichgültig.

Kerzen brannten still vor sich hin. Vivaldi-Musik schwebte durch den hohen, mit einer Galerie versehenen Raum. Auf dem Tisch standen all die Köstlichkeiten, die Dr. Fritz Hansen bei ›Feinkost Haller‹ für Evis Empfang ausgesucht und mit viel Mühe arrangiert hatte. Nicht nur er, die ganze Wohnung schien auf Evi zu warten.

Aber die beschäftigte sich noch immer im Badezimmer.

Nervös riß Hansen Draht und Stanniol vom Sektkorken, lockerte mit dem Daumen den Rand und sandte ihn – blub – hoch zur Decke.

Dann goß er die Gläser voll.

Er wartete nicht länger. Er nahm seines: Prost, Fritz – auf dein ganz Spezielles! Da hast du dieses heiß ersehnte, rotblonde Mädchen-Wunder im Haus, und wieder einmal stellt sie deine bewährte Erfolgsformel in Frage. Und die lautet doch: Nichts Unkomplizierteres und Schöneres gibt es, als die freie Liebe zwischen zwei Erwachsenen, die das gleiche wollen! Eine Lukrezia zum Beispiel, die kommt rein, sieht Kerzenlicht, sieht Champagner, schnuppert und öffnet schon die Blusenknöpfe. Und dann geht's rund. Liebe als Naturereignis, Sex als Happening.

Und Evi?

Alles ist anders bei ihr. Gewiß, manchmal ist sie weich, zart, anschmiegsam und lieb. Meist aber läuft es wie heute.

Die Frau vom anderen Stern. Von dir getrennt durch etwas, das sich nicht benennen läßt. Immer irgendwie entrückt. Sogar dann, wenn du sie in den Armen hältst, bleibt dieser letzte Vorbehalt, dieses nie sich selbst aufgeben können …

Fritz Hansen trank das Glas Sekt leer.

Er schmeckte nicht.

Das Essen auf dem Tisch, die Schinkenröllchen, der Mayonnaise-Salat, der Toast, die Kaviar-Häppchen – alles wirkte wie fürs Theater angerichtet: War die ganze Wohnung nur Staffage?

Vielleicht war's an der Zeit, die Erfolgs-Formel zu revidieren und sich der Wahrheit zu stellen. Der eine nimmt eine Honda-Geländemaschine, wie Rolf Gräfe, und jagt sie über irgendwelche dämlichen Hindernisse, um den Streß abzubauen. Der nächste holt die Whisky-Flasche. Du brauchst die Zärtlichkeit, die Wärme einer Frau …

Er hörte, wie der Riegel der Badezimmertür zurückgeschoben wurde. Sie schloß sich auch noch ein? Himmelherrgott, was war nur mit ihr los?

Sie kam auf nackten Sohlen. Da stand sie nun in seinem viel zu weiten, flauschigen Bademantel, um das Haar ein Tuch. Mit müden, sehr müden Augen.

Er reichte ihr das andere Sektglas: »Komm, auf dich! Auf die schönste fliegende Kellnerin des Universums. – Auf uns!«

»Trink auf dich selbst, Fritz.«

»Hab ich ja schon.«

»Na, dann noch ein Glas … Aber ich kann nicht mehr. Wirklich.«

Sie nahm dann doch einen kurzen Schluck, sah ihn über den Rand des Glases hinweg an, blickte mit lächelnder Resignation auf den Tisch und sagte: »Du hast an alles so lieb gedacht. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag. Nur: Für heute ist Ende der Fahnenstange.«

Er sah ihr nach, wie sie den großen Raum durchmaß, um im Schlafzimmer zu verschwinden.

Sechstausend Kilometer Flug hat sie hinter sich, dachte er, nonstop, durch Zeit- und Klima-Zonen. Die einen stecken's weg mit links, die anderen sind geschafft, und in der Personalakte wird dann eingetragen: ›Anfälligkeit für vegetative Störungen‹. Die Freiheit über den Wolken. – Ja, von wegen!

Zehn Minuten später öffnete er ganz sacht die Schlafzimmertür. Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er die mattschimmernde Rundung der Schultern. Die Decke war von ihrem Körper gerutscht. Er nahm die Decke auf, breitete sie über Evi aus und strich sie glatt.

Der Abend war noch jung. Nur zögernd legte die Nacht ihr Dunkel über die große Stadt. Von der B-43 drang wie Wellenschlag das Rauschen des Verkehrs in den Raum, überdeckt von den singenden Geräuschspuren der landenden und startenden Düsenmaschinen.

Als er Evi so liegen sah, durchflutete Hansen eine Woge sanfter Zärtlichkeit. Er lauschte ihrem Atem, spürte ihre Wärme; streckte den Arm aus, um ihr Haar, das Gesicht zu berühren, und da war etwas, das er seit langem nicht mehr erfahren hatte: Ein Frieden, der mehr bedeutete als Glück. Viel mehr.

Doch wie lange würde er halten?

Er ging zurück zur Tür und schloß sie so leise wie es ihm möglich war.

Dann, wieder im Sessel, vor sich das leere Glas, in dieser nun ganz fremden Stille, hatte er das Gefühl, daß sich etwas ändern mußte; ja, bereits geändert hatte. Denn sonst wäre er wohl nicht zu der Überlegung gekommen, auf welche Weise er Lukrezia abhalten konnte, ihn in der nächsten Zeit zu besuchen. Welche Taktik, welche Worte waren richtig? Welche Lügen?

Lügen – warum? Er war immer so stolz gewesen auf die Offenheit und Ehrlichkeit seiner Beziehungen zu Frauen. Und nun entdeckte er, daß es Betrug gewesen war. An sich selbst, an den anderen, Betrug und Egoismus … Oder lag es daran, daß wir alle unserer Arbeit hörig sind, obwohl sie uns aufzufressen droht? Und daß es in dieser Mühle kein anderes Rezept gegen Einsamkeit gibt, als das, was wir ›Liebe‹ nennen?

Er schloß die Augen und sah wie im Traum ein anderes Frauenantlitz. Auch dieses Gesicht war schön gewesen – doch nun schrecklich entstellt vom Geäder eingetrockneter Blutbahnen. Und er glaubte die Stimme zu hören, diese leise, gebrochene Stimme: »Ich bin auf die Terrasse gegangen, an den Ort, wo ich von meiner großen Liebe träumte. Dort wollte ich sterben … Ist das denn so unverständlich?«

Auch dies im Namen der Liebe? Liebe – was hatte es mit diesem verdammten Wort nur auf sich? Wie viele Bedeutungen besaß es? Und was konnte es einem Menschen antun?

Hansen stand auf und löschte die Lichter …

Rollstühle, nichts als Rollstühle wurden am Flughafen heute verlangt. Rollstühle an die Flugzeuge, zu den Bus-Wartestellen, zu den Gates – selbst am Abend noch hatten die Helfer und die von der Klinik beschäftigten Studenten alle Hände voll zu tun, alte oder sonst behinderte Passagiere über endlose Gänge, durch Transit-Passagen von Maschine zu Maschine, vom Gate zum Eingang und vom Eingang zum Gate, vom Zoll zurück zur Gepäckausgabe und schließlich zum Ausgang zu karren.

Der Diensthabende der Klinik, Dr. Walter Hechter, saß gemütlich im Ärztezimmer, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände über dem Bauch. So richtig zum Erholen. Still wie ein Waldsee der Abend. Außer drei Kreislauf-Fällen und einer Lebensmittel-Vergiftung, die eine Magensonde brauchte, war ihm in den letzten Stunden nichts über den Weg gekommen. Rolf Gräfe zu vertreten, lohnte sich wieder mal.

Dr. Walter Hechter war in der Klinik für seinen unstillbaren und durch kein Chaos zu erschütternden Hang zu genauer Planung bekannt. Darin war er exakt wie ein Bahnhofsvorsteher und hatte sich deshalb beim Personal und bei den Schwestern bereits den Spitznamen ›Rotmütze‹ eingefangen. Wann immer Rolf Gräfe seiner Motorrad-Idiotie frönte, übernahm er gern ein paar Stunden Nachtdienst. Kleinvieh macht auch Speck. Sowas summiert sich. Jedenfalls würde er sich in diesem Jahr mit Annie und den Zwillingen einen Langzeit-Urlaub leisten, während der arme Kollege Gräfe vermutlich in die Röhre kuckte.

Er schaltete diese dämliche Quiz-Schau ab, die gerade im Tischfernseher des Ärztezimmers lief und wandte sich wieder dem Prospekt auf dem Schreibtisch zu: Wohnmobile. In allen Größen, Farben und Preislagen.

»Schick so 'n Ding, wat?« Oberpfleger Fritz Wullemann war eingetreten. Selbst sein Klopfen hatte Walter Hechter überhört, so sehr faszinierten ihn die Bilder. »Aber teuer.«

Hechter wandte den mageren, bebrillten Kopf: »Fehlschluß, Herr Wullemann. Wenn Sie 'ne dreiköpfige Familie haben wie ich, und dann jedesmal im Urlaub für die Hotels …«

»Ick hab sechs Köppe«, sagte Wullemann. »Aber ooch noch im Urlaub uff die Autobahn? Mit mir doch nich. Da bleib ick lieber in meinem Jarten.«

»Trotzdem, Herr Wullemann …«

Die Stimme der Aufnahme machte jedem Argument ein Ende: »Herr Doktor Hechter! – Eine Notaufnahme.«

»Was ist denn los?«

»Zwei Herrn von der Polizei sind auch da, Herr Doktor.«

Als ob das etwas erklären würde … Der Abend hatte sich so schön angelassen. Und jetzt? Losrennen. Und nur der Teufel mochte wissen, wen sie ihm da wieder gebracht hatten.

Es war, wie sich herausstellte, ein junger, schlanker, etwa dreißigjähriger Mann, der auf der Bahre lag. Genauer gesagt: Auf der Bahre lag das, was von einem jungen, schlanken, etwa Dreißigjährigen übrig geblieben war. Das braune Haar war blutverklebt, das Gesicht von Schwellungen und Blutergüssen zu einer schrecklichen, blauschwarzen Grimasse verformt.

Tina Zander war gerade dabei, mit einer Schere das Hemd vom Leib zu schneiden, ein teures, rosenholzfarbenes Seidenhemd mit aufgestickten Initialen. Und als die Stoffetzen auf den Boden fielen, war das ganze Ausmaß der Bescherung zu erkennen: Hämatome und Gewebe-Traumen, wo man hinsah! Die rechte Schulter völlig verformt, ganz offensichtlich eine Schlüsselbein-Fraktur. Im rechten Oberarm womöglich noch ein Bruch … Gelenke, Hände, Hals, alles übersät von den typischen ovalförmigen, dunkel angelaufenen Schwellungen, die Fußtritte hinterlassen. Hier – Rippenfrakturen!

»Was ist denn mit dem Mann geschehen? Wer … wer hat denn den derartig zugerichtet?«

»War nicht nur einer, Herr Doktor«, sagte der größere der beiden Polizeibeamten, die mit unbewegten Gesichtern an der Wand neben der Tür standen. »Das war eine ganze Bande. Die wollte wieder mal 'n bißchen Spaß haben. Besoffen waren die auch.«

»Hier auf dem Airport?«

»Hier auf dem Airport. Sie haben ihn aus der S-Bahn hinauf in die Ankunfts-Ebene getrieben und dort in einer Toilette zusammengeschlagen.«

Walter Hechter setzte das Stethoskop an, um die Lungen abzuhören. Sie schienen zu funktionieren. Na, wenigstens das … Der Mann befand sich noch im Schock. Schon deshalb mußte man ihn in jedem Fall intubieren, um die Sauerstoff-Versorgung zu sichern.

»Haben Sie ihm schon was gegeben, Tina?«

»Ja. Adrenalin und Dipidolor.« Es war ein kreislaufstützendes und schmerzdämpfendes Kombinations-Präparat.

»Bringen Sie ihn sofort in den OP-2. Er braucht einen Tubus zur Sauerstoffversorgung.«

»Endotracheal geht aber nicht«, sagte Tina, die älteste und erfahrenste der OP-Schwestern in der Klinik. »Der Kiefer scheint auch gebrochen.«

»Ist ja unglaublich.« Dr. Walter Hechter starrte die beiden Polizisten an: »Was waren denn das bloß für Horror-Typen? Eine Bande von Mördern?«

»Fußball-Freunde«, sagte der Polizist. »Nichts weiter als Fußball-Freunde aus Dortmund …«

Sie arbeiteten anderthalb Stunden.

Die Sauerstoffversorgung wurde durch einen nasotrachealen Tubus gesichert – einen Gummischlauch, der durch den unteren Nasengang in die Luftröhre geschoben wurde, um so einen freien Atemweg zu schaffen.

Das Entscheidende war, den Verletzungs-Schock zu bekämpfen, der die vitalen Lebensvorgänge beeinträchtigte. Dazu war die Blutdruck-Dynamik und das Gerinnungssystem der Basen- und Elektrolyt-Stoffwechsel genau zu kontrollieren. Und es mußte die stets mögliche Gefahr einer Thrombose bekämpft werden – eines Blutgerinnsels aus einer der zahlreichen Verletzungen, das ein wichtiges Gefäß blockieren konnte.

Die Röntgenaufnahmen hatten Hechters schlimmste Befürchtung Gott sei Dank widerlegt: Eine Schädelfraktur lag nicht vor.

Was ihm Sorge machte, war die Flankenspannung und die Schwellung in der Nierengegend. Doch nachdem sie den Blasen-Katheter eingesetzt hatten, fanden sich im Harn keine roten Blutkörperchen. Die Nieren schienen also unverletzt.

Der Patient, nach den Papieren in seiner Brieftasche ein Thilo Reinartz, Bankangestellter, der als Broker an der Frankfurter Börse arbeitete, hatte sich wohl instinktiv genau richtig verhalten und mit Armen und Händen die Bauchregion und den Unterleib zu schützen versucht. Es schien ihm auch einigermaßen gelungen zu sein.

Die Abheilung der Hämatome und Schwellungen würde Tage dauern und noch viele Schmerzen kosten. Die Monitoren zeigten aber eine Stabilisierung der Herz-Frequenz. Es gelang Hechter, die Brüche – auch den des Schlüsselbeins – am Röntgenbild-Verstärker so einzurichten, daß die Knochen wieder zusammenwachsen konnten. Als er den gebrochenen Armknochen mit einem Druckverband versah, öffnete der Patient die Augen: Blaue Augen, in denen nichts stand, als Unbegreifen …

»Was ist? Was ist denn …«

»Ach nischt, Thilo«, lächelte Fritz Wullemann auf ihn herab. »Nischt Wichtijes. Schlaf mal ruhig weiter.«

Tatsächlich, er schloß die Augen …

Rippen, Armknochen, das Schlüsselbein – was zu tun war, war getan. Die Hand würde wohl in der Klinik chirurgisch reponiert und ausgeheilt werden müssen. Aber immerhin das Gröbste war geschafft!

»Na, dann wollen wir mal …« Wullemann hob mit seinen mächtigen Armen Thilo Reinartz' Körper auf die Rollbahre, die ihn bis zum Abtransport in das Großklinikum in eines der Krankenzimmer bringen würde.

Er kam mit seiner Bahre bis auf den Gang. Dort stoppte er erst mal.

»Der Dr. Gräfe – ick werd verrückt! Ja, wie sehen Sie denn aus? Hat Sie's mal wieder uff 'n Rüssel jenommen?«

Gräfe grinste mit blutverschorftem, verschwollenem Mund. Und dann sah er zu der Bahre mit dem Infusions-Galgen: »Was ist denn das?«

»Unsere Abendbescherung, Doktor. Schlimme Jeschichte.«

»Da hab ich mir ja trotzdem was erspart«, lächelte Gräfe.

»Kann man wohl sagen«, meinte der dazukommende Dr. Hechter säuerlich, während Wullemann den Verletzten weiterschob in Richtung Krankenzimmer.

»Ich fürchte, ich hätte Ihnen ohnehin nicht viel genützt, Kollege.« Gräfe hob seine verschwollene und mit Pflastern verklebte Hand.

Dr. Hechters Gesicht verdüsterte sich. Seine Hoffnung für ein paar leichte und mit links erworbenen Ferienstunden schien endgültig versaut.

»Damit können Sie doch unmöglich den Nachtdienst …«

»Eben«, erwiderte Gräfe schlicht. »Leider. Aber ich bleib bei Ihnen. Schon aus Solidarität. Außerdem habe ich nicht den geringsten Bock, jetzt meine Bude zu sehen. – Was war denn mit dem Mann eben los?«

Hechter blickte hinüber zum Eingang des Warteraums. Dort umringten uniformierte Polizisten ein paar abenteuerliche Gestalten in Lederjacken.

»Wie's aussieht, werden wir's gleich erfahren.«

Ein Zivilist kam auf sie zu: »Guten Abend, meine Herren! Ich bin Inspektor Hermann vom sechsundzwanzigsten Kriminal-Kommissariat. Was wir für diese sogenannten Fußballfans aus Dortmund brauchen, sind ein paar Blutabnahmen. Sie können sich ja denken, warum?«

»Und ob!« sagte Hechter grimmig.

Gebrüll. – »Immer mit der Rolle durch die …«, schrie eine junge Stimme.

»Schnauze!« rief einer der Beamten.

Nach einigem Hin und Her und gegenseitigen Beschimpfungen wurde es endlich still.

»Na gut, Inspektor. Bringen Sie sie in den Warteraum. In meiner Aufnahme will ich die Gestalten nicht sehen.«

»Klar.« Der Inspektor nickte.

Fritz Wullemann kehrte aus dem Patienten-Trakt zurück.

»Herr Wullemann, wenn Sie mir freundlicherweise bei den Blutabnahmen …«

»Aber jerne. Aber sicher, Herr Doktor. Nehmen wir sie mal dran.«

Und dann kamen sie! Die roten Kopftücher waren verschwunden. Was blieb, waren blasse, verbiesterte achtzehn- oder neunzehnjährige Jungengesichter unter kahlgeschorenen Köpfen. Handschellen klickten, Armbeugen wurden freigemacht, und jedesmal, wenn die Kanüle in Wullemanns Hand eine Haut durchbohrte, hörte man gequälte, quiekende Schmerzenslaute. Nun, es mochte auch daran liegen, daß keiner in der Klinik Fritz Wullemann je so ungeschickt und zögernd mit einer Spritze hatte umgehen sehen.

Beim letzten der Dortmunder – es war Tacker – gab's doch noch eine Schwierigkeit. Der rieb sich erst mal die Handgelenke, lange, bedächtig und starrte dabei die Polizeibeamten an; ganz so, als habe er jahrelang in Ketten gelegen. Schließlich drehte er sich Wullemann zu. Das Gesicht war breitknochig und wirkte flach durch die eingedrückte Nase. Auch das blaue Auge, das offensichtlich von einem kürzlich eingefangenen Schlag stammte, machte ihn nicht schöner.

»Okay, Opi! Hol mir die Promille raus … Aber dat sag ich dir gleich: Bei mir läuft's anders!«

»Wat läuft anders?«

»Dat pieken. Laß deine kleinen Witzchen besser sein, sonst …«

»Sonst was?«

»Sonst, Opa, tret ich dir in die Eier«, drohte Tacker.

»Ah so? Ja dann …«

Wullemann legte die Spritze in den Besteckbehälter auf den Tisch zurück und kratzte sich nachdenklich den Nacken. Was nun geschah, verlief so schnell, daß keiner der Männer im Raum Einzelheiten wahrnehmen konnte. Wullemann duckte sich, sein Arm fuhr nach vorn, riß den anderen an sich, und jetzt wirbelte der große, schwere Pfleger um die eigene Achse – ein Hüftschwung, und Tacker flog mit rudernden Armen quer durch den Raum und krachte vor die Füße seiner Kumpel, wo er erst mal liegen blieb.

Die standen erstarrt. Keiner sagte etwas.

Nur Wullemann meinte trocken: »Hätt sich ja det Jenick brechen können. Aber ob det wohl 'n Schaden wäre?«

Dann, als alles vorbei und sie wieder allein waren, sagte Fritz Wullemann noch etwas. Er sagte es zu Rolf Gräfe: »Mit wem man doch so alles zu tun bekommt, nich, Doktor? Aber wir sin nu mal alle Menschen. Det wenigstens bete ick mir immer wieder vor. Oder isset det Tier in uns? Aber wollen wir die armen, unschuldijen Tiere beleidijen? Nee, die können ja nun wirklich nischt dafür. Det sind schon wir …«

Dr. Rolf Gräfe nickte ergriffen, voll Bewunderung.

Als Britte Happel am nächsten Morgen erwachte, wußte sie nicht, wo sie sich befand. Wer war der Mann, der neben ihr schlief? Ein gebräunter, muskulöser Arm hing über die Bettkante. Wild verstruppeltes, schwarzes Haar sah sie und dort, auf dem Boden verstreut: Ihr Anzug, ihre Wäsche, die Sandaletten … Mein Gott, der Australier, dachte sie, und – oh, verdammter Mist: In dreißig Minuten beginnt dein Dienst! Willst du vielleicht in diesen Klamotten in der Klinik aufkreuzen? Rolf, was würde er sagen? Oder die anderen, Hansen, der ›schöne Fritz‹ …

Nach Hause, sich umziehen? – Die Zeit reichte ja nicht mehr.

In einem Jeans-Laden unweit des Hotels riß sich Britte eine Hose vom Regal, kaufte ein Sweatshirt dazu, ließ den schicken Hosenanzug nebst Goldgürtel und zusammen mit einer ordentlichen Portion schlechten Gewissens an der Kasse, bestieg ein Taxi und flehte den Fahrer an, sie doch bis neun Uhr – besser wäre noch fünf Minuten vor neun – zum Flughafen zu bringen.

»So eilig? Wo fliegen Sie denn hin?«

»Wenn Sie's nicht schaffen, auf die Straße. Dann bin ich meinen Job los.«

Der Mann verzog nicht einmal den Mund, aber er gab sein Bestes und raste mit 150 über die Flughafen-Autobahn. Aber dann stoppte ihn ein Stau, und Britte kam doch zu spät.

Schwester Bärbel Rupert, die der Chef anscheinend als Ersatz mobilisiert hatte, stand bereits im Waschraum und schrubbte sich die Hände. Sie wandte Britte den Kopf zu. Das junge Gesicht war verzerrt von Angst und Nervosität.

»Oh Mensch, Britte! Was hatte ich für einen Bammel … Wo warst du bloß? Der Alte spinnt schon. Ein Glück, daß du endlich da bist.«

»Was ist denn los?«

Britte warf einen Blick durch die Sichtfenster zum OP und erstarrte. Der Raum war wie von Blut überschwemmt. Die Leuchtkraft der beiden Operationslampen verstärkte noch den dramatischen Eindruck der gräßlichen roten Pfützen. Und auf dem Tisch lag ein regloser Körper, über den sich drei Gestalten in Operations-Mänteln und Schutzmasken beugten.

Was war passiert? Niemand wußte es. Man ahnte zunächst ja nicht einmal, wer das Opfer war.

Der Mann trug ausgebleichte, geflickte Jeans, an den Füßen ein paar zerlatschte, graue Jogging-Schuhe, und über das blaukarierte Hemd hatte er eine jener leichten Jagdwesten gezogen, die bei manchen Jugendlichen beliebt und deshalb schon in den Kaufhäusern zu haben sind.

Er war ziemlich schmal, blond und jung. An die Weste hatte er seinen Arbeitspaß angeklinkt: ›Werner Roser, Frankfurt-Bockenheim, Falk-Straße 24, Elektriker‹. Die Karte enthielt, genau nach Vorschrift, auch alle weiteren Angaben wie Arbeitgeber und Blutgruppe, dokumentiert durch den Okay-Stempel des Flughafen-Schutzes und den Stempel des Bau-Büros.

Das Pech war nur: Werner Roser hatte die Weste auf einen der unzähligen fahrbaren Werkzeugtische in der Wartungshalle 5 gelegt. Von dort mußte sie in dem allgemeinen Durcheinander dann heruntergerutscht sein. Deshalb hatte sie niemand entdeckt.

Es war acht Uhr vierzig, als Werner Roser sein Rendezvous mit dem Tod antrat.

In der Halle 5 herrschte um diese Zeit der übliche Betrieb.

Die Halle 5 des Heimatflughafens der Deutschen Lufthansa stellte das Herzstück des Flugzeugwartungs-Komplexes dar und war weltbekannt – nicht nur wegen des technologischen Aufwands und der Qualität der Arbeit, die hier geliefert wurde, sondern vor allem wegen ihrer unglaublichen Dimensionen: Eine utopisch-bizarre Konstruktion, eine wahre Kathedrale der Technik, 320 Meter lang, 100 Meter breit. Allein eines der Tore, die sich auf einen Knopfdruck hin bewegen lassen, hatte eine Höhe von zwanzig Metern, so daß ein Riesenvogel wie eine Boeing 747, deren Seitenleitwerk mit bis zu neunzehn Meter in die Höhe eines sechsstöckigen Hauses aufragt, ohne weiteres hineingeschoben werden kann.

Unter strahlendem, immerwährendem Flutlicht könnten in diesem Bau vier Fußballspiele gleichzeitig ausgetragen werden, und weder Zuschauer noch Spieler müßten sich um Wind, Regen, Kälte oder Hitze sorgen. Jeder Lärm scheint sich in Weite aufzulösen. Die Menschen aber – und oft waren es mehr als tausend Mechaniker, Ingenieure, Angestellte – wirkten winzig wie wimmelnde Insekten.

In dieser Halle wurden vor allem die Boeing 747, die 727iger Maschinen und die Air-Busse gewartet. Neben der Jumbo-Halle im Westen des Abfertigungs-Gebäudes stand noch die Halle sechs mit ähnlichen Ausmaßen; sie diente der Wartung der DC-10 und der Boeing 737. Schließlich gab es noch eine letzte Halle für die kleineren Maschinen: die Flugzeughalle 3.

Im Südteil der Halle 5, im Abschnitt F-12, war an diesem Morgen eine Gruppe von Mechanikern dabei, einem Jumbo das dritte Triebwerk zurückzugeben. Man hatte es für die Überprüfung und für Reparaturarbeiten entfernt. Die 745-200 gehörte der griechischen Gesellschaft Olympic-Airways. Also handelt es sich um eine Auftragsarbeit – und auch um eine Zitterpartie, denn die Kran-Steuerung und das Heranführen der mächtigen Turbine verlangte von den Männern auf der hohen Plattform millimetergenaue äußerste Konzentration.

So war es durchaus zu begreifen, daß niemand dem jungen Elektriker Beachtung schenkte, der unten auf dem Hallenboden stand und an der Wand ein defektes Schaltmodul erneuerte.

Auch der Fahrer des gelben Elektrokarrens, der langsam im Rückwärtsgang die Werkstraße herunterrollte, hatte die Gefahr nicht erkannt.

Er kam vom Tor 2 und hatte eine Ladung von 18-mm-Moniereisen in den Arbeitsbereich zu fahren. Weil dort gerade an einer Rampe für Hubstapler gebaut wurde, fand er den Weg durch einen der großen Kompressoren versperrt, die den Druck für die Schmieröl-Zerstäuber lieferten, und wollte deswegen nun in südlicher Parallelrichtung zu seinem Ziel.

Vielleicht war es nun so, daß ihm das Plattformgerüst oder die Ladung die Sicht versperrte, oder er hatte für eine Sekunde gedöst – wie auch immer: Die Katastrophe ereignete sich, ohne daß er sie wahrnahm.

Er hatte gar nicht bemerkt, daß er in Rückwärtsfahrt auf ein Hindernis gestoßen war. Er hörte auch keinen Schrei oder Warnlaut. Indem er wieder den Vorwärtsgang einschaltete, steuerte er zur nächsten Kurve nach rechts.

Doch nun schimmerten die Enden der Moniereisen auf seinem Karren rötlich im Licht. Dunkle Tropfen fielen zu Boden und bildeten hinter dem Karren eine Blutspur …

Keine zehn Sekunden, nachdem dies geschehen war, warf der Chef des Wartungs-Teams, ein junger Ingenieur namens Rieder, zufällig einen Blick zur Wand und zum Hallenboden. Und erstarrte.

Neben den Werkzeugen lag ein Mensch. Lag da wie ein weggeworfenes Bündel Kleider. Um ihn herum sah man Blut. Soviel Blut! Eine dunkle Pfütze, die sich noch immer verbreiterte.

»Oh Scheiße!« schrie der Ingenieur.

Der Mechaniker neben ihm riß die Augen auf, schmiß sein Werkzeug aus der Hand, so daß es klirrend zu Boden fiel, und rannte zur Leiter.

»Haller, du Idiot! Laß doch das Funkgerät hier!«

Der Mechaniker hatte das Funktelefon der Gruppe am Gürtel stecken. Er riß es heraus und drückte es Ingenieur Rieder in die Hand. Der warf einen kurzen Blick auf den Aufkleber mit den Notnummern und drückte in rasender Hast Zahlen. Die Unfall-Nummer der Airport-Klinik.

Noch nicht einmal 80 Sekunden waren seit dem Unfall verstrichen, als der Alarm in der Klinik eintraf. Ein weiterer glücklicher Umstand wollte es, daß Chirurg Dr. Fritz Hansen selbst in der Zentrale stand.

»Was haben Sie da?« fragte er ungläubig. »Moniereisen? Und die haben dem Mann die Brust durchbohrt? Was verstehen Sie denn unter durchbohrt?«

»Durchbohrt heißt durchbohrt, Mann! Löcher im Oberkörper. Da kam so ein Elektrokarren, den hab ich noch gesehen, der fuhr rückwärts – jetzt, jetzt ist er weg. Aber man kann deutlich die Blutspur sehen. Jedenfalls, diese Eisenstäbe sind dem armen Schwein durch den Oberkörper gedrungen. Er liegt unten und läuft aus wie ein Faß. Meine Leute sind schon bei ihm. Aber was sollen die denn tun? Bei soviel Blut. Wie? – Ja, er lebt. Ich seh, seine Hand zuckt hin und her. Noch lebt der. Aber wie lange …«

»Legen Sie ihn auf die verletzte Seite«, sagte Fritz Hansen. »Sagen Sie das auch dem Hallen-Sanitäter. Wir sind sofort da!«

Während er den Alarm für die Rettungsfahrzeuge auslöste, versuchte er sich blitzschnell ein Bild der Situation zu machen: Die Klinik verfügte neben den Fahrzeugen für Behinderte und Großeinsätze über zwei ständig dienstbereite Notarztwagen. Die Strecke zur Halle 5 konnte ein ›NAW‹ in drei oder vier Minuten zurücklegen.

Welche Situation aber werden sie dort antreffen? Die Brust durchbohrt? Verletzungen des Brustraums gehören zu den gefürchtetsten Unfallereignissen, weil sich die lebenswichtigsten Organe im Thorax konzentrieren und daher sofort tödliche Gefahr bestehen kann. Ein Thorax-Trauma, eine Perforierung der Thorax-Wand? Wenn das stimmte, war Luft in den Thorax eingetreten, was zu einem Kollaps eines Lungenflügels, wenn nicht beider Lungenflügel, führen mußte … Na, großartig!

Er überlegte, ob er Rolf Gräfe mitschicken sollte, aber entschied sich dagegen. Rolf und er mußten sich für die Operation vorbereiten. Sterilität war bei einem Thorax-Trauma allerhöchstes Gebot.

Also den Wagen zwei mit dem jungen Fred Wicke als ärztlichen Begleiter.

»Wagen zwei!« brüllte er in das Mikrophon und übermittelte die nächsten Anordnungen bereits durchs Funktelefon in das mit Blaulicht und Sirene in hoher Fahrt losschießende Notarzt-Fahrzeug.

Dann rannte er zum OP-Trakt. Wenn wenigstens Fritz Wullemann hier wäre, aber ausgerechnet der hatte frei. Schön sehen wir aus …

Und wo steckte die Happel? Sie hatte doch heute OP-Dienst. Bärbel Rupert, diese kleine, unerfahrene Jammergestalt von Lernschwester, lief ihm entgegen. Was für eine idiotische, nein, was für eine teuflische Situation …

Zwei Werks-Polizisten, die abschirmten, ein Ring stummer Arbeiter, und dort am Boden …

Schweigend machten die Männer Platz. Wicke, soeben von der Airport-Klinik eingetroffen, untersuchte den Verletzten. Der Werks-Sanitäter hatte zwar versucht, den Blutstrom mit Kompressen aufzuhalten, und das war auch durchaus in Ordnung – aber die Haut war bereits grau, der Puls kaum tastbar. Jeden Augenblick konnte der Kreislauf völlig zum Erliegen kommen. Wicke drehte den Bewußtlosen ein wenig aus seiner Seitenlage, fand eine Vene und führte die große Kanüle ein, um den lebensbedrohenden Volumenverlust an Flüssigkeit wieder auszugleichen. Mein Gott, welche Verletzungen! Und wieviel Blut!

Als er sich noch tiefer über den Patienten beugte, vernahm er auch das typische saugende Geräusch, mit der die Luft durch die Zwerchfellbewegung eingesogen wurde: Die linke Lunge war zusammengebrochen, und in dem Hohlraum – der Pleura – schwamm das Blut …

»Na, los schon, auf!«

Im Laufschritt rannte Fred Wicke neben der Bahre zum Wagen und hielt den Plasma-Behälter hoch, über den die lebensrettende Lösung in den bewußtlosen Körper strömte.

»Inhibieren, sofort!« hatte ihm der Chef über Funk zugerufen. »Ich hoffe, du schaffst das.«

Und ob er das schaffen würde! Fred Wicke hatte das Staatsexamen hinter sich. Was hier ablief, diente zur ›Praxiserweiterung‹. Und bei Gott! Hier lernst du in ein paar Minuten mehr, als in einem Monat Vorlesung … Er blickte in das eingefallene Gesicht des Verletzten. Auch er ein ganz junger Typ. Die Lider zitterten, aber ein wenig schien die Plasma-Gabe zu helfen. Die weißgraue Färbung hellte sich auf.

Wicke öffnete den Mund des Verletzten mit dem Daumen, schob den Spachtel nach, um den Kehlkopfeingang freizubekommen, führte vorsichtig den Tubus ein und gab Sauerstoff.

Der Brustkorb wölbte sich ein wenig. Na also! Die Wunden bluteten heftiger, er drückte neue Kompressen darauf. Es waren ja nur noch wenige Minuten, gleich würde der Mann auf dem OP-Tisch liegen.

»Schaffen wir«, fluchte Wicke. »Wirst schon sehen, das schaffen wir!«

Dr. Fritz Hansen blickte der Rollbahre entgegen, die im Laufschritt in den OP geschoben wurde: »Los schon, schnell, rüber auf den Tisch!«

Es war alles bereit, auch Berta Maier-Blobel hatte ihren Platz neben dem Narkosearzt eingenommen. Aber wo war die OP-Schwester. Himmelarsch nochmal?! Auch Gräfe starrte zur Tür.

»Na, los schon!« knurrte Hansen hinter seinem Mundschutz: »Freilegen, Maske, Desinfektion.«

Mit dem lebensrettenden Sauerstoff floß nun das Narkosemittel in den Patienten. Die Anästhesistin murmelte die Blutdruckwerte – sie waren verheerend. Im Labor wurde inzwischen die Blutgruppe ermittelt. Eine Röntgendurchleuchtung würde nichts weiter bringen als Zeitverlust, und es kam auf jede Sekunde an. Hier half nur Zugreifen. Dies war ein Notfall, und keine der großen Kliniken mit ihren Spezial-Abteilungen konnte dabei weiterhelfen. Einen Transport würde der ausgeblutete, geschwächte Körper nicht überstehen. Es ging um jede Sekunde, jede Entscheidung, jeden Griff.

Die Lunge schien sich zu füllen. Na, also, dann wollen wir mal … Wieder ein Blick zur Tür – da war endlich die Happel. Und nicht nur sie; manchmal geschehen doch noch Wunder, und vielleicht hatte dieser arme, kleine Kerl auf dem Tisch einen Sondervertrag mit dem Himmel abgeschlossen. Hinter der hohen, grünvermummten Gestalt Britte Happels drängte sich noch eine zweite Schwester herein, zierlich, schmal, fast winzig neben Britte, und mit den üblich hochgezogenen Schultern: Tina Zander, die erste OP-Schwester, Fritz Hansens goldene Perle. Er hatte Tina hierher in die Airport-Klinik locken können, indem er alle Versprechungen der Welt machte und auch noch das Blaue vom Himmel herunterlog.

Na, jetzt ging's ihm schon besser!

»Tina, Mensch!«

»Ich wollte nur reinschauen wegen meiner Kassenunterlagen, und da …«

»Ist ja wurst, weshalb du reinschauen wolltest. Hauptsache du bist da. Los, siehst ja: Bereite die Bülau-Drainage vor. Wird ein Gefäß in der Lungenwurzel sein. Aber um das zu schließen, muß ich erst mal was sehen können.«

Dr. Fritz Hansen zog den Schnitt, öffnete, neue Blutperlen rollten. Doch als Rolf Gräfe, der von der anderen Seite des Tisches assistierte, den ersten Wundhaken ansetzte, stürzte Hansens Zuversicht sofort wieder ab: Was war mit Rolf los? Was hatte er für eine Armhaltung? Und der Haken …? Dabei war Rolf Gräfe nicht nur als Assistent, sondern auch als Operateur Spitzenklasse. Deshalb hatte er ihn hierher geholt – und jetzt? Jetzt benahm er sich, verdammt nochmal, wie ein Rentner! Und das nur bei den Klemmen, die die Blutungen stillen sollten. Wie lange dauerte das denn noch?

Hansen kaute still an seinem Zorn. Er hatte jetzt im Augenblick genug zu tun. Zerfetztes Gewebe, blutende kleine Gefäße, wo man hinsah. Das Sternum hier, das Brustbein, schien in Ordnung. Diese Rippe war angeknackst, er mußte ohnehin resektieren. Aber Herrgott nochmal, was tupfte Rolf so hilflos da rum? Was war mit seiner Hand los? Der konnte noch nicht mal abbinden!

Wenigstens funktionierte die Drainage. Rolf würde er sich nachher vorknöpfen – und ob! Wenn er das hinter sich hatte, selbst wenn es gut ausging. Und es schien gut zu gehen, denn die Werte, die ihm die Blobel meldete, besserten sich. Also, wenn er das verdammte, zerrissene Gefäß irgendwo dort unten in dem blutverschmierten Durcheinander versorgt hatte, dann würde er sich Rolf zur Brust nehmen, und nicht nur Rolf, auch seine Freundin …

»Der FEV hat sich deutlich verbessert!«

›FEV‹ war der Atemstoßwert; er zeigte die Aktivität der Lunge an, die sich in dem wieder geschlossenen Brustraum erneut entfaltet hatte. »Auch der Puls ist relativ stabil!«

Hansen hob den Kopf und drehte den Blick zum Hauptmonitor, als wolle er den Wahrheitsgehalt der Botschaft überprüfen. Dann sog er tief und erleichtert die Luft ein: »Na also«, brummte er, »wer hat's denn gesagt?«

Langsam, fast zärtlich prüfte er den Sitz des gebogenen Drainagerohrs, das die letzten Reste Blut aus dem Brustraum abführte.

Dann, als die Bahre mit dem Schwerverletzten aus dem OP hinüber in den Intensivraum der Klinik geholt wurde, schob er die Maske nach unten. Er starrte Rolf Gräfe an: »Na ja …«

Jedem im Raum fiel der Ton auf, der in diesem »Na ja …« mitschwang, und jeder wußte ihn zu deuten.

»Rolf! Ich hätte dich gerne gleich drüben im Büro gesehen. Und Sie, Fräulein Happel, auch!«

Britte folgte kurz darauf Rolf Gräfe stumm durch den Korridor. Auch er sagte kein Wort.

Es fiel ihr auf, daß er seinen Fuß leicht nachschleppte. Er hinkte. Und vorhin diese mühsamen, langsamen Griffe bei der Operation, sein unsicheres Gefummel. Er hatte Schwierigkeiten mit seiner Hand gehabt. Aber wieso hatte er damit überhaupt operiert?

Sie hätte ihn fragen können, aber sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Rolf war immer unberechenbar, wenn es um seine blödsinnige Motorradfahrerei ging. Und schließlich: War es überhaupt noch wichtig? Nichts mehr war wichtig. Wichtig blieb höchstens, daß sie diesen Tag durchstand. Daß ihr niemand anmerkte, wie ihr zumute war; wie kaputt, wie zerschlagen sie sich fühlte.

Während sie sich hier abquälte, lag Hubert Lawinsky bestimmt noch in seinem Bett und pennte. Was, überlegte Britte, hat es dir nun gebracht? Den Aschengeschmack des Nachhers. Zweifel und Unsicherheit. Und auch so etwas wie einen geheimen Triumph.

Immer schon hatte sie von einem ›Abenteuer‹ geträumt. Nun hatte sie es sich geleistet. Na also!

Aber da war noch ein anderes Gefühl. Vorhin, bei der Operation, als sie diesen zerrissenen Leib gesehen hatte, das Blut, da war ihr zum ersten Mal seit langem wieder schlecht geworden. Sie hatte gefürchtet, sie müsse nun gleich umkippen. Was dies bedeutete, war ihr schnell klar geworden. Es ließ sich nicht mit einem einfachen ›na also‹ oder einem blöden Wort wie ›Abenteuer‹ zur Seite schieben. Da war etwas geschehen, das vieles, vielleicht alles änderte …

»Komm mal her!«

Rolf Gräfe hatte die Tür zum Verbandsraum aufgestoßen und winkte sie hinein. Da stand er nun; da waren die dunklen Augen, die ihr Gesicht durchforschten. Aber sie schienen ihr fremd. Flach vor Zorn.

»Jetzt sag mal: Was ist eigentlich mit dir los? Erst kommst du zu spät, und das auch noch in einem solchen Notfall. Und dann, dann …«

»Dann was? – Und du?«

»Mensch, Britte! Ich weiß ja, ich habe heute auch nicht die reifste Schau hingelegt. Ich hab mal wieder auf der Hindernisbahn einen Sturz gehabt. Du aber, du zittertest herum wie die letzte Anfängerin.«

»Ich? Ja, wieso denn …«

»Wieso denn, wieso denn? Das falsche Drainagerohr. Die falschen Klemmen. Als Fritz die Rippen-Schere brauchte und dann die Duval-Zange, da hast du es auch nicht kapiert.«

Ihr Mund war trocken. Die Schwäche hinderte sie, ihm all das zu sagen, was sie dachte. Daß es unfair war, ihr in dieser Situation die Schuld in die Schuhe schieben zu wollen. Daß nicht sie, sondern er es gewesen war, der versagt hatte. Und warum? Wie kam er dazu, ihr Vorwürfe zu machen? Ausgerechnet …

Sein Gesicht hatte sich entspannt: »Siehst ganz schön elend aus, Britte. So richtig blaß um die Nasenspitze.«

»Ich habe ja noch nicht mal gefrühstückt«, hörte sie sich sagen.

»Verschlafen?«

Wieder nickte sie und dachte: So kann man's auch nennen …

»Na dann«, grinste Dr. Rolf Gräfe und legte ihr begütigend die Hand auf den Unterarm. »In Seenot darf sich die Besatzung nicht in die Haare geraten. Das wird zu gefährlich … Also, komm schon, Mädchen! Gehen wir zum großen Fritz. Auf zur ersten Morgendusche!«

»Heute«, sagte Chefarzt Dr. Fritz Hansen, »heute habe ich wieder einmal erfahren, was das heißt: Fracksausen am Operationstisch. Aber die Ursache war nicht dieser arme, junge Kerl, der uns beinahe abgekratzt wäre – nein, ihr beide habt es mir beigebracht!«

Er hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt, die Hände hielt er locker überkreuzt, die hellen Augen schienen ganz ruhig. Doch sowohl Dr. Gräfe als auch Britte wußten gut genug, daß diese Ruhe gespielt war. Sie kannten ihn. Sie wußten, was die beiden roten Flecken auf seiner Stirn bedeuteten und was kommen würde, wenn er so leise, beinahe freundlich die Manöver-Kritik begann. Der große Zampano sprach, und die anderen hatten zuzuhören. Und ganz unvermittelt war es auch mit Hansens Ruhe vorbei.

Er stieß sich vom Schreibtisch ab und richtete sich in seiner ganzen Länge auf: »Ich habe euch beide hier reingerufen, obwohl das vielleicht gegen die Regeln der Klinik-Führung verstößt. Zuerst der Herr Kollege, dann die Schwester, nicht wahr? Aber wenn der liebe Herr Kollege und die Schwester auf demselben erbärmlichen Niveau arbeiten und obendrein auch noch miteinander liiert sind – geht mich zwar nichts an, aber so ist es doch, nicht wahr – dann knöpft man sie sich wohl am besten beide zusammen vor.«

»Also hör mal, Fritz, ich weiß wirklich nicht …«

»Was das damit zu tun hat? Sage ich dir noch. Aber zunächst mal zu Britte: Irgend sowas wie pünktlich zum Dienst kommen, steht wohl nicht mehr auf Ihrem Programm, Fräulein Happel? Oder wie seh ich das?«

»Herr Dr. Hansen, ich bin immer pünktlich zum Dienst gekommen. Das wissen Sie. In all den Monaten, seit ich hier arbeite, war es heute das erste Mal …«

»Richtig, Schwester. Und was war? Die totale Wüste. Fritz Wullemann hatte frei, die Toni gleichfalls. Daß sie zufällig trotzdem um diese Zeit hereinschneite, hat die Situation gerettet, denn die diensttuende Operations-Schwester Britte Happel war plötzlich auch nicht mehr aufzutreiben. Und an meiner Seite hatte ich einen Herrn, der mit seinen Fingern nicht zurecht kam, weil er die mal wieder angeknackst hat.«

»Ich habe …«

»Moment, Rolf! Ich bin noch immer bei Britte. Aber was ich ihr sagen muß, gilt jetzt auch für dich. Zum ersten Mal, hat sie gesagt. Sie sei zum ersten Mal zu spät gekommen. Ich ersuche euch beide, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir in einem Beruf arbeiten, wo ein erstes Mal leicht zum letzten Mal werden kann. Dann nämlich, wenn irgendein armer Kerl wie dieser – wie hieß er noch? Roser, glaube ich. Ja, Roser – wenn also irgendein unschuldiger Mensch, der uns unter die Hände gerät, auf dem Tisch bleibt.«

»Du hast es ja verhindert.« Gräfes Stimme klang gehässig.

Hansen sah ihn an.

»Richtig. Ich. Denn du standest mir heute eher im Weg, Rolf. Und jetzt zeig mal …«

Ehe Rolf Gräfe es verhindern oder auch nur eine Bewegung machen konnte, hatte Hansen seine Hand erfaßt, riß sie hoch, drehte am Gelenk, tastete sie ab, um dann die Finger kurz und energisch zurückzubiegen.

Gräfe stöhnte auf. Er konnte es nicht verhindern. Seine Augen funkelten vor Schmerz und Zorn.

Hansen ließ die Hand fallen.

»Na, siehst du, hab ich's mir doch gedacht. Und wenn ich dir jetzt den Arm bewege, wirst du nochmals brüllen, weil auch das Schultergelenk etwas abbekommen hat. Du bist ein begabter Operateur, Rolf. Und es ist eine Schande, wie du mit dir selbst umgehst. Gestern, nicht wahr, gib's zu, gestern hat's dich wieder auf die Schnauze genommen?«

Gräfe schwieg.

»Genau wie das letzte Mal«, sagte Hansen bitter.

»Da war's der rechte Arm.« Gräfe grinste, aber er kam mit dieser Bemerkung an den Falschen. Britte beobachtete, wie die Schläfenadern des Chefs anschwollen und hätte jetzt am liebsten den Raum verlassen. Was sollte das alles? Wieso machte Hansen sie zum Zeugen dieser Auseinandersetzung? Warum legte er es darauf an, ihr zu zeigen, wie er seinen engsten Freund und Kollegen abkanzelte?

»Rolf, das ist jetzt nicht der Moment, witzig zu werden. Verflucht nochmal, du würdest wirklich besser dran tun, das was ich hier sage, nicht nur zur Kenntnis, sondern auch ernst zu nehmen. Ja, Himmelarsch, muß ich dir denn wirklich erklären, was nicht nur für dich auf dem Spiel steht, sondern für uns alle?«

»Fritz, nun hör doch mal zu …«

»Den Teufel werd ich! Wenn es hier einen gibt, der die Klappe zu halten und zuzuhören hat, dann bist du das jetzt. Ist dir eigentlich schon mal klar geworden, wo du hier sitzt? Hast du da schon mal einen Gedanken daran verschwendet?«

Hansen machte eine kurze, zornige Bewegung. Grünliches Oberlicht erhellte den Raum. An dem einzigen Fenster waren die Kunststoff-Lamellen herabgelassen, und das dicke Isolierglas dämpfte ohnehin jeden Laut – dennoch war es zu hören: das dumpfe, ferne Bienenkorbsummen vom Flugplatz her; manchmal leicht anschwellend, wenn draußen die Triebwerke beim Start aufbrüllten. Ein Geflecht von Geräuschen, genauso unaufdringlich wie unabweisbar – das Netz, in dem sie alle zappelten.

»Airport Frankfurt am Main!« Die Worte fielen wie Blei in die Stille. »Drehkreuz Europas – heißt es nicht so? Aber mal ganz abgesehen von dem, was sich diese Werbe-Fritzen aus den Fingern saugen: Wie die Realität aussieht, weißt du so gut wie ich. Vielleicht hast du sie vergessen oder verdrängt. Routine stumpft ab, zugegeben. Aber wenn ich jetzt davon rede, bin ich nicht irgendein Scheißer, der sich wichtig machen will. Ich verlange von dir, daß du dir mal wieder vor Augen führst, wozu wir da sind. Wenn's hier rund geht, Rolf, dann traben hundertzwanzigtausend und mehr Menschen an einem Tag über den Platz. Das entspricht der Bevölkerung einer mittleren deutschen Stadt. Aber die hocken nicht gemütlich irgendwo im Büro oder vor dem Fernseher und drehen Däumchen. Nein, aus der Streß-Perspektive betrachtet, befinden sie sich alle in einem Ausnahmezustand, und dann fallen die Infarkte ab, die Zusammenbrüche. Muß ich dir denn das sagen, Himmelarsch nochmal, ausgerechnet dir?«

Er ging um seinen Schreibtisch herum, riß die Schublade heraus, sah eine Zigarettenschachtel, griff danach, aber sie war leer. »Siehst du, soweit bin ich auch wieder. Ich zieh mir diese verdammten Sargnägel rein … Also, wie war das? Hundertzwanzigtausend. Und das sind noch lange nicht alle. Denn jetzt haben wir noch die Flughafen-Angestellten als zusätzliche Streß-Kandidaten, viele von ihnen in Risiko-Berufen mit hoher Unfallträchtigkeit – gerade wurde es uns ja wieder einmal bewiesen. Okay. Und für all diese Leute, für dieses ganze Volk tragen wir die medizinische Verantwortung. Wir, Rolf, denn wir sind hier das Front-Lazarett. Und du glaubst …«

Er hatte leise, doch immer heftiger gesprochen, nun brach er ab, ließ den Satz offen und beendete ihn mit einer resignierten Handbewegung.

Britte spürte, wie die Hitze ihren Rücken hochkroch. Ihre Ohrläppchen glühten. Die Müdigkeit war verflogen. Und nun hörte sie auch noch Rolf Gräfe sagen: »Was erwartest du, daß ich jetzt antworte? Soll ich die Hacken zusammenschlagen? Willst du ein: Jawohl, Herr Chefarzt! Ehrenwort, Herr Chefarzt! Ich besteige nie mehr ein Motorrad! Ich verscherble meine Honda! – Darf es das sein?«

Hansen ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen, besah sich seine kurzgeschnittenen Fingernägel, blickte dann hoch und musterte Rolf Gräfe, als sähe er ihn zum ersten Mal: »Unbelehrbar, was?«

»Nicht unbelehrbar – sauer.«

»Auch noch. Ausgerechnet. Aber trotzdem, Rolf, ich verlang von dir jetzt eine Antwort auf drei Fragen. Erstens: Was versprichst du dir von diesem spätpubertären Wahnsinn? Was soll denn das, bei jeder möglichen oder unmöglichen Gelegenheit auf so einer Affenschaukel über irgendwelche Hindernisse zu donnern und dabei Arbeitsfähigkeit und Job zu riskieren? Zweitens: Wenn du das schon tust, hältst du es dann für fair, im OP mit einer lädierten Hand aufzukreuzen und damit nicht nur das Leben eines Patienten, sondern auch den Ruf der Klinik in Gefahr zu bringen? Ganz abgesehen davon, in welch heikle Lage du den Operateur dabei bringst. Und schließlich die letzte Frage: Was würdest du denn tun, wenn du hier auf meinem Sessel säßest? Wie würdest du an meiner Stelle reagieren, Rolf? Mal ganz ehrlich …«

»Ich sitze aber nicht auf deinem Sessel.«

»Das ist keine Antwort.«

Dr. Gräfe machte einen halben Schritt nach vorn. Britte sah, wie sich seine Fäuste ballten. Ihr Herz zog sich zusammen vor Furcht. Wenn er jetzt losschlägt, dachte sie, was dann? So hatte sie ihn noch nie gesehen, das Gesicht dunkel vor Zorn. »Die Antwort lautet: Ich bin auch nur ein Mensch. Und ein Mensch macht Fehler. Er hat sogar ein Recht darauf.«

»Wir haben dieses Recht nicht.«

»Ach nein? Und du mit deinen Weibergeschichten? Wenn du so den überheblichen Lehrmeister spielst, kotzt mich das an. Und soll ich dir noch was sagen …«

Dr. Hansen lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. »Sag's nicht, Rolf. Hau hier ab. Nicht aus der Klinik, aber aus meinem Zimmer. Und auf der Stelle.«

Die Tür schlug zu. Er war so schnell hinausgestürmt, daß Britte gar nicht die Gelegenheit hatte, zu einem eigenen Entschluß zu kommen. Sie stand da wie gelähmt und sah dieses starre Gesicht mit den geschlossenen Augen dort hinter dem Schreibtisch.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Es tut mir so unendlich leid … Und ich werde auch nicht mehr zu spät zum Dienst kommen, wirklich, ich schwöre es, nie mehr …«

»Ist schon gut«, murmelte Hansen.

Britte ging. Er hörte das leise Klappen der Tür. Er stand auf. Sein Körper war schwer. Und der Tag hatte noch nicht einmal begonnen.

In der Bleistiftschale auf seinem Tisch fand er noch eine Zigarette. Er zündete sie an und sog den Rauch in die Lungen und betrachtete dann durch den dünnen, tanzenden Nebel das Bild an der Wand. Er selbst hatte es ausgesucht. Es war ein Druck des russischen Malers Marc Chagall und zeigte einen jungen Mann, der mit ausgestreckten Armen und verklärtem Gesicht und mit einer Rose in der Hand über Felder und Bäume einer lieblichen Landschaft dem Silbermond entgegenschwebte.

Es war nicht so sehr der fliegende Jüngling mit der Rose, der die Melancholie in Fritz Hansen noch vertiefte – es waren die Bäume, das Grün der Hügel … Weg, dachte er, irgendwohin, wo es etwas gibt, das man riechen, anfassen kann. Raus aus diesem Beton-Berg. Statt Neonlicht Sonne auf der Haut. Von mir aus auch Wind, Regen oder Schnee. Aber raus …

Im fernen Südamerika, in Villaverde in Kolumbien, spuckte Ramon Garcia die Zigarette aus und trat sie in den Kies des Weges. Er hatte einen sonderbaren Geschmack im Mund, und er wußte genau, wo er herkam: Es war Angst. Die pure Scheißangst! Wann hatte er so etwas zum letzten Mal gespürt? Vor anderthalb Jahren, als plötzlich auf dem steilen, mit glitschigem Gras bewachsenen Hang einer der Zwillinge zu rutschen begann und er ihm nachrannte, selbst ins Rutschen geriet und sie dann beide, wild um sich schlagend, dem Abgrund entgegensausten. Erst im allerletzten Moment hatte er Antonio schnappen und sich an einem Strauch festhalten können.

Doch damals war es die Angst um Antonio gewesen. Nun hatte er Angst um sich selbst.

»Du mußt ins Ausland fliegen, Ramon«, hatte José am Telefon gesagt. José Cesar Rigiera Porras, der Vetter seiner Frau.

»Und wohin?«

»Alemania. Deutschland.«

Deutschland? Das war eine Reise um die halbe Welt. Und er konnte nicht ablehnen. Nein, das konnte er nicht, denn José hatte ihm seine Kusine vorgestellt: Maria. Als sie noch 17 und er, Ramon, gerade 23 war. Und José hatte dann auch noch die Hochzeit bezahlt und ihm den Job als Geometer in Villaverde hier besorgt. José hatte die Finger überall drin, kannte alle, wußte alles. Und nun sprach er von einem Flug nach Alemania, als ginge es um ein Familien-Picknick in Antioquia oder unten am Fluß.

Ramon warf einen letzten Blick auf seinen Garten mit den Tomaten, den Bananen, Pfirsichen und den Pimentos, die auch schon reif wurden. Dann ging er ins Haus, um nachzusehen, ob seine Frau Maria den Koffer gepackt hatte.

Der Koffer lag auf dem Bett und war zugeschnallt. Maria aber kniete in der Ecke vor dem Bild der Heiligen Jungfrau und betete. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte das gleiche, das José ihm vor zwei Stunden am Telefon gesagt hatte: »Jetzt reg dich nicht auf«, sagte er; »was ist denn schon dabei? Nichts, als eine kleine Urlaubsreise nach Europa ist das. Und dazu noch auf anderer Leute Kosten. Wer hat schon solches Glück.«

Auf anderer Leute Kosten? dachte er. Zum Teufel mit den anderen Leuten!

Bereits eine halbe Stunde später saßen Ramon und José in einem funkelnden, rotlackierten, sündteuren neuen Nissan-Geländewagen, rollten den Hang hinab, verließen das Tal, und dann endlich begann José zu reden und gab Ramon die ersten präzisen Informationen.

Sie hatten, wie José sagte, eine ›kleine Transport-Frage‹ zu lösen. »Hängt ziemlich viel davon ab, Ramon. Deshalb haben sie mir die Sache in die Hand gegeben. Na ja, und ich dachte mir, da gibt's doch noch meinen Freund oben in Villaverde. Und der ist mir schon längst einen Gefallen schuldig, nicht wahr?«

Ramon nickte. Was blieb ihm übrig. Und was zu transportieren war, konnte er sich ohnehin denken. Der Nissan hier und der BMW, den José in der Garage seines protzigen Chalets in Medellin stehen hatte, und der Pool und die Kleider seiner Frau und der Gymnasiumbesuch seiner Tochter Mercedes – all die Dollars, die Schweizer Franken oder D-Mark, mit denen Ramon den ganzen Aufwand bezahlte … woher sie kamen, das wußte Ramon. Er wußte auch, daß José zu denen gehörte, die für den ›Weiterfluß‹ der Gelder zu sorgen hatten. Um Millionen ging es, um Milliarden … Wie hatte die Zeitung kürzlich geschrieben: »Die kolumbianische Kokain-Industrie steht auf der Liste der größten Industrie-Unternehmen der Welt an siebter Stelle. Sie ist ein Imperium.«

Das Imperium der ›Weißen Göttin‹, der Göttin des Kokains, umspannte von diesen Anden-Tälern aus die ganze Welt. Die ›siebte Weltrangstelle‹ hatte Kolumbien Jahr um Jahr Tausende von Toten gekostet, hatte in den Jahren der ›violencia‹ das ganze Land in ein Bad von Blut getaucht. Im Krieg der Drogen-Barone gegen den Staat gab es keine Gnade.

»Wieso denn ich?« flüsterte Ramon. »Dios mió, wieso bist du bloß auf mich gekommen?«

»Hättest du nicht gedacht, was?« José lachte. »Na gut, zunächst habe ich es mir auch überlegt. Ich kenne ja Maria. Sie dreht ziemlich leicht durch. Aber es ging nicht anders. Ich fand keinen anderen. Es ist auch zu wichtig.«

»Und da nehmt ihr mich?«

»Natürlich. Gibt's einen Besseren?« José hatte ein rundliches, verfettetes Gesicht, doch nun wurde sein Mund plötzlich dünn und die Augen hart. »Du wirst schon nicht in Schwierigkeiten kommen. Die Sache ist hundertmal durchdacht. Sie stimmt bis ins letzte Detail. Es geht auch nicht um eine Tonne, sondern nur um ein paar Gramm.«

Ein paar Gramm? Auch das wird gefährlich sein, überlegte Ramon, und rief: »Fahr doch nicht so schnell!«

Aber darauf hörte José nicht und fuhr weiter Vollgas. Die Tachonadel war wie festgeklebt auf hundertfünfzig. Das Radio brachte eine Stierkampf-Reportage aus der La Macarena in Medellin. Die Stimme des Sprechers war nicht laut, aber sie sägte wie ein Zahnarztbohrer. José schaltete sie ab.

»Allzuviel brauchst du gar nicht wissen. Damit bringst du dich höchstens selbst in Gefahr. Nur das: Der Auftrag ist deshalb wichtig, weil der Chef einen Großkunden aufgetan hat, und der wird nicht nur Deutschland, sondern auch Holland, Österreich und Italien versorgen. Die Methode, mit der wir das Zeug rüberschaffen, ist gelöst. Geht alles per Schiff. Aber der Mann will wissen, was wir liefern, ehe er unterschreibt. Und das ist auch sein gutes Recht. Nur: Bei diesen dämlichen Warenproben sind wir schon zweimal auf die Schnauze gefallen.«

Er machte eine Pause. Wahrscheinlich will er jetzt, daß ich etwas antworte, dachte Ramon, aber er sagte nur: »Ich höre!«

»Du hörst?« José war amüsiert. »Na also, dann höre! Wir sind auf die Schnauze gefallen. Und warum? Weil sie die Kuriere schnappten. Standen alle schon im Computer. Gezeichnete Gesichter, verbrannte Erde. Na schön, und was war der Ausweg? Komm, rat mal, kannst ja schließlich auch was zur Diskussion beitragen.«

»Der Mann deiner Kusine, der Bauerntrottel aus Villaverde, den kein Schwein kennt, wäre der ideale Kurier … Ist es das?«

Wieder lachte José: »Du brauchst dich nicht schlechter zu machen, als du bist, Ramon. Du bist auch kein Bauerntrottel, sondern Geometer und hast einiges drauf. Und weil das so ist, kannst du sogar eine internationale Geometer-Tagung in Deutschland besuchen, falls du Spaß daran hast. Und zwar in … in … Weiß der Teufel, wie das Kaff heißt, diese dämlichen deutschen Namen kann man ja noch nicht mal aussprechen. Fahr hin, Ramon, hör zu und sieh, was die Kollegen machen, bau dir einen internationalen Standard auf. Deutsch sprichst du ja auch. Hast du doch gelernt im Seminar?«

»Ich? Die paar Brocken …«

»Na schön. Aber englisch.«

Deshalb also, dachte Ramon, legte den Kopf gegen das Polster. »Und ich habe keine Wahl, was?«

»Du bist ein schlauer Kopf, Ramon. Stimmt. Keine.«

»Und was fällt für mich ab?«

»Das fragst du im Ernst? Nichts natürlich. Außer Spesen. Hier. Kann ich dir gleich geben.«

José griff in die Brusttasche und zog ein Kuvert heraus. »Da sind zweitausend Mark drin und dreihundert Dollar. Damit kannst du dir nicht nur das beste Hotel, sondern auch den besten Puff ganz Frankfurts leisten. Reicht das?«

Die Straße hatte sich zur Autobahn verbreitert, drei Spuren links, drei Spuren rechts, und so, im Strom der anderen Wagen, näherten sie sich der großen Stadt, die dort mit ganzen Batterien funkelnder Wolkenkratzer aus ihren Smog-Wolken aufragte: Medellin, die zweitgrößte Metropole des Landes mit über zwei Millionen Einwohnern. Medellin, von allen Seiten von schroffen Bergwänden umgeben, die Stadt des schnellen Reichtums und des schnellen Todes – Herz des Koka-Imperiums. Wie die Herrscher mittelalterlicher Stadt-Staaten hatten die Narko-Barone oben auf den Hängen von ihren Festungs-Villen aus die Stadt regiert. Hatten während der ›violencia‹ ganze Wohnblocks, Polizei-Kasernen und Verwaltungsgebäude in Schutt und Asche gelegt. Hatten mißliebige Journalisten, Politiker, Richter oder Rivalen gleich reihenweise zur Strecke gebracht.

Doch das war vorüber. Jetzt waren sie selbst in Bedrängnis.

Auf der großen Hinweistafel über der Autobahn erschien das schwarze Flugzeug im weißen Quadrat, der Hinweis auf den Flughafen: ›Aeropuerto Olaya Herrera – 8 km‹.

»Zuerst fliegst du nach Bogota. Dort geht es weiter mit der Lufthansa.«

Ramon rutschte im Sitz noch tiefer. Zweimal, dachte er angewidert, bin ich schon geflogen. Einmal Medellin-Bogota und zurück und einmal, als meine Schwester starb, nach San Andres … Und nun? Ich sollte diesem Idioten von José einen Schwinger verpassen, den Zündschlüssel rausreißen, dem Fettsack die Pistole abnehmen, die er bei sich hat, und ihn dann irgendwo im Straßengraben deponieren.

Er tat nichts, schloß stattdessen die Augen und spürte, wie der Wagen von der Autobahn abbog. Er öffnete erst wieder die Lider, als er den Kies hörte, der gegen die Schutzbleche knatterte.

Sie fuhren durch ein Spalier hoher, schattenspendender Eukalyptusbäume. Am Ende konnte Ramon ein Haus erkennen: Flach, mit schwarzen Schieferplatten.

Ein Haus? Ein Luxus-Bungalow war das.

José brachte den Nissan vor dem Garagenbau zum Stehen, nahm ein flaches Kästchen aus der Ablage und drückte einen Knopf. Das Garagentor schwenkte lautlos auf. Hier war Platz für viele Wagen, doch die Garage war leer. Hinter ihnen schloß sich das Tor. Es war dunkel und roch nach Benzin und Staub.

»Komm!«

Durch eine eiserne Tür betraten sie einen kleinen Gang und kamen schließlich in eine Küche. Die Wände waren aus nacktem Beton, die Einrichtung bestand nur aus dem Notwendigsten. Neben dem Schrank hingen ein Herz Jesu-Bild und eine Schwarzwälder-Uhr. Vermutlich handelte es sich um die Küche des Hausmeister-Paares.

»Setz dich!«

Und wieder drückte José einen Knopf. Diesmal befand er sich an der Unterseite der Küchenherdplatte: Ein schmales Stück Beton glitt lautlos zurück und gab eine Art Kammer frei, in die José hineinging. Als er zurück kam, trug er Kleider über dem linken Arm. In der rechten Hand hielt er eine runde, etwa fünfzehn Zentimeter hohe Plastikdose.

»Da! Zieh das an.«

»Ja, wieso denn?«

»Frag nicht immer wieso und warum. Tu, was ich dir sage.«

Es war ein dunkelblauer, leichter Anzug, wie ihn die Geschäftsleute trugen, die sich abends im ›El Rodeo‹ oder im ›Union-Club‹ in Medellin trafen.

»Hier – Schuhe. Größe zweiundvierzig, oder? Hat mir wenigstens Maria gesagt. Hoffentlich passen sie. Die Krawatte habe ich selbst ausgesucht. Na, kümmere ich mich nicht wie ein Vater um dich? Seide. Italienisch. Was sagst du dazu?«

Es war eine dunkelgraue Krawatte mit Abbildern rosaroter Vögel. José hielt sie ihm unter die Nase. »Los, mach schon. Soviel Zeit haben wir nicht.«

Der Zeiger der Küchenuhr rückte unerbittlich weiter.

Ramon zog sich um, während José ihn, eine Zigarette im Mundwinkel, kritisch musterte. »So, jetzt siehst du langsam aus wie ein Mensch. So wie ich mir Joaquin Caldas – das ist von jetzt an dein Deckname – vorstelle. Caldas ist ein Chef-Geometer der Provinz Antioquia. Hier, dein Paß auf diesen Namen. Ich habe dir sogar technische Unterlagen besorgt. Mit denen kannst du deinen Kollegen in Alemania vor der Nase herum wedeln.«

Ramon versuchte die Krawatte zu binden. Er schaffte es nicht. José half ihm. »Mensch, deine Finger zittern ja. Bleib bloß ruhig, Junge! Ich sag doch – ein Klacks. In vier Tagen bist du wieder hier.«

In vier Tagen …

José griff sich die Plastikdose, die einsam auf dem Tisch stand, und schraubte den Deckel ab. Dann ging er zum Eisschrank, holte eine Milchflasche, nahm ein Glas und schenkte es voll.

»Da! Trink erst mal.«

»Was soll das? Milch?«

»Ist gesund. Und dann nimmst du diese Tablette und noch 'nen Schluck.«

»Wieso Tablette?«

»Nur, damit du nicht kotzt.«

Ramon musterte José, dann das Glas. Er rührte sich nicht.

»Na, los schon!«

Ramon sah, daß der Plastikbecher bräunliche Kugeln enthielt. Sehr viele Kugeln. Jede hatte etwa den Durchmesser von einem Zentimeter. Er wandte den Blick wieder zu José. Es begann ihm zu dämmern, was José als nächstes verlangen würde: »Ist das etwa …?«

»Das ist Peruvian Flake. Frisch aus Peru. Die ›Weiße Königin‹. Das Beste von Besten. Und dazu noch in schöne, kleine Latex-Kügelchen verpackt.«

»Und wo soll ich …«

»Ganz einfach.« José deutete auf Ramons Magen: »Darin.«

Er hatte davon gehört. Er hatte es sich sogar vorgestellt, wie es einem ›camello‹ zumute war. ›Kamele‹ nannten sie die Drogen-Kuriere und hatten, verdammt nochmal, recht damit. Geheime Boten, die das Zeug in irgendwelchen Behältern schlucken mußten. Frauen schmuggelten es oft in der Scheide, Männer im Magen, meist in Präservative verpackt. Aber daß er nun selbst …

Zorn überwältigte ihn. »Nie!« rief er.

»Was soll das heißen?«

»Daß du sowas nicht verlangen kannst.«

»Nein?« José hatte dicke, aufgequollene Lippen, die ewig lächelten, blaugetönte Mischlings-Lippen. Auch jetzt lächelten sie. Aber die Augen blieben hart. Mit einer blitzschnellen Bewegung zauberte er eine Pistole aus einer Jacke. Er hielt die Waffe in der Höhe des Oberschenkels, dort zuckte sie wie der Schwanz einer Kobra.

»Ich verlange nichts, Junge. Das ist der Punkt, wo wir uns mißverstanden haben. Ich sage nur, was zu tun ist. Du hast meine Kusine geheiratet, gut. Sehr gut. Du hast Kinder von ihr, an denen du hängst? Noch besser. Und ich habe meine Arbeit! Wenn ich einen Fehler mache, nur den kleinsten Fehler, nimmt niemand mehr Rücksicht auf meine Familie. Kein Schwanz. Und so ist es jetzt auch bei dir. Tut mir leid, aber es ist besser, du betrachtest die Dinge, wie sie nun mal sind … So, und jetzt fang an! Und immer ein Schluck Milch dazwischen.«

Ramon griff in die Plastikdose, nahm die erste Kugel und schob sie sich in den Mund …

Der große, funkelnde Vogel strebte immer nach Norden.

Er flog in einer Höhe, in der Menschen nicht mehr atmen können und wo die eisige Kälte jedes Leben sofort töten würde: zwölftausend Meter über der Erde, in der Grenzzone zwischen Atmosphäre und Stratosphäre. Er hatte Bergmassive und Gipfel überquert, die zu den höchsten der Welt gehören. Und all diese gewaltigen, mit ewigem Schnee bedeckten Steinfestungen der Anden erschienen den Passagieren, die sich gelegentlich um die Sichtfenster der Boeing vom Typ B-747 drängten, irgendwie unwirklich fern, ja, beinahe spielzeughaft.

Die Maschine, die den fliegenden Kranich der Lufthansa am Seitenleitwerk trug, befand sich seit sechs Stunden in der Luft.

Sie war kurz vor Mittag in La Paz, Bolivien, gestartet, würde in Bogota, Kolumbien, zwischenlanden, dann tausend Meilen bis Caracas, Venezuela hinter sich bringen, dort die Besatzung auswechseln, noch einmal hunderttausend Liter Kerosin in die riesigen Treibstoffkammern saugen und dann zur letzten Etappe dieses Langstreckenflugs LH-547 starten, dem Achttausend-Kilometer-Sprung zur Heimat-Basis Frankfurt am Main.

Die Boeing war zu teuer, als daß man sie lange am Boden halten konnte. Falls technisch alles in Ordnung war, würde sie sich bereits am nächsten Morgen, diesmal unter der Flugnummer 571, in die Lüfte heben, um den Flughafen Johannisburg in Südafrika anzusteuern …

Nun aber befand sich die ›Hessen‹ bereits im Bereich der Anflug-Kontrolle Bogota und war nichts als ein grün leuchtendes Signal auf dem runden Sichtschirm eines Flugsicherungs-Lotsen im Tower des Flughafens ›El Dorado‹. Ein winziger Punkt, der nun langsam, im regelmäßigen Widerschein des grünen Drehstrahls, dem Zentrum zukroch.

Zwanzig Minuten später: Touch down! Die sechzehn stickstoffgefüllten Räder des Hauptfahrwerks hatten aufgesetzt, die Bremsklappen waren ausgerichtet, Kapitän Wehrmann ließ die Schubumkehr wirken und trat die Fußbremse. Eine halbe Stunde Verspätung? Wehrmann erinnerte sich, was er zuvor im Sender an Meteorologen-Informationen abgerufen hatte: Ein Südost-Wind von 23 Knoten herrschte hier draußen. Wenn es in Bogota nicht viel zu laden gab, wenn er den Zwischen-Stop rasch hinter sich bringen konnte, bestand die Chance, daß er auf dem Weiterflug nach Caracas einen Teil der Verspätung wieder hereinholte.

Der Aufenthalt dauerte sogar kürzer, als Wehrmann erwartet hatte. Nur elf neue Passagiere kamen an Bord. Der letzte, den der Purser am Einstieg begrüßte, war ein kräftiger Mann in einem blauen Anzug. Im Computer der LH-Niederlassung Bogota und auf dem Ticket stand der Name: Joaquin Pedro Caldas. Der Passagier Caldas bekam im Raucherabteil der Business-Class den Sitz 15 H zugewiesen.

Dann wurde die ›Hessen‹ wieder von dem Schleppfahrzeug angezogen, die Düsen fingen an zu vibrieren, in der Startposition gab Kapitän Wehrmann Gas. Die Düsen brüllten auf. Im Steilflug schwang sich die Maschine über die Vier-Millionen-Stadt auf dem Anden-Hochplateau und nahm Kurs nach Nordwesten.

Es war kurz nach Mitternacht, als die ›Hessen‹ auf dem Airport Caracas, Maiquetia, eintraf. Im Scheinwerferlicht drängten sich Tankwagen und Wartungsfahrzeuge wie eine Zwergen-Armada um den gewaltigen Jumbo. Ein Putzfrauen-Geschwader unternahm eine Eilreinigung. Und Kapitän Wehrmann, einigermaßen zufrieden mit sich selbst – denn immerhin, zwanzig Minuten hatte er aufgeholt –, übergab die Maschine seinem Kollegen Rolf Andersen und dessen Besatzung!

Eine halbe Stunde später hob die ›Hessen‹ erneut ab. Zum letzten, langen Flug über den Atlantik nach Europa.

Lächeln. Immerzu lächeln. Die Stewardeß Evi Borges war wieder im Dienst. Sie stand am Bug-Einstieg, kontrollierte Bordkarten, wies Sitze an. Ja, im Dienst – doch das Lächeln gehörte nicht zu ihr. Es schien jemand ganz anderes zu sein, der Auskünfte gab, Gepäckklappen öffnete, Mäntel verstaute. Jemand, der es fertigbrachte, zu lächeln.

Evi Borges war an diesem Morgen von einem Kurz-Urlaub an der Westküste der Vereinigten Staaten in Caracas eingetroffen. Hier hatte sie sich mit der Besatzung des Kapitän Andersen für den Lufthansa-Flug 547 nach Frankfurt zu vereinen.

Den Stewardessen der großen Gesellschaften war es längst selbstverständlich, als Urlaubsziel die entferntesten, exotischsten Orte zu wählen. Flüge waren für sie spottbillig, und nicht nur für sie, sondern auch für ihre Ehepartner oder Begleiter: ›Der Erdball, unsere Heimat‹! – Oh ja, und so hatte Evi Borges in den vergangenen zwei Jahren so oft, wie sie konnte, Connors-Hill, eine kleine, verschlafene Strand-Siedlung zwischen Los Angeles und San Diego aufgesucht.

Nun war es zum letzten Mal gewesen. Niemals wieder würde sie von Chris' Terrasse über das Meer sehen, niemals mehr am Strand entlangrennen. Nie mehr … Vorbei!

»Was geschieht, ist gut«, hatte Chris gesagt.

Er hatte recht. Nur wußte sie nicht, ob sie Erlösung oder nur Trauer empfinden sollte. Sie war wie von sich selbst getrennt. Lächeln! Was sonst? Mit ihrem gläsernen Lächeln auf dem Gesicht brachte sie auch dem Passagier Joaquin Caldas eine Zeitung an den Sitz 15-H, einem Fensterplatz.

Es war nichts Besonderes an dem Mann. Vielleicht, daß er ein wenig verschlossen und in sich gekehrt wirkte. Aber er hatte ein sympathisches, braunverbranntes Gesicht und bedankte sich mit einem freundlichen: »Gracias.«

Den Platz neben ihm nahm ab Caracas eine ältere Dame ein. ›Mathilde Werner‹ stand auf dem Ticket. Sie wirkte umsichtig, freundlich, gelassen; wie ältere Damen wirken, die viel fliegen. »Ach nein, bemühen Sie sich nicht, meine Liebe!« sagte sie zur Stewardeß. »Ich verstaue meinen Kram schon selbst. Wissen Sie, ich mach das jedes Jahr zweimal. Meine Kinder und Enkel wohnen in Caracas. Und soll ich Ihnen sagen, wie lange schon? Sie werden's nicht glauben! Seit dem Jahre 1961. Ach, das waren Zeiten … Da bekam man noch Porzellangeschirr. Da flogen die Constellations, man lernte Lissabon kennen und die Azoren. Dauerte ja auch vierundzwanzig Stunden, so ein Flug. War so richtig gemütlich. Aber da waren Sie ja noch gar nicht auf der Welt …«

Und Evi Borges nickte. Sie war in einer Verfassung, in der sie zu allem genickt hätte. Und gelächelt.

Auch der Mann am Fenster lächelte. Dann schloß er die Augen und lehnte sich zurück. Es war wirklich nichts Auffälliges an ihm.

Die Filmleinwand des Bordkinos erlosch. Wer wollte sich um diese Nachtzeit denn Filme ansehen? Die Crew hatte noch ein leichtes Essen serviert. Vereinzelte Lichtpünktchen der Leselampen sprenkelten das Halbdunkel in der Kabine. Im vordersten Teil, der Business-Class, der in den Bug der Maschine mündete, war noch eine Runde Unentwegter beim Skat. Manche hatten Rotwein bestellt, um sich so leichter in jenen Dämmerzustand hinüberzuretten, der auf Langstrecken-Flügen ›Schlaf‹ genannt wird. Schließlich herrschte Stille.

Evi Borges saß auf ihrem Platz an der Galley, einem der sechs großen Bord-Proviant-Containern, die wie breite Säulen den fast siebzig Meter langen Kabinenraum des Großflugzeuges trennten. Sie konnte nicht schlafen, konnte auch nichts anderes denken, als einen Namen! Chris! Armer, lieber Chris … Warum nur? – Dann sagte sie es sich wieder! Es ist gut. Alles, was geschieht, ist gut …

Und noch etwas sagte sich Evi Borges: Jetzt kannst du endlich in Frankfurt mit Fritz Hansen über Chris reden. Oder es zumindest versuchen. Wenn es einen gibt, der nachempfinden kann, was geschah, dann ist es Fritz!

»Chris hatte einen schönen Tod«, hatten sie ihr in Los Angeles gesagt. »Er hat die ganze Zeit gelächelt. Und er hat immer wieder von dir geredet …«

Zwischen Sternen und Meer zog die ›Hessen‹ ihren Nacht-Kurs. Nordosten, Atlantik, Europa …

Es war kurz nach vier Uhr, als Mathilde Werner aus einem undeutlichen Traum erwachte: Eine Kirche. Sie war noch ein junges Mädchen. Und irgend jemand sprach. Der Priester? Ein leises Gemurmel … dann Unruhe …

Sie schrak hoch.

Sie hatte einen leichten Stoß an ihrer Schulter gespürt. Natürlich, der Mann, der schon in Caracas im Flugzeug saß. Er sprach spanisch, war ja Südamerikaner. ›Bogota‹ hatte sie an seinem Handgepäck gelesen. Ein Kolumbianer also?

Aber was war nur mit ihm? Und was er sprach, das war doch jetzt nicht spanisch? Latein war das, stoßweise, kurz. Vornüber gebeugt hing der Mann in seinem Sitz … »Ave Maria«, hörte Mathilde Werner. Dann: »La bénédiction del nuestro señor Jesus …« Er betete.

»Hören Sie mal. Entschuldigen Sie. Escucha …«

Nach dreißig Jahren Südamerika-Besuchen lernt man spanisch. »Hören Sie, Señor? Darf ich etwas fragen? Fühlen Sie sich vielleicht nicht gut?«

Sie bekam keine Antwort.

»Ich will mich ja nicht aufdrängen – aber vielleicht fliegen Sie zum ersten Mal? Ich kenne sowas. Vielleicht sollten wir die Stewardeß rufen?«

»Gracias«, hörte sie, »danke.«

Mehr fiel ihm wohl nicht ein? Er zitterte doch, und die Hand hatte er auf dem Magen, der arme Kerl.

»Wissen Sie, die haben hier alles an Bord hier. Auch Medikamente, Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Mittel, die Schmerzen wegnehmen. Bei Koliken zum Beispiel. Haben Sie vielleicht eine Kolik?«

Wieder keine Antwort. Er lehnte sich jetzt zurück. Sie sah sein Profil. Sah eigentlich ganz nett aus. Mittelalter. Ob es ihm wirklich schlecht ging? Wer sollte das bei dieser Dunkelheit unterscheiden können?

»Überlegen Sie sich's.«

»Gracias«, kam es flüsternd.

Na ja, dachte Mathilde Werner, lehnte sich nun selbst zurück und schloß die Augen; zu seinem Glück soll man niemand zwingen …

Ich habe es gewußt!

Evi Borges dachte es im beruhigenden Halbdunkel der Kabine. Mit absoluter Sicherheit habe ich es gewußt. Ich war mir schon gewiß, als ich den Strandweg hinunter kam und Chris' Haus sah.

Dabei schien doch alles wie immer: Der Wind bewegte den Hafer am Hang. Weiter vorn am Riff schlugen die Brecher gegen den Felsen. Man sah die Boote draußen. Vor dem Haus von Chris aber gab sich der Pazifik ruhig und sandte weiße, freundlich murmelnde Schaumstreifen über den Sand.

Sein Haus war aus Holz, wie die meisten Strandhäuser nördlich von San Diego. Wind und Salz hatten es grau gefärbt. Vor vier Jahren, als Chris seinen ersten großen Schallplatten-Vertrag abschloß, hatte er das Haus einem Bauunternehmer abgekauft. Es mußte ein Industrieller von beachtlichem Geschmack gewesen sein, denn mit schweren Naturstein-Fundament, all dem Holz und Glas und der weiten, überdachten Terrasse war das Haus wunderschön.

Die Krankheit hatte Chris damals noch nicht niedergerungen und ins Bett gezwungen. Und jedes Mal stand er dort oben und wartete auf Evi, wenn sie wieder einmal aus Deutschland her geflogen war. Nun schien ihr die Terrasse so weit und schrecklich verlassen …

Möwen schwebten über dem Dach. Draußen startete ein Kormoran, zog einen Schaumstreifen hinter sich her, ehe er sich taumelnd erhob. Aber kein Chris war zu sehen. Evi konnte die Beine kaum bewegen. Es ist soweit, dachte sie. Er hat mich für immer verlassen.

Die Krankheit hatte sich ihre Zeit genommen. Zunächst noch hatte sie ihm sein schmales, sensibles Gesicht belassen, dann schwarze Flecken über seinen Körper gezogen, schließlich Lungen und Eingeweide zerstört. »Wenn sie wenigstens einen anderen Namen dafür hätten, Evi … Etwas Poetisches … Der Zorn des Engels oder so? Aber Aids oder gar Karposi-Syndrom? Na, wie gefällt dir das?«

Und er hatte dabei noch gelächelt.

Stille … Möwenschreie …

Ganz langsam ging sie durch den Sand. Als sie die Treppe hochstieg, knarrte wie immer die dritte Stufe.

»Sei fair, Evi«, hatte er das letzte Mal gesagt: »Komm zu mir, wenn's soweit ist. Versuch es wenigstens.«

Sie war gekommen. – Zu spät.

An allen Fenstern waren die Vorhänge vorgezogen. Neben dem Eingang aber gab es einen Spalt, durch den sie in das Innere des Wohnraums blicken konnte: Die breite Couch war hochgekippt und aus dem Kamin die Asche entfernt. Selbst den wunderschönen rotschwarzen indianischen Teppich hatten sie mitgenommen. Alles leer. Wie ihr Herz.

Ganz automatisch griff sie in den Mauerspalt, in dem Chris den Schlüssel aufzubewahren pflegte, wenn er weg ging.

Da war kein Schlüssel …

Sie drehte sich um. Der Wind kühlte ihr Gesicht, griff in ihr Haar, zerrte daran. Und die Wellen sprachen zu ihr: »Es ist doch nicht so schlimm. Sieh mal, ich bin ja noch hier … Spürst du mich nicht?«

»Vielleicht. Aber ich kam zu spät.«

»Wir haben es doch gewußt. Was hätte es geändert?«

»Ich habe es versprochen, Chris. Und das ist alles, was zählt …«

Sie ging den Strandweg zurück und den Hang wieder hinauf, hinüber zu Miss Lane, die an der Kreuzung eine Tankstelle betrieb und den Drugstore, der die paar Häuser von Connors-Hill versorgte. Wenn Chris' Freunde aus LA nicht bei ihm gewesen waren, hatte sie im Strandhaus ab und zu nach ihm gesehen.

Mary Lane war gerade dabei, einem Kunden der Tankstelle das Wechselgeld herauszugeben. Sie ließ ihn einfach stehen und lief Evi entgegen. Sie war eine große, knochige Frau und hatte ein hartes, fast männliches Gesicht. Doch all die Mütterlichkeit, zu der sie fähig war, sammelte sich nun in den dunklen Augen.

»Oh, Evi …« Sie umarmten sich stumm, und Evi war froh um die Hände, die sie festhielten. Doch weinen konnte sie noch immer nicht.

»Wann?« sagte sie nur. »Wann, Mary?«

»Vor vier Tagen. Am Dienstag. Sie haben ihn noch in die Community-Klinik gefahren. Er hat gelächelt, als sie ihn in den Wagen schoben. Er hat wirklich gelächelt. Dabei war er doch schon ohne Bewußtsein …«

Community-Klinik. Es war das Krankenhaus der Selbsthilfe-Organisation, von der Chris ihr oft erzählt hatte.

»Ich kam zu spät, Mary …«

»Was hätte es denn geändert, Darling? Ich meine, was hättest du tun können?«

»Bei ihm sein. Ich hab's doch versprochen.«

»Und?« fragte Mary Lane nur und sah sie an. »Komm, geh rein! Ich muß hier noch was erledigen. Dann trinken wir eine Tasse Kaffee.«

Der Drugstore war leer. Mary Lane setzte dann später die Kaffeemaschine in Gang, griff in eine Schublade, holte eine kleine, längliche Schachtel heraus und reichte sie Evi: »Das ist für dich. Er hat es mir letzte Woche gegeben. Er hat es wohl geahnt.«

Evi öffnete schweigend. Sie sah ein etwa daumenlanges, poliertes, mit einer Silberöse versehenes Stück Knochen, in das die eine Hälfte eines Hirschgeweihs graviert war. Ein Indianer-Fetisch. Chris stammte aus Arizona und hatte sich viel mit den Traditionen und der Kunst der Indianer beschäftigt. Den Fetisch trug er als Talisman. Und wenn er spielte, lag er auf seinem Flügel.

»Danke, Mary.«

Mary Lane hatte Evi eine Stunde später nach Los Angeles zur Community-Klinik gebracht. Dort hatte sie mit einem jungen Arzt gesprochen, einem vom Chris' Freunden, den sie auch draußen in Connors-Hill schon getroffen hatte. Chris sei ohne Schmerzen, in einer Art heiteren Ruhe gestorben, sagte Freddy Wilbroke, aber von ihr habe er noch gesprochen.

Die folgenden zwei Tage verbrachte Evi fast ausschließlich im Zimmer ihres Hotels. Dann nahm sie eine Varig-Maschine, um nach Caracas zum Dienst zu fliegen.

Sonne. Die Sonne über den Wolken. Kurz nach zehn am Morgen bereiteten die 270 Passagiere an Bord der ›Hessen‹ ihre Klapptische für das Haupt-Frühstück vor, das die Kabinen-Crew gerade auszugeben begann.

Auch die Cockpit-Besatzung wurde wieder aktiv. Auf der mittleren der drei Flugstraßen, die den Absprung-Punkt Caracas mit Europa verbinden, näherte sich die ›Hessen‹ dem alten Kontinent. Sie hatte die Azoren-Insel Ponta Delgada und auch den 20. Breitengrad bereits überflogen und befand sich nun im Bereich des Funkfeuers von La Coruña, der westlichsten Stadt Spaniens.

Captain Andersen überdachte noch einmal die Wetterberichte, die er gerade abgerufen hatte. Sah alles ganz gut aus. Tommi Willstett, sein Co-Pilot, tippte am Computer, um die anstehenden Kurs-Korrekturen nochmals zu checken. Berghan, der Flug-Ingenieur, kontrollierte zum x-ten Mal die Anzeigen des Triebwerkes 3. Am Morgen hatte es nämlich einen leichten Leistungsabfall angezeigt, doch nun schien sich alles von selbst wieder einzupendeln. Keine Frage: Wenn es im europäischen Luftraum wegen der verdammten Urlaubs-Fliegerei keine Probleme gab, und wenn auch die Situation in Frankfurt am Main einigermaßen normal aussah, dann gab's um fünfzehn Uhr zehn den ›touch down‹, und die Verspätung war ausgeglichen.

Die Kanzel der 747 befand sich an der Spitze des Oberdecks vor den zwanzig paarweise angeordneten, bequemen Schlafsesseln der ersten Klasse. Neben den Toiletten- und Waschräumen führte von dort eine Treppe hinab zur Galley und dem Vorraum der Business-Class.

Hier war Evi Borges gerade damit beschäftigt, die Thermoskannen mit frischem Kaffee aufzufüllen. Nicht weit von ihr, nur zwei Sitzreihen entfernt, schnitt eine alte Dame ein Brötchen auf, um es mit Butter zu bestreichen. Ach, dieses Frühstück nach einer Nacht im Flugzeug! Und die Brötchen, richtig knusprig. Wie sie das nur schafften? Mathilde Werner hatte es immer geliebt: das Frühstück an Bord und die netten Stewardessen. Alles war so hübsch verpackt. Wurst, Marmelade, Butter, Käse. Dazu das Hantieren auf engstem Raum mit dem winzigen Geschirr.

Gewiß, auch ein Frühstück zu Hause konnte schön sein, aber im Flugzeug war es eben ganz anders. Heute hätte sie es wieder richtig genießen können.

Wenn nicht …

Da kam dieser arme Mensch von der Toilette zurück! Hatte schon wieder gemußt. Und hatte auch wieder die Hand auf dem Magen. Na ja, man soll tolerant sein, wenn es jemandem schlecht geht.

Mühsam zwängte sich Mathilde Werner, um ihn auf den Nebenplatz durchzulassen, aus ihrem Sitz und trat auf den Gang. Er schaffte es immerhin, das Tablett in Ruhe zu lassen, als er sich vorbeidrückte. Sein Frühstück hatte er auch nicht angerührt. Nicht mal den Kaffee. Nur Mineralwasser trank er, die vierte Flasche schon. Und ganz grün im Gesicht war er auch. Vom Essen gestern abend hatte er ebenfalls kaum etwas zu sich genommen … Und nun hing er in seinem Sitz und schloß die Augen.

Die alte Dame entschied, daß sie es nochmal versuchen mußte: »Ist es Ihnen noch nicht besser? Es geht mich ja nichts an, ich hab Ihnen das ja schon einmal gesagt, Señor … aber ich finde, Sie sollten nun wirklich etwas unternehmen.«

Gab nicht mal eine Antwort, der Kerl. Andererseits war das kein Wunder, wenn er sich so entkräftet fühlte.

»Wissen Sie, ich rede jetzt mit der Stewardeß.«

»Señora«, es kam ganz leise, war nicht mehr, als ein gequältes Flüstern; »Señora, lassen Sie mich endlich in Frieden …«

Mathilde Werner schmeckte das Frühstück nicht mehr. Nicht neben einem solchen Menschen. Resigniert gab sie das Tablett der hübschen Rotblonden zurück, die gerade ihren Wagen den Gang heranschob. Und draußen war Sonne und Himmel, und unten sicher das Meer. Mathilde Werner beschloß, noch ein Nickerchen zu machen.

Wie lange es dauerte, sie wußte es nicht. Nur eines wußte sie, als sie hochfuhr: daß etwas Schlimmes, ganz Schlimmes geschehen sein mußte. Da war ein Geräusch, nein, ein Stöhnen, leise und so von Pein erfüllt, daß es ihr ans Herz ging.

Sie richtete sich auf. Er – wer denn sonst? Da saß er nun, nach vorn gebeugt, den Kopf gegen die Sessellehne der nächsten Sitzreihe gedrückt und zitterte, ja, zitterte.

»Señor? Hören Sie doch, Señor …« Sie griff nach seinem Arm, wollte sich aufrichten, nein, wollte aufstehen, um nach der Stewardeß zu rufen – und da geschah es. Und es geschah viel zu unvermittelt, als daß Mathilde Werner realisieren konnte, wie es passierte und woher dieser schreckliche Schmerz kam, der ihren Schädel zu spalten drohte.

Einen Schatten, ja, das hatte sie noch gesehen, einen Schatten vor ihren Augen. Und dann dieses knirschende Geräusch. Und der Stoß, der sie auf den Sitz zurückwarf … Und der Geschmack von Blut im Mund. Und die Funken, die im Dunkel vor ihr tanzten. Und schlucken mußte sie, immer wieder schlucken, das eigene Blut.

Sie rang nach Luft. Sie öffnete die Augen. Nun wollte sie schreien und konnte es doch nicht.

Ein Gesicht sah sie. Das Gesicht des Mannes, dem sie die ganze Zeit hatte helfen wollen. Aber es war gar kein Gesicht. Eine schreckliche Fratze war es. Die Muskeln tanzten darin, wie an Schnüren gezogen. Die Pupillen waren winzig und schwarz wie Stecknadelköpfe. Und die Zähne – diese Zähne! Das Gesicht eines Dämons. Nicht das Gesicht eines Menschen …

Es hatte sich alles so schnell abgespielt, daß auch den Passagieren auf den nächsten Sitzreihen nicht klar wurde, was eigentlich los war. Gerade hatten sie die Zeitungen entfaltet, ihre Zigaretten oder Pfeifen angesteckt, um sich entspannt zurückzulehnen, als der Schrei sie alle erstarren ließ: Die alte Frau dort? Oh Gott. Blut strömte über ihr Gesicht? Der Kopf hing zur Seite. Und dieser Mensch, dieser Kerl, dieser Irre – er hing über ihr, hielt sie an beiden Schultern und schüttelte sie wie eine Puppe.

Die rotblonde Stewardeß kam angerannt. Sie erhielt einen Schlag, der sie zu Boden warf.

Der erste, der sich aus der Erstarrung löste, war Luis Schober, ein breitschultriger Ingenieur aus München, der im Auftrag seiner Firma nach Venezuela geflogen war. Schober hechtete auf den Gang hinaus und riß den Tobenden an den Schultern hoch: »Sauhund! Jetzt kannst was erleben!«

Doch es war Schober, der die Überraschung seines Lebens erfuhr: Er konnte den Mann zwar zu Boden stoßen, doch der traf ihn dann derartig mit beiden Füßen in den Bauch, daß Schober über die nächsten Sitze flog. Und der Irre brüllte wieder – nein, es war kein Gebrüll; es war der heisere, gurgelnde Laut eines in die Enge getriebenen Tieres.

Zwei weitere Passagiere kamen Schober zu Hilfe und versuchten den Tobenden festzuhalten. Die Chef-Stewardeß rannte zum Telefon. Aber noch immer entwickelte der Verrückte eine so ungeheure Kraft, daß er sich aus der Umschlingung der Arme befreien konnte, sich nun torkelnd erhob – dann aber jäh, den Mund weit aufgerissen, zusammenbrach.

Auf der Treppe am Oberdeck erschien Kapitän Andersen.

Die Pursuette rannte ihm entgegen: »Was ist denn hier los?«

»Möchte ich auch wissen, Robert. Da ist einer völlig übergeschnappt.«

Zu den heiligen, unantastbaren Gesetzen der großen Fluggesellschaften gehört es, den Passagieren ihren Aufenthalt an Bord so angenehm und erfreulich wie möglich zu gestalten. Natürlich, es gab Grenzen. Und an eine solche waren sie nun gestoßen.

Sie schleppten den Bewußtlosen in den Vorraum auf der Steuerbordseite der Busineß-Klasse und kümmerten sich zunächst um sein Opfer, die alte Dame, der er anscheinend das Nasenbein angeschlagen hatte. Doch es ging ihr bereits ganz gut, sie blutete nicht länger, hatte eine feuchte Kompresse auf dem Gesicht, und Evi Borges gab ihr ein Schmerzmittel.

Viel schlimmer, so stellte sich jetzt heraus, ging es dem Mann. Er wird uns noch abschmieren, dachte Flugkapitän Andersen und beugte sich über den Körper am Boden.

Ganz blau war er im Gesicht und hechelte nur so nach Luft. Evi Borges kniete sich neben ihn, fühlte den Puls. Ingrid Bohm, Chefin der Kabinen-Crew, stand bei ihr, schmal, zierlich und wie immer völlig ruhig.

Andersen kannte Ingrid seit vielen Jahren und war so ziemlich auf allen Strecken mit ihr geflogen. Daher blieb sie auch die einzige, die sich ihm gegenüber das vertraute ›Du‹ leistete.

»Mannomann, Robert, das ist ein Ding!«

»Wie sieht's aus?« fragte Andersen.

Evi sah hoch: »Mies. Der Puls ist kaum zu finden. Aber er rast. Und wie! Sehen Sie doch das Gesicht des Mannes – schon ganz bläulich. Das ist der Sauerstoffmangel … Mein Gott, wo bleibt denn die Maske?«

»Gleich, Evi!«

Andersen zog den Vorhang zu, mit dem man den Galley-Bereich von der Kabine abtrennen konnte. So waren sie wenigstens vor dem erregten Starren der Passagiere geschützt – oder besser noch, die Passagiere vor diesem deprimierenden Anblick.

Endlich! Da kam Ingrid mit der Maske. Evi stülpte sie über das eingefallene Gesicht. Lange fühlte sie die Halsschlagader ab. »Der Sauerstoff scheint jetzt ein bißchen zu wirken.«

»Na gut. Und hoffentlich tut er das noch länger!« Andersen sah auf seine Uhr: »Noch eine Stunde, dann setzen wir in Frankfurt auf und sind diesen Irren los.«

Er zog Ingrid Bohm zur Oberdeck-Treppe: »Hör mal, Ingrid! Die Borges macht das ja gut. Aber hast du nicht noch mehr Erfahrung darin?«

Zum ersten Mal, seit er sie kannte, entdeckte Andersen etwas wie Furcht in ihrem Blick. Sie schüttelte den Kopf. »Die ist da schon am besten. Evi hat sich immer für Krankenpflege interessiert. In Los Angeles …«

Sie brach ab. Robert Andersen ging schließlich nichts an, was gemunkelt wurde.

»Na dann«, sagte er, »dann red ich mal zum Volk …«

Er griff zum Mikrophon der Kabinen-Lautsprecheranlage und ließ die Kapitäns-Stimme erklingen, freundlich, kompetent, männlich: »Meine Damen und Herren! Einige unter Ihnen sind gerade Zeuge eines sehr bedauerlichen Zwischenfalls geworden. Und ich darf mich bei dieser Gelegenheit bei den Herren bedanken, die mitgeholfen haben, daß wir ihn so rasch unter Kontrolle bringen konnten. Einer unserer Passagiere hat einen Anfall erlitten, anders kann man es wohl nicht nennen. Es geht ihm den Umständen entsprechend und deshalb möchte ich mich an Sie mit der Frage wenden, ob sich unter Ihnen vielleicht ein Arzt befindet? Falls dies so ist, möchte ich den Betreffenden bitten, zu mir an den Oberdeck-Aufstieg zu kommen. Danke!«

Keine Antwort. Kein Arm, der sich reckte. Niemand, der sich erhob. Nur Flüstern.

Andersen seufzte und gab das Mikrophon an seinen Platz zurück. »Ich rufe jetzt Frankfurt. Ihr bekommt gleich Bescheid.«

In der Airport-Klinik Frankfurt am Main war es jetzt vierzehn Uhr und für den Chefarzt Dr. Fritz Hansen Zeit, sich noch einmal den Papierkram vorzuknöpfen. Was haben wir da? Zwei Schreiben des städtischen Gesundheits-Referats. Konnte warten … Eine Transportkosten-Aufstellung des Roten Kreuzes. Er schob sie der Sekretärin zu: »Hier, Schmidtchen, kümmer dich mal drum.« Ein Brief: »… und laden wir Sie herzlich ein zu dem Vortrag von Professor Hubmann über die Intensiv-Therapie schwerer Verbrennungs-Unfälle.« – Ja, wenn ich Zeit hätte …!

Schließlich das Arbeits-Protokoll von gestern.

114 Einsätze. Darunter allein 23 Fälle von schwerem Alkohol-Abusus. Einer der Besoffenen mußte ruhiggestellt werden, da er in einem Tobsuchtsanfall die Beamten des Flughafen-Schutzdienstes attackierte. Und woher kamen die Herrschaften? Zwölf Skandinavier – an die sind wir gewöhnt. Aber hier: Zwei Ukrainer, ein Russe. Willkommen in der großen westlichen Säufergemeinde! Weiter: drei schwere Angina pectoris-Anfälle. Eine Gallen-Kolik. Das übliche Quantum an Desorientierten. Ein Epileptiker. Ein ausgekugeltes Schultergelenk beim Sturz von der Rolltreppe. Ein Knöchelbruch, der gegipst werden mußte. Fremdkörper im Auge, Magenblutung – es war eine ruhige, sehr ruhige Schicht gewesen, welche die beiden Ärzte Dr. Walter Hechter und der junge Dr. Olaf Honolka gefahren hatten …

Fritz Hansen ließ den Kugelschreiber fallen. Er zog eine der Schreibtischschubladen auf. Da waren doch noch irgendwo Zigaretten, ein halb angebrochenes Päckchen …? Voll schlechten Gewissens schob er die Schublade wieder zu und erhob sich. Er winkte der Sekretärin und verließ den Raum. Und wen traf er draußen, zwischen Labor und Röntgen-Abteilung? Wer schob da einen Rollstuhl vor sich her? Ausgerechnet Schwester Lukrezia! Und das hübsche rassige Gesicht mit dem roten Mund und den dunklen, feurigen Augen strahlte ihn so spontan an, als habe sie einen Schalter für Glück zur Verfügung.

Drüben aus dem Röntgenraum kam das Kontrast-Programm: Rolf Gräfe mit einem großen Umschlag unterm Arm, die Mundwinkel tief nach unten gezogen, den Blick starr, wie an dem Tag, als es wegen seiner dämlichen Motorradfahrerei eine Auseinandersetzung gegeben hatte.

Hansen zauberte die freundlichste Chefarzt-Miene auf sein Gesicht: »Kinder, im Augenblick liegt ja nichts vor. Ich werde mir mal die Beine vertreten. Falls irgendwas los ist, ihr wißt ja …«

Er klopfte auf das Funkgerät an seinem Gürtel und wollte sich umdrehen, doch da rannte die Schmidt aus seinem Zimmer auf den Gang: »Herr Doktor. Sie sollen sofort ins Tower-Zentrum. Ein Notfall auf einer ankommenden Maschine. Ein Herr Marein hat angerufen. Er erwartet Sie.«

»Was ist denn jetzt schon wieder, verdammt nochmal? Hat er was gesagt?«

»Nein.«

»Na dann, alles klar. Sagen Sie Wullemann, er soll den Hub-Wagen bereitstellen.«

»In Ordnung, Herr Doktor.«

»Und Rolf, ich geb dir Bescheid, falls wir den OP brauchen.«

Gräfe nickte.

Als Hansen im Tower anlangte, erinnerte er sich an seinen ersten Besuch; es war derselbe Eindruck, dasselbe Bild: Geschwungene Wände, mit kreisrunden Sichtgeräten bestückt. Männer davor. Unterdrückte Stimmen. Und am anderen Ende, etwas abgesetzt, ein Leitstand, der aufwendiger ausgestattet schien. Dort saß Edwald Marein, der diensthabende Leiter der Anflug-Kontrolle. Neben ihm stand einer der technischen Direktoren der Lufthansa. Hansen kannte das Gesicht, den Namen hatte er vergessen.

»Kommen Sie, Doktor«, sagte Marein. »Hören Sie zu. Es handelt sich um Folgendes: Auf dem LH-Flug 547 aus Caracas hat anscheinend ein Passagier durchgedreht und dabei eine Passagierin verletzt. Der Mann, der diesen Zirkus veranstaltet hat, scheint schwer krank zu sein. Schon während des Fluges wurde beobachtet, daß er an Beschwerden oder Schmerzen litt.«

Hansen nickte. Caracas? Und Flug 547, das war doch Evis Flug?

»Der Mann ist Kolumbianer«, fuhr Marein fort, »in Bogota zugestiegen. Nach den Angaben des Passes handelt es sich um einen Joaquín Caldas, Geometer, achtunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Antioquia, Kolumbien.«

Unter normalen Umständen wäre es vollkommen egal gewesen, woher der Mann kam – falls es so etwas wie ›normale Umstände‹ in dieser Welt noch gab. Aber das Wort hatte sich festgehakt: Kolumbien! Und jetzt verstand Hansen auch den kurzen, bedeutungsvollen Blick, den ihm der Dienststellenleiter dabei zugeworfen hatte.

Marein drückte ein Funksprechgerät in Hansens Hand: »Halten Sie den Knopf. Sie sind mit dem Piloten verbunden, Kapitän Andersen.«

»Hier spricht Hansen, diensthabender Arzt der Flughafen-Klinik.«

»Na endlich, Doktor! Man hat Sie sicher informiert? Wir geben dem Mann Sauerstoff. Wir dachten auch schon an Kreislaufmittel, aber wir wollten Ihre Anweisung abwarten.«

»Und wie geht's ihm gerade?«

»Er rührt sich überhaupt nicht mehr. Der Mann ist blau, fast grau. Pulsjagen, nasse Stirn, Hände eiskalt. Alles, was so dazugehört. Doktor, ich bin noch nie mit einer Leiche gelandet. Tun Sie alles, damit das auch heute nicht der Fall ist!«

»Der Mann hat eine Passagierin angegriffen?«

»Richtig! Eine alte Dame, die neben ihm saß. Er hat ihr das Nasenbein angeschlagen. Sah aus wie ein Anfall geistiger Verwirrung.«

»Kam diese Krise ganz plötzlich? Hat er etwas gesagt dabei?«

»Gesagt? Er hat gebrüllt wie ein Stier. – Hören Sie, Doktor, das alles weiß ich von den anderen. Ich hab ein Flugzeug zu steuern. Das heißt, daß ich vorn sitze und beim Jumbo auch noch oben. Ich gebe Ihnen die Stewardeß, die mit ihm zu tun hat. Sie sagte mir, daß sie Sie kennt.«

Also doch! Evi … Elf Stewardessen waren an Bord, die Chance hatte eins zu elf gestanden. Nun aber … Sein Herz klopfte.

Doch Evi meldete sich ganz sachlich und beschrieb das Verhalten des Passagiers, seine kurzen, spastischen Bewegungen vor der Ohnmacht … wie er mit Armen und Beinen gleichzeitig um sich schlug. »Das Auffälligste aber war sein Gesicht«, schloß sie den ersten Bericht.

»War die Haut gerötet?«

»Das auch. Zunächst. Aber die Augen – winzige Pupillen! Er machte einen schrecklichen Eindruck. Und er entwickelte eine unglaubliche Kraft … Jetzt stehen die Pupillen ganz weit.«

Evis Stimme hatte die sachliche Kühle auf einmal verloren. Nicht nur die Anspannung, auch die Erregung über das Geschehene war ihr anzumerken: »Drei, vier Passagiere versuchten ihn zu bändigen. Das waren kräftige Männer, und er ist nicht besonders groß.«

»Wie schwer etwa?«

»Siebzig Kilo vielleicht, höchstens achtzig. Aber er schien stärker als alle anderen.«

Während Evi sprach, hatte Hansens Mediziner-Verstand jedes ihrer Worte und jede mögliche Konsequenz daraus analysiert und blitzschnell all sich ergebenden Varianten durchgeprobt. Eine Eil-Anamnese mußte erstellt, die Gründe des organischen, vielleicht auch psychischen Geschehens eingekreist werden, die den Zusammenbruch auslösten. Und dann, ja dann brauchte die Besatzung sofort die geeigneten Therapie-Maßnahmen. Aber welche?

»Lieber Gott«, es kam ihm einfach so über die Lippen, ohne daß er nachdachte, »lieber Gott, Evi, was wär ich jetzt gern bei dir.«

»Ja«, hörte er, »das wäre auch einfacher.«

Es war ihm egal, ob die anderen das mitgehört hatten. Aber was, verdammt nochmal, war mit dem Mann los? Alle Symptome, die Evi geschildert hatte, deuteten auf eine schwere, lebensgefährliche Bedrohung im Magen- und Darmbereich. Aber welche? Die Möglichkeiten schienen unendlich. Eine plötzlich aufgeflammte Peronitis, ein durchgebrochenes Magengeschwür – alles kam in Betracht. Auch eine Vergiftung …

Und das war es wohl! Er konnte keine Perspektive außer acht lassen, aber der Verdacht, der sich ihm von Beginn an durch das Wort ›Kolumbien‹ aufgedrängt hatte, schob alle anderen Erwägungen in den Hintergrund: Die Pupillenstellung, die gleichzeitige motorische Aktivität, seine Erregung? – Kokain. Was sonst?

Eine Kokain-Vergiftung, die zu einem halluzinatorischen Schub geführt hatte; zu der letzten, unbegreiflichen Kraftentfaltung, von der Evi gesprochen hatte. Bei jeder schweren inneren Erkrankung hätte der Mann sich vor lauter Schmerzen nicht gerührt. Aber das Drogengift mußte das zentrale Nervensystem überflutet und diesen letzten paranoiden Anfall ausgelöst haben, ehe er zusammenbrach.

»Wie ist seine Atmung jetzt?«

»Ganz schnell. Auch der Puls wird immer schneller und dünner.«

»Die Gesichtsfarbe?«

»Ich weiß nicht, grau …«

»Sieh genau hin, Evi. Grau oder bläulich?«

»Bläulich eigentlich.«

»Und die Pupille, wie sieht sie jetzt aus? Kontrolliere auch die Muskeln.«

»Die Pupillen sind jetzt weit. Ganz groß. Die Beine hart.«

Ein Spasmus, Krämpfe. Sie waren ausgelöst durch den Sauerstoffmangel, das würde gleich vorübergehen. Aber dann?

Der Sauerstoffmangel stellte die größte Gefahr dar. Die Droge hatte das zentrale Nervensystem überflutet und konnte es jeden Moment lähmen. 800 bis 1.200 Milligramm Kokain – er hatte die Zahl kürzlich selber bei einer internen Schulung den Zöllnern und Sicherheitsbeamten des Airports genannt –, mehr konnte ein menschlicher Organismus nicht aufnehmen. Was darüber hinaus ging, bedeutete den sicheren Tod.

Das Teufelszeug kam ja nicht nur in Flugzeug-Containern oder Schiffsverstecken an. Immer wieder versuchten sich Drogen-Kuriere als Einzelkämpfer. Sie versteckten Kokain in Kosmetikas, in Puppen, in Kameras oder Kofferböden, nähten es in Anzug und Perücken ein. Und die ärmsten der armen Schweine blieben diejenigen, die aus Angst vor Entdeckung die Droge im eigenen Körper transportierten: im After, in der Scheide, selbst im Magen. Ihnen war nicht klar, welch tödlicher Gefahr sie sich auslieferten.

Ein zerrissener, von Magensäure angefressener Kondom – wenn es sich darum handelte, war es ein Wunder, daß der Mann dort oben überhaupt noch atmete.

Viele Chancen hatte er sowieso nicht. Dieser Kapitän Andersen würde wahrscheinlich doch mit einer Leiche landen müssen … Und Evi?

»Evi, es tut mir so leid, daß …«

»Sag nicht sowas. Nicht jetzt …«

Sie war verflucht tapfer. Um so besser. Er dachte es voll Mitleid und Bewunderung.

»Evi, paß auf: Es ist das Atemzentrum. Und es droht völlig abzuschalten. Wir müssen vor allem versuchen, es wieder zu reanimieren. Das geht nur über den Kreislauf.«

Er sprach langsam und deutlich und er zwang sich zu der Vorstellung, dies sei keine echte, geradezu abenteuerlich verfahrene Situation, sondern nur eine Übung während einer der Wiederbelebungs-Lehrgänge, die er manchmal hielt. »Wir müssen es mit mechanischem Druck versuchen. Und mit Medikamenten.«

»Mechanischem Druck? Du meinst eine Herzmassage?«

»Richtig. Kannst du sowas?«

»Oh ja … Ich hab's gelernt. Und ich hab's in letzter Zeit oft genug geübt.«

Oft genug geübt? Wo zum Teufel hat sie das geübt? dachte er. Und laut sagte er: »Um so besser, Evi. Du hast doch eine Medikamenten-Liste?«

»Ja. Hier … Die Atropin-Spritze habe ich bereits herausgeholt.«

»Ja, toll! Atropin wäre gut. Aber habt ihr auch Dopamin an Bord?«

»Moment … ja, hier steht's.«

»Hör zu: Achtzig Milligramm Dopamin. Und intravenös.«

Er fragte schon gar nicht, ob dieses rotblonde Phänomen in ihrem Super-Jumbo auch die Spritztechnik beherrschte; er setzte es voraus.

Und da kam es ja auch schon: »In Ordnung«, sagte sie.

Nichts war in Ordnung, verdammt nochmal … »Gut, Evi. Nimm das Dopamin. In fünfzehn Minuten setzt du eine zweite, in dreißig Minuten eine dritte Spritze. Und in der Zwischenzeit muß eine Herzmassage gemacht werden. Du weißt doch, wie man am besten den Druckpunkt findet?«

Und schon wieder kam es: »Die linke Hand auf das untere Drittel des Brustbeins, die rechte … Aber ich muß mich jetzt beeilen.«

»Tu das, Mädchen! Du weißt, ich bin hier …«

Ein Klappern. Das atmosphärische Rauschen im Lautsprecher hatte sich verstärkt, doch immer wieder glaubte Hansen Geräusche zu vernehmen. Und nun, ganz deutlich ein rhythmisches Atemgeräusch. Es war nicht der Patient, der hier atmete. Evi mußte es sein, die mit der Herzdruckmassage begonnen hatte …

Marein sah ihn an. »Ein unglaubliches Mädchen!« sagte er.

Ja, dachte Hansen, ein unglaubliches Mädchen …

Es dauerte nur den Teil einer Sekunde und schien sich doch über tausend Ewigkeiten zu dehnen – eine Welle von flüssig glühendem, leuchtendem Gold, eine unerträgliche, sich ausdehnende Hitze durchflutete ihn, schoß durch seine Adern bis in die letzten Nervenbahnen und verlieh Ramon eine ungeheure, gottgleiche Macht: Er wehrte die schreienden Teufelsgestalten ab, die über ihn herfielen, zerstörte sie, vernichtete sie – doch das Flammenrad in seinem Kopf drehte sich schneller und schneller, löste sich in einen dunklen Strudel auf, der ihn mitriß in einen Abgrund.

Evi Borges zog die Dopamin-Spritze zurück.

Es war die dritte.

Sie nahm die Stablampe, die zur Unfallausrüstung gehörte und ließ den gebündelten Lichtstrahl über Ramons weitgeöffnete starre Augen gleiten. Zuvor – hatte sich da nicht die Pupille verändert? Evi war sich sicher gewesen.

Ihre Hand suchte die Halsschlag-Ader. Es war so schwer zu sagen, ob sich der Puls kräftigte.

Wieder nahm sie den Hörer auf, der sie über das Zentrale Bord-Kommunikations-System mit dem Tower in Frankfurt verband.

»Hat sich irgendetwas geändert?« fragte Dr. Hansen.

»Der Brustkorb bewegt sich«, antwortete Evi. »Die Atmung scheint ein bißchen kräftiger. Und vorher hatte ich auch den Eindruck, als sei mit der Pupille etwas geschehen – aber jetzt? Ich hab ihm gerade die dritte Spritze gegeben.«

»Stehst du das denn durch? Die Druck-Massage ist verdammt anstrengend.«

»Ich glaub schon.«

»Noch zwanzig Minuten, Evi. Ach was, vielleicht fünfzehn. Hast du niemanden, der dich ablösen kann? Du mußt doch völlig erschöpft sein.«

Und wieder richtete Evi sich auf, drückte ihre Hände auf diesem elastischen Knochenspannstück zum Zentrum der Brust, gab sie Druck, senkrecht von oben, wie sie es gelernt hatte, ganz senkrecht, mit ihrem ganzen Gewicht, und stimmte mit dieser Anstrengung den Atem ab. Gleichmäßig, rhythmisch: Hoch – runter … durchhalten … bloß durchhalten!

Chris, dachte sie, rief es in ihr: Chris, hilf!

Den kleinen Talisman von Chris hatte sie in die linke Brusttasche gesteckt. Sie spürte die Kontur auf der Haut, wenn sie sich so bewegte wie jetzt, und es war, als ströme eine Kraft davon aus.

Laß mich nicht allein! Du hilfst mir, Chris, ja? … Laß mich nicht allein. Ich darf doch nicht noch mal versagen …

Und weiter … und wieder. Ein starrer Körper, ein regloser Körper. Aber ein Körper, der noch lebte. Ein Körper, wie auch Chris ihn besaß. Ein Körper, der weiterleben mußte. Leb weiter, bitte! … Bitte, atme, atme … Herrgott nochmal …

Und Evi setzte ihren Kampf fort.

Über das Bord-System hatte Flugkapitän Andersen auf der für Notfälle vorbehaltenen Welle Teile des Gesprächs zwischen Hansen und Evi Borges mitgehört. Nun hatte er anderes zu tun. Von der Bezirkskontrolle der Flugsicherung Frankfurt, die den Luftraum bis zur Schweizer Grenze hinüber überwachte, war gerade die Anweisung gekommen, auf die Frequenz 120.8 der Anflugkontrolle umzuschalten und sich dort zu melden.

Der Co-Pilot nahm das Mikrophon in die Hand: »Frankfurt Arrival Lufthansa 5-4-5-flight. Passing flight level 100 for flight level 90.«

»Roger«, kam es zurück.

Eine Langstrecken-DC 10 der British Airways, eine Fairschild der Cross-Air und eine Lockheed der Air Granada waren vom Tower inzwischen auf Warteschleife geschickt worden, um der D-ABY2 den Vortritt zu lassen.

Der Riesenvogel schickte sich an, seine Höhe zu verlassen und in die Wolkentürme hinabzutauchen, die das Land bedeckten.

Unten auf der Vorfeldfläche der Flugzeugabstellposition B-43, wo die ›Hessen‹ ausrollen würde, hatte bereits ein Spezialrettungswagen der Airport-Klinik Aufstellung genommen. Die Hebe-Hydraulik sorgte dafür, daß der gesamte Wagenkasten mit Personal und den medizinisch-technischen Einrichtungen in Sekundenschnelle in die Höhe der Ladeluken des Jumbos gehoben werden konnte.

»Vorsicht«, sagte Oberpfleger Fritz Wullemann gerade, »Vorsicht ist die Mutter der Kaffeetasse. Wie is et? Am besten fahren wir noch näher ran, dann müß'n wir nachher nich so rumschaukeln. Doktor, woll'n wir mal …«

Hansen nickte, und Wullemann dirigierte den Fahrer dem Standplatz entgegen. Draußen herrschte das übliche Gewühl: Follow Me-Autos, Fäkalien-Fahrzeuge, Dollies, Schlepper, der Kleinbus des Rampenmeisters, ferner Mechaniker und die Wagen des Technischen Dienstes – das alles ging die Klinikleute nichts an.

»Ick gloobe, da kommt se. Wie war det, die Nummer, Doktor?«

»D-ABY2«, sagte Hansen und spürte, wie seine innere Spannung wuchs.

Und tatsächlich – aus den niederhängenden Wolken tauchte eine Boeing 747 auf, kam flach über das Kleeblatt des Autobahn-Kreuzes, überflog die Landebahnschwelle, setzte auf und kam mit hochaufgerichteten Luftwiderstandsklappen über die Piste angeschossen. Nun wurde sie langsamer, rollte nach rechts von der Bahn ab und steuerte mit gedrosselten Motoren dem Terminal entgegen, bis sie zum Stehen kam.

»Na, los schon, Otto!« rief Wullemann dem Fahrer zu.

Während auf der Backbordseite die Fahrgastbrücken herangeschoben wurden, rollte der Notarzthubwagen zur vorderen Steuerbord-Ladeluke. Sie schwang auf.

Auch Wullemann hatte die Schiebetüre des Fahrzeugs geöffnet. »Los, Edi, heb das Ding rüber!« fauchte er den Sanitäter an.

Dr. Fritz Hansen hatte Evi bereits gesehen. Ihr Gesicht, das flach und fremd schien von der Anstrengung der letzten Stunde. Und er sah den Körper auf dem Boden, sah die Sauerstoffmaske, den Mann dort in seiner Uniformhose und dem Fliegerhemd, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.

»Evi – Da sind wir ja. Evi, du bist eine Heldin!«

Es war das Einzige, was Hansen herausbrachte, während seine Fingerkuppen bereits nach der Halsschlagader des Bewußtlosen tasteten. Vollkommen eingefallen. Kein Druck an der Carotis.

»Aber er hat gelebt, Fritz!« Es war wie ein erstickter Schrei. »Und die Pupillen haben sich auch verändert. Und die Brust hat sich bewegt. Er hat gelebt, glaub mir …«

»Sicher, Evi. Er wird's auch weiter tun – hoffentlich. Komm, Fritz …«

Wullemann, der ihren erstaunten Blick registriert hatte, grinste breit: »Ick heese ooch so, Froilein: Fritz. – Da jibt's hier 'n janzes Nest von … Na, dann woll'n wer mal!«

Sie schoben die Rollbahre in den Wagen.

Die Tür klappte zu …

Er hat noch gelebt, glaub mir! … Hansen konnte Evis Aufschrei nach der Landung nicht vergessen. – Sicher hatte der Mann noch gelebt und lebte noch … jetzt, zum Teufel, sollte er auch nicht abkratzen. Körperwärme? Die Haut feucht und kalt, das schon, aber nicht die eines Toten. Aber kein Puls! Nichts zu spüren, gar nichts …

Am Arm eine Vene für die Spritze zu suchen, war zwecklos. Hier half nur der zentrale Zugang in eine der großen Körper-Venen – hier, die Subclavia – ja, sitzt!

Er hat noch gelebt … aber sicher, Evi. Was wir hier vorführen, ist eine Art Stafettenlauf gegen den Tod. Wir werden sehen, wer am Ende gewinnt.

Er war sich da nicht so sicher. Nein, gar nicht …

»Der Tubus. Fritze!«

»Adrenalin, Doktor?« fragte Wullemann.

Hansen nickte. Ein Ass, dieser alte Berliner. Man sollte den Wullemann zum ›Professor für Notfall-Versorgung‹ ernennen. Nur müßte er sich dann besser rasieren. Na prima, der Beatmungs-Tubus sitzt. Sauerstoff. Nun das Adrenalin …

Und es rührte sich noch immer nichts. Er mußte geatmet haben, wenn auch in Intervallen. Und jetzt? Kreislauf-Kollaps. Oder war das Herzstillstand?

Der Kasten hatte auf dem Chassis aufgesetzt, der Notfallwagen zog an. Endlich! Aber es dauerte zwei Minuten, bis wir am Eingang sind, dachte Hansen. Und noch einmal zwei Minuten, bis du den Mann auf dem Tisch hast. Mindestens … Und das ist zu lange, viel zu lange! Wullemann hatte das EKG schon angeschlossen und der Apparat ließ das Gemeinste erkennen, was er zu bieten hatte: die flache, nur leicht gekrümmte Linie einer Asystolis. Das Todeszeichen!

Er hat noch gelebt, Fritz …!

Ja, verdammt nochmal! Aber jetzt?

Wullemann hatte dieselbe vorwurfsvolle Verzweiflung im Blick, die er selber fühlte. Der Sauerstoffmangel setzte eine unverrückbare Grenze: Drei Minuten bis zum Gehirntod. Auch wenn der Körper es noch zehn Minuten länger schaffte, was nützte es, was änderte es?

Hansen nahm die Faust hoch. Eine Verzweiflungsmaßnahme, doch in diesem Lotterie-Spiel um Leben und Tod brachte selbst sie manchmal Treffer: der präkordiale Faustschlag, genau gezielt aus zwanzig Zentimeter Höhe in die Mitte des Brustbeins.

Keine Reaktion.

Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

»Defibrillator, Doktor?«

»Klar. Los, gib her!«

Der Wagen schüttelte. »Verdammt nochmal! Kann der Idiot da vorne nicht aufpassen?«

Nun Stop. Die Tür wurde aufgerissen. Stimmen, weiße Kittel, aber Hansen schüttelte nur den Kopf: »Laßt uns in Ruhe!« Seine Fäuste umklammerten die Handgriffe der beiden kreisrunden Elektroden des Defibrillations-Gerätes, dessen Stromstoß das Herz wieder aktivieren konnte. Wullemann hatte die Spannungsanzeige auf 200 Joule Anfangsdosis gestellt.

»Jetzt!« befahl Hansen.

Der häßliche, grüne Strich blieb. »Nochmals, Doktor?«

»Erhöhen auf dreihundert!.«

»Dreihundert«, wiederholte Wullemann und drückte wieder den Schalter.

Die flache, grüne Linie am Monitor hatte sich leicht verändert, sie schien breiter, unregelmäßiger.

»Dreihundertsechzig. – Jetzt!«

Aber das Herz begann noch immer nicht zu arbeiten, und wenn Hansen je gegen die lähmende, ohnmächtige Verzweiflung gegenüber dem todbringenden Verstreichen der Zeit ankämpfen mußte, dann in diesem Augenblick.

»Adrenalin. Ein Milligramm. Und dazu Natriumbicarbonat, sonst wirkt das Adrenalin nicht …«

Wullemann hatte die Ampulle längst aus dem Etui gezogen und setzte sie nun rasch auf den Katheter.

»Nochmal dreihundertsechzig«, befahl Hansen, als er fertig war und betete: Lieber Gott … Nun komm schon, Himmelherrgott! … Komm doch!

Auch dieser neue Stromstoß brachte kein Resultat.

Unbarmherzig listete die Zeitanzeige am EKG-Gerät die Sekunden auf, summierte sie zur drohenden Katastrophe. Viele Chancen blieben nicht mehr. Wenn es jetzt nicht klappte, wenn der nächste Stoß wieder ins Leere ging, dann waren die drei Minuten fast verstrichen.

»Nochmals dreihundertsechzig, Wullemann …«

Der Stoß kam. Und – endlich, jawohl, Himmelarsch, endlich war der tödliche Bann der grausamen Linie auf dem Monitor gebrochen.

»Siehste, Doktor?« rief Fritz Wullemann. »Siehste! Na also …«

Schön sah's noch immer nicht aus: Ein unrhythmisches, gezacktes Zittern entstand auf dem Monitor.

»Kammerflimmern«, stöhnte Hansen zornig. »Noch immer.«

»Man soll nie undankbar sein, Doktor. Et bewegt sich wat.«

Und da hatte er recht: Das Herz, und damit der ganze blasse, unbewegliche Körper kämpfte weiter ums Überleben. Noch immer war das Herz nicht in der Lage, Gehirn und Organe mit dem lebensspendenden Sauerstoff zu versorgen, aber die Chancen hatten sich verbessert.

»Lidokain«, sagte Hansen. »Schnell! Ein Milligramm. Und dann nochmal dreihundertsechzig Joule.«

Das Mittel floß ein, wieder umfaßte Fritz Hansen die Elektroden-Griffe, umklammerte sie mit der Kraft der Verzweiflung, sandte ein neues Stoßgebet zum Himmel und hoffte, daß er es endlich erhören würde.

Da geschah es: Die erste Zacke erschien auf dem Monitor, dazwischen die kleineren, die zweite – und wieder eine … Hansen und Wullemann sogen beide zur selben Zeit die Luft ein.

Aber die Linie flachte erneut ab zum Kammerflimmern. Nochmals: Strom! Und wieder … Und da – das Herz schlug! Nach der ganzen Tortur, die der Körper durchzustehen hatte, schlug es sogar ziemlich kräftig. Zwar gab es manchmal Aussetzer, aber es setzte die Arbeit fort; der Rhythmus schien sich einzupendeln, auch der Brustkorb bewegte sich. – Und jetzt raus!

Die Sanitäter zogen die Bahre aus dem Wagen und rannten in den OP. Wullemann lief hinterher. Fritz Hansen folgte.

»Na, Doktor«, hörte er Wullemann keuchen, »so 'ne Zitterpartie iss doch ooch wat Schönes? Man muß ja ooch wat jegen die Routine tun. Ja, von wejen abkratzen! Den Vogel, den bringen wir janz schön wieder zum Fliejen, meinen se nicht?«

Aber die Arbeit fing ja erst an.

Die Wirkung des Giftes würde viele Stunden anhalten. Was der Körper aufgenommen und ins zentrale Nervensystem weitergegeben hatte, würde er selbst wieder abbauen. Das dauerte. Was jedoch noch in Magen und Darm an der Droge vorhanden sein mochte, mußte schnellstens entfernt werden. Zuerst kam indessen die Verabreichung eines Gegenmittels, das die verheerend betäubende Wirkung des gefährlichen Alkaloids minderte. Und am wichtigsten blieb es, die Atmung weiterhin sicherzustellen.

Die Anästhesistin stand am Respirator, um den Beatmungsfluß und die Kontrolle einzusteuern.

Hansen überlegte. Die Blaufärbung war inzwischen aus dem Gesicht gewichen, aber die Herztätigkeit war noch immer labil.

Wullemann machte Lukrezia Bonelli Platz, die gerade mit einer Sonde kam, durch die dem Magen die Flüssigkeit zugeleitet werden konnte, die das Gift ausspülte.

»So«, befahl Hansen, »und wenn wir das hinter uns haben, sofort Sorbit!«

Wullemann nickte und verzog dabei den Mund. Das Sorbit würde für eine schnelle Darmentleerung sorgen.

»Dann zieh ihm mal die Hosen runter, Luzi.« Auf den Namen Lukrezia hatte sich Fritz Wullemann nie eingelassen. Lukrezia blieb für ihn ›Luzi‹. »Sowat schaffste doch spielend. Da biste ja schon fast 'ne Spezialistin drin, oder wie seh ick dat?«

Lukrezia Bonelli schoß ihm einen flammenden, mörderischen Zornesblick hinüber. Auch Hansen fand, daß Wullemann nun wirklich übertrieb. Wieder befühlten seine Fingerspitzen den klatschnassen Brustkorb des Patienten. Das gnadenlose Licht der Operations-Strahler enthüllte jede Einzelheit: ein muskulöser Körper, das ja, der Körper eines gut durchtrainierten Enddreißigers; die Haut allerdings von fahler Lehmfarbe. Eine Blinddarmnarbe, eine zweite Narbe am Schultergelenk, von einem Messerstich vielleicht. Die Haare dunkel vom Schweiß, an den Schläfen bereits grau. Und dann dieses etwas indianische Gesicht; breite Backenknochen, eingefallene Wangen, eingesunkene Augen.

Hansen fühlte etwas, das er in solchen Situationen sonst nicht erlebte und das ihm der Beruf ja auch verbot: Haß! Ja, einen tiefen, von Widerwillen getragenen Zorn. Die Erinnerung hatte ein anderes Bild eingeblendet; ein anderer Körper hatte einmal dort auf dem Tisch gelegen, schmal, zart. Der Körper eines Jungen, noch keine 18 Jahre alt. Was hatten sie genäht damals! 27 Schnittwunden. Über den Tisch tropfte das Blut, und Gräfe und er setzten Stich nach Stich, zogen Knoten nach Knoten. Es wollte überhaupt nicht aufhören.

Und dann noch die schwache Jungenstimme, die gegen die Betäubung anzukämpfen versuchte: »… da waren überall Bäume, Herr Doktor. Und die Bäume wuchsen und wuchsen, wuchsen aus dem Boden, an den Tischen, zwischen den Leuten, sogar neben dem Flipperkästen … Aber an den Ästen waren Hände. Und diese Scheiß-Hände wollten mich haben, mich schnappen, mich greifen … Da bin ich gerannt, Herr Doktor. Die Scheibe habe ich gar nicht gesehen … Ich wollte nur eines, weg, weg, weg … Es war ein richtiger Horror-Trip.«

Um ein Haar wäre er für immer weg gewesen. Ein Glassplitter hatte ihm die Axilaris durchbohrt.

Auch ein Horror-Trip also, doch bei dem Jungen war es nicht Kokain gewesen, sondern Heroin. Na und? Wo lag schon der Unterschied, wenn sie an irgendeinem Alkaloid krepierten?

Der Junge mit dem zerschnittenen Körper hatte alles getan, um an das Rauschmittel heranzukommen. Er hatte eingebrochen, geklaut, sich prostituiert. Selbst auf dem Airport lungerten solche armen Schweine ja herum und befanden sich in ständiger, tödlicher Gefahr.

Einer wie der hier aber, dieser Joaquin Caldas aus Kolumbien, brachte das Gift über Tausende von Kilometern von Südamerika nach Deutschland und hatte jetzt einmal Pech gehabt. Gewiß, er würde gerettet, sie würden ihn durchbringen. Zu was? Damit er es das nächste Mal wieder versuchte? So lief das doch …

Fritz Wullemann bereitete den Einlauf vor, während Lukrezia dem Bewußtlosen die Unterhose vom Körper zog.

»Ein roter Slip«, sagte Wullemann, »haste dat jesehen?«

Der Lautsprecher meldete sich. Es war die Aufnahme: »Herr Dr. Hansen! Herr Dr. Hansen! – Falls Sie einen Augenblick Zeit haben: Hier warten zwei Herren von der Polizei.«

Hansen nickte. Er warf einen Blick auf die Anzeigen. Die Werte verbesserten sich stetig.

»Bin gleich wieder da«, sagte er und verließ den Raum. Als er draußen um die Ecke des Korridors bog, wurden seine Schritte ganz langsam.

Dort an der Tür der Aufnahme: die Uniform, ein blasses Gesicht und das leuchtende Haar!

Evi …

Sie kam ihm entgegen, und die letzten Schritte, die sie trennten, rannte sie. Er breitete beide Arme aus, zog sie an sich, streichelte ihren Rücken, hielt sie fest. Er spürte, sie brauchte es. »Du warst so tapfer … alle bewundern dich.«

»Was ist mit ihm?«

»Mit wem? Der kommt durch. Solche kommen immer durch.«

»Danke«, vernahm er. Und dann noch, es war nicht viel mehr als ein Hauch: »Oh, Gott sei Dank …«

Seine Hand streichelte sie noch immer, und er wunderte sich, was dieser Mann ihr wohl bedeuten konnte? Aber war die Antwort denn schwer? Hatte sie nicht vierzig Minuten irgendwo hoch in der Luft, auf dem Boden eines Jumbos kniend, um sein Leben gekämpft, ihren Handballen gegen sein Brustbein gedrückt, ihre Kräfte bis zur Erschöpfung verausgabt und das sollte umsonst gewesen sein?

Er strich liebevoll über ihr Haar: »Es wird alles gut, glaub mir!«

Sie nickte.

»Und weißt du, was du jetzt tust, Evi?« Er warf einen Blick durch die geöffnete Tür zum Aufnahmeraum hinüber. Da saßen sie, die ›Herren von der Polizei‹. »Du nimmst jetzt den Wagen. Hier hast du den Schlüssel.«

»Welchen Schlüssel?«

»Welchen? Den zu meiner Wohnung.«

Sie sah zu ihm auf. Licht schimmerte in den müden, schönen Augen. Oh ja, sie wirkte zum Umfallen erschöpft, den Schlüssel aber steckte sie mit einer Selbstverständlichkeit ein, die ihn nun doch ein wenig enttäuschte: seinen geheiligten Wohnungsschlüssel! Die Absicherung gegen Überraschungen und andere Gefahren. Das Symbol seiner Freiheit und Unabhängigkeit. Daß er ihn ihr übergab, war immerhin eine Entscheidung. Und vielleicht eine sehr wichtige dazu. Evi aber? Was bedeutete es für Evi?

»Du fährst jetzt also, nimmst dein Bad und machst es dir so richtig schön und bequem. Leg ein paar gute Platten auf, zum Futtern gibt's sowieso reichlich. Und dann schließt du die Augen und vergißt alles, was passiert ist. Versprochen? Du wirst sehen, es geht. Und wenn du willst, rufst du mich hier an. Oder besser noch: Sobald ich ein bißchen Luft habe, melde ich mich. In Ordnung?«

»In Ordnung.«

»Na, dann jetzt ab und nach Hause!«

»Nach Hause?« Ein fragendes Lächeln blühte in ihrem Gesicht auf.

Er sah ihr in die Augen, lange und entschlossen: »Ja, Evi. – Nach Hause!«

Der eine hieß Brunner, der andere stellte sich als Inspektor Niebuhr vor.

Sie hatten sich erhoben, als Hansen die Aufnahme betrat. Er winkte sie hinüber ins Sekretariat und zog die Tür zu.

Brunner war ein großer, massiger Mann mit grauen, kurzgeschnittenen Haaren und einem offenen, sympathischen Gesicht. Er übernahm die Vorstellung: »Ich gehöre zum Flughafen-Schutzdienst, Herr Doktor. Herr Inspektor Niebuhr wiederum ist Beamter der Drogen-Fahndung.«

»Oh?« Hansen versuchte sein ironisches Lächeln niederzukämpfen. Nicht, daß er etwas gegen die Beamten des Sicherheitsdienstes hätte, schließlich wurden sie auf dem Airport wirklich gebraucht – doch meist standen sie ihm bei irgendwelchen Noteinsätzen im Wege und belästigten ihn dazu noch mit dämlichen Fragen. »Und was verschafft mir die Ehre?«

»Das können Sie sich doch sicher denken, Herr Doktor.« Niebuhr sagte es. Er war ein drahtiger, junger Mann in Jeans und Jeansjacke. Den rechten Arm ließ er lässig übe die Stuhllehne baumeln. Das Gesicht hätte einem Sportlehrer gehören können, der die Leistung eines Schülers belächelt. Fängt gut an, dachte Hansen grimmig.

»Nun, es ist so, Herr Doktor«, schaltete sich Brunner ein. »Von Herrn Marein bekamen wir einen Hinweis, daß sich an Bord des LH-Flugs aus Caracas vielleicht ein Drogen-Kurier befand. Sie selbst sollen Herrn Marein auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht haben.«

Fritz Hansen nickte. »Stimmt. Und? – Ich muß Ihnen übrigens gratulieren: Sie sind sehr schnell. Und Sie hören wirklich das Gras wachsen.«

»Na ja«, meinte Niebuhr, »wir haben auch unseren Job, nicht?«

»Und was wollen Sie jetzt von mir?«

»Aber das ist doch einfach, Herr Doktor. Sie haben den Mann in Ihrem Gewahrsam …«

»Ich habe ihn nicht in Gewahrsam, er liegt bei uns auf dem OP-Tisch. Und es geht ihm verdammt schlecht, das kann ich Ihnen versichern.«

»Trotzdem.«

»Trotzdem was?«

»Trotzdem müssen wir sicherstellen, daß er sich, wenn's ihm besser geht, nicht einfach in Luft auflöst. Wir müssen ihn also zunächst bewachen und ihn dann im Untersuchungs-Gefängnis weiterbehandeln lassen. Ich meine, falls er tatsächlich ein Drogen-Kurier ist …«

»Eben. Ich bin zwar auch davon überzeugt, aber ich finde, wir sollten das erst mal abklären. Und dann wäre es vielleicht gut, wenn Sie sowas Nebensächliches wie einen Haftbefehl vorlegen könnten. Finden Sie nicht?«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Doktor. Den haben wir ganz schnell.«

»Na dann«, sagte Hansen, »dann geh ich mal zurück an meinen Arbeitsplatz …« Er erhob sich. »Das heißt, Sie können gleich mitkommen. Vielleicht wissen wir inzwischen, was mit dem Mann los ist. Und ob er dieses Dreckszeug geschmuggelt hat.«

Es war der unsterile OP, gut. Aber Hansen machte eine Handbewegung, die den beiden befahl, vor dem Eingang zu warten.

Er zog die Tür hinter sich zu, ging in die Mitte des Raums, den ein leichter Geruch nach Desinfektionsmitteln und Ausscheidungen erfüllte. Wullemann stand neben dem mit Tüchern bedeckten Körper und deutete auf die emaillierte Auffangschüssel in seiner linken Hand.

»Ich hab's! Und ich hab se alle, Herr Doktor.«

Noch begriff Hansen nicht. Er ging zum Spirographen, an dem Berta Maier-Blobel, die Anästhesistin, gerade eine Lungenfunktionsprüfung durchführte. »Die Atmung kommt, es läuft ganz prima«, sagte sie. »Aber gut – der Rest ist schon ziemlich verrückt, nicht? Sehen Sie sich mal an, was Wullemann in der Hand hält!«

»Zeig mal!«

Fritz Wullemann lächelte stolz. Und auch Lukrezia Bonelli, die gerade einen Wischlappen in den Eimer warf, lächelte breit.

Hansen sah runde, kleine Kugeln. Viele, viele Kugeln waren es.

»Was ist denn das?«

»Ja nun, Doktor …« Wullemann blieb völlig ernst: »Da wir hier im OP noch keine Ziejen halten, obwohl's so aussieht, gloob ick, daß die Kügelchen mit wat anderem zu tun ham, und dreimal dürfen se raten …«

Es gab nichts zu raten. Hansen ließ sich von Lukrezia ein paar neue Gummihandschuhe überstreifen. Er befühlte eine der Kugeln. Die Außenwand war elastisch. Der Durchmesser zirka ein Zentimeter.

»Hier!« Wullemann zeigte auf eine kleine Glasschale: »Hier, det war ooch dabei. Hier ham wir dat corpus delicti oder wie det heeßt.«

Diese Kugel war aufgerissen. Die beiden Hälften klappten auseinander, und sie hatten ihren Inhalt in den Magen ergossen und damit den Mann hier an den Rand des Todes gebracht.

»Zweihundertsechzehn Kugeln – muß man sich mal vorstellen!«

Und jede dieser Kugeln enthielt, schätze Hansen, ein Gramm oder mehr. Vielleicht waren sie clever, die Absender, und falls der Kolumbianer auf eigenes Risiko fuhr, hatte er gute Ratgeber gehabt, die sich selbst das noch überlegten: Zwischen 800 und 1200 Milligramm lag die Toleranzgrenze für die Kokain-Resorption. Mehr bedeutete den sicheren Tod …

Wahrscheinlicher schien, daß die Auftraggeber sich ihrer Sache sicher gewesen waren und all diese Rechnungen gar nicht aufgestellt hatten.

Wie auch immer: Der Kolumbianer hier, dieser Joaquin Caldas, schien kräftig und robust. Wenn er einem grausamen Ende nur um Haaresbreite entronnen war, hieß das, daß er zwischen einem und anderthalb Gramm reines Kokain über den Magen aufgenommen hatte.

»Na ja, denn gib mal her«, sagte Chefarzt Dr. Fritz Hansen, nahm den Behälter und setzte das Glasschälchen oben auf die Kugeln. »Ich zeig euren Fund gleich mal unseren Freunden von der Polizei.«

»Ein Latex-Überzug ist das«, erklärte Inspektor Niebuhr zwei Minuten später, nachdem Hansen mit den Polizisten ins Sekretariat gegangen und die Kugeln auf den Schreibtisch gestellt hatte. »Gut ausgedacht. Solche Kugeln sind erheblich sicherer als die mit Kokain gefüllten Kondome. Geht von denen einer kaputt, dann ist auch der Mann hinüber. Wir haben drei oder vier solcher Fälle in der Kartei.«

»Wirklich, gratuliere, Doktor«, setzte der mächtige, breite Mann mit den grauen Haaren hinzu, der Brunner hieß.

»Wieso denn mir?«

»Weil Sie uns den Mann am Leben erhalten haben und er somit auch noch ein paar Informationen ausspucken kann.«

»Da gratulieren Sie besser jemand anderem.« Hansen dachte an Evi. »Und was geschieht jetzt?«

»Na, wir werden wohl warten müssen, bis der Kolumbianer transportfähig ist. Und bis dahin setzen wir Ihnen einen unserer Leute in die Klinik.« Brunner hob beschwichtigend die Hand, als er Hansens Blick auffing: »Keine Sorge, Herr Doktor – in Zivil!«

»Das können Sie ja dann am besten mit Dr. Gräfe ausmachen«, sagte Hansen. »Der hat heute den ersten Nachtdienst.«

Er war froh, daß er diese Leute los war und Rolf Gräfe den Fall übernahm. Wie hieß es immer so schön: Alles wird von nun an seinen geregelten Weg gehen …

Wieder dachte er an Evi, dachte vielmehr die ganze Zeit schon an sie. Sobald er in dem Laden ein wenig Luft schnappen konnte, würde er mit ihr telefonieren.

Doch der Tag war für den Chefarzt noch nicht ausgestanden. Das wurde ihm sofort klar, als er eine Stunde später die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete und die Besucherin sah, die ihn dort erwartete: Lukrezia! Schwester Lukrezia Bonelli.

Sie hatte im Sessel Platz genommen. Nun, als er eintrat, sprang sie auf. Und die wilde Anspannung in ihrem dunklen Gesicht verhieß kaum etwas Gutes.

»Ich hab ja nichts dagegen, daß du hier wartest«, versuchte er die erste Aggression abzuwehren, »aber gegen den Klinik-Kodex verstößt es doch ein bißchen, findest du nicht?«

»Klinik-Kodex? Ach ja? Und was ist mit dir? Könntest du mir das erklären? Erlaubt dein berühmter Kodex, daß du auf dem Flur irgendwelche Weiber abknutscht und alle dir auch noch dabei zusehen können?«

Er war zu überrascht, um eine Antwort zu finden. Er spürte nur, wie ihm die Hitze jäh und heftig in den Kopf schoß.

Er ging an ihr vorbei um den Schreibtisch herum, so, als könne er damit einen Schutzwall gegen die rasende Eifersucht errichten, die ihr Gesicht zucken ließ. Nie hatte Lukrezia ihre Gefühle verbergen können; stets konnte man in ihren Augen und ihrem Gesicht ablesen, was in ihr vorging. Er hatte das sonst immer faszinierend gefunden, ja, sie darum geliebt – nun erschrak er.

»Brauchst deinen Schreibtisch, was?« fauchte sie. »Na gut, wenn du dich so wohler fühlst … Aber ich will eine Antwort, Herr Chefarzt! Ich warte.«

»Denk dir, was du willst. Aber dies hier ist nicht der Ort, um private Angelegenheiten zu diskutieren.«

»Aber der Korridor vor der Aufnahme ist es?!«

»Das hast du vollkommen in den falschen Hals gekriegt. Evi Borges war das Mädchen, das unter schwierigsten Umständen in zehntausend Meter Höhe Anweisungen durchführte, die ich ihr vom Tower durchgab, damit der Südamerikaner …«

»Dieser verdammte Kugelscheißer …«

»… damit er durchkam. Ich betrachte das als eine Leistung. Und als ich Evi vorhin traf, war sie körperlich und seelisch völlig erschöpft. Jeder Mensch, der ein bißchen Verstand im Hirn hat, kann das wohl nachvollziehen.«

»Damit meinst du natürlich mich?«

»Ich wollte das nur klarstellen.«

»Klarstellen? Dann stelle ich auch was klar: Mag ja sein, daß Stewardessen im Bett Weltmeister sind …«

»Schluß!« Es kam gefährlich leise und trotzdem scharf wie ein Schuß.

»Jawohl!« Sie warf den Kopf zurück, daß ihr schwarzes Haar aufflog. Und die Augen! Schmal wie Schießscharten waren sie, und dahinter brannte das ganze Feuer ihres heißen Temperamentes. »Es ist Schluß!«

Sie ging zur Tür, wirbelte dort noch einmal herum und schrie es heraus: »Schluß, Herr Chefarzt! Du wirst noch erleben, was das bedeutet.«

Die Tür knallte hinter ihr zu.

Er betrachtete die weiße Fläche und schüttelte langsam den Kopf. Dieser Auftritt, der ganze Tag – es kam ihm alles so unwirklich vor. Theater, Operette, italienische Schmieren-Komödie … oh nein, sie meinte es ernst! Und er bedauerte jetzt, daß er sie gehen ließ. Er hätte ihr die Wahrheit sagen müssen. Die ganze Wahrheit.

Aber so oder so: Der Fall war ausgestanden …

Weiße Zahlen auf schwarzem Grund. Sie tanzen, machen anderen Zahlen Platz, füllen Zwischenräume aus und verschwinden wieder. Manchmal tauchen am rechten Ende zwei grüne Lichter auf – nämlich dann, wenn draußen auf dem Flugfeld gerade eine Maschine gelandet ist.

Sie tanzen überall, diese Zahlen. Auf der Ankunfts- oder der Abflugs-Ebene. In den Schalterhallen. Über dem Zugang zu den Warteräumen. In den Etagen über den Flugsteigen. In der Transit-Halle.

›MOSKAU – PLANMÄSSIGE ANKUNFT 17.30‹, steht auf der Fluganzeigetafel. Und dann: ›DELAYED – 24.15. DALLAS – LONDON – 23.30 – DELAYED. SALONIKI, BOMBAY, ANKARA, ROM … ‹

Und die Zahlen verschwinden wieder. Immer mehr verschwinden. Große, dunkle Flächen wachsen über die Tafeln, ihr Puls wird matt: Mitternacht im Airport-Frankfurt …

Wer um diese Zeit das gewaltige Beton-Labyrinth durchstreifte, hatte zumeist ein Ziel im Sinn: die Garage.

Spaziergänger waren selten. Doch Dr. Rolf Gräfe liebte diese Stunde, ging nach dem Spätdienst oft durch die verwaisten Galerien; die von Reklamen beleuchteten, endlosen Gänge. Die Anspannung der Arbeit hatte ihn noch im Griff, er wollte sie ausklingen lassen. Es gab keine bessere Methode.

Die Rolltreppe knackte. Gräfe ließ sich in den Bereich ›B‹ tragen, die Ankunfts-Ebene, das große Sammelbecken der aus dem Ausland ankommenden Passagiere. Er hatte das Gefühl, als bewege er sich in einem Traum. Unter Menschen. Inmitten fröhlicher, lachender Gesichter. Warum sollte er nicht auch ausgelassen sein? Wenn er so etwas wie Wärme und Nähe brauchte, gab es schließlich die Frauen. Für viele Jahre war es Olga gewesen, die frisch geschiedene Mutter eines sechzehnjährigen Jungen. Dann aber war Olga zu ihrem Mann zurückgekehrt, und es kam Britte …

Britte!

Weshalb wurde er den Namen nicht los? Und nicht den Gedanken an sie? Mit Britte war es schließlich vorbei. Britte – das war Vergangenheit. Nichts als ein Name.

Rolf Gräfe ging nun doch in die Personal-Garage, holte sein Motorrad und setzte es in Gang. Langsam glitt die BMW aus dem Trockenen, und sofort hörte er das Rauschen.

Scheiß-Regen! … Doch wieso eigentlich? Vielleicht war der Regen das beste Gegenmittel gegen seine negativen Gedanken? Vielleicht würde er verscheuchen, was ihn quälte, und wusch den ganzen Dreck von ihm ab …

Als er die Maschine am Parkhaus vorbei auf die Auffahrt lenkte, verstärkte sich alles noch: graue Wasserschnüre, graue Gebäudeschatten, dahinter die fahlblaue Helligkeit der Straßenleuchten. Und Taxis, die an ihm vorüberplatschten und ihn mit Wasser beschmissen.

Ja, von wegen! Euch zeig ich's.

Gräfe trieb den Motor hoch, und die BMW sauste ab, pflügte durch Lachen, schoß an Taxis, an Lkws vorbei, schnitt, dann war er durch – Vollgas!

Der Regen peitschte sein Gesicht, drang in den Kragen der Lederjacke bis zum Rücken, Lichter flitzten vorüber. Eine graue Gischtwolke hinter sich herziehend, von irritierten Lichthupen-Signalen verfolgt, raste das Motorrad durch die Nacht.

Rolf Gräfe fühlte sich frei.

Wie lange er so fuhr, wo er sich befand – er wußte es längst nicht mehr. Irgendwo, irgendwann ließ er die BMW langsamer rollen. Um ihn schwarze Häuserwände. Und dort vorn links kämpfte sich eine gelbrote Neonreklame durch den nassen Dunst.

Gräfe stoppte, stieg ab, bockte auf. Er hatte Durst. Er sah auf die Uhr: Kurz vor eins. Na, um so besser, wenn die Kneipe hier noch offen hatte.

Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, strich mit der linken Hand das Haar zurück und schob den stämmigen Körper durch einen dicken Filzvorhang.

Ein Saxophon säuselte aus dem Lautsprecher über seinem Kopf. Blues; ein heißer, schöner Blues. Schummriges Licht. Die Lampenschirme auf den kleinen Tischen verteilten honigfarbenes Licht im Raum.

Ziemlich komischer Laden. Aber eine Theke gab's wenigstens. Und sicher auch ein Bier zum Festhalten.

Gräfe rutschte auf einen Barhocker. An der Theke saß schon einer, die Ellbogen breit. Nun drehte er Gräfe das Gesicht zu. Er hatte eine breite Nase, schwarze Bürstenbrauen, der Kopf war fast kahl. Ein Fernlastfahrer, dachte Gräfe, so sieht er wenigstens aus. Und er war nicht mal unsympathisch.

»Ein Helles!«

Die Blondine wölbte ihm den gewaltigen Busen entgegen, der sich fast aus ihrem engen, grünen Futteralkleid zu lösen drohte.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Allein gibt's kein Bier.«

»Wie bitte?«

»Wußte ich auch nicht«, grinste der Fernlastfahrer. »Aber das sind nun mal hier die Sitten. Du kriegst 'n Pils nur mit 'nem Piccolo.«

»Aha?« staunte Gräfe.

Die Blonde warf ihm einen pikierten Blick zu und holte Gläser.

»Die können sich das leisten.« Der Fernlastfahrer nickte zu den Tischen hinüber. Da saßen tatsächlich noch Gäste. Ausschließlich Männer. Und fast alles ältere Semester. »Das hier war mal 'ne gute Kneipe, Kumpel, kann ich dir sagen. Hier haste immer jemand für 'nen Skat aufgerissen. Und sie zischten dir ein Klasse-Pils. Ja, Kollegen gab's hier zuhauf. Und außerdem, die machten einen Eins-A-Kartoffelsalat mit Bockwurst. Und dann gab's noch …«

Was es noch gab, konnte Gräfe nicht so recht verstehen. Die Musik war zu laut geworden, und dort drüben flammte ein Scheinwerfer über einer kleinen Bühne auf. Das Licht war rosa.

»Am Bahnhof«, sagte sein Nachbar, »da reißen sie doch einen Puff nach dem anderen nieder. Und dann kommt so 'n beschissener Wolkenkratzer mit irgendso 'ner verfluchten Scheiß-Bank drauf, und die Luden schnappen sich ihre Mädchen und ziehen in die Außenbezirke. So ist das nämlich …«

Gräfe nickte. Ihm war's egal. Eigentlich war ihm im Augenblick alles egal.

Er hob das Glas: »Prost!«

»Prost, Kumpel. Aber wart mal, bis du die Rechnung siehst. Eines haben se hier: Dufte Mädchen, wirklich geile Hühner …«

Leiser wurde das Saxophon, die Musik noch eindringlicher, langsamer, sinnlicher, und dann – Gräfe nahm den Kopf hoch.

Eine zitternde Frauenstimme. Sie stöhnte. Dieses einzigartige, unverkennbare Stöhnen … Und nun: »Ja, ja … bitte, Liebling … Oh, tu's doch … nochmal … bitte …«

Da wandte Gräfe doch den Blick zur Bühne.

Es war nicht eine, es waren zwei Frauen. Beide trugen goldene Sandaletten mit endlos hohen Absätzen – und sonst nichts.

Eine der beiden Frauen, die sich dort umschlungen hielten, war blond, die andere schwarz. Ihre Schamhaare hatten sie rasiert, so daß sie mit der Glätte ihrer Körper, über die das rosafarbene Licht in weichen Wellen spülte, fast wie Statuen wirkten.

Die Blonde war groß, sehr groß. Schlank und wunderschön. Sie hatte eine kleine, in einer Aufwärtskurve nach oben gerichtete Brust und langes, glattes Haar. Ihr Mund aber stand wie in Erregung offen. Und ihre Hüften bewegten sich. »Mehr noch … Liebling … oh du … es tut mir so gut …«

Das weizenfarbene Haar schwang hin und her, als sich ihr Kopf in gespielter Ekstase zurückbog, während der Mund der anderen über ihre Brustwarzen, über die Haut, die Lenden wanderte …

Gräfe hatte das Gefühl, als ziehe ein Knoten seinen Hals zusammen. Das gibt's nicht! dachte er. Das darf's nicht geben … das ist doch …? Britte ist das!

Nein, Britte war es nicht, aber ein exaktes Ebenbild, ein Zwilling, eine haargenaue Kopie.

Mit dem Ellbogen warf er das Bierglas um. Es kollerte über die Theke und fiel auf den Boden. Das Barmädchen kam schon mit dem Lappen gerannt.

»Oh, nein! Nein, nein, bitte nicht …«, stöhnte es auf der Bühne. »Doch, tu's doch!«

Bier tropfte über Gräfes Ellbogen. »Nervös, Kumpel? Was haste denn?«

»Zahlen!« sagte Gräfe, riß einen Fünfzigmarkschein aus der Brusttasche der Jacke, warf ihn auf den Tisch, ohne Antwort oder Restgeld abzuwarten.

»Noch einer, der spinnt«, hörte er, und dann war er draußen. Er drückte den Rücken gegen eine Hausmauer, starrte in den Regen und fühlte sich hilflos im Gefühl von Ohnmacht und Einsamkeit.

Britte! – Dieser zurückgespannte Hals, das verzückte Gesicht. Genauso hatte sie ausgesehen, wenn sie Liebe machten. Genauso …

Und jetzt? Ihn gab's für sie nicht mehr, das ›jetzt‹ hieß für Britte: Lawinsky. Hubert Lawinsky. Ein geschniegeltes, halb schwules Schwein von Purser. Dich aber hat sie abserviert, kurz, wie mit einem Skalpellschnitt. Mit der ganzen Entschiedenheit, zu der nur Frauen fähig sind: »Tut mir leid, Rolf – aber du hast ja dein Motorrad …«

Richtig. Hatte er. Er schwang sich in den Sattel, ließ die BMW an, brachte sie zurück auf die Straße, wo sie hingehörte, drehte auf, raste wie ein Irrer die lange Gerade hinab, trieb die BMW immer schneller, immer höher, hundertvierzig, hundertfünfzig, schneller – hundertsiebzig, hundertachtzig … Na, siehst du! Er hätte es schreien können: Da sind wir wieder!

Doch dann sprang ihn aus dem grauen, dunstigen Dunkel etwas an. Er sah das Warnlicht erst, als alles schon zu spät war. Sah noch ein: ›Achtung – Bauarbeiten‹. Rotweiße Bretter sah er, dahinter eine schwarznasse Zeltleinwand. Und einen Bauwagen.

Rolf Gräfe fühlte sich hochgehoben, so, als habe die Faust eines Riesen ihn in die Nacht geworfen. Endlos schien er zu dauern, dieser Flug, begleitet von einem seltsamen Lustgefühl – dann schlug er auf.

Sein Körper kreiselte ein halbes Dutzend mal um sich selbst, schlitterte über Asphalt, an nassen Autos vorüber, schlug an Bordsteinen auf, rutschte noch immer weiter. Und als das endlich vorüber war, blieb Rolf Gräfe trotz allem bei Bewußtsein. Da hast du's! dachte er. Es mußte so kommen. Scheiß-Kaff! Diese Scheiß-Welt! Scheiß-Leute! Alle haben dich verraten. Erst Fritz, dann Britte …

Und dann kam der Schmerz, schoß aus dem rechten Bein hoch ins Gehirn und ließ ihn schreien. Rolf Gräfe schrie laut und endlos. Er vernahm den Schrei, doch der gehörte wohl nicht zu ihm …

Die Jagdhütte lag versteckt unter großen, rotleuchtenden Ahornbäumen.

Als Hubert Lawinsky, Purser der australischen Fluglinie ›Quantas‹, auf die Terrasse trat, sog er tief die saubere, kühle Luft ein. Der See mit seiner Schilfinsel – wirklich wunderschön! Weit dahinter die Bergkette der Appalachen.

Im Grunde machte sich Hubert nur selten Gedanken über die Schönheit einer Landschaft oder die Natur überhaupt. Oft genug wußte er gar nicht mal so richtig, wo er sich eigentlich befand. Es war doch immer das gleiche: Nach einer Landung kommen irgendwelche Freunde und schleppen dich ab. Und schöne Flecken gibt's schließlich überall.

Aber diese Blockhaus-Siedlung, die Mortimer Barry im Südosten Floridas für die streß- und hitzegeplagten Reichen von Miami hochgezogen hatte, beeindruckte ihn doch.

Da kam Mortimer auch schon. Mit einem riesigen Martini in der Hand.

»Auch einen, Hubert?«

»Hör mal, alter Junge, wie stellst du dir das vor? Gestern haben wir uns bis drei Uhr in der Früh vollaufen lassen.«

»Gerade deshalb. Den Kater niederkämpfen.«

Lawinsky lachte. »Kämpf du mal allein. Ich kann's mir nicht leisten. Heute nachmittag startet mein Vogel nach Washington. Und dann geht's wieder über den Pazifik nach Tokio …«

Den Bauunternehmer Mortimer Barry hatte Hubert Lawinsky in einem der Trump-Kasino-Hotels von Miami Beach kennengelernt. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden, und das um so mehr, als es Hubert schon am ersten Abend gelang, Barry eines der hübschesten Mädchen der ›Quantas‹-Flotte zuzuspielen: Florence Winters. Und Florence wiederum betrieb ihre Bettspielchen mit hochprofessionellem Können. Hubert wußte das, denn er hatte es selbst mit ihr durchexerziert.

Im allgemeinen bevorzugte Florence vor allem reiche Partner und bewies damit praktischen Sinn. Ihr von Hubert vermittelter Einsatz bei Barry war der Freundschaft zwischen beiden Männern jedenfalls sehr gut bekommen und gipfelte in Golf- und Pokerrunden, Sex-Partys und gemeinsamen Ausflügen.

Nun sollte für Lawinsky ein besonderer Gewinn aus dieser Beziehung abfallen: Barrys Geschäftsfreund Ricco Martin wollte Geld nach Europa verschieben. Und sowas lohnt sich immer.

»Wo bleibt denn Ricco?« fragte Lawinsky.

Mortimer deutete mit dem Glas zum Wald: »Da kommt er doch schon. Und pünktlich wie immer.«

Ein schwerer, leiser Continental brach durch die Büsche, die die Seiten des Waldwegs säumten. Ein Mann stieg aus: Schwarzes, zurückgekämmtes Haar, die Sonnenbrille im gebräunten Gesicht, ziemlich schmal, eine vorspringende Nase.

»Ist er das?«

Mortimer nickte.

»Sieht ja aus wie ein Mafioso.«

»Na«, grinste Barry, »gehören wir nicht alle ein bißchen zur Mafia?«

Ricco Martin hatte es eilig. Das Gespräch zwischen den drei Männern dauerte nicht länger als zehn Minuten. Es ging darum, daß die Summe von 135.000 Dollar nach Frankfurt gebracht und dort irgendwo auf eine Bank eingezahlt werden sollte. Doch diese Einzahlung brauchte Hubert nicht einmal selbst zu übernehmen; er hatte den Umschlag mit dem Geld lediglich einem bestimmten Mann auszuhändigen. Schwarzgeld natürlich. ›Geld waschen‹ nennt man sowas wohl. Und 5.000 Dollar fielen dabei für ihn ab. Fünf Riesen für einen so einfachen Briefträger-Job! Gar nicht so übel, phantastisch sogar!

»Sie haben eine Menge Vertrauen in mich«, sagte Hubert Lawinsky beeindruckt.

»Überhaupt keines. Ich vertraue niemandem. Ich spiel immer auf Nummer sicher.« Der Mund Martins wurde noch dünner, als er es ohnehin schon war: »Ich arbeite nie ohne Garantie.«

»Ach ja?«

»Die Garantie bin ich, alter Junge«, grinste Mortimer Barry. »Und du wirst mir dafür das nächste Mal eine zweite Florence besorgen. So läuft unser Geschäft.«

Sie lachten alle. Sogar Ricco.

Später dann, in der Maschine, die Lawinsky von Atlanta nach Washington brachte, zog er das Blatt Papier mit der Adresse aus der Brieftasche, das ihm Martin übergeben hatte.

›Hotel Merlin‹, las er. ›Frankfurt am Main.‹

Und einen Namen: ›Stefan Radonic‹.