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Das Gespräch, das Kezah ibn Menra mit Los Alamos führte, war kurz. Von einer Sekretärin erfuhr er, daß Prof. Dr. Paerson plötzlich erkrankt sei und der Arzt verboten habe, ihn zu stören. Dr. Bouth sei nicht in der Stadt, sondern befände sich mit Prof. Dr. Shuster außerhalb Los Alamos.

Ibn Menra nahm einen kleinen Schluck seines starken Kaffees und blickte wieder auf die Karte, die vor ihm lag. Es gibt gar keine andere Möglichkeit – sie müssen sich hier am Emmons Peak verborgen halten, dachte er. Und solange Mabel Paerson in der Hand der Russen ist, haben sie den größten Vorteil für sich und vielleicht die Möglichkeit, die Pläne in die Hand zu bekommen. Das würde Spanien zurückwerfen, das würde alle Forschungen und Erfolge Dr. Sebaios und Dr. Ebberlings umsonst machen; es wäre ein Unglück, über dessen Folgen sich niemand ein Bild machen kann.

»Sagen Sie bitte Herrn Dr. Bouth, daß ich ihn sprechen muß. So schnell als möglich.« Ibn Menra legte einen beschwörenden Ton in seine Stimme. »Ich bin in der Lage, Fräulein, Herrn Dr. Bouth genaue Angaben über Miß Paerson zu machen!«

»Was sagen Sie da?!« rief die Telefonistin. »Wer sind Sie denn?!«

»Was nützt Ihnen mein Name, Fräulein? Was kann er Dr. Bouth nützen? Ich weiß – das ist genug. Bitte, bestellen Sie: Ich erwarte Dr. Bouth morgen früh um acht Uhr allein – bitte, merken Sie sich – allein auf der Straße nach Chamita. Er wird dort einen hellblauen Nash finden. Das ist alles, Fräulein.«

Er legte den Hörer auf. Dann packte er seine Sachen, nicht in Eile, sondern gemächlich, zahlte seine Zeche und fuhr von der Herberge ab.

Gemütlich fuhr er durch Santa Fé, kaufte bei einem spanischen Obsthändler zwei gute, automatische Revolver und einen kleinen Koffer voll gefüllter Magazine, ließ sich in der Garage des Obsthändlers an dem breiten Rückfenster seines Wagens herunterklappbare Stahlplatten anbringen und fuhr dann in der Nacht über Santa Fé hinaus nach Chamita, wo er in einer Wirtschaft am Stadtrand den Morgen erwartete.

Um halb acht Uhr morgens rollte er die Straße nach Santa Fé wieder hinab und wartete an einer Kurve.

Kritisch beobachtete er die Wagen, die an ihm vorbeirollten. Aber sie nahmen keine Notiz von ihm. Die Fahrer und die Insassen fuhren vorbei. Ibn Menra war zufrieden. Er hat die Polizei nicht verständigt, dachte er erfreut. Er ist klug genug, um zu wissen, daß es sinnlos ist.

Er stieg aus dem Wagen und ging auf der Straße hin und her. Sein heller Anzug leuchtete in der Sonne. Die schwarzen, krausen Haare glänzten fettig.

Von Santa Fé her brummte ein schwerer Ford heran. Knirschend und kreischend hielt er mit einem Ruck vor dem Nash. Ein großer, schlanker Mann sprang heraus. Sein blasses Gesicht war übernächtigt und von Sorgen zerstört. Er stürzte auf Ibn Menra zu und blieb drei Schritte vor ihm stehen.

»Wollten Sie mich sprechen?« keuchte er. Sein Hemd war offen, über die dunkelhaarige Brust lief ein Schweißbach.

Kezah ibn Menra nickte grüßend. »Dr. Bouth?« fragte er.

»Ja!«

»Mein Name ist unwichtig.« Ibn Menra ging zu seinem Wagen zurück, Dr. Bouth folgte ihm. An der Tür des Nash blieben sie stehen. »Ich habe Ihnen am Telefon sagen lassen, daß ich weiß, wo sich Mabel Paerson befindet.«

»Ja!« Dr. Bouths Atem ging stoßweise vor Erregung. »Sie haben sie gesehen?«

»Das nicht. Aber ich weiß, wo die Flugzeugtrümmer liegen, die die Ausrüstung der Russen verbergen. Und es ist sicher, daß Gregoronow und Zanewskij sich in der Nähe befinden.«

»Ich habe heute nacht mit Zanewskij gesprochen.«

Ibn Menra nickte. »Ich dachte es mir. Er verlangt die Pläne der neuen Paerson-Spaltung?«

»Ja.«

»Und Sie haben sie ihm versprochen?«

»Nein! Ich weiß nicht, was ich tun soll! Er will Mabel erschießen, wenn er innerhalb vier Tagen nicht die Unterlagen hat. Und ich weiß, daß er sie nie bekommen wird! Nie!«

Ibn Menra schaute Dr. Bouth groß an. Armer Kerl, dachte er. Gehetzt, vernichtet, weil Staaten ein Wettrennen auf den Tod veranstalten. Er lehnte sich gegen die Wagentür.

»Zanewskij wird Miß Mabel töten, unweigerlich.«

»Das weiß ich.« Dr. Bouth fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Warum reden Sie so herum«, stöhnte er. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Ibn Menra kniff die Augen zusammen. Es war, als ziele er mit einem unsichtbaren Gewehr.

»Was ist Ihnen dieses Wissen wert?!«

Dr. Bouth taumelte zurück. Dieser kurze Satz war sein Zusammenbruch. Erpressung, dachte er, mehr im Unterbewußtsein, als an der Oberfläche, die zu Handlungen nicht mehr bereit war. Alles nur Erpressung, wohin man kommt. Mein Gott, was sind dies bloß für Menschen.

»100.000 Dollar«, sagte er leise. »Der Staat hat heimlich 100.000 Dollar geboten.«

»Geld!« Der Marokkaner machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was wollen Sie mit Geld, Doktor Bouth? Sie sollen in fünf Stunden Mabel wiederhaben, wenn Sie mir sagen, wo die kritische Größe der neuen Spaltung liegt.«

»Was?!« Dr. Bouth duckte sich wie unter einem Schlag. Er sah den dunkelhäutigen Mann wie einen Mörder an, der bereit ist, jede Sekunde zuzustoßen. »Auch Sie?« keuchte er. »Auch Sie? Welchen Staat vertreten Sie?«

»Ich glaube, es ist hier nicht der Platz, um Völkerkunde zu treiben.« Ibn Menra zeigte auf eine Karte, die neben dem Steuerrad lag. »Dort, auf dieser Karte, liegt der Ort, wo Miß Paerson jetzt ist. Wir fahren von hier aus hin, wenn Sie mir meinen Wunsch erfüllen!«

»Um dies zu verraten, brauche ich Sie nicht!« Dr. Bouth brüllte auf wie ein Tier. »Für diesen Wunsch bekäme ich sie auch von Zanewskij frei!« Und plötzlich stürzte er auf den Marokkaner, klammerte sich an ihm fest, preßte seine Arme um seinen Körper und drückte ihn mit unmenschlicher Kraft gegen das Auto. »So!« schrie er. »So! Jetzt sagen Sie mir, wo Mabel ist! Sie sagen es mir, oder ich halte Sie fest, bis ein Wagen kommt und Sie zur Polizei bringt! Ich werde solange schreien, bis man aufmerksam wird!« Er preßte Ibn Menra über den Kotflügel. Er lag auf ihm und drückte die Arme des Marokkaners nach hinten. »Wo ist sie?« brüllte er.

Ibn Menra war einen Augenblick verblüfft. Dann lächelte er, lächelte mit jener inneren Freude, die ewig rätselhaft sein wird. Er bog das Knie empor, ließ sich nach hinten fallen und schleuderte Dr. Bouth im Fallen von sich auf die Straße. Mit einem Ächzen prallte der Angreifer auf den Asphalt, erhob sich taumelnd und wollte mit der letzten Anstrengung seiner Willenskraft zurück zu dem blauen Nash. Da ergriff ihn Ibn Menra, stieß ihm die Faust unter das blutende Kinn und warf ihn nach hinten auf den Rücksitz des Wagens. Ohne sich umzublicken, schwang er sich darauf hinter das Steuer und fuhr in schnellem Tempo den nahen Colorado-Bergen entgegen.

Auf der Straße blieb ein Schuh zurück. Staubig, mit zerrissenen Bändern. Er lag mitten auf der Fahrbahn, auf der eine Viertelstunde später Major Mys mit drei Wagen anhielt und heraussprang.

Major Mys zögerte nicht. Er hatte außer Sichtweite gewartet und war verabredungsgemäß nach zwanzig Minuten gekommen, um zu sehen, wie die Unterredung ausgelaufen war. Nun sah er den Wagen Dr. Bouths stehen, sah den Schuh auf der Straße liegen, die Spuren des Nash und eines Kampfes. Blutspuren führten quer über die Fahrbahn.

Die Kurzwellensender der Polizeiwagen begannen zu singen.

»An alle … an alle …! Straßen sperren nach Galina, Taos, Monte Vista. Sämtliche Zufahrtsstraßen nach Colorado, Utah und Arizona abriegeln. Legt Sperren! Wagen ist ein hellblauer Nash. Große Geschwindigkeit.

Macht von den Waffen Gebrauch. Im Wagen befindet sich Dr. Bouth. Nur auf den Fahrer schießen oder in die Reifen.

An alle … an alle …!«

Major Mys jagte über die Straße. An der Kreuzung vor Gallina erfuhr er, daß ein hellblauer Nash vor zehn Minuten in Richtung Farmington durchgebrochen sei. Die Polizei, die gerade die Straße sperren wollte, wurde einfach umgefahren, bevor sie schießen konnte.

Major Mys fluchte. Er sah, wie die Bahren mit den überfahrenen Polizisten in die Sanitätswagen geschoben wurden.

»Tote?« schrie er.

»Nein. Nur Sergeant Williams ist schwer verletzt, aber außer Lebensgefahr.«

»Weiter!« Die Wagen sprangen wieder an. Wie hungrige Wölfe nahmen sie die Hetze wieder auf.

Major Mys studierte die Karte. »Sie können nur den Weg in die Cañons nehmen«, sagte er zu dem Fahrer neben sich. »Es ist für sie die einzige Möglichkeit, in einem Seitental zu verschwinden. Wenn wir nur wüßten, ob Dr. Bouth nur mit einem oder mit zwei gesprochen hat! Verdammte Schweinerei …«

Der hellblaue Nash schleuderte durch die Kurven. Ibn Menra war ein guter Fahrer. Er lag über dem Steuerrad und ließ die Straße nicht aus den Augen. Der Motor sang ruhig, gleichbleibend. Seine Stärke zitterte durch den ganzen Wagen.

Vor Farmington bog ibn Menra nach dem Mesa Verde National-Park ab. Die Pioniere, die gerade eine Sperre legten, sprangen zur Seite, als der hellblaue Pfeil herangerast kam. Er durchbrach krachend die Holzlatten, ließ seinen rechten Kotflügel zerschellen und schoß weiter. Noch ehe die Pioniere ihre Gewehre durchluden und in Anschlag bringen konnten, war der Wagen außer Schußweite. Die wenigen Schüsse, die ihm nachschwirrten, prallten an der heruntergelassenen Panzerung wirkungslos ab.

Zehn Minuten später raste Major Mys heran. Er donnerte die Pioniere herunter und ließ an alle Landpolizisten in Colorado und Utah funken.

»Sofort schießen! Rücksichtslos!«

Um die gleiche Zeit brummte ein anderer Wagen über die Straße nach Santa Fé. Ein starker, langer Studebaker. In seinem Inneren kreischte der Lautsprecher die Meldungen Major Mys.

»Dr. Bouth entführt! Hellblauer Nash. An alle – sofort schießen.«

Heinz Behrenz biß die Zähne aufeinander. Schon wieder zu spät, dachte er. Wie machen das die Russen bloß … erst Mabel, jetzt Dr. Bouth. Man kann von ihnen lernen. Sie haben gute Agenten, sie verstehen es, die Lage auszunutzen.

Gespannt verfolgte er die Durchsagen der Polizeiwagen. Auf seiner Karte, die unter einem Zelluloidstreifen an das Fenster geklebt war, sah er den Weg des hellblauen Nash.

Nach Colorado, nickte Heinz Behrenz. Natürlich. Dort sind sie sicher, wenn sie rechtzeitig aussteigen und Dr. Bouth in der Wildnis verschleppen.

Der Studebaker jagte nach Norden. Je näher er Santa Fé kam, um so aufgeregter sah er die Fahrer an den Tankstellen stehen. Die Entführung war bekannt geworden, eine Erregung durchzog das Land.

Atomspionage. Männer mit dem Tod im Nacken.

Der hellblaue Nash brach durch. An der Kreuzung hinter Cortez schleuderte er unter den Schüssen der Polizisten. Rücksichtslos raste er in die Kette der Männer, zermalmte sie und streute aus einer Düse neben dem Auspuffrohr Tränengas unter die Beamten.

Die wenigen, die ihm nachblicken konnten, sahen den blauen Pfeil verschwinden in Richtung auf die Abajo Mountains.

Major Mys wurde still, als er bei Cortez eintraf.

Drei Tote.

Stumm stieg er wieder in seinen Wagen und sah seinen Fahrer an. Dieser senkte den Blick.

»Wir können es nicht schneller, Major«, sagte er leise. »Der Nash ist schneller als wir.«

»Und wenn wir ihn durch ganz Amerika jagen sollten – Smith –, wir müssen ihn bekommen!«

In den Abendblättern erschien mit großen Schlagzeilen die neue Sensation. Auf den Boulevards in Paris, auf der Königsallee in Düsseldorf, im Bundeshaus in Bonn, auf den Grachten in Amsterdam, in den Streets von London und den Gassen von Harlem und Manhattan riß man sich die Zeitungen aus der Hand und las die kurze Meldung.

»Dr. Bouth entführt. Einer der maßgebenden Atomphysiker von Los Alamos.«

Die Rundfunkstationen funkten es hinaus.

In Santa Fé sammelten sich die Reporter der großen Blätter.

Ein hellblauer Nash jagt durch Amerika …

»An alle … rücksichtslos schießen …«

Dr. Hakanaki zuckte empor, als der Lautsprecher in seinem Zimmer in Nagoi die Meldung durchgab. Er rannte an das Telefon und rief General Simanuschi an.

»Ist das wahr?« schrie er außer sich. »Dr. Bouth ist entführt?!«

Der alte General schwieg. Dann sagte er leise: »Es stimmt, Doktor Hakanaki. Wir haben verloren.«

»Und der blaue Nash? Wem gehört der blaue Nash?« Hakanaki klammerte sich an der feuchten Felswand an. Um seine Augen zuckte es.

»Wir wissen es nicht. Aber … aber … es ist nicht Rußland.«

»Nicht Rußland? Aber wer soll es denn sein? Wer hat noch ein Interesse an der neuen Bombe?« stammelte Hakanaki.

»Das wissen wir auch nicht.« Simanuschi schien keinen Ausweg zu kennen. Er hängte ein.

Dr. Hakanaki wandte sich ab. Sein Assistent Dr. Yamamaschi lehnte bleich an der Tür.

»Sofort anrufen«, schrie Hakanaki. »Den unbekannten Deutschen von den Blumenbooten. Sie haben die Nummer, Yamamaschi. Ich werde mit Agent B 12 sprechen.«

»Ein hellblauer Nash«, sagte Dr. Sebaio erfreut und klopfte Dr. Ebberling auf die Schulter. »Wir haben Glück, Kamerad. Es ist unser Wagen.«

Dr. Ebberling lächelte. »Kezah ibn Menra?«

»Ja. Wenn er klug ist, kann er Dr. Bouth nach Spanien bringen.«

»Eine gute Idee.« Dr. Ebberling ging an den Telefonapparat und drehte eine Nummer. Während er wartete, dachte er an die Folgen der plötzlichen Wendung. Doktor Bouth in unserer Hand. Das bedeutete – wenn er schon die amerikanischen Patente nicht verriet – doch eine Verzögerung der Produktion und einen Vorsprung für seine eigenen Forschungen.

»Ja?« sagte er laut. »Ja, hier Ebberling. Guten Tag, General Monzalez. Ich beglückwünsche Sie. Der blaue Nash ist unser Wagen, ibn Menra. Wir haben Doktor Bouth. Schicken Sie bitte sofort ein Flugzeug nach Colorado. Wie, das ist Ihre Sache. Wir müssen versuchen, Doktor Bouth nach Spanien zu bekommen.«

Die Stimme des Generals sprudelte aufgeregt. Dr. Ebberling lachte. Er nickte Dr. Sebaio zu, der am Fenster stand und rauchte.

»Ja, Dr. Sebaio ist auch glücklich. Ich darf Ihnen in dieser Stunde sagen, daß Tanarenia in der Atomforschung jetzt an erster Stelle steht.«

Er legte den Hörer auf. Seine Augen lachten.

»Monzalez schickt einen Düsenbomber nach Amerika. Er will ihn über Kanada unter kanadischer Kokarde einfliegen lassen.«

Heinz Behrenz hatte Santa Fé passiert und jagte durch den beginnenden Abend den Colorado-Cañons zu. Er fuhr nicht die Straße wie ibn Menra, sondern schlug einen Bogen und wandte sich dem Blanka Peak zu, um zu der hohen Gebirgskette Sawatsch Range zu kommen, an deren Fuß eine gute Autostraße einen Bogen schlägt und nach dreihundert Kilometer auf die Straße mündet, die der hellblaue Nash nehmen mußte.

Noch immer tickten die Kurzwellensender der Polizei. Ab und zu tönte die Stimme Major Mys' dazwischen. Er gab die Richtung an, die der blaue Nash genommen hatte.

In den Bergen war es bereits Nacht. Die notdürftigen Sperren, die die Colorado-Polizei errichtet hatte, wurden weggefegt. Auf dem Rücksitz des Wagens lag noch immer Dr. Bouth. Ibn Menra hatte ihn bei einer sekundenschnellen Rast gefesselt und ihm aus einer dünnen, kleinen Spritze ein Betäubungsmittel in die Vene gespritzt. Dann war er weitergerast, mit vollen Scheinwerfern, die er ausdrehte, wenn er an eine Kreuzung kam. Ohne Licht heulte er durch die Nacht, aus dem Dunkel stieß er hervor auf die Polizei, die machtlos dem Untier aus dem Schwarzen gegenüberstand. Ehe sie ihre Scheinwerfer eingerichtet hatte, war der heulende Pfeil in der Dunkelheit entkommen, Angst und Schmerzgeschrei hinter sich lassend.

In ihrer Höhle am Fuße des Emmons Peak saßen Gregoronow und Zanewskij bleich und verstört am Kurzwellensender. Gregoronow nahm die Flüche und Beschimpfungen Professor Kyrills auf und gab sie an Zanewskij weiter.

»Er will uns liquideren«, sagte er ängstlich. Seine von Natur aus grausame Seele pendelte zur winselnden Angst. »Wir sollen Mabel Paerson töten, sie sei jetzt wertlos für uns.«

Zanewskij saß, in sich gekauert, auf seinem Klappstuhl und las die Blätter durch, die ihm Gregoronow reichte. Er gab keine Antwort. Sein Blick war weit … über die Papiere hinweg, obwohl sein Auge auf den Blättern ruhte. Zwischen den Zeilen, aus dem Weiß des Papiers, schälte sich die grüne Küste der Krim.

Das blaue Meer. Die weißen Häuser. Die breite Uferstraße mit den Palmen.

Wie herrlich die Sonne scheint.

Ein Boot plätschert durch das Wasser. Ein weißes, schnittiges Boot mit einem Außenbordmotor. Ein Mann steht am Ruder, in einer weißen Hose, einem blauen Jackett, er lacht eine Frau an, die hübsch und zart vor ihm sitzt. Hinter ihr drängen sich drei Kinder und jauchzen.

»Väterchen, fahr doch schneller«, schreit der eine Junge.

»Nein … nein!« Der zaghafte Iwanow schaut in das Meer.

Und ganz hinten, da hockt Terufina und läßt das Händchen durch die Wellen ziehen.

Und der Mann am Ruder ist glücklich und lacht der jungen Frau in die blauen Augen.

»Ich liebe dich«, sagt er leise, so, daß es die Kinder nicht hören. »Wanda Feodora, du bist so schön …«

Piotre Zanewskij schrak empor. Gregoronow hatte ihn angestoßen und ihm ein neues Blatt gereicht.

»Kyrill will wissen, wem der blaue Nash gehört«, sagte er zitternd. »Wenn du es nicht herausbekommst, wird übermorgen ein Kommissar in die Krim fahren.«

Zanewskij schnellte empor. Starr stand er in der Höhle, ein Baum, der noch einmal den Himmel sehen will, noch einmal die Sonne trinken, ehe er fällt.

Wortlos drehte er sich um und ging in die hintere Höhle. Mit kräftigem Ruck zog er die Bohlentür hinter sich zu.

»Jetzt wird er sie erschießen«, flüsterte Gregoronow. Er starrte auf die dunkle Tür. Da erfaßte ihn ein plötzliches, unwiderstehliches Grauen vor sich und der Umwelt. Er warf den Sender auf die Erde, hörte, wie die Birnen dumpf zersprangen und rannte hinaus in die Schlucht. Keuchend rannte er eine Strecke und warf sich in einem Seitental auf einen Grasfleck.

»Maria hilf«, stammelte er und schlug das russische Kreuz. »Ich habe das nicht gewollt, ich habe … ich habe …« Er warf sich mit dem Gesicht nach unten und heulte wie ein Hund.

Er hatte Angst um sein Leben.

Zanewskij stand vor Mabel Paerson. Sie saß auf dem Klappstuhl und las ein Buch im Schein einer Öllampe. Als sie Zanewskij eintreten sah, legte sie es zur Seite.

Stumm sah sie der Russe an. In seinem Blick lag Verzweiflung. Mabel erkannte sie, und grenzenlose Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zusammen.

»Wie alt sind Sie?« fragte Zanewskij leise.

»Einundzwanzig.« Sie würgte das Wort hervor.

»Einundzwanzig Jahre. Meine Frau ist neunundzwanzig und hat schon drei Kinder. Der Älteste ist zehn Jahre, Terufina, das Kleinste, ist erst drei.« Er sah an die feuchte, Moder ausströmende Decke. »Können Sie sich denken, daß es einen Mann gibt, der ein dreijähriges Kind durch den Hinterkopf schießt?«

Mabel Paerson schauderte zusammen. »Er kann kein Gefühl mehr haben.«

»Gefühl!« Zanewskijs Mund wurde breit. Man wußte nicht, ob er lachte oder weinte. »In einer Pistole war noch nie Gefühl. Und ich liebe meine Frau und die Kinder.«

»Das glaube ich.«

»Ich liebe sie sehr. Mein ganzes Herz hängt an ihnen – darum habe ich kein Herz mehr für andere. Und jetzt wird man sie erschießen …«

»Nein!« Mabel sprang auf. »Das kann man doch nicht.«

»Man kann es, wenn man die Macht hat. Ein fremder Staat hat Doktor Bouth entführt –«, Mabel schwankte, aber das Bett hinderte sie, umzusinken, »– und weil es ein fremder Staat war und nicht ich, werden meine Frau und die kleinen Kinder sterben.« Zanewskijs Nase wurde spitz. »Ich habe den Befehl, auch Sie zu erschießen. Sofort.« Er sah Mabel groß an, mit seinem leeren Blick, in dem nichts mehr von Leben war. »Ich tue es nicht, Miß Paerson, weil ich nicht so sein will wie die Mörder, die meine Frau und meine Kinder morden.« Er legte die Hände ineinander. Es sah aus, als wolle er beten. »Wanda Feodora war eine gute Frau. Sie küßte mich jeden Abend, bevor sie das Licht ausdrehte und sagte: ›Träume von mir, Piotre.‹ Und ich antwortete: ›Ich sehe im Traum immer nur dich, Wandaschka.‹ Dann lachte sie, und mit diesem Lachen schlief sie ein. Und morgens, wenn die Sonne ins Zimmer schien, da tappten zwei nackte Füße durch den Flur. Die Klinke der Tür senkte sich, und Terufina kam herein. ›Papuschka‹ sagte sie mit ihrer hellen Stimme, ›Papuschka, darf ich zu dir kommen?‹ Und ich holte sie zu mir ins Bett und küßte sie auf die kalte Nasenspitze. Da lachte sie immer, und sie legte die Arme um meinen Hals und sagte: ›Papuschka … ich liebe dich so …‹ Und ich drückte sie an mich und streichelte über ihre weichen Haare. Sie waren wie Seide … wie Seide … meine Terufina …«

Ein Schluchzen, ein weinender Schrei brach durch die verzogenen Lippen. Zanewskij fiel nach vorn auf den Boden. Wo sein Kopf lag, sickerte Blut hervor.

Er rührte sich nicht mehr.

Entsetzt prallte Mabel zurück. Dann sprang sie über die liegende Gestalt hinweg, rannte aus der Höhle, riß in der Außenhöhle den Gürtel, der mit den beiden Revolvern an der Tür hing, an sich und rannte dann weiter … durch die Schlucht, durch die Cañons, hetzte an einem Bach vorbei, durchwatete ihn, kletterte am Ufer einen steilen Pfad hinauf und rannte über das Hochplateau weiter.

Ihr Atem flog. Ihre Füße wurden wund. Sie bluteten. Die Sohlen sprangen an den spitzen Steinen auf. Sie stieß sich das Knie wund, als sie einen Abhang hinabsprang. Das Blut lief ihr in die Schuhe und gerann an ihrem Bein in langen, breiten Streifen.

Sie merkte es nicht. Sie spürte keinen Schmerz.

Sie rannte … rannte … rannte …

Berge, Schluchten, Flüsse, Täler, Abhänge …

Ihre Füße schnellten nach vorn. Die blutigen Sohlen glitten über das Gestein. In ihrem eigenen Blut rutschte sie aus und fiel auf die frische Kniewunde. Der Stich, der durch ihren Körper jagte, war vergessen, als sie sich wieder aufrichtete und weiterrannte.

Nicht umsehen … nicht rasten … nicht liegenbleiben.

Sie warf den Kopf weit in den Nacken. Das Herz stach in der Brust … das Herz …

Sie taumelte auf eine Straße. Eine Autostraße.

Mit einem Schluchzen sank sie auf der Fahrbahn zusammen.

Frei!

Es gibt kein Wort, das größer ist als dieses.

*

Der himmelblaue Nash war von der Straße abgebogen und folgte einem schmalen, winkligen Weg, der durch das Gebirge dem White River zuführte.

Es war Nacht. Tiefe, schwarze Nacht. Die Sperren waren durchbrochen. In diesen Seitentälern, über die holprigen Wege durch die Schluchten, hatte man keine Polizei aufgeboten. In langsamerem Tempo schlängelte sich der Wagen mit abgeblendeten Lichtern durch die Felsenspalten.

Kezah ibn Menra war müde. Die Hetzjagd hatte ihn mehr angegriffen, als er sich eingestehen wollte. Vierzehn Stunden saß er jetzt hinter dem Steuer und jagte durch die Berge. Der Benzintank war leer, der Reservetank zeigte über die Uhr nur noch fünf Liter an. Zwar lagen im Kofferraum noch fünfzig Liter, aber sie waren nur für den äußersten Notfall gedacht.

Westlich der schmalen Straße floß in seinem Steinbett, tief eingeschnitten, der Colorado. Ab und zu tauchten im Scheinwerfer des Wagens die bizarren Formen der Cañons auf, schmale tiefe Schluchten mit senkrechten Wänden, ausgesägt in Jahrmillionen von den Wassern, die rauschend auf ihrem Grund flossen.

In einem Seitental hielt ibn Menra den Nash an und öffnete die Tür.

Er horchte. Fast fünf Minuten lang.

Stille. Nur das Rauschen des Flusses.

Kein Motor, kein fernes Summen.

Der Wind strich über die Tafelberge. Das Gras raschelte. Dürr, ausgetrocknet im heißen Sommer, gelb.

Ibn Menra schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens an und wandte sich um.

Dr. Bouth lag auf dem Hintersitz, die Hände auf dem Rücksitz zusammengeschnürt. Die Platzwunde an der Stirn war dick verkrustet und schmutzig. Sie mußte schmerzen, aber in dem blassen Gesicht zeigte sich keine Regung. Die ganzen Stunden hatte er wortlos gelegen und die Jagd verfolgt. Auch jetzt, wo ibn Menra zu ihm hinüberkletterte und aus einem Verbandkasten Zellstoff und Alkohol holte, eine Binde und Penicillinpuder, schwieg er und ließ sich die Wunde auswaschen, sauber verbinden und bequemer hinlegen.

Der Marokkaner arbeitete schnell und geschickt. Unter seinen Händen ließ der stechende Schmerz nach, der Puder kühlte, und auch das Klopfen des Blutes in der Schläfe ließ etwas nach.

Dr. Bouth dehnte sich, so gut er es konnte.

»Sie waren unvernünftig, Doktor Bouth«, sagte ibn Menra, indem er das Verbandzeug wieder in den Kasten packte. Es waren die ersten Worte, die er seit vierzehn Stunden sprach. »Ich habe Ihretwegen bestimmt einige Polizisten zusammenfahren müssen und habe mir ein Anrecht auf den elektrischen Stuhl erworben.«

»Da gehören Sie auch hin!« sagte Dr. Bouth hart. Das Sprechen fiel ihm schwer, er mußte auch auf den Mund gefallen sein. Seine Zunge war dick und schwer.

»Das ist unhöflich von Ihnen, so etwas zu sagen.« Ibn Menra zündete sich zwei Zigaretten an und schob eine davon Dr. Bouth zwischen die geschwollenen Lippen. Zwar beizte der Tabakqualm, aber gierig sog Dr. Bouth das Nikotin durch die Lunge. Er wurde ruhiger, klarer. Seine Augen verloren das Flimmern. Opium, dachte er. Der Mann hat mit Opium präparierte Zigaretten. Sie sind köstlich in dieser Lage. So etwas muß man sich merken.

»Ich habe Sie nicht entführen wollen«, setzte ibn Menra das Gespräch fort. »Ich wollte Ihnen wirklich helfen. Erst, als Sie mir mit der Polizei drohten, konnte ich nicht anders handeln. Hoffentlich sehen Sie es ein?«

»Wohl kaum.« Dr. Bouth ließ die Zigarette auf den Lippen tanzen und schnippte so die Asche ab. Sie fiel auf seinen schmutzigen Anzug. »Sie haben mich in einer verzweifelten Lage erpressen wollen. Sie wollen das Atombombengeheimnis Prof. Paersons. Das wollen die Russen auch. Ich brauchte also dann Sie nicht, um Mabel zu befreien.«

Ibn Menra schüttelte den Kopf. »Glauben Sie wirklich, daß Gregoronow und Zanewskij Ihre Braut freigegeben hätten, wenn Sie ihnen die Pläne überreicht hätten? Seien Sie doch nicht so naiv, Doktor Bouth! Man hätte die Pläne, Mabel, Sie, Prof. Paerson und alle anderen systematisch ausgeschaltet. Auf gut russisch: liquidiert! Was das heißt, wissen Sie hoffentlich. Nur der tote Mann ist gefahrlos, sagt man in Asien.«

»Zanewskij machte keinen schlechten Eindruck. Er ist selbst unter Zwang.«

»Das sind wir alle mehr oder weniger. Das ist unser Beruf. Man schickt keinen Menschen als Agenten in die Welt, ohne sich seiner Person durch irgendwelche persönlichen Werte zu sichern. Bei mir ist es meine Mutter. Man kennt keine Gefühle im Staatsinteresse.«

Dr. Bouth schloß die Augen. Die Opium-Tabakmischung erzeugte ein wohliges Gefühl. »Ich habe Sie schon einmal gefragt: Welches Land vertreten Sie?«

»Ist das so wichtig?«

»Das nicht. Aber im Interesse des fair play wäre es nett, es zu wissen.« Dr. Bouth sah ibn Menra kritisch an. »Sie sehen aus wie ein Türke oder Ägypter. Jedenfalls sind Sie Orientale.«

»Marokkaner.«

»Ach!« Dr. Bouth richtete sich auf, so gut es ging. »Hat Frankreich auch Interesse?«

Ibn Menra lächelte. »Ich weiß nicht, Doktor Bouth. Ich bin Marokkaner. Das genügt. Es wäre denkbar, daß – sagen wir – Schweden sich eines Marokkaners bedient, um Spionage zu treiben. Warum muß es gerade Frankreich sein?«

»Ach so.« Dr. Bouth ließ sich zurücksinken. »Verzeihen Sie. Ich denke wirklich etwas naiv.« Er stieß die zu Ende gerauchte Zigarette mit der Zunge aus dem Mund und ließ sie zu Boden rollen. Dort trat sie ibn Menra aus. »Und was haben Sie jetzt mit mir für Pläne?«

»Ich will ehrlich sein. Gar keine. Ich werde Sie zunächst bei mir behalten. Allein schon die Aufregungen über Ihr Verschwinden kann uns nützlich sein.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Möglich, Dr. Bouth. Es freut mich, daß unsere Karten so gut gedeckt sind, daß man sie nicht einsehen kann.« Ibn Menra stellte das Radio an. Leise Tanzmusik füllte den schwach erleuchteten Raum aus. »Ich komme Ihnen entgegen«, fuhr ibn Menra fort. »Ich nehme Ihnen Ihre Fesseln ab und lasse Sie frei herumlaufen, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, keinen Fluchtversuch, auch bei Begegnungen mit anderen Autos, zu unternehmen.«

Dr. Bouth biß die Zähne zusammen. »Dieses Ehrenwort kann ich Ihnen nicht geben«, zischte er. »Ich werde ausbrechen, wann und wo ich kann.«

»Schade.« Der Marokkaner drehte das Radio lauter. »Ich freue mich über Ihre Ehrlichkeit, Doktor Bouth. Nur, sie erleichtert nicht Ihre Lage.« Das Radio setzte plötzlich mit der Tanzmusik abrupt aus, und eine klare, männliche Stimme sprach. Hart klangen die Worte in den stillen Wagen.

»Wir unterbrechen unsere Sendung für eine wichtige Durchsage: Wie uns von der Regierung mitgeteilt wird, ist die Verfolgung des hellblauen Nash, mit dem der Physiker Dr. Bouth aus Los Alamos entführt wurde, abgebrochen worden. Der Wagen wurde zuletzt auf der Straße nach Price in Utah gesehen. Major Mys, der die Verfolgung leitete, verlor ihn aus den Augen. Da der Nash Price und die anderen Straßensperren nicht passiert hat, wird angenommen, daß er auf Felsenwegen in die Coloradoberge geflüchtet ist. Landpolizei und Pioniere kämmen seit Stunden die Cañons durch. Die Regierung hat wegen der außerordentlichen Bedeutung der Verschleppung, an der ausländische Interessengruppen beteiligt sind, für die Entdeckung von Dr. Bouth und Mabel Paerson eine Belohnung von 250.000 Dollar ausgesetzt. Das Außenministerium in Washington hat diplomatische Schritte unternommen. Mit dem Tod der beiden Entführten muß gerechnet werden. Die Bevölkerung wird gebeten, tatkräftig mitzuhelfen. Jeder Hinweis ist wichtig. Für die Gebiete Utah, Colorado, Idaho und Nevada wurde Polizeiaufsicht angeordnet.« Es knackte im Radio. »Wir setzen unser Musikprogramm fort …«

Die Rhythmen geisterten wieder durch die stille Nacht.

Ibn Menra sah Dr. Bouth nickend an.

»Ich könnte mir die 250.000 Dollar verdienen, Doktor Bouth. Aber was mir nicht gefällt, ist, daß man mit Pionieren diese Felsen hier durchkämmt. Ich glaube, wir steigen aus und wandern zu Fuß weiter, hinein in die Wildnis des White River. Leider muß ich Ihnen dann einen Knebel anlegen.«

»Ich werde nicht wie ein Waschweib schreien«, sagte Dr. Bouth ärgerlich.

»Um so besser. Das freut mich.« Ibn Menra löste die Fußfesseln Dr. Bouths und schob ihn auf die Straße. Dort machte er einige Kniebeugen und trabte hin und her, das stockende Blut in den Gliedern wieder in Fluß zu bringen. Der Marokkaner verbrannte unterdessen alle Papiere, die im Wagen lagen, zerstörte die Rundfunkanlage und zerriß mit einer Zange alle Kabel im Motorraum. Dann nahm er einen Rucksack aus dem Kofferraum, schnallte ihn sich um und faßte Dr. Bouth unter.

»Kommen Sie, Doktor Bouth. Den Wagen lassen wir als Zierde hier. Major Mys wird sich freuen, wenigstens den Wagen zu haben. Wenn er ihn findet, sind wir längst zwei kleine Sandkörner im Riesengebiet der Cañons. Und es wäre ein verdammter Zufall, wenn er gerade diese beiden Körner auflesen würde.«

Langsam kletterten sie auf steilen Pfaden in die Berge hinein. Dr. Bouth voraus, in der Richtung, die ihm ibn Menra angab.

*

Im Außenministerium in Washington lag, zum allgemeinen Erstaunen, die Antwortnote aus Rußland schon vor. Sie war kurz und wie immer negativ.

»Die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken Rußlands bedauert, zu dem Vorfall der Entführung Mabel Paersons aus Los Alamos durch zwei Angehörige der sowjetischen Republik nicht Stellung nehmen zu können, da es sich nach genauen Nachforschungen ergeben hat, daß es sich um eine rein private Angelegenheit handelt, die nicht zum Bereich des sowjetischen Außenministeriums gehört. Die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken Rußlands lehnt es schärfstens ab, mit diesen Ereignissen in Zusammenhang gebracht zu werden.«

General McKinney und der Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium sahen sich an.

»Einfach, klar und billig«, sagte McKinney giftig. »Bitte, beweisen Sie den Herren in Moskau das Gegenteil.«

»Wir rennen gegen eine Wand!« Der Staatssekretär hob beide Schultern. »Lösen Sie das Problem intern, McKinney. Da uns Rußland mitteilt, daß es sich um eine private Angelegenheit handelt, brauchen Sie keine Rücksicht mehr zu nehmen. Ob die Russen oder der hellblaue Nash … rücksichtslos, General McKinney!«

Der General lachte bitter. »Erst haben! Major Mys hat den hellblauen Nash gefunden, in den Colorado-Bergen. Verlassen. Unbrauchbar gemacht. Aber von Dr. Bouth und dem oder den Entführern keinerlei Spuren. Von Mabel Paerson überhaupt nichts! Es ist zum Verzweifeln.«

Der Staatssekretär spielte mit den Akten auf seinem Tisch. Man sah, daß er seine Nervosität nicht mehr beherrschen konnte.

»Und was macht Prof. Paerson?« fragte er stockend.

»Prof. Paerson hat sich mit Gewalt aus dem Bett, das ihm Prof. Shuster zudiktiert hatte, entfernt. Er steht seit gestern nacht im Labor und in den Uranbrennanlagen und kennt keine Ruhe mehr! ›Ich werde meine Spaltung durchführen!‹ soll er geschrien haben! ›Und ich werde sie so durchführen, daß ich die ganze Menschheit wegfegen kann!‹ Sein plötzlich aufbrechender Haß gegen den Menschen ist elementar, grenzenlos. Er hört auf keine Worte der Vernunft mehr, er ist nicht einzudämmen … er hat die Türen der Labors, die man versperrte, aufgebrochen. ›Lassen Sie mich!‹ hat er die Ingenieure angebrüllt, die ihn halten wollten. ›Ich habe meine Tochter verloren und meinen besten Mann. Ich habe die Pflicht, für dieses Opfer etwas zu leisten!‹ Und dann stand er an den Cyclotronen und beobachtete die Kettenreaktionen. Jede Stunde ruft man aus Los Alamos bei mir an. Man ist vom Grauen gepackt. Was in monatelanger Arbeit erforscht wurde, will Paerson innerhalb Stunden erreichen. Er glüht, er verbrennt von innen heraus …« McKinney hieb mit der Faust auf den Tisch. »Er ist am Ende seiner Kraft, aber er will es nicht wissen …«

»Fahren Sie nach Los Alamos.« Der Staatssekretär heftete die Antwortnote Rußlands in eine Mappe, die er dem Präsidenten zum Vortrag bringen mußte. »Wenn Prof. Paerson seine Arbeit wirklich vollenden sollte, bringen Sie ihn mit nach Washington. Es wäre ein nationales Unglück, wenn auch Paerson verschwinden würde.«

Mit der Mappe unter dem Arm, verließ er das Zimmer und ließ General McKinney allein.

Er blickte aus dem Fenster auf die Straße.

Nach Los Alamos fahren, dachte er. Prof. Paerson nach Washington bringen. Wie denkt man sich das überhaupt?

Er erkannte seine Ohnmacht, zu handeln. Und diese Erkenntnis machte ihn hilflos.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch schellte.

Er nahm den Hörer ab und nannte seinen Namen. Und plötzlich riß ihn etwas empor … die Stimme da in dem Apparat, die Greisenstimme Prof. Shusters, warf den großen, schweren Mann in den Sessel.

»Das ist doch nicht möglich …«, stotterte er verwirrt. »Shuster, sagen Sie es noch einmal … ganz langsam, damit ich es glaube.«

Die Stimme schnarrte in der Hörmuschel. Dann brach sie ab. General McKinney hatte den Hörer aufgelegt. Er faltete die Hände.

»Mein Gott«, sagte er leise. »Die Spaltung ist gelungen.«

*

Heinz Behrenz steuerte seinen Studebaker langsam und vorsichtig durch die Berge. Nachdem die Radiomeldung durchgegeben war, daß der hellblaue Nash in der Nähe des White River gefunden worden war, ahnte er, welchen Weg Dr. Bouth gewaltsam nehmen mußte. Er schlängelte sich von Myton, am Fuße der Uinta Mountains, seitlich in die Cañons und fuhr, ohne es zu ahnen, seitlich auf ibn Menra zu.

Der neue Tag war warm, kaum, daß die Sonne über dem Tafelland stand. Heinz Behrenz zog seine Jacke aus, wusch die übernächtigten, brennenden Augen im Wasser eines Baches und aß dann eine Tafel Colaschokolade. Ein wenig erfrischt stieg er wieder in den Wagen und schaltete den Kurzwellensender ein.

Die Stimme Dr. Yamamaschis knarrte aus dem Lautsprecher.

»Wo stecken Sie, B 12? Dr. Hakanaki suchte Sie die ganze Nacht. Die Situation ist völlig anders geworden. Wir haben erfahren, daß Nowo Krasnienka Doktor Bouth nicht entführt hat. Eine andere, unbekannte Macht muß uns allen zuvorgekommen sein. Sie sollen die Suche nach Mabel Paerson aufgeben und versuchen, Dr. Bouth oder den hellblauen Nash zu erreichen.«

Behrenz schaltete um. »Ich bin in den Coloradobergen«, sagte er unwillig. »Wenn ich Glück habe, sehe ich Dr. Bouth noch heute. Auch Mabel Paerson kann nicht weit sein. Ich melde mich wieder, wenn etwas Besonderes ist.«

Er stellte den Sender ab und trank aus einer Leichtmetallflasche süßen, kalten, erfrischenden Orangensaft. Dann hielt er den Wagen an, stieg wieder aus und setzte sich in die Sonne. Er sah auf seine Hände. Sie zitterten vor Überanstrengung. Mit ihnen kann ich nicht mehr fahren, dachte er. Ich muß Ruhe haben. Zwei oder drei Stunden … sie werden nicht so wichtig sein.

Er legte sich in das spärliche Gras, rollte seinen Rock als Kopfkissen zusammen und schob es sich unter.

Die heißen Strahlen der Sonne hüllten ihn ein. Sie nahmen den letzten Rest seines Willens.

Er drehte sich auf die Seite, den Kopf im Schatten einer über ihm ragenden Felsnase.

Minuten später war er eingeschlafen.

Wie lange er schlief, wußte er nicht. Er erwachte, weil ein losgelöster Stein über die Felsnase fiel und auf sein Gesicht schlug. Erschrocken fuhr er empor, blinzelte in die Sonne und erhob sich. Ein paar kleine Steine, die dem ersten folgten, rollten auf den Weg. Es klang wie ein helles Trommeln, als sie auf dem Felsboden aufschlugen.

Heinz Behrenz trat unter die Felsnase und entsicherte in der Tasche den Revolver. Über sich hörte er zwei Stimmen, leise, gedämpft … sie mußten oben auf dem Grat sein, den der Felsen bildete, an dessen Fuß der schmale Pfad herumführte.

In diesem Augenblick senkte sich das große Vergessen über ihn. Die großen Ziele, die er erträumte, wurden klein. Der Mensch, an einer Grenze seines Ich angekommen, blickt nicht mehr in die Zukunft. Er versucht das Jetzt zu retten. Das ist sein Wesen, das ist die Natur in ihm, die um die Wurzel kämpft, wie ein Baum, den man abschlägt und der aus seinem Stumpf neue Reiser treibt, solange in seiner Tiefe noch die Kraft des Lebens ist.

Mit einem Schauer fühlte er, daß er den Revolver in der Hand hielt. Der Zeigefinger lag am Abzugshahn. So wartete er, an den Felsen gedrückt, ein Klopfen in der Kehle und in den Schläfen.

Sie sind es … das spürte er wie ein Hauch, wie einen unsichtbaren Strom, der von den beiden Unsichtbaren über ihm zu ihm herunterfloß. Sie sind es!

Über ihm wurden die Tritte lauter. Dann hörte er einen erstaunten Laut. Die Unbekannten mußten jetzt kurz über ihm stehen, dort, wo der Felsen sich zum Pfad senkte.

Eine Stimme sagte leise: »Ein Auto! In dieser Gegend.«

Eine andere Stimme: »Ihr Spiel ist aus, mein Lieber!«

Die erste Stimme: »Noch nicht, Doktor Bouth.« Heinz Behrenz zuckte auf und duckte sich zum Sprung auf den Pfad. »Es ist kein Polizeiwagen. Er muß einem Privatmann gehören. Vielleicht einem Angler, der in dieser einsamen Gegend gute Lachse wittert. Wir werden den Wagen umgehen. Wenn Sie schreien, Doktor Bouth, oder sonst einen Unsinn machen, werfe ich Sie in den Cañon hinab. Er ist zweihundert Meter tief!«

»Das haben Sie nicht nötig.« Die Stimme Heinz Behrenz war ruhig und sachlich. Er war auf die Fahrbahn gesprungen und hielt dem ersten der Männer, die auf der Felsnase, keine zehn Meter von ihm entfernt, standen, seinen Revolver entgegen. Ibn Menra duckte sich, doch Behrenz hob die freie, linke Hand. »Kein Widerstand. Ich schieße rücksichtslos.« Er sah zu dem zweiten Mann hinüber, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen und zerrissenem Anzug hinter dem ersten stand. »Sie sind Doktor Ralf Bouth?«

»Ja.«

»Kommen Sie bitte herunter. Nein, springen Sie. Wenn Sie in den Knien federn, geht es ganz gut.« Ibn Menra sah sich um. Er suchte nach einem geschützten Plan, nach einem dicken Stein, hinter den er sich werfen konnte, um seine Revolver aus der Tasche zu reißen. Kahl lag hinter ihm der Felsen.

Mit einem Lächeln hob er die Arme in Kopfhöhe.

Dr. Bouth sprang von der Felsnase herab und sank dabei in die Knie. Er schlug es sich auf, aber er erhob sich sofort wieder und rannte zu Heinz Behrenz.

»Nehmen Sie mir bitte sofort die Fesseln ab«, keuchte er. »Dieser Mann dort darf uns nicht entkommen.«

Heinz Behrenz beachtete ihn nicht, sondern trat an ibn Menra heran, der noch immer auf der Felsnase stand. Ruhig, mit erhobenen Händen, lächelnd.

»Es ist bedauerlich, Herr Kollege, daß Sie soviel Mühe hatten, mir Herrn Dr. Bouth zu bringen. Was halten Sie davon, wenn wir die Reise gemeinsam fortsetzen?«

Ibn Menra ließ die Arme sinken. »Sie haben mich gesucht?«

»Ich erhielt den Auftrag dazu!«

»Sie sind Agent?«

»Ja. Kommen Sie, Herr Kollege. Aber greifen Sie nicht in die Tasche. Ich habe schneller abgedrückt, als Sie gezogen haben.«

Der Marokkaner sprang auf den Pfad und kam auf Behrenz zu. Ohne Widerstand ließ er sich seine beiden Waffen aus den Taschen nehmen. Er holte aus dem Rock eine Schachtel Zigaretten und bot sie an.

»Eine kleine Friedenspfeife, meine Herren?« Er half mit, Dr. Bouth von seinen Fesseln zu lösen und massierte seine rotangelaufenen Handgelenke. »Unter uns sind wir jetzt«, meinte er vergnügt. »Ich erwarte jetzt nur noch die Russen.«

Dr. Bouth nickte, indem er die Arme zur Blutzirkulation weit im Kreise schwang. Er wandte sich an Behrenz.

»Wollen Sie mir auch verraten, wo sich Mabel Paerson befindet? Allerdings – das versteht sich – nur gegen das Entgelt der neuen Atompläne, nicht wahr?«

»Nein.«

»Was? Sie wollen nicht einmal die Pläne?«

»Vor einigen Tagen – jetzt nicht mehr! Ich habe nur Sie gesucht, um Sie aus den Händen unseres Kollegen zu befreien. Das ist alles.« Behrenz steckte seinen Revolver wieder in die Tasche. »Warum ich dies tue … das ist eine lange Geschichte, Doktor Bouth.«

Ibn Menra reichte Feuer herum. Der süße Duft seiner Opiumzigaretten durchzog das schmale Tal.

»Und was soll nun werden?« fragte er. »Ich nehme an, daß Sie mich an eine schöne, glatte Wand stellen, um dann allein mit Doktor Bouth weiterzuziehen.«

»Ich bin kein Mörder!« sagte Behrenz laut.

»Verzeihung. So genau kann man das nicht wissen.« Ibn Menra schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie eigentlich?«

»Gregoronow und Zanewskij.«

Dr. Bouth sah den Marokkaner an. »Sie wollen es doch wissen«, höhnte er.

Ibn Menra nickte. Er nahm seine Karte aus der Rocktasche und schlug sie auf. Dann hielt er sie Heinz Behrenz hin und wies mit dem Finger auf einen dunklen Punkt. Interessiert traten Bouth und Behrenz näher und beugten sich über die Karte.

»Hier befinden wir uns«, sagte ibn Menra. »Und dort, in unserer Nähe, hundert Kilometer nordwestlich, liegt der Emmons Peak. Sie können ihn mit Ihrem robusten Studebaker in zwei Stunden bequem erreichen. Hier, am Emmons Peak, müssen sich die Russen versteckt haben. Die Gegend wimmelt von ausgewaschenen Höhlen. Auf jeden Fall sind sie in den Uinta Mountains. Bei Ogdon, in den Bergen am Salzsee, hat man die Trümmer ihres Versorgungsflugzeuges gefunden. Das Flugzeug verunglückte nicht, es wurde gesprengt.«

»Und Sie glauben, daß Mabel auch am Emmons Peak ist?« Dr. Bouth umklammerte die Karte, als sehe er Mabel schon vor sich, nur getrennt durch eine Macht, gegen die er im Augenblick noch keine Waffe besaß.

Ibn Menra rollte die Karte wieder zusammen und steckte sie in die Tasche. »Es ist möglich, daß Gregoronow und Zanewskij nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Ihnen den ersten Ort verlassen haben und die vier Tage, die Sie Ihnen gewährten, an einem vielleicht besseren Platz verbringen. Auf jeden Fall sind sie hier in der Nähe, wenn sie mit Ihnen eine neue Unterredung bei Gleenwood Springs abgesprochen haben.«

Dr. Bouth bemächtigte sich einer großen Unruhe. Mabel hier in der Nähe. Und wir sprechen, wir versäumen wichtige Stunden. Jede Minute leidet sie, jede Minute kann sie auch das Leben kosten.

Er drängte auf Abfahrt. Heinz Behrenz und ibn Menra teilten sich das Fahren. Dr. Bouth saß auf dem Rücksitz und reinigte die staubigen Waffen. Er ahnte, daß der Kampf um Mabel in seiner Endphase wirklich ein Kampf sein würde. Aber er kannte keine Furcht, es kam ihm nie der Gedanke, daß er dabei fallen könnte, daß er Mabel nie mehr sehen würde, wenn einer der Russen besser zielte als er.

Der Wagen schlängelte sich durch die Cañons. Gut gefedert schwang er sich über die holprige Straße. Der robuste Motor brummte beruhigend gleichmäßig.

Ibn Menra, der am Steuer saß, richtete sich plötzlich im Sitzen auf. Man war drei Stunden gefahren, der Weg senkte sich. Im Tal blinkte ein weißes Band auf.

Die Bundesstraße. Die Gefahr. Er sah zu Heinz Behrenz.

»Wollen Sie weiterfahren?«

»Warum?«

»Ich habe drei Menschen getötet … gestern. Ich konnte nicht anders. Ich mußte durch. Ich durfte keine Rücksicht nehmen.«

»Ich weiß. Deswegen können Sie doch fahren.«

Ibn Menra trat auf die Bremsen. Der Wagen stand. »Ich möchte nie wieder Autofahren«, sagte er leise. »Verstehen Sie das? Ich habe noch nie einen Menschen getötet. Ich habe nie daran gedacht, es zu tun! Und plötzlich geht es nicht anders … plötzlich muß man es. Sie fielen unter meine Räder und wurden zermalmt. Wenn man mich zur Rechenschaft zieht, wird man sagen: Dreifacher Mord! Aber ich bin kein Mörder, ebensowenig wie Sie. Und darum … darum möchte ich jetzt nicht fahren. Jetzt nicht und nie mehr.«

»Steigen Sie aus«, sagte Heinz Behrenz still.

Sie wechselten die Plätze. Dr. Bouth reichte von hinten die geputzten und geladenen Waffen herüber. Jeder erhielt vier Reservemagazine, die er in die Rocktasche steckte.

Dann fuhren sie weiter. Rauschend mahlten die Räder auf dem Asphalt der Bundesstraße. Der Wagen schoß vorwärts, dem kleinen Vernal entgegen.

Brummend zog der Wagen über die kleine Brücke, die den Yampa überquerte. Am Straßenrand sah man Holzgerüste und Baumstämme liegen. Es waren die Reste der in der vergangenen Nacht wieder abgebauten Straßensperre. Ibn Menra lächelte grimmig. Der Polizist sah dem großen Wagen mit der New Yorker Nummer interessenlos nach.

Dr. Bouth hatte einen Augenblick die Versuchung, die Tür aufzureißen und um Hilfe zu rufen. Doch dann dachte er an Mabel und ließ sich in das Polster zurücksinken. Erst Mabel, sagte er sich. Haben wir sie gefunden, wird sich alles Weitere ergeben.

Er rückte den Verband um seine Stirn zurecht. Die Platzwunde brannte wieder. Wenn es bloß keinen Wundbrand gibt, dachte er. Bloß kein Fieber.

Er drehte sich auf seinem Sitz herum und blickte auf die Straße zurück. Verlassen zog sie unter ihm her. Leer. Sie war wie alle diese Überlandstraßen Amerikas, gerade, nüchtern, gepflegt. Eine Straße, wie man sie überall findet.

Doch da … Ein Mensch! Dr. Bouth richtete sich auf und drückte das Gesicht an das breite Rückfenster.

Ein Mensch schwankte aus den Büschen auf die Straße. Er winkte dem vorbeigebrausten Auto nach … ein Mensch, zerrissen, ein Kleid … ein helles Sommerkleid … blonde Haare, flatternd, blonde Haare …

»Mabel!« schrie Dr. Bouth grell. »Mabel! Mabel!«

Er trommelte mit den Fäusten gegen die Scheibe und stieß sich den Kopf an der Decke des Wagens.

Heinz Behrenz und ibn Menra waren zusammengefahren, als der erste Schrei ertönte. Kreischend bremste der Wagen, schleuderte über die Straße, drehte sich um sich selbst und kippte dann in den schmalen Graben am Straßenrand.

Dr. Bouth stürzte aus der Tür und rannte über die Straße. Heinz Behrenz und ibn Menra sahen, wie eine Frauengestalt auf der Fahrbahn zusammensank und nach vornüber fiel.

»Sie ist geflüchtet!« schrie ibn Menra im Laufen. »Die Russen müssen in der Nähe sein!«

Als sie an der Stelle ankamen, wo Mabel Paerson lag, sahen sie Dr. Bouth, wie er den Kopf des ohnmächtigen Mädchens in seinen Schoß gebettet hatte. Die Wunde an ihrem Knie war durch den Fall wieder aufgeplatzt. Schwarz quoll es über die dicken Streifen des geronnenen Blutes. Die Schuhe an ihren Füßen waren zerfetzt und mit Blut besudelt.

»Mabel«, stammelte Dr. Bouth. Er streichelte ihr das Haar, küßte sie auf die wunden Lippen, drückte sie an sich und hielt ihren Kopf an seine Schulter. »Mabel …« Er blickte zu den beiden Gefährten auf. »Wie sie aussieht.« Seine Stimme war voll Grauen und Wut. »Gepeinigt, gehetzt …« Er richtete sich auf, nahm Mabel auf seine Arme und trug sie von der Straße. Er ächzte unter der Last, aber er ließ sie sich nicht abnehmen. »So wahr ich lebe«, sagt er, auf das verfallene Gesicht blickend, »ich gehe nicht mehr nach Los Alamos zurück.«

Sie gingen zum Wagen zurück. Keuchend trug Dr. Bouth das blutende Bündel Mensch.

Auf dem halben Weg zum Wagen peitschte ein Schuß durch den stillen Morgen. Die Kugel pfiff vorbei und schlug neben Dr. Bouth in den Straßengraben.

»Die Russen!« ibn Menra stieß Dr. Bouth in den Graben und boxte ihn in den Rücken. »Rennen Sie!« schrie er. »Versuchen Sie, den Wagen zu erreichen!«

»Er ist gepanzert.« Heinz Behrenz kniete im Straßengraben und beobachtete die Büsche, die bis an die Straße reichten.

Wieder bellte ein Schuß auf. Die Felswände warfen ihn mit vielfältigem Echo zurück. Dr. Bouth, der den Wagen in wenigen Metern erreicht haben würde, zuckte zusammen und wankte.

»Sind Sie getroffen?« schrie Behrenz erschrocken.

Dr. Bouth schüttelte den Kopf und taumelte weiter. Er erreichte den Wagen, riß die Tür auf, schob Mabel in das Innere und fiel dann selbst zwischen Vorder- und Rücksitz auf den Boden. Aus seiner Schulter sickerte Blut. Das Hemd, die Jacke färbten sich rot. Gierig saugte der Stoff das Blut auf.

Er kroch ganz in den Wagen und zog die Tür hinter sich zu. Stöhnend zog er sich an dem Sitz empor und setzte sich neben Mabel. Er faßte ihren Puls und spürte, wie er schwach schlug.

Glück durchströmte ihn. Unfaßbares Glück. Er küßte wieder die heißen, aufgesprungenen Lippen, stand ächzend auf, nahm Behrenz' Orangensaftflasche und träufelte Mabel ein wenig zwischen die wie nach einem Schrei geöffneten Zähne.

Hinter sich, auf der Straße, hörte er die Schüsse peitschen. Ein paarmal klang es wie ein metallener Schlag gegen den Wagen. Er duckte sich und beugte sich über Mabel. Mit seinem Körper schützte er sie. Sein Kopf lehnte gegen das Polster. Der linke Arm wurde gefühllos, leblos, er hing am Körper, als gehöre er gar nicht dorthin. Warm lief es über die Schulter den Rücken hinab.

»Mabel …«, sagte Dr. Bouth. Dann verließen ihn die Gedanken, und er sank über ihr zusammen.

Ibn Menra kauerte im Straßengraben. Er hatte als erster gesehen, wo sich ein Busch bewegte. Gleich an der Straße, keine fünfzig Meter entfernt, lag der Schütze, der Dr. Bouth angeschossen hatte.

Heinz Behrenz suchte den Hang ab, der sanft zur Straße abfiel und dicht bewachsen war. Hier, hinter einem Baumstamm, lag Zanewskij und wartete. Gregoronow, in dem Busch an der Straße, schoß mit gleichgültiger Miene in die Reifen des Wagens. Als er sah, wie er in sich zusammensackte, lachte er zufrieden. Sein breites Gesicht zeigte Zufriedenheit. Er wechselte das Magazin seiner Waffe und blickte hinüber zu dem Graben, in dem ibn Menra und Behrenz lagen.

»Wir kommen so nicht weg.« Der Marokkaner kroch an Heinz Behrenz heran. »Versuchen Sie, zum Wagen zu kommen. Fahren Sie ab.«

»Und Sie?«

Ibn Menra schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier. Ich decke Ihre Abfahrt. Retten Sie Miß Paerson und Dr. Bouth vor den Russen.«

»Ich lasse Sie doch nicht allein!«

Ibn Menra legte sich auf den Rücken und blickte in den wolkenlosen, blauen Himmel. Sein Gesicht war fern.

»Ich bin ein Mörder, ich gehöre nicht mehr in die Gesellschaft der Menschen. Was habe ich im Leben zu erwarten? Eine neue Jagd, dieses Mal um meinen Kopf. Eine Gerichtsverhandlung, ein Verhör, die Entdeckung meiner Tätigkeit, der Verrat des Landes, für das ich arbeitete … und am Ende der elektrische Stuhl. Warum das alles? Wir können dieses Verfahren doch verkürzen. Wo wird mir eine so gute Gelegenheit geboten wie hier?« Er lächelte wieder das rätselhafte Lächeln. »Ich habe mir immer gewünscht, nicht im Bett, sondern unter der heißen Sonne meiner Heimat zu sterben … draußen, wo der Atem der Wüste über den Atlas weht, und wo der Schrei der Tuareg die Rinderherden antreibt. Man soll sich so etwas nie wünschen. Nein! Immerhin scheint auch jetzt die Sonne, und es ist warm. Wenn man die Augen schließt und an nichts anderes denkt, könnte man glauben, es ist alles so, wie man es sich erträumte: Wärme, Luft und Weite.« Er drehte sich zu Behrenz herum, der ihm erschüttert zuhörte. »Ich heiße Kezah ibn Menra. Ich arbeitete für Spanien.«

»Ich heiße Heinz Behrenz und arbeitete für Japan.«

Sie gaben sich die Hand. Sie fühlten, wie sie zitterte.

»Japan ist ein schönes Land.« Ibn Menra lud seine Waffe neu. »Ich habe einmal – vor dreizehn Jahren – in Tokio gewohnt. Kurze Zeit nur. Na ja …«, er winkte ab. »Laufen Sie, Heinz … ich bleibe hier.«

»Nur, wenn Sie mitkommen, Kezah.«

»Nein!« Er drehte sich wieder auf den Bauch und kroch an den Rand des Grabens. »Warum wollen Sie mein Leben erhalten? Es ist mir selbst nichts mehr wert. Und – das wissen Sie doch – wenn wir den Glauben an uns selbst verlieren, ist der Tod eine Erlösung. – Gehen Sie, Heinz.«

»Ich verspreche es Ihnen, Kezah.«

»Danke …«

Ibn Menra kroch an den Rand des Grabens und schoß auf den Busch. Gregoronow, der es in seinem Blattwerk rauschen hörte, fluchte wild und feuerte zurück. Auf dem Berg lag noch immer Zanewskij und wartete.

Heinz Behrenz blickte zu ibn Menra hin. Er zögerte. Ist es Feigheit, wenn ich laufe? dachte er. Oder rette ich damit Dr. Bouth und Mabel Paerson? Ist es gemein, einen Kameraden jetzt allein zu lassen?

Er dachte nicht weiter, sondern schnellte sich empor. Wie er es gelernt hatte, im weiten Übungsgelände der Wahner Heide, unter den Kommandos ostpreußischer Unteroffiziere, rannte er um sein Leben. Drei Schritte vor … hinlegen … Drei Schritte … hinlegen. Eine Strecke gerobbt, auf dem Bauche kriechend wie eine Schlange … dann wieder auf … drei Schritte … hinlegen.

Sein Körper überzog sich mit Schweiß.

Kalt, sicher, wie eine Maschine schoß Gregoronow. Er zielte genau und drückte ab. Beim Rückschlag nahm er den Kopf etwas zur Seite.

Heinz Behrenz schnellte weiter. Entsetzt sah er beim Laufen, daß die Reifen des Wagens durchschossen waren.

Weiter … weiter … dachte er. Bis Vernal kann ich auf den Felgen fahren. Nur hinter dem Steuer muß ich sitzen. Hinter dem Steuer.

Eine Faust krachte ihm in den Rücken. Verwundert sah er sich um, den Boxer anzubrüllen.

Hinter ihm stand niemand. Da wußte er, daß er getroffen war. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Die Beine waren wie gelähmt. Er hetzte weiter, ohne sich noch einmal hinzuwerfen. Er wußte, daß er nicht wieder aufstehen konnte, wenn er lag. Noch zweimal stieß ihn die Faust in den Rücken, zweimal schrie er auf und prallte dann gegen den Wagen. An den Türklinken zog er sich weiter, riß die Tür auf, ließ sich hinter das Steuer fallen und drehte den Zündschlüssel herum.

Heulend schrie der Motor auf.

Gregoronow in seinem Busch hieb mit der Faust auf die Erde. Er wollte hervorstürzen, aber Kezah ibn Menra verlegte ihm den Weg. Sein Schuß ging haarscharf an Gregoronows Kopf vorbei.

Der Russe ging zu Boden und feuerte zurück. Ohnmächtig, von den Schüssen ibn Menras niedergehalten, sah er, wie der Wagen anfuhr. Auf den Felgen, fluchte er. Er fährt tatsächlich auf den Felgen. Und ich habe ihn getroffen … dreimal in den Rücken … Warum, zum Teufel, schießt denn Zanewskij nicht? Er kroch tiefer in den Busch.

Zanewskij stand oben am Hang, an einen Baum gelehnt, und blickte hinab auf die Straße. Den Revolver hielt er in der Hand, aber er schoß nicht. Er sah, wie Dr. Bouth mit Mabel zum Wagen wankte, er sah Heinz Behrenz durch den Graben hetzen, und es wäre ihm ein leichtes gewesen von seinem Standpunkt aus jede Bewegung unter sich zu ersticken.

Er tat es nicht. Er wußte, daß es zu spät war. Zu spät zum Schießen, zu spät für einen Erfolg … zu spät vor allem für Nowo Krasnienka.

Als das Auto anfuhr und langsam auf die Straße rollte, ratternd und knirschend, schloß er die Augen.

»Auf Wiedersehen, Wanda Feodora«, sagte er leise.

Mit einem Ruck hob er den Revolver und steckte den kurzen Lauf in seinen Mund. Der Stahl war kalt und glatt.

Mit geschlossenen Augen drückte er ab …

In dem gleichen Augenblick, in dem Zanewskij büßte, fiel unten im Graben der Straße Kezah ibn Menra. Ein kleines, kreisrundes Loch war in seiner braunen Stirn.

Er rollte in den Graben zurück, auf den Rücken und starb.

Und merkwürdig … um seine Lippen war wieder das Lächeln, als Gregoronow sich über ihn beugte.

*

Über Los Alamos lag die Nacht.

Die Uranbrenner, die Cyclotrone, die Betatrone, die Hanford-Anlagen arbeiteten. ununterbrochen. Tag und Nacht. Schicht nach Schicht fuhr ein, gleichgültig, ob eine Mabel Paerson oder ein Dr. Bouth verschwunden waren. Die Arbeit mußte weitergehen, es ging um den Vorsprung, den Amerika vor allen anderen Staaten hatte, es ging um die Erhaltung der Erde.

Um den Frieden aus Furcht.

Los Alamos kannte keine Ruhe.

In seinem Labor saß Prof. Dr. Paerson vor einer Marmortafel. Ein Gewirr von Uhren leuchtete in den sonst dunklen Raum. Hinter den Uhren, verborgen durch meterdicke Betonklötze, war die Spaltungsanlage in den Felsen gesprengt, gesichert durch Graphitblöcke und mit neutronendämmernden Cadmiumstreifen und Borstahlstäben versehen. Mit automatischen Greifern konnten sie einzeln herausgezogen werden, und der Strom der spaltenden Neutronen wurde stärker und heftiger. Im Inneren sah dieser Brenner wie eine Riesenkugel aus Graphit aus, in dem eingebettet, wie ein Ei in einem Nest, das spaltbare Uran 235 lag. Die Kugel war oben etwas eingedrückt, ähnlich der Erdgestalt, es war, wie der Mathematiker sagt, ein an den Polen abgeglätteter Sphäroid … ein neuer Stern mit der Leuchtkraft von sechzehn Sonnen, nicht dreißig Meter hoch.

Ein Stern, den ein Mensch schuf.

Prof. Paerson saß vor dem Oszilloskop und beobachtete das Pendeln auf der Skala. Er war in diesen Tagen ein alter Mann geworden. Sein Gesicht war zerknittert, seine Gestalt nach vorn übergezogen, um seine Augen lagen tiefe Schatten, die unter den Brillengläsern unheimlich vergrößert wurden.

Sein weißer, einfacher Labormantel hing um seine Schultern. Neben ihm stand Prof. Dr. Shuster und starrte auf die gleitende Skala des Atomthermometers.

»Was willst du tun?« fragte er leise. Die Spannung, die über diesem Raum lag, dämpfte seine Stimme. »Willst du Gott versuchen, William?«

Prof. Paerson schaltete an einigen Hebeln. Eine Sprechanlage verband ihn mit den Technikern hoch oben auf einem Balkon, wo man das technische Gehirn der Atomkugel in den Händen hatte.

»Drei Borstahlstäbe weg«, sagte Paerson sicher. »Cadmium um vier verringern.«

Man konnte hier unten nicht sehen, was hinter den dicken Wänden vor sich ging. Nur im Oszilloskop zeichnete sich die Urweltkatastrophe ab, die ein Mensch bändigte. Der Zeiger zitterte empor.

100.000.000 … 150.000.000 … 200.000.000 … 225.000.000 Volt.

Prof. Dr. Shuster wischte den Angstschweiß von der Stirn. Er klammerte sich an eine Stuhllehne und starrte wie gebannt auf den Zeiger.

250.000.000 Volt. – Die Nadel stand. Bebte.

»Ein Borstab weg.« Paerson schob die Brille näher an die Augen.

»Das ist Wahnsinn!« sagte Dr. Shuster leise. »William, hör auf!«

Das Oszilloskop stieg.

300.000.000 Volt. 320.000.000 Volt.

»Ich habe jetzt fast das Doppelte als die bisherige Voltzahl«, sagte Paerson, als spräche er über ein allgemeines Thema. Seine Stimme war klar und fest. Er tippte an das Mikrofon. »Zwei Cadmiumstreifen weg und ein Borstab.«

Auf dem Balkon war es still. Dann sagte eine Stimme:

»Es ist unmöglich, Herr Professor.«

»Nichts ist unmöglich! Tun Sie, was ich sage!«

»Wir fliegen alle in die Luft!« schrie die Stimme des Ingenieurs. »Wir können die Voltzahl nicht mehr kontrollieren!«

Prof. Paerson sah zu seinem Freund hinüber. Shusters Augen waren glasig.

»Hast du auch Angst?« fragte er.

»Ja, William. Ich habe Angst.«

»Um dein bißchen Leben? Henry – wir werden nicht in die Luft fliegen. Wir haben unsere Kraft bisher nur unterschätzt. Ich habe neue Bremsanlagen eingebaut, neue Sicherungen, neue Mäntel aus verschiedenen Legierungen. Wir können den Druck halten! Henry, wir sind über uns hinausgewachsen!« Und plötzlich schrie er in das Mikrofon: »Zwei Cadmium und einen Stab weg!«

Es war still in dem kleinen Raum. Außerhalb des Zimmers, auf der Brücke über dem Brenner, stand der Ingenieur und zögerte. Ich habe Frau und Kind, dachte er. Ich habe … ich habe … Seine Hand zuckte … Die Hebel flogen herum. Im Inneren der Kugel griffen automatische Hände den Borstab und die Cadmiumstreifen. Langsam glitten sie zurück in die neutrale Zone hinter das Graphit.

Der Ingenieur wartete. Wartete auf den krachenden Tod.

Es war still. Die Kugel lag stumm in ihrem Felsen- und Betonbett. Die Kontrolluhren tickten weiter.

Da sank der Ingenieur in eine Ecke, ungläubig, als könne er das Wunder nicht begreifen.

Prof. Paerson sah auf das Oszilloskop. Der Zeiger schnellte empor.

400.000.000 … 500.000.000 … 700.000.000 Volt!

»Aufhören!« brüllte Dr. Shuster auf und wich zur Tür zurück, als könne er damit der Katastrophe entgehen. »Aufhören! Henry … wir fliegen in die Luft!«

Der Zeiger stand.

750.000.000 Volt!

Ein Sonnenheer in einer dreißig Meter hohen Kugel!

Prof. Paerson drückte auf den Knopf. Mit einem Ruck fuhren alle Sicherungen in das Innere des Brenners. Der Zeiger fiel herab auf den Boden.

0 Volt.

Langsam drehte sich Paerson um. Seine Augen waren klein, müde, alt. Über seinem Körper lief ein Schauer.

»Zwölf Jahre habe ich gebraucht«, sagte er leise. »Zwölf Jahre für diesen Augenblick. Vor zwei Tagen, in der Nacht, habe ich es geträumt. Da sah ich mich in meinem Labor, ich stand vor der Anlage und wußte keinen Weg. Keinen Weg in all den zwölf Jahren. Und plötzlich finde ich einen Zettel … im Traum … niemand wußte, wer ihn verloren hatte … und auf diesem Zettel stand die Formel. Stand die neue Dichte der Mäntel, stand die Doppelspaltung, nach der ich suchte, sah ich endlich die Möglichkeit, die Kraft des Plutoniums zu brechen. Mit einem Schrei erwachte ich, aber der Kopf war klar. Ich rannte an meinen Tisch und schrieb die Formeln auf, so, wie ich sie im Traum sah. Dann sank ich wieder in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen wußte ich von nichts. Auf meinem Tisch, auf meinem Tisch lagen die Formeln. Ich probierte sie durch, ich ließ in der Nacht noch die Kugeln umbauen …« Er legte beide Hände um Shusters Schulter. Sein Kopf sank an die Brust des Freundes. »Jetzt habe ich es gesehen … ich kann mit vier Pfund Metall die Erde auslöschen …«

»Es ist grauenhaft, Henry.« Dr. Shuster führte den erschöpften Freund aus dem Labor ins Freie. Die kalte Nachtluft wehte durch ihre weißen Haare. »Warum hast du das getan?« fragte der Arzt.

Paerson wischte sich über die Augen. »Ich weiß es nicht, Henry, ich weiß es wirklich nicht. 165.000.000 Grad Celsius Hitze! Dreißigtausendmal höher als die Temperatur der Sonnenoberfläche! Und es ist nicht die Grenze. Es ist erst der vierte Teil eines Prozentes aller Möglichkeiten. Im Atom wohnt das Millionenfache der Energie, die ich heute entdeckte! Es gibt keine Grenzen mehr, Henry, der Mensch ist ein Gott geworden!«

Prof. Shuster kroch es eiskalt über den Rücken.

»Du lästerst, William«, stammelte er.

»Noch nicht.« Paerson sah über Los Alamos. Durch den Schein der tausend Birnen und Neonlichter wimmelten die Menschen. Tausende … sie arbeiteten an dem Werk der Vernichtung … An seinem Werk. »Ich lästere erst«, sagte er, »wenn ich den Menschen verrate, wie hoch sie in die Sterne greifen können, so hoch, daß sie nicht mehr weiterleuchten …«

Plötzlich dachte er an Mabel und Dr. Bouth, die ersten Opfer seines unheimlichen Geistes. Er wandte sich ab und drückte dabei Dr. Shuster die Hand.

»Laß mich jetzt bitte allein, Henry. Ich muß in dieser Stunde allein sein.« Er griff an die Brust, als durchjage ihn ein plötzlicher Schmerz. »Ich … ich habe Angst vor mir selbst.«

Prof. Shuster sah ihm nach, wie er die Straße zu seinem Haus entlangging. Ein kleiner, schmächtiger, nach vorne geneigter Greis. Kleine, suchende Schritte … weißes Haar, das ungekämmt im Nachtwind wehte.

Der Herr über das Leben unserer Erde.

*

Gegen Morgen traf General McKinney in Los Alamos ein.

Er kam direkt aus Washington und hatte genaue Pläne mitgebracht, wie man die neue Spaltung agentensicher schützen konnte. Ferner brachte er die Berufung Prof. Dr. Paersons nach Washington mit. Der Präsident und der Außenminister wollten ihn sprechen. Er war über Nacht der wichtigste Mann der Vereinigten Staaten geworden. In seinen Händen lag die Zukunft der Welt.

Als McKinney auf dem Hochplateau, wo die Häuser der Wissenschaftler standen, ankam, wurde ihm eröffnet, daß Prof. Paerson niemanden empfangen wolle.

»Aber mich doch!« sagte McKinney sicher.

»Auch Sie nicht, Herr General.« Der zweite Assistent hob bedauernd die Arme. »Der Herr Professor hat sogar Oppenheimer und Fermi nicht vorgelassen.«

»Ich komme von Präsident Truman!«

»Der Präsident könnte selbst kommen … Pearson läßt keinen vor. Er will allein sein. Er hat die ganze Nacht durchgearbeitet.«

General McKinney wandte sich ab und ging hinüber zum Hause Prof. Oppenheimers. Er war verärgert. Starallüren, dachte er. So fängt es an. Immer dasselbe. Erfolge steigen in den Kopf.

Er drückte die Mappe, die er unter dem Arm trug und die mit einer Kette an seinem Handgelenk diebessicher gefesselt, an sich.

Ein Aktenstück, dünn, rot mit schwarzer Schrift, lag einsam zwischen dem Leder. Zehn Blatt Papier nur.

Eine Akte mit dem Titel: »Die Verwendbarkeit der neuen P.-Bombe im Krieg.«