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Der Motor tuckerte noch ein wenig, dann stand der Wagen still.

Dr. Bouth sah erstaunt auf die Uhren des Armaturenbretts. Die Zeituhr sagte, daß es ½ 12 Uhr mittags war, der Öldruck war normal.

»Das ist etwas ganz Neues«, stellte Dr. Bouth fest und wandte sich an Mabel Paerson, die neben ihm in den weichen Polstern saß und erstaunt aus dem Fenster sah.

»Eine Panne?« fragte sie und reckte sich.

»Viel schlimmer, Mabel – kein Benzin mehr!« Dr. Bouth lachte und stieg aus dem Wagen. Er umging ihn wie einen Lastesel, der plötzlich nicht mehr seine Säcke tragen will und einer strengen Aufmunterung bedarf. Auch Mabel Paerson war ausgestiegen und glättete mit den Händen ihren Rock, ehe sie nach hinten zum Kofferraum des Wagens ging.

Um sie herum war die Weite New Mexicos. Der Sand der Wüste von Alamogordo staubte über den Asphalt der Regierungsstraße. Es war heiß an diesem Augusttag des Jahres 1952. Die Luft stand flimmernd über den Büschelgräsern und den ewigen Kakteen, die zu beiden Seiten der Straße etwas wie Vegetation spielten. In der Ferne, im Dunst des Sommers, ahnte man die Cañons von Hondo und die Jemezberge. Irgendwo in dieser flimmernden Ferne mußte auch der Rio Grande fließen, der mächtige Strom, der die Grenze zwischen den USA und Mexiko bildet.

Mabel Paerson wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Kleine Schweißperlen blieben an der Haut kleben. »Was nun?« fragte sie und schaute sich um. »Bis zur nächsten Station können es gut fünfzig Kilometer sein.«

Dr. Bouth zuckte mit den Schultern und brannte sich eine Zigarette an. »Wir müssen warten, bis ein ebenso einsamer Autofahrer wie wir uns ein Tröpfchen Benzin leiht.« Er knöpfte sein Hemd über der Brust auf und lehnte sich gegen den Kofferraum. »Ich muß allerdings sagen, daß an dieser Panne kein anderer schuld ist als du, Mabel.«

»Das möchte ich energisch bestreiten!« Mabel Paerson, eine etwa einundzwanzigjährige Blondine, von der ihre Kollegen auf dem Columbia-College sagten, sie sei hübsch und ein Luder dazu, rümpfte die Nase.

»Ein typischer Fall von Unlogik«, stellte Dr. Bouth fest. »Wenn ein Mann nur noch Augen für eine Frau wie du, Mabel, hat, dann denkt er an kein Benzin mehr.«

Dr. Ralf Bouth war ein hochgewachsener, etwa fünfunddreißig Jahre alter Mann mit dem Gesicht eines Jungen und den Augen eines ewig Suchenden. Wer ihn so an der Straße stehen sah, mit offenem, durchgeschwitztem Hemd, ungebügelten Hosen und schweißverklebten Haaren, die staubigen Schuhe auf die Stoßstange seines Wagens gestützt, der dachte nicht daran, daß dieser Dr. Bouth der 1. Assistent von Prof. Dr. William Paerson war, einer der Männer in dem unbekannten Heer der Wissenschaftler, das in Los Alamos, vierzig Kilometer nordwestlich von Santa Fé, in den unergründlichen Cañons, eingegraben in den Felsen, niedergeduckt in die schmalen Täler die Atomstadt Amerikas schufen. Er war ein Mensch wie alle Menschen … das wäre schon genug für seine Beschreibung, nur, daß sein Gehirn nicht über Obst oder Durchschreibebuchhaltung nachdachte, sondern über die Verwendbarkeit von Plutonium für Superbomben und die Formeln einer neuen Kettenreaktion von gespaltenen Atomen, die Prof. Paerson vor einigen Wochen in seinem unterirdischen Laboratorium in einer von 100 Zentimetern dicken Bleiplatten- und Betonschutzwänden umgebenen Brennretorte von Graphit entwickelt hatte.

Der große Wagen war staubig. Er hatte eine weite Fahrt hinter sich. Quer durch die Rockies war er gesummt, von Kalifornien kommend, wo Mabel Paerson, die Tochter des Prof. Paerson, ihren Urlaub verlebte und nun an der Seite ihres Verlobten den Vater in Los Alamos besuchen wollte.

»Fahren Sie mal nach Los Angeles«, hatte Prof. Paerson vor einer Woche leichthin gesagt, und Dr. Bouth legte den Bleistift auf den großen Tisch, der übersät war mit Tabellen. »Mabel möchte nach hier kommen. Ich habe das Mädel fast ein Jahr nicht gesehen. Holen Sie sie ab, Ralf. Auch Ihnen tut es gut, aus dem klösterlichen Leben hier herauszukommen.«

Nun stand man auf der breiten Überlandstraße, ohne Benzin, in der prallen Sonne des August, umgeben von Sand und Kakteen, flimmernder Luft und einem leisen Wind, der mehligen Staub durch die Kleidung bis auf die Haut trieb.

Mabel Paerson lehnte sich neben Dr. Bouth an den Kofferraum.

»Wir könnten den Kahn schieben«, meinte sie, aber das Lächeln, das sofort auf Ralfs Lippen erschien, ließ sie verstummen. »War ja auch nur ein Vorschlag«, murrte sie, »um hier nicht herumzustehen und uns wie Tauben braten zu lassen.«

»Wir müssen warten.« Dr. Bouth wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. »Wenn es dir zu langweilig ist, können wir ja ein nettes Liedchen singen.«

Von Ferne hörte man ein Brummen. Es kam näher und klang wie das Summen einer Hornisse.

»Ein Auto! Wir können weiter, Ralf.«

»Das nennt man unverschämtes Glück.« Dr. Bouth schraubte den Verschluß des Benzintanks auf. Das Gewinde war verschmutzt, er brauchte ein Taschentuch dazu und viel Kraft, den Deckel aufzudrehen.

Am Horizont, wo die Straße an den Himmel stieß, tauchte ein dunkler Punkt auf. Schnell kam er näher und nahm die Gestalt eines Lastwagens an, der schnaufend, mit großer Geschwindigkeit, über die Bundesstraße klapperte.

Mabel Paerson stand mitten auf der Straße und winkte mit beiden Armen. Sie sah entzückend aus, und es würde auf der ganzen Welt keinen Autofahrer geben, der bei diesem Wink nicht sofort alle Bremsen zog.

Kreischend hielt der Lastwagen. Ein rotes Gesicht erschien am Fenster.

»Motor kaputt?« schrie der Fahrer.

»Nein. Kein Benzin mehr!« Dr. Bouth trat mit einer Kanne an den Wagen heran. »Können Sie mir ein bis zwei Liter geben, damit ich bis zur nächsten Tanksäule komme?«

»Mal sehen.« Der Fahrer kletterte aus dem Führerhaus und klappte an der Seite des Wagens eine Tür auf. Dort lagen drei Kanister mit Benzin, auch hier, im verschlossenen Raum, überzogen mit dem feinen Staub der Wüste. »Geben Sie mal die Kanne her«, meinte der Fahrer. Und während er abfüllte, fragte er: »Wo wollen Sie denn hin?«

»Rauf nach Santa Fé.« Dr. Bouth bezahlte und gab dem Fahrer noch eine Packung Zigaretten. »Und wie weit ist's bis zur nächsten Station?«

»Gut 'ne Stunde. Good bye!«

Das Lastauto ratterte weiter. Bedächtig füllte Dr. Bouth das Benzin in den Tank, denn jeder Tropfen bedeutete einen Meter Weg. »Ich habe einmal auf einer kleinen Straße in den Bergen mehr als sechs Stunden gewartet, bis ein Auto kam«, sagte er dabei zu Mabel, die neben ihm stand und die Kanne von unten stützte. »Es war Nacht, ich kam von Los Alamos und hatte nicht auf die Benzinuhr geachtet, als ich abfuhr. Hinten im Wagen hatte ich drei Pfund radioaktives Uran 235 in einem dicken Bleikoffer. Und in Oak Ridge wartete man auf das Metall, um den Uranbrenner auffüllen zu können. Es war eine ekelhafte Situation.«

»Und dann kein Mädchen dabei … das war das Schlimmste, was?« Mabel Paerson lachte, als sie sah, wie Ralf den Mund verzog. »Oder stimmt's nicht?«

»Ich hatte damals keine Zeit, mich um Frauen zu kümmern. Ich war neu in Los Alamos und mußte zeigen, was ich kann. Ich stand vor den Wunderwerken der Technik und schwor mir, nichts mehr zu kennen als das Geheimnis, das in diesen Riesengebilden vor sich ging.« Er winkte ab. »Ach was, Mabel, lassen wir doch das alles. Wir kommen früh genug in die Felsen und können uns einhüllen in das schauderhafte Gefühl, dem grenzenlosesten Tod unserer Welt gegenüberzustehen.« Er ließ die Kanne sinken. »So. Das wird reichen.« Er schraubte den Deckel wieder auf und wischte sich die Hände an dem Taschentuch ab. »Komm, steig ein, Baby«, sagte er und küßte Mabel auf die Nase, auf der die hellen Schweißperlen standen. »Bis Santa Fé ist noch ein schönes Stück.«

Der Motor sang auf. Das helle Band der Straße jagte unter den Rädern weg. Die Wüste um sie herum verlor den Schrecken der Einsamkeit. Aus den Klappen der Klimaanlage strömte wohltätige Luft in den heißen Raum. Das Radio spielte leise, fast zärtlich.

Es war ein schöner Tag, wenn man wußte, daß man die Wüste verlassen konnte.

Mabel ließ ihren Kopf auf die Schulter Ralfs sinken.

»Du«, sagte sie leise.

»Ja, Baby?«

»Ich liebe dich, Ralf.«

»Wirklich?«

»Ja. Und ich bin glücklich.«

»Das ist schön.« Dr. Bouth streichelte schnell über ihre blonden, seidigen Locken, ehe er wieder das Steuer ergriff und mit großer Geschwindigkeit über die Straße jagte. »Wann heiraten wir?« fragte er nach einer Weile stummer Fahrt.

»Wann du willst, Ralf.«

»In sechs Wochen, Baby?«

»In sechs Wochen …«

Sie küßte ihn auf die Wange und streichelte ihm über die Schulter.

»Wie sicher du fährst, wie kraftvoll. Und wie deine Hände das Steuer halten. Weißt du, daß ich in deine Hände verliebt bin?«

»Nur in meine Hände?«

»In den ganzen Kerl Dr. Bouth! In den Herrn Assistenten von Prof. Paerson. In den Mann, der mit Atomen spielt, und der Sonnen in der Hand hält. Das wolltest du doch hören, Ralf?!«

»Spotte nicht, Mabel.« Dr. Bouth lächelte. »Ich bin nur eine kleine Nummer unter den Größen wie Dr. Fermi, Prof. Oppenheimer, Prof. Wheeler, und wie sie alle heißen. Und das ist schön so, Baby, denn sonst hätte ich überhaupt keine Zeit mehr, dich zu küssen.«

Er hielt mit einem Ruck und nahm Mabel in seine Arme.

Die Wüste um sie herum flimmerte feindlich.

Der Wind trieb Staub um sie.

Doch wenn zwei Menschen sich küssen, gibt es weder Wüste noch Wind …

Zwei Stunden später rollten sie vor eine Tankstelle am Rand der Straßenkreuzung Carrizozo.

Die Tankstelle war gleichzeitig ein Rastplatz für die großen Überlandtransporter und bestand aus einer langen, breiten Halle, in der es an einer Milchbar eisgekühlte Drinks gab, einem Schlafsaal und der eigentlichen Tankstelle, die nach der Sitte amerikanischer Psychologie-Reklame als Dach die Nachbildung eines riesigen Cowboyhutes trug, auf dessen Rand zwei Scheinwerfer des Nachts den Fahrern den Weg zu dem Rastplatz wiesen.

Als Mabel und Ralf in die Tankstelle einfuhren, lärmten drei Lautsprecher mit Jazzmusik ihnen entgegen. Ein Wärter rannte herbei, spritzte mit einem Schlauch den weißen Staub von der Karosserie, während ein anderer schon den Benzintank aufschraubte und den Schlauch ansetzte.

»Wir haben jetzt eine halbe Stunde nichts zu sagen«, meinte Ralf und stieg aus. »Gehen wir an die Bar, Baby.«

Sie saßen dann in bequemen Korbsesseln an den breiten Glasfenstern und blickten hinaus auf das Treiben. Die Kreuzung der beiden Regierungsstraßen brachte ein buntes Leben in diese einsame Gegend, die nur für wenige zum Mittelpunkt des allgemeinen Weltinteresses wurde, als am 16. Juli 1945, 05.30 Uhr westamerikanischer Zeit, in der Wüste von Alamogordo die erste Atombombe an einem 30 Meter hohen Stahlmast explodierte und das Atomzeitalter geboren wurde.

Dr. Bouth hatte die Autokarte vor sich ausgebreitet und zeigte Mabel den Weg, den sie noch bis Santa Fé fahren mußten. »Wir werden erst spät in der Nacht in Los Alamos ankommen«, meinte er. »Aber wie ich deinen Vater kenne, wird er dann noch in seinem Labor sein und am Cyclotron die Spaltung von Uran beobachten.« Er rollte die Karte zusammen und legte sie nach hinten auf einen freien Stuhl. »Seit er an seiner neuen Theorie arbeitet, kennt er kaum noch Schlaf.« Er legte Mabel die Hand auf den Arm. »Du darfst nicht erschrecken, Liebes, wenn du deinen Vater wiedersiehst. Er ist zusammengefallen, er sieht alt aus. Er verzehrt seine letzten Kräfte für seine Idee, die ihm keiner glaubt. Er will über das hinaus, was wir als Grenze unserer Möglichkeiten ansehen. Was wir heute an Atomkernspaltung leisten, die Energien, die wir durch eine Beschießung des Atomkerns mit Neutronen freilegen, sind nur ein Tausendstel von dem, was an Energie in den Atomen enthalten ist. Dein Vater will über 1/1.000 hinaus, – er will vordringen zu 20 oder gar 25 Prozent aller Atomenergie, ein Plan, den alle als unmöglich bezeichnen.« Dr. Bouth zuckt mit den Schultern. »Aber du kennst ja deinen Vater! Er hat seine Idee, – und er will sie durchsetzen.«

Draußen, auf dem Autohof, auf den Auffahrten zu den Tanksäulen, kam Unruhe in die Menge der Fahrer. Man gruppierte sich um einige Wagen, anscheinend um eine Radiomeldung, denn Mabel und Ralf sahen, wie die Fahrer an den Knöpfen drehten. Und plötzlich setzte auch in der Milchbar der Lautsprecher aus und eine klare, nüchterne Stimme füllte den plötzlich still gewordenen Raum.

»Wir bringen als Sondermeldung eine Durchsage aus Washington. Bei Versuchen einer neuartigen Atomkernspaltung mit selbstkonstruierten Mitteln gelang es Prof. Dr. Paerson, in Los Alamos eine neue Kettenreaktion herzustellen, die das Vielfache der bisher bekannten Atomspaltung darstellt. Bei diesen Versuchen kam Prof. Paerson in ein Kraftfeld von radioaktiven Strahlen und wurde verletzt. Sein Zustand gibt zu keiner Beunruhigung Anlaß. Präsident Truman hat sofort einen Sonderbeauftragten des Weißen Hauses nach Los Alamos entsandt.«

Mabel hatte während der Meldung die Hände vor den Mund gelegt. Entsetzt sah sie Dr. Bouth an.

»Vater …«, stammelte sie. »Ralf, mein Gott, was ist mit Vater geschehen?«

Dr. Bouth sah ernst zu Boden. »Er hat es erreicht. Und er wurde von seiner Entdeckung geschlagen.«

»Wird er sterben? Ralf!« Mabel umklammerte seinen Arm. Ihre Nägel drangen durch den dünnen Stoff des Hemdes in seine Haut. »Ralf, du weißt doch, was das heißt: radioaktive Strahlen. Man sagt doch immer, daß sie einen Menschen sofort töten.«

»Nicht immer. Wir wissen ja nicht, wie und wo sie ihn trafen, wie stark sie waren, und wie es vorkommen konnte. Auf jeden Fall müssen wir sofort nach Los Alamos.«

Dämmerung sank über die Straße und das brummende Auto. Die Berge taten sich auf. Über Cañons, die Flüsse und Bäche tief in die Felsen geschnitten, jagte der silberne Pfeil des Wagens.

Las Vegas. Kurzer Aufenthalt. Neu getankt.

Noch schlief Mabel. Sie lag ruhig in den Polstern.

Dr. Bouth zahlte und schwang sich wieder hinter das Lenkrad.

Noch eine halbe Stunde, und Santa Fé war erreicht.

Der Ort, von dem aus man hineinfuhr in das Labyrinth der Felsen, zwischen denen die Wunderwerke moderner Technik entstanden.

Die Atomstadt.

Die Stadt des Todes.

Nicht mehr so schnell, leise brummend, fuhr Dr. Bouth durch die Nacht. Es wurde kalt im Wagen. Er stellte die Klimaanlage herum, und mollige Wärme durchzog das Innere des Autos.

Einmal bewegte sich Mabel. Sie drehte sich herum und legte den Kopf an Ralfs Schulter. Er hielt still, bemühte sich, die Schulter beim Steuern nicht zu bewegen und schaltete mit der linken Hand.

Er umfuhr Santa Fé und bog in eine Straße ein, die schmal und oft gewunden sich durch das Gebirge quälte.

Langsam rollte der Wagen durch die in der Dunkelheit bizarren Schluchten.

Es waren Wege, die nur wenige kannten und an derem Ende die Kette mehrfach hintereinander gestaffelter Militärposten lag.

*

Vierzig Kilometer von Santa Fé liegt Alamos.

Zuerst war hier nichts. Nichts als Felsen, ein riesiger Cañon, bewachsen mit Pappeln, die spanisch Los Alamos heißen und der von den spanischen Entdeckern so getauft wurde. Er war ein Cañon wie alle anderen hier in der Gegend, durch abrupte Felsabstürze von über fünfzig Meter Tiefe voneinander getrennte Hochplateaus, deren Anblick zu den schönsten und gewaltigsten Naturbildern gehört, die unsere Erde dem menschlichen Auge zu bieten hat.

Cañon Los Alamos ist nur eine Felsenschlucht inmitten der vielen anderen, die nebeneinander von Ost nach West auf den Rio Grande zulaufen. Pajarito, Water, Frijoles, Bayo, Pueblo, Guaje, Valle und Sandia sind Nebentäler, die alle zum Los Alamos gehören und ein Gewirr von Schluchten bilden, in denen sich nur die Eingeweihtesten zurechtfinden.

Wer nach Los Alamos fahren will, wird es nie über eine der bekanntesten Straßen erreichen. Er muß erst vierzig Kilometer nach Norden fahren, bis er die kleine spanisch-amerikanische Stadt Española erreicht, von dort kehrt er wieder um und fährt auf einer schlangenartigen Straße nach Südwesten, die sich 25 Kilometer lang durch ein Tafelland windet. Es ist mehr ein Pfad als eine Straße, wenn sie in die Cañons eindringt, schmal, kurvenreich, gefährlich durch plötzlich seitlich auftauchende Felsabstürze. Es ist der einzige Weg, der nach der Stadt Los Alamos führt, die Straße, die das Schicksal unseres Erdballs trägt, denn über ihre holprige Decke rollten die Lastwagen, die die Bomben für Hiroshima und Nagasaki trugen, die die Bomben für Alamogordo und Bikini hinaus in die Welt schickten, – es ist die Straße, über die die größten Wissenschaftler der Welt gingen, Dr. Fermi, der Schöpfer der ersten Atombombe, Dr. Chadwick, der das Neutron entdeckte, Prof. Oppenheimer, der Leiter aller Atomversuche, Dr. Bohr und Dr. Wheeler, die zuerst die Atomspaltung berechneten und ein Spaltgesetz aufstellten, der greise Prof. Einstein und Prof. Dr. Paerson. Es ist die Straße, die hinausführt in eine Welt, die in einer Sekunde, nach der Explosion der ersten Bombe in der Wüste New Mexicos, ein anderes Gesicht bekam: das bleiche Antlitz eines Sterns, der wartet auf Untergang oder einmalige Erhebung über den Sinn der göttlichen Schöpfung.

Es ist die Straße, die Dr. Bouth langsam, mit abgeblendeten Lichtern, fast tastend herunterfuhr.

Zu beiden Seiten ragten die Felswände auf. Schwarz, überhängend, als stürzten sie jeden Augenblick über das kleine Fahrzeug, das sich an ihren Füßen durch die Schlucht wand.

Die erste Kontrolle wurde passiert. Man kannte Dr. Bouth, prüfte die Ausweise von Mabel Paerson und ließ den Wagen durch. An der vierten Kontrolle stand Oberst Perkins, der Chef der Sicherheitsabteilung.

Dr. Bouth hielt an, als er das rote Stopzeichen vor sich blinken sah.

»Guten Abend, Doktor«, sagte Oberst Perkins, als er an die Tür trat. »Gute Fahrt gehabt?«

»Leidlich. In der Wüste ging mir das Benzin aus.« Dr. Bouth sah sich um. »Ist etwas Neues, daß ihr jetzt so streng seid?«

»Wir haben Befehl von Washington, keinen Unbekannten in die Stadt zu lassen.«

»Das ist ein guter Witz, Perkins!« Bouth lachte leise. »Soll ich vom Präsidenten persönlich ein Handschreiben bringen?«

»Sie nicht. Aber die junge Dame ist unbekannt.«

»Mensch, Perkins, nun seien Sie friedlich. Die Dame ist Mabel Paerson, die Tochter vom Professor.«

»Sie hat keine Besuchserlaubnis von Washington!«

»Das nicht! Aber ihr Vater ist verunglückt und …« Dr. Bouth brach ab. »Ist es übrigens schwer, Perkins?«

»Gott sei Dank nicht. Der radioaktive Strahl traf ihn hinter einer drei Meter dicken Betonwand! Er brach plötzlich zusammen und wurde ganz grün im Gesicht. Dr. Fermi und Dr. Oppenheimer haben ihn sofort zum Lazarett gebracht. Dort hat man nur leichte Schäden festgestellt.« Oberst Perkins blickte auf die schlafende Mabel. »Wie lange schläft sie?«

»Seit Stunden.«

»Sie hat nicht den Weg gesehen, den Sie gefahren sind?«

»Unmöglich, Perkins.«

Der Oberst nickte. »Na, dann fahren Sie los, Doc! Weil Sie's sind.«

Dr. Bouth grüßte und fuhr weiter durch die Nacht. Langsam schraubte er sich auf ein Hochplateau hinauf. Dieses Hochplateau zwischen Los Alamos und den Pueblo Cañons ist der Mittelpunkt der unsichtbaren Atomstadt. Hier sind die Gebäude der technischen Abteilung, während in den Cañons selbst, in den Schluchten, auf den schmalen Rücken der Felsenebenen die anderen Gebäude liegen – 302 Wohnhäuser mit 620 Wohnungen, 52 kleine Kasernen, 200 Wohnungen und 52 große Schlafsäle. Hier hausen 4.000 Arbeiter und Forscher, 2.000 Mann Militär zur Bewachung und Sicherung – bewacht, umstellt, abgeschnitten von der Welt, Verlorene für die Menschen außerhalb der Schluchten nordwestlich von Santa Fé.

Dr. Bouth fuhr langsam an dem Hochplateau vorbei und wandte sich einem Seitencañon zu, in dem die Gebäude der wissenschaftlichen Abteilung und das Lazarett standen.

Er hielt an und legte den Arm um Mabel. Vorsichtig hob er ihren Kopf und küßte sie auf die halb geöffneten Lippen.

Erschrocken fuhr sie zusammen. Doch dann erkannte sie Ralf und lachte leise.

»Du sollst doch fahren!« sagte sie mit leisem Vorwurf. »Wir wollen doch schnell in Los Alamos sein.«

»Das sind wir bereits.« Er half ihr aus dem Wagen. Um sie herum war Dunkelheit. Nur aus einigen Fenstern fiel schwacher Lichtschein auf den Felsenboden und die emporragenden steilen Wände.

Mabel Paerson schauderte zusammen. »Ich habe Angst«, flüsterte sie.

»Angst haben alle, die neu in diese merkwürdige Stadt kommen. Angst vor den Felsen, den Atomen, den Strahlen. Aber wenn die Sonne scheint, sieht es ganz anders aus. Dann leuchten die Cañons, die Flüsse und Bäche blinken wie flüssiges Silber, und nirgends sind die Wolken so schön, wie in dem Augenblick, in dem sie von einem Felsen zum anderen ziehen wie Schleier, die eine unsichtbare Riesenhand durch die Luft trägt.«

Dr. Bouth nahm Mabels Mantel aus dem Wagen und legte ihn ihr um. Dann hakte er sich bei ihr unter und führte sie zu einem langgestreckten Haus, das an einen Felsen gelehnt schien.

Sie kamen in einen schmalen, weißen Gang und wurden von einer Schwester empfangen. Das Haus roch nach Karbol und Lysoform.

»Wir möchten zu Dr. Paerson«, sagte Ralf und zeigte seinen und Mabels Ausweis. Genau prüfte die Schwester die Papiere, dann nickte sie.

»Bitte warten Sie«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Der Herr Professor hat gerade Besuch aus El Paso. Ich werde Sie anmelden.«

Leise, wie sie gekommen, verschwand sie wieder mit rauschenden Röcken. Es dauerte nicht lange, bis ein junger Arzt erschien. Er begrüßte Mabel und Ralf freundlich und erstattete den ersten Bericht.

»Es ist kein Grund, sich zu ängstigen, gnädiges Fräulein«, meinte er. »Die Schockwirkung bei der Feststellung, daß die Strahlen durch die dicke Beton- und Bleiwand gingen, war größer als die Strahlenwirkung selbst. Zwei Wochen, und der Herr Professor ist wieder wohlauf.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Mabel leise.

Dann gingen sie bis zum Ende des Ganges, eine Tür klappte auf, und sie standen in einem mäßig großen Zimmer, das von einem breiten Bett beherrscht wurde. Alle Möbel waren weiß, sauber, steril gemacht.

Prof. Dr. Paerson lag auf einem Berg weißer Kissen und rechnete auf einer Holzplatte, auf die er mit Heftzwecken große Bogen Papier geheftet hatte. Er sah erstaunt den Eintretenden entgegen und schob dann seine Platte fort.

»Mabel!« sagte er glücklich. »Kind, du bist da!« Er ließ sich von Mabel auf die Stirn küssen und nickte Dr. Bouth zu. »Ich danke Ihnen, mein Junge. Aber ich habe gehofft, euch anders empfangen zu können.«

»Sie hatten Pech, Herr Professor.« Dr. Bouth und Mabel setzten sich ans Bett und zogen die Stühle nah heran. Paerson wies auf die Papiere, die über und über mit Formeln und Zahlen bedeckt waren.

»Ein kleiner technischer Fehler, sonst nichts. Ich hätte es mir denken können. Wenn bei einer neuartigen Beschießung mit Neutronen größere Energien frei werden, bedeutet dies auch eine Verstärkung der Strahlung, selbst der Abfallprodukte.« Er sah seinen Assistenten an. »Doktor Bouth, wir haben einen neuen Weg gefunden. Ich habe Recht behalten: Es gibt ein Mittel, aus einem Plutonium-Atom durch Beschießung mit Neutronen in Verbindung mit neuartigen Bremsmitteln eine Kettenreaktion herbeizuführen, die bis zu 25 Prozent der in der Materie wohnenden Energie freiwerden läßt. Das heißt –«, Paerson schaute auf seine Berechnungen und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle, »daß wir in der Lage sein können, 1.300.000 000 Grad Celsius zu erzeugen, eine Menge, die wir zur Zeit im gesamten Weltall nicht feststellen können!«

»Unglaublich.« Dr. Bouth beugte sich über das Bett und studierte die Formeln. »Das bedeutet«, sagte er leise, »daß wir hier eine Hyperspaltung haben, die es ermöglicht, das Gleichgewicht der Erde zu stören, wenn wir die Energie auf einen Punkt konzentrieren.«

»Ja, Dr. Bouth!« Paerson richtete sich etwas auf. »Wir haben das Mittel in der Hand, innerhalb von zehn Sekunden diesen Stern Erde auszulöschen!«

»Grauenhaft!« Mabel war aufgesprungen. Ihr Gesicht war weiß, in ihm brannten die Augen, als habe sie Fieber. »Und um dieses Grauen zu bringen, forschst du? Um dieses Elend Wahrheit werden zu lassen, gibst du keine Ruhe? Weißt du denn, was das bedeutet, wenn man es draußen in der Welt erfährt? Dein Name wird verachtet werden, man wird dich verfluchen, dich, den größten Wissenschaftler, der den größten Mord in seiner Retorte sott: den Mord an 2 ½ Milliarden Menschen!« Dr. Bouth war aufgesprungen und wollte etwas sagen, aber eine Handbewegung Mabels ließ ihn schweigen. »Ich bin hierhin gekommen, voll Freude, meinen Vater zu sehen. Ich wollte dich pflegen.« Mabel fiel vor dem Bett in die Knie und umklammerte seine Hände. »Vater, es war doch eine Warnung, dieser Unfall. Hör auf diese Stimme! Laß es sein, neues Grauen zu erfinden! Vater, woran denkst du denn, wenn du siehst, daß du Sonnen herstellen kannst? Denkst du dann an mich, die auch einmal unter deiner künstlichen Sonne verbrennen kann, wenn irgendein anderes Land diese Atome über uns bringt?«

»Mabel!« Prof. Paerson sank in die Kissen zurück. »Es geht um eine Entdeckung, die alle Lebensgesetze umgestaltet.«

»War die Welt nicht schön genug, bevor ihr zu forschen anfingt?« Sie schlug die Hände vor die Augen. »Damals war die Sonne noch eine Sonne, und man konnte durch die blühenden Wiesen gehen ohne die Angst im Nacken, daß aus geheimnisvollen Fernen ein Strahl mit 55.000.000 Grad Hitze die Erde wieder flüssig macht. Was habt ihr dabei gewonnen? Ihr wißt, daß sich Atome verändern; ihr erschließt Dinge, die nie ein Mensch in die Hand bekommen sollte, und ihr entdeckt das Geheimnis der Natur, um den Menschen zu bedrohen, um Herr zu werden über die, die hilflos unter eurer Macht verbrennen wie die 80.000 Japaner in Hiroshima und die 50.000 Unschuldigen in Nagasaki!«

»Die Angst der Menschheit wird unser Frieden sein.« Dr. Bouth wandte sich zu Mabel um. »Wenn diese Macht in der Hand der Menschen ist, die Frieden lieben, wird es nie mehr Krieg geben von denen, die im Krieg ihr Element sehen. Es wird keine Staaten mehr geben, keine Politik, kein Ost oder West – es wird nur Menschen geben in der Gemeinschaft einer Menschheit!«

»Und du glaubst, daß nur du oder Vater oder die Handvoll Wissenschaftler hier in Los Alamos den Stein der Weisen besitzen? Glaubst du, man schläft in Rußland? Oder in England? Oder in Japan? Oder sonstwo auf der Welt? Was ist, wenn zwei Staaten das Atom in der Hand haben? Dann ruft ihr den heiligen Atomkrieg aus – und das, was dann übrig bleibt, eure besungene Menschheit, hat Platz unter einer Eiche! Ein schönes Ziel! Edel und gut!« Sie wandte sich ab. »Ich verstehe euch nicht mehr.«

Prof. Paerson sah Dr. Bouth groß an. Er nickte und setzte sich in den Kissen hoch.

»Das ist, Dr. Bouth, was ich Ihnen und allen anderen sagen will: Baut eine Mauer um diese neue Entdeckung. Laßt sie niemanden wissen! Es gibt auf der Welt nur fünf Männer, die meine neue Kettenreaktion kennen: Ich, Dr. Fermi, Dr. Oppenheimer, Dr. Balz und morgen früh Sie, Dr. Bouth! Bei diesen fünf wird es bleiben. Das verspreche ich dir, Mabel.«

»Und was nutzt dir dieses Wissen?«

Prof. Paerson richtete sich auf – es sah aus, als wolle er sich im Bett aufrecht stellen.

»Ich will die Welt unabhängig machen von allen Zufällen der Natur. Ich will den Menschen zum Geschöpf Nummer 1 im Weltall machen.«

Dr. Bouth sah zu Boden. Ihm verschlug es die Stimme.

Das Geschöpf Nummer 1, dachte er nur. Der Mensch – ein kleiner Gott.

Schweigend verließ er den Raum und ließ Vater und Tochter allein. Vor dem Haus wehte der Nachtwind durch seine Haare. Er spürte die Kälte nicht. Er sah nur die Unendlichkeit, die offen vor ihm lag.