»Warum lügst du mich an?«, fragte er. »Ich weiß, dass du sie gestern in die Stadt gefahren hast.«

Er zog etwas aus seiner Hosentasche und hielt es ihr vors Gesicht. Es war ein dünner Seidenschal in klaren Farben.

239

Katharina starrte ihn verständnislos an. Sie erkannte ihn wieder.

Es war derselbe Schal, den sie am Straßenrand aufgelesen hatte, während Annika in ihren Wagen gestiegen war. Wie war er in Marcos Besitz gelangt?

»Ich habe ihn in deinem Auto gefunden«, sagte er leichthin.

»Er lag hinten auf dem Boden. Ich habe ihn gestern gesehen, als du aus der Stadt kamst, aber da hattest du es ja so eilig.«

Das Blut schoss ihr heiß ins Gesicht. Die Situation hätte nicht peinlicher sein können. Er hatte sie ertappt, doch plötzlich schlug ihre Furcht in Zorn um.

»Was fällt dir ein, in meinem Auto herumzuschnüffeln?«, fragte sie aufgebracht. »Und wer hat dir erlaubt, hier einfach ins Haus zu kommen, ohne anzuklopfen? Okay, ich habe Annika in die Stadt gefahren. Na und? Was willst du jetzt tun? Mich erschlagen?«

Marco betrachtete sie durch die dichten Wimpern seiner halb geschlossenen Augen, während er den Schal durch die Finger gleiten ließ.

»Ich will nur mit dir reden«, wiederholte er.

»Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mit dir reden will.«

Er ließ sich gemächlich am Küchentisch nieder. Katharina blieb an der Spüle stehen.

»Früher warst du mir gegenüber freundlicher«, sagte er betrübt.

»Annika hat schlimme Dinge über mich gesagt, die nicht wahr sind. Sonst hättest du auch keine Angst vor mir. Aber du musst verstehen, dass sie krank ist. Es ist sehr traurig. Sie denkt sich so viel aus.«

Katharina sah ihn aufmerksam an und konnte so viel Unverfrorenheit einfach nicht fassen. Sie sah ein, dass sie mit Aggressivität nicht weiterkam und fragte in besonnenem Ton:

»Wovon willst du mich eigentlich überzeugen?«

240

Er machte eine ungeduldige Kopfbewegung. »Ich will wissen, was sie gesagt hat.«

»In Ordnung. Sie hat mir erzählt, dass du sie schlägst.«

»Das ist nicht wahr!«, rief er empört. Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Du darfst ihr nicht glauben.«

»Wie erklären sich dann ihre blauen Flecken?«

Er sah aufrichtig erstaunt aus. »Welche blauen Flecken?«

»Ihr ganzer Oberkörper war voller Blutergüsse, und ihre Lippen waren aufgeplatzt und geschwollen. Das hat sie nicht nur behauptet, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Für einen Augenblick schien es ihm die Sprache verschlagen zu haben, doch er fing sich rasch wieder.

»Ach, jetzt verstehe ich, wovon du sprichst«, sagte er mit erleichterter Miene. »Sie ist am Mittwoch die Treppe vom Dachboden runtergefallen und hat sich sehr wehgetan. Du weißt schon, dieses alte Haus, die Treppe ist sehr gefährlich.

Wahrscheinlich hatte sie Glück, dass sie sich nicht den Hals gebrochen hat. Deswegen mache ich mir ja so große Sorgen um sie. Sie ist seitdem sehr verwirrt. Vielleicht ist sie zu hart mit dem Kopf aufgeschlagen und braucht einen Arzt.«

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, entgegnete Katharina trocken, »den wird sie inzwischen längst aufgesucht haben.«

Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Wie meinst du das? Weißt du, wo sie ist?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihm fest in die Augen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn du also hierher gekommen bist, um herauszufinden, wo sie ist, dann vergeudest du deine Zeit.«

»Wo hast du sie hingebracht?«, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern.

241

»Ich habe sie am Bahnhof rausgelassen, aber sie hat nicht gesagt, wo sie hin wollte.«

Für einen Augenblick verlor Marco die Beherrschung.

Wutentbrannt schlug er mit voller Wucht auf den Tisch.

»Die verdammte Schlampe ist nach Stockholm gefahren!«, schrie er.

Katharina wich langsam in Richtung Tür zurück und ließ ihn nicht aus den Augen.

»Sie war einem Zusammenbruch nahe, als ich sie getroffen habe«, sagte sie. »Und ich glaube nicht, dass es daran lag, dass sie die Treppe runtergefallen ist.«

»Getroffen? Wo?«

»Sie lief mir um kurz vor fünf bei strömendem Regen auf der Straße entgegen, als ich gerade nach Hause fuhr.«

Marco schlüpfte mit Leichtigkeit wieder in die Rolle des besorgten Ehemanns.

»Du musst verstehen, dass ich manchmal böse auf sie werde, wenn sie solche Sachen macht. Ich trage schließlich eine große Verantwortung für sie. Sie ist nicht in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Von Domus hat auch jemand angerufen und gefragt, warum sie nicht zur Arbeit erschienen ist. Sie hätte heute arbeiten sollen. Was soll ich ihnen sagen? Ich kann doch nicht erzählen, dass meine Frau sich manchmal etwas merkwürdig benimmt. Ich muss sie finden, verstehst du? Ich bin mir sicher, dass sie dir erzählt hat, wo sie hin wollte. Wenn du es gut mit ihr meinst, dann solltest du mir sagen, wo sie steckt.«

Katharina warf einen verstohlenen Blick auf die Wanduhr. Sie hoffte inständig, dass Nisse heute nicht in Erzähllaune war. Sie mussten doch bald zurück sein. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als mit PM und Roffe zu drohen.

»Ich habe doch schon gesagt, dass ich nicht weiß, wo sie hin wollte. Würdest du jetzt bitte gehen. Bald wird Patrik mit 242

seinem Freund zurückkommen, und es wird ihm gar nicht gefallen, dass du hier einfach so reingeschneit bist.«

Er schien ihr nicht zugehört zu haben. Seine Augen hatten einen eigentümlichen Ausdruck angenommen, der sie erschreckte, obwohl sie ihn nicht deuten konnte. Er ließ den Blick durch die Küche schweifen, als suche er nach etwas, vielleicht nach einer Idee. Dann grinste er unverschämt.

»Vielleicht bringt er mich um und wirft mich in die Jauchegrube!«, sagte er höhnisch.

Katharina stutzte. »Was sagst du da?«

Marco lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Grinsen wurde noch breiter.

»An deiner Stelle wäre ich nicht so hochmütig. Könnte doch sein, dass du deine Nächte bald allein verbringen musst. So wie ich.« Er ließ seinen Worten einen lüsternen Blick folgen, als könne er durch ihren Bademantel hindurchsehen.

Katharina blieb der Mund offen stehen.

»Was versuchst du mir eigentlich gerade zu sagen?«

»Ich rede davon, dass dein Mann ein Mörder ist und vielleicht bald ins Gefängnis kommt«, sagte er triumphierend.

Ihr wurde beinahe übel vor Unbehagen.

»Wer hat das gesagt?«

»Alle wissen das. Und vielleicht hast du es ja auch die ganze Zeit gewusst. Er hat sich einen Feind vom Hals geschafft, und ihr habt geglaubt, es würde niemand merken.« Er kicherte amüsiert.

»Aber ihr habt Nisse nicht mit einberechnet. Der liebt es, die Jauche abzupumpen.«

Der Kerl war widerlich. Sie empfand eine lähmende Machtlosigkeit. War es möglich, dass man sich in der Ortschaft schon das Maul über sie zerriss? Wenn ja, würde sie Roffe zur Rede stellen. Dann konnte nur die Polizei verantwortlich dafür 243

sein. Sie sah die höhnische Fratze vor sich und verspürte Ekel.

Irgendwie musste sie dieses Untier schnellstens aus dem Haus schaffen, bevor es hier weiter sein Gift versprühte. Doch sie hatte Angst, große Angst. Dennoch verspürte sie einen unwiderstehlichen Drang, diesem grinsenden Scheusal das Maul zu stopfen. Ihre Worte kamen wie von selbst, und sie erschrak über das Ausmaß ihrer Verachtung.

»Du scheinst einiges nicht begriffen zu haben«, sagte sie mit Eiseskälte. »Ich weiß nicht, wie es dort zugeht, wo du herkommst, aber hier kann man nicht einfach seine Frau schlagen und erwarten, dass sie die Klappe hält. Ich kann dir nur raten, Annika in Frieden zu lassen, wenn du dir keine Anzeige wegen Körperverletzung einhandeln willst. Was über uns geredet wird, weiß ich nicht, aber ich warne dich: Solltest du falsche Behauptungen über uns verbreiten, wirst du es bereuen.

Es dürfte kein Problem sein, dich zur Rechenschaft zu ziehen, wenn man bedenkt, was du in den Nächten so alles …«

Weiter kam sie nicht. Was der Auslöser war, der ihn die Kontrolle verlieren ließ, würde sie nie erfahren. Das, was folgte, erlebte sie wie in Trance.

Mit einem Sprung war er bei ihr, riss mit einer einzigen Bewegung ihren Bademantel auf und packte sie an der Kehle.

Ihre Angst schlug in besinnungslose Raserei um. Instinktiv rammte sie ihm mit voller Wucht das Knie zwischen die Beine.

Verwundert nahm sie einen erstickten Schrei wahr und sah wie durch einen roten Schleier, dass er vor ihr zusammenklappte. Sie riss das andere Knie nach oben und traf seine Nase. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Boden auf.

PM und Roffe fanden Kalle Svanberg in der Werkstatt hinter dem Kuhstall, wo er gemeinsam mit seinem erwachsenen Sohn einen Traktor reparierte. Begrüßungen wurden ausgetauscht, und Roffes höfliche Frage, ob sie ein Problem mit dem Traktor 244

hätten, quittierten Vater und Sohn mit unbeschwertem Lachen und der Versicherung, es sei nicht schlimmer als üblich. Kalle Svanberg war ein hoch aufgeschossener, hagerer Mann mit kantigen Gesichtszügen. Obwohl seine Haare schneeweiß waren, konnte er kaum älter als sechzig sein. Sein Sohn war schwarzhaarig, doch im Übrigen ein Abbild seines Vaters, wenn auch in einer jüngeren Ausgabe. Beide hatten einen ausgesprochen freundlichen und offenen Blick und nahmen ihren Gästen prompt das Versprechen ab, doch zum Kaffeetrinken zu bleiben. »Roffe und ich sind gerade bei Nisse gewesen«, sagte PM, als sie den Hofplatz überquerten.

»Was du nicht sagst!«, rief Kalle überrascht. »Und er hat euch wirklich ins Haus gelassen?«

»Ja, natürlich, wir sind eine ganze Weile bei ihm gewesen.«

Als Signe Svanberg vor dem Haus erschien, kam eine ausgelassene Stimmung auf. Roffe wurde Zeuge, wie PM sie um die Hüften fasste und auf dem Hofplatz in einem wilden Tanz mehrmals herumwirbelte. Die Szene wirkte grotesk, weil Signe Svanberg eine überaus üppige und schwergewichtige Frau war, mindestens dreimal so breit wie PM.

Danach wurde die ganze Gesellschaft in eine große, helle Küche gebeten, in der es nach frisch gebackenem Brot duftete.

Für Roffe stand sie in befreiendem Kontrast zu der Küche, die sie eben verlassen hatten. Wohlgefällig blickte er sich um.

Freundliche Schränke aus Kiefernholz, sauber schimmernde Bänke, farbenfrohe handgewebte Flickenteppiche auf dem Boden und Geranien in den Fenstern. Er lächelte Signe strahlend an. In ihrer Gesellschaft würde das Kaffeetrinken eine reine Freude sein.

Nachdem sie eine Weile über Gott und die Welt geredet hatten, sagte PM: »Roffe und ich haben uns gerade über Knigarps trauriges Schicksal unterhalten, und dabei denke ich nicht nur an so bedauerliche Zwischenfälle wie die Leiche in der 245

Jauchegrube, sondern an den allgemeinen Verfall, den wir in den letzten Jahren mit ansehen mussten.«

»Zu Zeiten deines Onkels war Knigarp wirklich ein Musterhof«, sagte Signe.

Kalle nickte zustimmend. »Ja, Anders Hammar hat das großartig gemacht«, sagte er. »Sicher gibt es viele, die ihn vermissen. Und was für ein Händchen er für die Tiere hatte.«

»Aber er hat sich auch wirklich abgerackert, um den Hof in Schuss zu halten«, warf Signe ein. »Und viel Hilfe hatte er nicht dabei, seit Lilly krank wurde. Seine Söhne haben an Knigarp ja nie Interesse gezeigt. Natürlich hat Nisse ihm mit den Tieren geholfen, aber das ist auch alles. Den Ackerbau hat er selbst betrieben, und ich habe ihm oft gesagt, er solle sich Hilfe holen, aber das hat er nie getan. Er hat es als seine Berufung empfunden, für diesen Hof zu schuften. Ein Jammer, dass seine Söhne ihn nicht übernehmen wollten. So war er gezwungen, ihn zu verkaufen, als er nicht mehr genug Kraft hatte.«

»Das ist ja das Tragische an Knigarp«, pflichtete PM ihr bei,

»dass sich niemand dem Hof wirklich verbunden gefühlt hat, seit Anders ihn verkaufen musste.«

»Außer Nisse«, sagte Kalle. »Er arbeitet doch seit mindestens vierzig Jahren dort und ist auf seine Weise mit ihm verwachsen.«

»Ich wollte dich als Fachmann etwas fragen, Kalle«, begann PM.

»Wie kommt es, dass sich ein Landwirt nach dem anderen an Knigarp versucht hat und niemand lange geblieben ist? Waren die allesamt unfähig, oder liegt es an dem Fluch unserer Tage, der sich Rentabilität nennt? Und wird diese Entwicklung erst enden, wenn alle Gebäude baufällig sind und der Wald die Felder zurückerobert hat?«

»Um Himmels willen, wie sich das anhört!«, rief Signe erschrocken. »So weit wird es schon nicht kommen.«

246

PM hatte sich richtig in Fahrt geredet.

»Was muss man denn erwirtschaften, damit so ein Hof nicht völlig auf den Hund kommt?«

Kalle schüttelte bedächtig den Kopf. »Also die ökonomische Seite ist nie meine große Stärke gewesen«, entgegnete er. »Aber wenn man über die nötige Berufserfahrung verfügt und sich nicht auf die faule Haut legt, dann ist es im Grunde nicht allzu schwer, über die Runden zu kommen. Falls man sich nicht völlig verkalkuliert hat, versteht sich.«

»Mir scheint, dass viele Höfe in den letzten Jahren finanzielle Probleme bekommen haben«, sagte Roffe vorsichtig. »Und dass sich die Besitzer förmlich die Klinke in die Hand geben, passiert doch auch anderswo.«

»Sicher«, sagte Kalle. »Aber für mich ist das eben ein typisches Beispiel für die mangelnde Berufserfahrung, von der ich gesprochen habe. Wenn der Kaufpreis schon so überhöht war, dass ein normaler Jahresertrag gerade mal dazu ausreicht, die Hypothekenzahlungen zu leisten und die laufenden Kosten zu decken, dann hat man keinen Handlungsspielraum mehr.«

»Und was hältst du von dieser einseitigen Bewirtschaftung, indem man nur auf die Schweinezucht setzt?«, fragte PM.

Kalle lachte in sich hinein. »Du weißt doch, was ich davon halte. Die Großproduktion soll ja so rentabel sein. Aber wenn die Preise für das einzige Produkt, das man anzubieten hat, sinken, oder wenn das Wetter nicht mitspielt, dann steht man plötzlich mit leeren Händen da. Wie auf Knigarp. Schweine gab es dort schon immer, und lange Zeit waren sie sogar eine bedeutende Einnahmequelle. Jetzt haben sie ungefähr fünfmal so viele Säue, während alle anderen Produktionszweige brachliegen. Worüber ich mich nicht zu beklagen brauche. Ich habe ja schließlich zwölf Hektar ihrer besten Ackerfläche gepachtet und gute Erträge erzielt. Aber die Lage für Knigarp ist schwieriger geworden. Wenn es mit der Schweinezucht 247

irgendwann den Bach runtergehen sollte, warum auch immer, dann können sie das durch nichts ausgleichen.«

Während sich Kalle Svanberg nachdenklich sein Brot mit Fleischwurst schmecken ließ und Signe ihre Gäste nötigte, ordentlich zuzugreifen, starrte ihr Sohn gedankenverloren aus dem Fenster.

»Du meinst also, dass Nygren ein schlechtes Geschäft gemacht hat?«, fragte PM.

»Diese Vermutung liegt zumindest nahe«, antwortete Kalle.

»Als Anders Hammar den Hof zu einem anständigen Preis verkaufte, war er in einem Topzustand. Dann kamen drei Eigentümer nacheinander, die nur ein einziges Interesse zu haben schienen: möglichst viel aus dem Hof herauszuholen, um ihn dann zu einem überhöhten Preis wieder abzustoßen.«

»So ging ein Großteil des Waldbesitzes verloren«, ergänzte PM.

»Ja, für Nygren sicher ein schmerzlicher Verlust. Denn wenn er nicht so eine hohe Hypothek hätte aufnehmen müssen, würde er von der Schweinezucht sicher gut leben können.«

»Glaubst du, dass er was kann?«

»Dass er an dieser einseitigen Schweinezucht festhält, spricht möglicherweise nicht dafür, dass er besonders fachkundig ist«, antwortete Kalle vorsichtig.

»Was hältst du von ihm persönlich?«

Kalle schaute von PM zu Roffe hinüber und kniff ein wenig die Augen zusammen.

»Wie merkwürdig, dass alle von mir wissen wollen, was ich persönlich von Nygren halte«, sagte er. »Dieser Wagnhärad von der Polizei hat mir dieselbe Frage gestellt, und die Antwort fällt mir schwer, weil ich eigentlich gar keine Meinung von ihm habe.«

248

PM lachte. »Ich wette, auch du hältst ihn für einen merkwürdigen Kerl, bei dem man sich fragt, was er eigentlich auf dem Land verloren hat.«

Kalle trank seinen Kaffee aus und blickte ihn mit sonderbarem Ausdruck an.

»Kann schon sein, dass ich manchmal wirklich gedacht habe, er wäre hier fehl am Platz. Aber wir sollten ihm ein wenig Zeit geben. Er ist doch erst ein halbes Jahr hier.«

»Was meinst du, Signe?«, fragte PM.

»Also ich finde, er macht was her«, entgegnete sie freimütig.

»Und höflich ist er auch, was sich von manchen seiner Vorgänger nicht behaupten lässt.«

»Denkst du an den Neandertaler?«, fragte PM.

»Erraten, wenn du von Sandström sprichst.« Kichernd fuhr sie fort: »Was für ein Glück, dass der endlich weg ist. Ich könnte Nygren allein dafür um den Hals fallen, dass er ihm den Hof abgekauft hat. Und dieser Schweizer ist doch auch nicht zu verachten. So wie der aussieht, ist er eine Gefahr für alle Frauen in dieser Gegend. Nur gut, dass er verheiratet ist. Hoffentlich hat seine Frau ihn unter Kontrolle.« Signe warf PM einen viel sagenden Blick zu.

»Was sagt denn Katharina zu ihm? Pass bloß auf, dass sie sich nicht in ihn verguckt.«

»Hat sie schon«, sagte PM. »Sie hält ihn für ein ästhetisches Wunderwerk und bekommt einen glasigen Blick, wenn sie ihn sieht. Aber natürlich zieht sie mich vor, weil ich so eine schöne Seele habe.«

Signe schlug sich lachend auf die Schenkel. »Eine schöne Seele, hör sich das einer an! An Selbstbewusstsein hat es dir ja noch nie gefehlt. Sieht man die schöne Seele auf deinen Bildern? Dann muss man sich allerdings fragen, was schön ist.

Aber ich weiß ja, dass du auch ganz anders malen kannst.« Sie 249

wandte sich erklärend an Roffe: »Kalle hat ein sehr schönes Bild zu seinem sechzigsten Geburtstag bekommen. Es hängt im Wohnzimmer. Und mir hat er eines mit Blumen geschenkt, als ich fünfundfünfzig wurde. Es ist nur schade, dass er uns seine schönsten Bilder schenkt und die anderen verkauft, obwohl niemand begreift, was sie bedeuten sollen. Aber es gibt ja Leute, denen so etwas gefällt.«

»Apropos Marco Fermi«, nahm PM den Faden wieder auf.

»Kennt ihr seine Frau eigentlich näher?«

Signe runzelte die Stirn.

»Ich glaube, sie ist sehr schüchtern, die Arme. So sieht sie jedenfalls aus. Schwierig, mit so einem jungen Mädel ins Gespräch zu kommen. Manchmal treffe ich sie bei Domus, wenn ich in der Stadt einkaufe, aber sie wirkt immer völlig eingeschüchtert, wenn ich mit ihr rede. Vielleicht legt sich das mit der Zeit.«

PM fand, dass es an der Zeit zum Aufbruch war, und wechselte mit Kalle abschließend ein paar Worte über den neu installierten Kaminofen. Die ganze Gesellschaft bewegte sich zur Haustür, vor der ihnen ein peitschender Regen entgegenschlug.

»Brr, was für ein Wetter!«, stöhnte Signe. »Hoffentlich kehrt der Sommer bald zurück. Viele Grüße an Katharina! Sie fragt sich bestimmt schon, wo ihr bleibt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte PM. »Sie genießt es sicher, eine Weile allein zu sein.«

Ehe Katharina wirklich begriff, was geschehen war, stürmte sie aus dem Haus. Ihr Bademantel flatterte wie ein rosa Segel hinter ihr her, als sie die Autotür aufriss und sich auf den Fahrersitz warf. Sie verriegelte alle Türen und griff automatisch in die Tasche ihres Bademantels, aber der Autoschlüssel befand sich 250

natürlich außer Reichweite in der Tasche ihres Mantels, und der hing im Flur. Außer sich vor Wut hämmerte sie fluchend gegen das Lenkrad. Ihre Atmung war nur mehr ein hektisches Keuchen. Ihr Brustkorb schmerzte.

Sie starrte unablässig zur Haustür hinüber, die sie nicht einmal abgeschlossen hatte, überzeugt davon, dass er jeden Moment aus der Tür stürzen würde. Er würde nur wenige Sekunden brauchen, um zu erraten, wo sich ihr Autoschlüssel befand.

Obendrein schlug und quietschte die Tür gespenstisch im böigen Wind.

Aber er kam nicht. Warum nur? Lag er etwa besinnungslos auf dem Fußboden?

Katharina vergegenwärtigte sich, was eigentlich geschehen war, und staunte, zu welcher Brutalität sie imstande gewesen war. Und wenn sie ihn nun ernsthaft verletzt hatte? Vielleicht brauchte er einen Arzt.

Ach, verdammt, es war doch nicht ihre Sache, sich darüber Sorgen zu machen. Sie hatte in Notwehr gehandelt. Vielleicht wäre der zweite Angriff mit dem Knie nicht nötig gewesen, aber schließlich hatte sie sich in Lebensgefahr gefühlt.

Plötzlich blieb ihr das Herz stehen. Und wenn sie ihn getötet hatte? Um Gottes willen! Sie hatte mit voller Wucht sein Nasenbein getroffen. Ihr Knie tat immer noch weh. Hatte sie nicht schon mal gehört, dass jemand nach einem kräftigen Schlag auf die Nase gestorben war? Es lief ihr kalt über den Rücken. Hier konnte sie nicht länger sitzen bleiben. Sie fror entsetzlich und musste an ihren Autoschlüssel herankommen. Es regnete wieder in Strömen.

Als hätte sie Angst, unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, öffnete sie behutsam die Autotür. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Haustür und lauschte gespannt. Nur der Regen und das Rauschen des Windes in den Baumkronen waren zu hören.

251

Mit einem langen Schritt erreichte sie den Kleiderbügel und griff rasch in die Manteltasche. Der Schlüssel fühlte sich beruhigend an. Jetzt musste sie nur noch zurück zum Auto laufen. Aber sie tat es nicht, konnte nicht. Sie musste nachschauen, was geschehen war.

Immer noch auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem näherte sie sich der Küche. Zuerst sah sie die Füße, die sich im Teppich verfangen hatten, dann die Beine, die sich in einer unnatürlichen Stellung befanden – sagte man das nicht so? Er lag der Länge nach auf dem Boden, die Hände immer noch zwischen die Beine gepresst. Der Kopf war auf die Seite gedreht und lag in einer Blutlache. Die Nase sah gebrochen aus. Sie konnte weder sehen noch hören, dass er atmete. Ohne den Blick von ihm zu wenden, zog sie sich rückwärts in die Diele zurück.

An der Haustür drehte sie sich um und rannte zum Auto.

Mit dieser Situation wurde sie nicht allein fertig. Sie brauchte Hilfe.

Eine befreiende Gefühllosigkeit war an die Stelle von Wut und Angst getreten. Sonderbar betäubt lenkte sie den Wagen auf die Straße. Während sie Äsperöd entgegenfuhr, gingen ihr verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf. Man würde die Tat vermutlich als Totschlag einstufen. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Jahre man dafür bekam, ging aber davon aus, dass mildernde Umstände vorlagen.

Warum war sie so ruhig? Weil sie die letzten Illusionen über ein glückliches Dasein verloren hatte?

Es war ein Segen, dass Marika in Kalmar wohnte. Wenn sie vorsichtig waren, brauchten ihre Mitschüler nie etwas von der Sache zu erfahren. Die Frage war, wie ihr wohlerzogener Freund sich verhalten würde. Der Schwiegervater in spe unter Mordverdacht, die künftige Schwiegermutter wegen Totschlags hinter Gittern. Aber Marika würde schon damit fertig werden.

Schwieriger war die Situation für Patrik. Sie fragte sich, ob 252

dieser Vorfall die Ermittlungen gegen ihn negativ beeinflussen konnte.

Wie gut, dass sie Roffe hatten. Er würde entscheiden, was in ihrem Fall zu tun war. Bei den vielen Verbrechen, von denen sie betroffen waren, war es äußerst praktisch, einen Hauskommissar zu haben. Sie selbst wollte im Moment nichts als Ruhe.

Und ihre Arbeit? Verdammt, die hatte sie ganz vergessen. In Gedanken sah sie, wie sich ihre Kollegen feixend um sie versammelten. »Was hast du denn am Wochenende gemacht?« –

»Ich habe meinen Nachbarn erschlagen.« Konnte man sich beurlauben lassen, um eine Gefängnisstrafe abzusitzen?

Vielleicht würde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

Unwillkürlich trat sie auf die Bremse, sodass die Reifen quietschten. Sie hatte Roffes Auto erblickt, das vor Svanbergs Hof stand.

Ohne weiter darüber nachzudenken, parkte sie den Wagen einfach am Wegesrand.

Doch erst nach ein paar Schritten sah sie die Gruppe im strömenden Regen vor dem Haus stehen und zu ihr hinüberschauen. Der Anblick der vier Menschen riss sie auf einen Schlag aus ihren Gedanken. Sie musste einen sonderbaren Anblick bieten, nur mit einem offenen Bademantel bekleidet, die Haare nass und wirr. Den Gürtel hatte sie irgendwo verloren, also musste sie den Bademantel mit der Hand zusammenhalten.

Zum Umkehren war es zu spät. Ihr Zustand verlangte eine Erklärung. War sie dazu in der Lage?

Patrik lief ihr erschrocken entgegen. Sie warf sich ihm in die Arme.

»Ist etwas mit Marika?«, fragte er. »Ist ihr was passiert?«

Zunächst verstand sie nicht, was er meinte, begriff dann aber, dass es die nahe liegendste Erklärung für ihren hysterischen Auftritt war. Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihre Verkrampfung sich löste.

253

»Nein, es ist Marco«, schluchzte sie.

Im nächsten Moment wurde sie von allen umringt und mit Fragen bombardiert. Signe wollte sie erst mal ins Trockene bringen, doch sie flehte Patrik an, sofort mit ihr nach Hause zu fahren. Nach einigem Hin und Her fand sie sich auf dem Beifahrersitz wieder, während sich Patrik hinter das Steuer setzte. Er wendete den Wagen und winkte Signe und Kalle zu, die bestürzt und verwirrt auf dem Hofplatz zurückblieben. Roffe folgte ihnen mit seinem Wagen.

Patrik betrachtete sie von der Seite. Seine buschigen Augenbrauen waren nach oben geschnellt, wie stets, wenn er aufgebracht war.

»Was ist denn passiert?«, fragte er erregt.

»Ich habe Marco erschlagen«, antwortete sie mit erstickter Stimme und versuchte ihr tränenüberströmtes Gesicht mit einer Ecke ihres Bademantels zu trocknen.

Er brauchte eine Weile, um diese Neuigkeit zu verdauen. Doch nach einer Minute fragte er: »Wie ist das möglich? Er ist doch viel stärker als du.« Er schien ihr nicht zu glauben.

»Er liegt auf dem Küchenboden, sieh selbst.«

Sie drehte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass Roffe dicht hinter ihnen fuhr.

»Woher weißt du, dass er tot ist?«, fragte Patrik.

»Er sah tot aus«, schniefte sie.

Schweigend trat er aufs Gaspedal. Sie fuhren an Knigarp vorbei und bogen in gefährlich hohem Tempo auf den kleinen Weg ab. Erst als sie das Eingangstor erreicht hatten, bremste er abrupt und stellte den Motor ab.

»Bleib hier sitzen!«, sagte er entschieden. »Ich geh rein und schau nach.«

Sie beobachtete, wie er auf die Haustür zueilte, vor der Eingangstreppe stehen blieb und sich umsah. Dann nahm er 254

einen kleinen, orangefarbenen Spaten zur Hand, den sie an der Treppe stehen gelassen hatte. Derart bewaffnet ging er ins Haus.

Im selben Moment fuhr Roffe auf das Grundstück. Er lief auf sie zu und half ihr aus dem Wagen.

»Was ist los?«, fragte er bestürzt.

Sie antwortete nicht, weil in diesem Augenblick Patrik im Türrahmen erschien.

»Er ist nicht mehr da!«, rief er.

Katharina drückte Roffes Arm und flüsterte: »Dann habe ich ihn nicht umgebracht.«

Roffe zog sie zur Tür.

»Wer ist nicht mehr da? Und wen hast du nicht umgebracht?«, rief er aus.

Nachdem PM auf Katharinas dringliche Bitte hin das ganze Haus durchsucht und Marco Fermi nicht entdeckt hatte, versammelten sich alle drei um die Blutlache in der Küche.

Katharina bemühte sich um eine anschauliche Beschreibung des Tathergangs und demonstrierte Roffe, wie sie zugetreten hatte.

PM brach in schallendes Gelächter aus.

»Wo hast du denn das gelernt? Ich dachte, du hättest im Winter Tai-Chi gemacht.«

Sie sandte ihm einen zornigen Blick. »Hab ich auch. Es ist einfach so passiert. Kapierst du das nicht?«

Roffe schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich möchte jetzt nicht an Fermis Stelle sein. Ein gebrochenes Nasenbein tut fürchterlich weh. Außerdem besteht die Gefahr, dass sichtbare Spuren bleiben. Ich frage mich, ob er klug genug ist, einen Arzt aufzusuchen.«

PM hatte begonnen, das Blut mit Küchenpapier wegzuwischen.

»Er ist doch selbst schuld«, sagte er. »Wer sich mit Katharina anlegt, muss auch die Konsequenzen tragen.«

255

»Er muss rasch zu sich gekommen sein, nachdem du weggefahren bist«, sagte Roffe. »Sonst wären wir ihm doch auf dem Weg begegnet.«

»Vielleicht hat er den Weg durch den Wald genommen«, sagte PM.

Katharina ließ sich erschöpft auf den nächstbesten Küchenstuhl sinken. Sie hatte zunächst eine unendliche Erleichterung empfunden; die Erkenntnis, ihn nicht getötet zu haben, war wie ein Rausch gewesen. Aber die Freude währte nicht lange. Ein toter Marco wäre natürlich eine Katastrophe gewesen, aber ein lebender und gedemütigter Marco mit gebrochenem Nasenbein war auch eine Katastrophe. Als befände sich ein angeschossener Tiger in ihrer Nähe. Sie schaute hilflos zu Roffe hinüber.

»Was soll ich nur tun? Ihn wegen Hausfriedensbruchs anzeigen? Oder macht das die Sache nur noch schlimmer?«

Roffe verfolgte nachdenklich Patriks Anstrengungen, den Küchenfußboden zu säubern.

»Das ist eigentlich keine schlechte Idee«, sagte er zögerlich.

»Wir wollen ihm ja schließlich noch eingehender auf den Zahn fühlen, und eine solche Anzeige wäre der richtige Vorwand dafür. Allerdings, wenn die Sache vor Gericht kommen sollte, dann wird er dich, entweder aus eigenem Antrieb oder auf Betreiben seines Anwalts, der Körperverletzung bezichtigen.

Die Gewalt, die du angewandt hast, könnte als unverhältnismäßig eingestuft werden.«

»Wie kannst du das beurteilen?«, rief Katharina erregt. »Er hatte mich an der Kehle gepackt. Und in Anbetracht dessen, was mir Annika erzählt hat, musste ich doch wohl mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Das wollte ich gerade hinzufügen. Der Richter wird vermutlich zu der Auffassung gelangen, dass du in äußerster 256

Notwehr gehandelt hast. Aber so etwas lässt sich immer schwer voraussagen.«

Ihr wurde ganz schlecht bei der Vorstellung, ein Gericht davon überzeugen zu müssen, dass sie nicht unverhältnismäßig starke Gewalt angewandt hatte. Sie legte überhaupt keinen Wert darauf, diese unappetitliche Geschichte an die Öffentlichkeit zu zerren.

»Ich will keinen Prozess«, sagte sie. »Da lasse ich die Sache lieber auf sich beruhen. Mir kommt es nur darauf an, dass er irgendwie von hier verschwindet. Wie sollen wir sonst jemals in Ruhe weiterleben können?«

»Es muss ja nicht unbedingt zum Prozess kommen«, sagte Roffe. »Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, könntest du darüber nachdenken, die Anzeige zurückzuziehen.«

PM, der dazu übergegangen war, die Dielen mit nassem Küchenpapier zu putzen, hob seine Stimme: »Also wenn du ihn nicht anzeigst, dann mach ich das. Er ist in mein Haus eingedrungen und hat meine Frau belästigt. Damit werde ich mich nicht abfinden. Außerdem werde ich bald zu ihm gehen und ihn zur Rede stellen.«

Katharina stöhnte auf und warf hilflos die Arme in die Luft.

»Herrgott, hat es heute nicht schon genug blutige Auseinandersetzungen gegeben? Was bringt es denn, ihn jetzt zur Rede zu stellen? Das endet nur damit, dass du auf ihn losgehst, oder schlimmer noch, dass er auf dich losgeht.«

Roffe pflichtete ihr bei. »Es wäre regelrecht töricht, jetzt zu ihm zu gehen«, sagte er. »Die Situation ist doch schon schlimm genug.«

PM warf verärgert das Küchenpapier auf den Boden.

»Warum gehen eigentlich immer alle davon aus, dass ich gewalttätig werde? Traut ihr mir denn nicht ein bisschen mehr 257

Verstand zu? Ich will nur sichergehen, dass er uns in Zukunft in Frieden lässt.«

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte Katharina.

»Indem ich ihm ein paar Dinge klar mache.«

»Das habe ich ja auch schon versucht«, entgegnete sie. »Es hat nichts genutzt. Die einzige Lösung, die ich sehe, ist, dass er von hier verschwindet. Das wäre wohl auch das Beste für ihn selbst.

Er hat sich doch schließlich auf jede erdenkliche Weise unmöglich gemacht.«

Roffe nickte. »Am einfachsten wäre es tatsächlich, wenn Nygren sich gezwungen fühlte, ihn zu entlassen. Oder wenn er von sich aus kündigen würde. Darüber sollten wir sowohl mit Nygren als auch mit Fermi reden. Doch zunächst sollten wir weitere Auskünfte über Signore Fermi einholen. Das könnte die Prozedur vereinfachen.«

»Gut«, sagte Katharina. »Dann erstatte ich Anzeige gegen ihn.«

»Ist praktisch schon geschehen«, sagte Roffe. »Ich schicke dir am Montag die Formulare zum Ausfüllen. So, und jetzt müsst ihr eine Weile ohne mich auskommen, weil ich mich nun ganz anderen Dingen widmen werde. Ich gehe davon aus, dass ihr dafür Verständnis habt und alles unternehmt, was in eurer Macht steht, um weitere Überraschungen zu vermeiden.«

Katharina stand auf und umarmte Roffe herzlich.

»Mach dir keine Sorgen. Wir werden hinter dir die Tür abschließen. Dann werde ich ein Bad nehmen, um mich zu entspannen, und Patrik wird vor der Tür Wache halten.«

PM protestierte heftig: »Wenn hier einer baden muss, dann bin ich das. Ich bin schließlich bei Nisse gewesen. Und wenn ich dich wirklich beschützen soll, ist es wohl das Beste, wir baden zusammen.«

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Katharina schien irgendwelche Einwände zu haben, doch Roffe erfuhr nicht mehr, worauf sie sich einigten. Noch ehe die Sache entschieden war, machte er sich auf den Weg.

259

19

Montag, 8. Mai

Fax von der Kriminalpolizei in Stockholm an Kriminalhauptkommissar Rolf Stenberg, Christiansholm.

Lieber Roffe, hier einige Informationen über den Stand der Ermittlungen bezüglich des Mordes in der Engelbrektsgata. In der Wohnung konnten wir ungefähr einhundert Fingerabdrücke sicherstellen. Die meisten sind noch nicht identifiziert. Um die zwanzig Personen aus dem Bekanntenkreis von Marianne Wester wurden verhört. Die interessanteste von ihnen ist zweifellos ihre Freundin Gisela Nordh. Sie machte einen erschütterten Eindruck, war aber sehr auskunftsfreudig.

Während des Verhörs bestätigte sie, dass MW und sie größtenteils von » Dienstleistungen« lebten, die

» Geschäftsfreunde« von Axel Hemberg in Anspruch nahmen.

Nach intensivem Nachfragen räumte sie ein, es seien keine

» Geschäftsfreunde« von Hemberg gewesen. Vielmehr habe Hemberg als Kontaktmann zwischen ihnen und Personen fungiert, die mit irgendeinem Konzern oder einer Organisation in Verbindung stünden. Da ihre so genannten Gäste meist aus dem Ausland gekommen seien, müsse es sich um eine internationale Organisation handeln. MW und sie hätten den Eindruck gewonnen, dass Axel Hemberg auf der Gehaltsliste der Organisation ziemlich weit unten stünde, doch konnte sie diesen Eindruck nicht näher begründen. Die Frage, wer Hembergs Funktion als Kontaktmann übernommen hätte, wollte sie zunächst nicht beantworten, gab jedoch schließlich Folgendes zu Protokoll:

Einige Wochen nach Hembergs Verschwinden seien beide Frauen von einem Mann aufgesucht worden, der sich als 260

Hembergs Auftraggeber zu erkennen gegeben habe. Er habe Näheres zu Hembergs Plänen und seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort erfahren wollen. Da sie darüber nichts wussten, hätten sie auch nichts sagen können. Daraufhin habe er erklärt, er habe bis auf weiteres Hembergs Funktion als Kontaktmann übernommen. Wenige Tage später habe er sie mit ein paar

» Gästen« aus Südamerika bekannt gemacht.

Gisela Nordh wollte unter keinen Umständen den Namen des neuen Kontaktmanns verraten, doch nach Andeutungen unsererseits, er könne für den Mord an MW verantwortlich sein und sie schwebe nun selbst in Gefahr, gab sie ihren Widerstand auf und sagte aus, er heiße Peter Enqvist und sei Immobilienverwalter mit Büro in der Surbrunnsgata. Bei unseren Recherchen hörten wir von Unregelmäßigkeiten bei der Wohnungsvergabe, haben aber bislang keine Beweise für solche Behauptungen. Wir beantragten eine Hausdurchsuchung, konnten im Interesse der Sicherheit von Frau Nordh jedoch nichts über unsere Kenntnis seiner Beziehung zu MW verlauten lassen. Darum haben wir vorgegeben, es handle sich um eine Routineüberprüfung seiner Immobiliengeschäfte. Zwei unserer Mitarbeiter, die angeblich eine Wohnung kaufen wollten, haben eine Wanze in seinem Büro installiert. Es wurde ihnen eine Zweizimmerwohnung angeboten, aber das Band konnte keine Geräusche aufzeichnen. Die Techniker gehen davon aus, dass sich ein Störsender im Büro befand. Die Hausdurchsuchung diente offiziell der Steuerprüfung, sollte in Wahrheit aber Aufschlüsse darüber geben, ob eine Verbindung zu Axel Hemberg und zu dem Mord an MW existiert. Sie wurde von denselben Mitarbeitern durchgeführt, die mit der Wanze in seinem Büro waren, was Enqvist in der Meinung bestärken sollte, dass es sich wirklich um eine Routineprüfung handelte, die keine Gefahr für ihn darstellte. Wie vermutet, war mit der Buchführung alles in Ordnung. Es wurden auch keine Unterlagen entdeckt, die auf eine Verbindung zu den beiden 261

Frauen schließen lassen, abgesehen von der Tatsache, dass ihre Wohnungen derselben Firma gehören, bei der Enqvist als Verwalter angestellt ist. Eine Visitenkarte von Hemberg wurde in Enqvists Schublade gefunden. Wir haben ihn jedoch nicht darauf angesprochen. Auf der Rückseite eines kleinen Bildes, das in seinem Büro hängt, befand sich eine Nummer, vermutlich eine Telefonnummer. Wir bemühen uns um Klärung.

Unabhängig davon, ob Enqvist etwas mit dem Mord an MW zu tun hat oder nicht, sind wir auf eine Reihe von Merkwürdigkeiten gestoßen, die eine Telefonüberwachung rechtfertigen. Wir werden ihn im Auge behalten.

In Bezug auf Patrik Andersson hat Gisela Nordh folgende Aussage gemacht: Sie und MW sind ihm zum ersten Mal im vergangenen Herbst in der Opernbar begegnet. Andersson war dort in Begleitung von Axel Hemberg und zwei weiteren Personen. Frau Nordh zeigte kein Interesse an ihm, da er für ihren Geschmack zu » ungestüm« und zu betrunken gewesen sei.

Frau Wester hingegen habe ihn unbedingt näher kennen lernen wollen. Frau Nordh hatte den Eindruck, dass Herr Andersson diesen Wunsch nachhaltig erwiderte, und so hätten beide die Gesellschaft mit » auffälliger Eile« verlassen. Andersson habe sie nie wieder gesehen, jedoch von ihrer Freundin gehört, dass er jeden weiteren Kontakt zu MW abgelehnt habe. MW habe ihr einen Brief Anderssons gezeigt, der regelrecht unverschämt gewesen sei und MW tief verletzt habe. Die Frage, ob Andersson als Mörder von MW in Betracht komme, hat sie mit einem klaren Nein beantwortet. Sie betonte, dass sie Männer gut einschätzen könne, weil sie in ihrem Gewerbe ohnehin darauf achten müsse, kein unnötiges Risiko einzugehen. Irrtümer seien natürlich nicht ausgeschlossen, aber im Großen und Ganzen könne sie sich auf ihr Urteil verlassen. Ihr zufolge sei es nahezu unvorstellbar, dass Patrik Andersson eine Frau tötet.

Das war’s fürs Erste. Lass von dir hören. Hjalle P.

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20

Dienstag, 9. Mai

Roffe befand sich irgendwo über Småland, dessen Himmel an diesem Tag von keiner Wolke getrübt wurde. Er lehnte sich bequem in seinem Sitz zurück, betrachtete die Landschaft unter sich und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Das monotone, dumpfe Surren der Motoren machte ihn schläfrig. In weniger als einer Stunde würde er in Stockholm sein.

Wenn er sein Vorhaben schnell erledigte, was er inständig hoffte, blieben ihm noch mehrere Stunden, um nach Bromma hinauszufahren und Camilla zu besuchen. Er hatte sie seit mehreren Monaten nicht gesehen und freute sich schon jetzt auf ihr verblüfftes Gesicht. Vielleicht sollte er ein Geschenk kaufen.

Allerdings war es schwer zu beurteilen, worüber sie sich im Moment wirklich freuen würde. Sie selbst hatte von einer CD

gesprochen, doch hatte er es längst aufgegeben, ihren komplizierten Musikgeschmack verstehen zu wollen. Das Risiko, völlig daneben zu liegen, war groß, wenn er von seinem eigenen Geschmack ausging. Er sollte ihr Geld geben, um sich selbst eine CD auszusuchen. Allerdings hatte die ganze Angelegenheit einen Haken: Wenn er nach Bromma fuhr, lief er Gefahr, auch Anita zu begegnen, worauf er nun wirklich keinen Wert legte. Es ließ sich nicht leugnen, dass er vor seiner geschiedenen Frau weiterhin eine gewisse Furcht hegte. Aus irgendeinem Grund gelang es ihr immer, ihn in die unsinnigsten Diskussionen zu verwickeln. Die letzten Jahre ihrer Ehe waren von ständigen Meinungsverschiedenheiten geprägt gewesen, und obgleich sich ihr Umgangston entspannt hatte, waren die Unstimmigkeiten geblieben. Das Unangenehmste war ihre vermeintliche moralische Überlegenheit, die auf ihrer und wohl auch seiner unausgesprochenen Überzeugung beruhte, dass er 263

ihr Unrecht getan hatte. Er war es, der die Scheidung durchgepeitscht hatte. Er war es, der ihr keine Chance mehr hatte geben wollen, was er im Grunde seines Herzens kein bisschen bedauerte. Aber jetzt hatte er Sehnsucht nach seiner jüngsten Tochter. Wie wäre es, wenn er sie einfach aus der Stadt anrief und zu einem luxuriösen Mittagessen einlud? Das wäre ganz nach ihrem Geschmack. Sie liebte das Unvorhergesehene und hatte gegen ein bisschen Luxus nichts einzuwenden. Er lächelte bei der Vorstellung, in einem exklusiven Ambiente ihre erfrischende Gesellschaft zu genießen.

Die Zeitung lag immer noch zusammengerollt und ungelesen auf seinem Schoß. Er würde sie heute Abend auf dem Rückflug lesen, jetzt war er zu unkonzentriert.

Unsinnigerweise verspürte er einen gewissen Widerwillen gegen das Treffen, das der eigentliche Zweck seiner Reise war.

Vermutlich lag dies an dem merkwürdigen Telefongespräch, das er gestern geführt hatte.

Mit dunklen Vorahnungen hatte er einen Regierungsdirektor namens Roos an den Apparat bekommen und mit ihm ein kurzes, unangenehmes Gespräch geführt. Es ließ sich beim besten Willen nicht behaupten, Roos wäre von Hauptkommissar Stenbergs Gründlichkeit begeistert gewesen. Er ließ hingegen durchblicken, Stenberg fische in fremden Gewässern und solle sich lieber seiner eigentlichen Aufgaben besinnen. Roffe hatte jedoch die Angewohnheit, auch Vorgesetzten gegenüber keinen Millimeter zurückzuweichen, wenn er von einer Sache überzeugt war. Der Regierungsdirektor hatte ihn abzuwimmeln versucht, aber er ließ sich nicht abwimmeln. Deswegen saß er jetzt hier in diesem Flugzeug.

Es war Roos gewesen, der die knappe Faxantwort auf Roffes frühere Anfrage, wie Bengt Nygrens rätselhafte Identität zu erklären sei, unterschrieben hatte, und es erforderte von Roffes Seite schon eine gute Portion Starrsinn, weitere Informationen anzufordern.

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Roffe hatte betont, er wolle die Autorität der Reichspolizei keineswegs in Frage stellen, doch hätten die Recherchen eine Reihe neuer Gesichtspunkte ans Tageslicht gebracht, die nicht ignoriert werden könnten. Er hatte angedeutet, dass einige Hintergrundinformationen, selbstverständlich unter Wahrung absoluter Diskretion, für die weiteren Ermittlungen von unschätzbarem Wert wären. Roos hatte am Ende nachgegeben, sich jedoch geweigert, weiter am Telefon über die Sache zu sprechen. Die Angelegenheit sei allzu sensibel, und wenn Hauptkommissar Stenberg unbedingt nähere Aufschlüsse wolle, müsse er sich schon persönlich nach Stockholm bemühen.

Roffe ging in Gedanken noch einmal die Fakten durch, die er zur Sprache bringen wollte, sowie die Fragen, die er nicht vergessen durfte. Er war gut vorbereitet, jedoch ziemlich angespannt, was das bevorstehende Treffen anging. Vor allem aber war er sehr neugierig.

Mit dem Shuttlebus von Arlanda bis ins Zentrum zu gelangen, dauerte nicht ganz so lang wie der Flug, doch die Busfahrt kam ihm definitiv zäher und langweiliger vor.

Auch in Stockholm war der Frühling in diesem Jahr ungewöhnlich warm. Er hätte eine leichtere Jacke anziehen sollen, dann würde er in dem stickigen Bus weniger schwitzen.

Als er endlich aussteigen konnte, besserte sich seine Laune schlagartig, und so entschloss er sich zu einem raschen Spaziergang nach Kungsholmen. Seine gefütterte Jacke über dem Arm, steuerte er auf die Hantverksgata zu. Er fühlte sich in dem Gewimmel wie zu Hause und passte sich willig dem Puls der Großstadt an, der Christiansholm wie ein verschlafenes Kaff wirken ließ. Dennoch wollte er nicht tauschen, hatte er die Kehrseite Stockholms doch jahrelang aus nächster Nähe erlebt.

Trotz einer gewissen Unsicherheit, wie seine Begegnung mit Roos verlaufen würde, war er guten Mutes. Die Straßen 265

wimmelten von leicht bekleideten Menschen, die ihre winterbleiche Haut der Sonne aussetzten. Er fand, dass eine Atmosphäre der Sorglosigkeit und freudigen Erwartung in der Luft lag, oder projizierte er seine eigene Stimmung auf seine Umgebung?

Er war schon viel zu weit gegangen, hatte die Polhemsgata hinter sich gelassen und passierte gerade die Kronobergsgata, als er einem plötzlichen Impuls nachgab, in den nahe gelegenen Park abbog und sich auf eine Bank setzte.

Hier schien alles unverändert, und als er seinen Blick über die altbekannte Umgebung schweifen ließ, wurden Erinnerungen an seine Stockholmer Tage lebendig. Jeder Anblick, jede Hausfassade weckte Assoziationen. Menschen, denen er seit Jahren keinen Gedanken gewidmet hatte, tauchten plötzlich in seinem Gedächtnis auf. Mit leichter Verwunderung musste er sich eingestehen, dass die Zeit in Stockholm auch aus schönen Erlebnissen bestanden hatte. Er hatte sich angewöhnt, sein früheres Leben als weniger wertvoll zu betrachten als sein gegenwärtiges – welche Ignoranz. Außerdem war es ein unfreundlicher Akt von ihm, Anita zu ignorieren. Er sollte sie beide, Anita und Camilla, zum Essen einladen.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn nach zwei. Roos hatte gesagt, er mache irgendwann zwischen zwölf und ein Uhr Mittagspause, sei ansonsten aber den ganzen Tag über zu sprechen. Er sollte jetzt zu ihm gehen. Er stand auf und hielt Kurs auf das Reichspolizeigebäude.

Roos besaß einen untadeligen Ruf, was seine berufliche Vergangenheit betraf. Man durfte also annehmen, dass er seinen Aufstieg zum Regierungsdirektor seiner Kompetenz zu verdanken hatte. Doch natürlich waren Roffe auch die üblichen Andeutungen zu Ohren gekommen, die stets darauf hinausliefen, dass es bei der Besetzung von Spitzenpositionen um ganz andere Qualifikationen als die berufliche Kompetenz gehe. Dennoch hatte niemand zu behaupten gewagt, Roos sei Regierungs-266

direktor geworden, weil er in der richtigen Partei sei und die richtigen Leute kenne.

Als er schließlich vor ihm stand, fühlte er sich von dem intensiven Eindruck, den Roos auf ihn machte, regelrecht überrumpelt.

Roos war ein feingliedriger, eleganter Herr, dessen Bewegungen ebenso geschmeidig wie exakt waren. Mit seinen grauen Haaren und dem gebräunten Teint wirkte er wie ein Gentleman alter Schule. Er streckte Roffe seine schmale, gepflegte Hand entgegen und lächelte unvoreingenommen.

»Willkommen, Herr Stenberg.«

»Danke«, entgegnete Roffe, ein wenig aus der Fassung gebracht.

Erst wenige Male in seinem Leben hatte er Menschen kennen gelernt, deren Gesichtszüge im selben Maße auf eine gelassene Lebenseinstellung sowie einen warmen Humor schließen ließen.

Er empfand sofort Sympathie für den Mann, der vor ihm stand.

Und Erleichterung. Spontan entschied er sich, seine Vorbehalte zu vergessen und den Auskünften seines Gesprächspartners zu vertrauen.

Er wurde in einen großzügigen, geschmackvoll eingerichteten Raum gebeten. Roos machte eine einladende Geste in Richtung einiger Sessel, die um einen runden Tisch gruppiert waren. Auf der glänzenden Mahagoniplatte stand eine Kristallvase mit prächtigen Narzissen. Schwere, grüne Samtvorhänge ließen nur mäßiges Licht in den Raum, der eine vornehme, wenn auch ein wenig düstere Abgeschiedenheit atmete.

Nachdem sie sich einander gegenübergesetzt hatten, befreite Roos seinen Gast sofort aus seiner beklemmenden Rolle, indem er einen vertraulichen Ton anschlug.

»Entschuldigen Sie die Dunkelheit«, sagte er, »aber ich habe Probleme mit meinen Augen. Mein Arzt verordnet mir Halbdunkel.« Er lachte leise. »Drinnen geht es ja noch, aber 267

wenn ich an einem Tag wie heute aus dem Haus gehe, brauche ich eine stark getönte Sonnenbrille, und die trage ich nicht besonders gern. Ich komme mir dann irgendwie verkleidet vor.

Möchten Sie einen Kaffee?« Roffe fragte sich, ob er bejahen durfte.

»Ich trinke immer eine Tasse um diese Zeit«, fügte Roos hinzu, »aber in Gesellschaft macht es natürlich mehr Freude.«

»Ja, sehr gern«, sagte Roffe.

»Dann rufe ich in der Cafeteria an und bitte sie, uns zwei Tassen nach oben zu bringen. Einen Moment, bitte.« Er ging an seinen Schreibtisch und gab die Bestellung auf.

Nachdem er wieder in seinem bequemen Sessel saß, schaute er Roffe wohlwollend an und sagte: »Da wir uns noch nie begegnet sind, habe ich nach unserem gestrigen Telefonat ein paar Erkundigungen über Sie einholen lassen. Wie erwartet, waren sie ausnahmslos positiv, also habe ich keine Bedenken, Ihnen die Informationen anzuvertrauen, die Sie benötigen.«

»Wie schön zu hören«, entgegnete Roffe, der sich allen Ernstes fragte, ob dies wirklich derselbe Mann war, mit dem er gestern telefoniert hatte. Dann fuhr er fort: »Also im Grunde habe ich gar keine Erkundigungen einholen lassen, aber ich habe während meiner Tätigkeit in Stockholm viel von Ihnen gehört, natürlich nur Schmeichelhaftes.«

Roos warf lachend den Kopf zurück und entblößte eine beeindruckende Anzahl perfekter Zähne. »Einer guten Zusammenarbeit sollte also nichts im Wege stehen. Ich habe ja bereits am Telefon einen gewissen Eindruck von der Problematik Ihrer Ermittlungen bekommen, aber ich denke, wir sollten erst einmal alle wichtigen Punkte durchgehen.«

Roffe begann vorsichtig: »Ich habe den Eindruck, dass sich dieser Fall noch viel komplizierter gestalten wird, als er ohnehin schon ist. Ich hatte am Telefon erwähnt, dass ein Mord in Stockholm geschehen ist, der mit dem Leichenfund auf Knigarp 268

in Verbindung stehen könnte. Dieser Nygren gibt uns Rätsel auf

…«

Roos nickte. »Würden Sie mir zunächst berichten, welche neuen Erkenntnisse das sind, die Ihnen Probleme bereiten?«

»Selbstverständlich«, sagte Roffe. »Die Probleme hängen mit einem Angestellten Nygrens, dem Schweizer Marco Fermi zusammen. Während unseres ersten Verhörs, das unmittelbar nach dem Fund der Leiche stattfand, hat Nygren ausgesagt, er habe Fermi als Vorarbeiter eingestellt, nachdem dieser auf seine Zeitungsannonce reagiert habe. Fermi trat die Stelle zu Beginn des neuen Jahres an. Die Annonce war tatsächlich im Dezember in der Zeitung gewesen, und auch sonst hatten wir keinen Anlass, Nygrens Aussagen anzuzweifeln. Doch vor kurzem lieferte Fermis Ehefrau eine andere Version der Vorgänge. In einem Privatgespräch sagte sie, dass Nygren und Fermi schon seit Jahren miteinander bekannt seien und ihr Mann den Job aus Gefälligkeit erhalten habe. Daran ist an und für sich nichts Besonderes; Nygren ist nicht verpflichtet, über die Beziehung zu seinen Angestellten Rechenschaft abzulegen, doch im Lichte gewisser Vorkommnisse scheint uns diese Frage von besonderer Bedeutung zu sein.

Fermis Ehefrau hat unter anderem behauptet, ihr Mann sei in der Nacht zum Freitag mit blutigen Kleidern nach Hause gekommen, eine Behauptung, die zu der Tatsache passt, dass am nächsten Morgen ein Eber mit durchgeschnittener Kehle auf dem Hof gefunden wurde.«

Es klopfte deutlich vernehmbar an der Tür. Roos stand auf und öffnete, worauf eine mollige Frau mit einem großen Tablett an den Tisch trippelte. Sie lächelte Roffe mütterlich zu und stellte rasch zwei Porzellantassen, zwei kleine Teller mit Käsebrötchen und Gebäck, Kaffeekanne, Sahnekännchen und Zuckerschale auf den Tisch. Mit stummer Liebenswürdigkeit war sie sogleich wieder verschwunden.

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Roos rieb die Handflächen aneinander und blickte begehrlich auf die Teller. »Ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie besondere Wünsche haben«, sagte er. »Ich habe einfach die doppelte Menge meiner üblichen Portion bestellt. Aber ich kann Ihnen versichern, dass die Kekse sensationell sind.«

Roffe fühlte sich plötzlich hungrig. Er nahm sich ein Käsebrötchen und versicherte: »Es könnte nicht besser sein.«

Nach einem Moment sagte Roos: »Die Aussagen von Fermis Frau haben Sie also nicht aus erster Hand?«

»Nein«, antwortete Roffe. »Wir kommen zurzeit leider nicht an sie heran. Sie ist abgetaucht.«

Roos Augenbrauen hoben sich eine Spur. Er setzte die Kaffeetasse ab und sagte leise: »Ich bin ganz Ohr.«

»Nygrens nächste Nachbarn heißen Patrik Andersson und Katharina Ekman. Ich sprach gestern von ihnen am Telefon. Sie wurden unfreiwillig in die Geschichte hineingezogen. Katharina Ekman hat mir erzählt, sie sei am Freitag in der Frühe auf dem Weg von Christiansholm nach Hause gewesen. Ungefähr auf halbem Weg begegnete sie Fermis Frau Annika, die zu Fuß in die Stadt wollte. Frau Fermi habe einen sehr erregten und verwirrten Eindruck gemacht. Sie sagte, sie sei von zu Hause geflüchtet, nachdem ihr Mann sie misshandelt habe. Sie zeigte Frau Ekman die Blutergüsse an ihrem Oberkörper und sagte, ihr Mann schlage sie schon seit Jahren. Sie wollte nach Stockholm zu ihren Eltern und sich von ihnen Geld leihen, um dann unterzutauchen. Sie war davon überzeugt, dass ihr Mann sie suchen würde, um sich an ihr zu rächen. Sie hatte sich spontan entschieden, vor ihrem Mann zu flüchten, weil er in der Nacht mit blutbefleckter Kleidung nach Hause gekommen sei. Annika Fermi glaubt, er habe einen Menschen getötet. Während des Gesprächs mit Frau Ekman berichtete Frau Fermi auch von der langen Bekanntschaft zwischen ihrem Mann und Nygren.«

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Roos hatte sich ein wenig vorgebeugt und betrachtete die Narzissen. Es bestand kein Zweifel, dass er intensiv zuhörte.

»Und der Eber?«, fragte er. »Wer hat von dem Eber erzählt?«

»Auf Knigarp gibt es einen Angestellten namens Nils Hallman, einen älteren Mann, der seit Jahrzehnten auf dem Hof arbeitet. Als er um sieben Uhr morgens dort ankam, entdeckte er den toten Eber im Schweinestall. Er informierte Nygren auf der Stelle, doch hier haben wir das nächste Rätsel: Nygren wollte unter keinen Umständen die Polizei informieren, sondern wies Hallman an, den Eber sofort hinter den Schweineställen zu begraben und kein Wort über die Angelegenheit zu verlieren.

Fermi half sogar beim Ausheben der Grube. Hallman hat dies Patrik Andersson erzählt, dem er am selben Vormittag begegnete. Nygren hatte Hallman zwar das Versprechen abgenommen, den Vorfall für sich zu behalten, doch Hallman, der ohnehin unzufrieden mit seinem jetzigen Arbeitgeber und vor allem mit dem Vorarbeiter ist, kam die ganze Sache offenbar mehr als faul vor. Als ich Hallman später dazu befragte, behauptete er, Fermi habe ihm gegenüber zugegeben, den Eber getötet zu haben, und Nygren habe davon gewusst. Zum allgemeinen Kontext gehört, dass Fermi und Nisse in ständigem Streit miteinander liegen. Hallman hat eine sehr innige Beziehung zu den Tieren und ist davon überzeugt, Fermi habe den Eber nur getötet, um ihm eins auszuwischen. Natürlich muss man Hallmans Aussagen mit Vorsicht genießen, doch sehe ich keinen Grund, an der Tötung des Ebers zu zweifeln. Dies lässt sich im Übrigen ja auch leicht nachprüfen.«

»Sie haben also weder mit Fermi noch mit Nygren über die Sache gesprochen?«

»Nein, sie glauben sicher, dass bislang niemand außerhalb des Hofes davon erfahren hat.«

Roos sah erleichtert aus. »Eine gute Nachricht«, sagte er. Eine Weile saß er schweigend da, die Stirn in Falten gelegt. Roffe 271

achtete darauf, seine Kekse aufzuessen. Bedächtig äußerte Roos:

»Die Aussage, dass Nygren und Fermi sich von früher her kennen, beruht vermutlich auf einem Missverständnis. Aber die Geschichte mit dem Eber weckt bei mir ungute Assoziationen.

Ich werde darauf zurückkommen. Doch zuerst möchte ich hören, ob Sie Ihrem Bericht noch Weiteres hinzufügen möchten, um das Bild abzurunden.«

»Ja. Wie ich gestern bereits erwähnte, richten sich Verdächtigungen gegen Patrik Andersson. Es gibt Anhaltspunkte, die ihn sowohl mit der Leiche in der Jauchegrube als auch mit dem Mord in Stockholm, der letzte Woche geschah, in Verbindung bringen. Natürlich folgen wir auch dieser Spur, doch lassen die Umstände darauf schließen, dass es sich um eine bewusste Inszenierung handelt, die dazu dient, Andersson beide Verbrechen in die Schuhe zu schieben.

Falls es sich bei der Leiche in der Jauchegrube tatsächlich um die Person handeln sollte, die wir im Blick haben, ist es wahrscheinlich, dass eine größere Organisation ihre Hände im Spiel hat, was umso mehr für den Mord in Stockholm gilt. In Hinsicht auf Marco Fermi ist eine weitere Komplikation aufgetreten. Vermutlich hat er erfahren, dass Katharina Ekman seine Frau zum Bahnhof in Christiansholm gebracht hat. Am Samstag, während Frau Ekman allein war, verschaffte er sich Zugang zu ihrem Haus und weigerte sich, wieder zu gehen, solange sie ihm nicht sage, wo seine Frau geblieben sei. Als Frau Ekman ihm diese Auskunft verweigerte, die sie im Übrigen auch gar nicht hätte geben können, bedrohte er sie und griff sie schließlich tätlich an. Sie setzte sich spontan zur Wehr und traf mit dem Knie sein Nasenbein, worauf Fermi kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Ich habe ihr geraten, Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zu erstatten, damit wir die Möglichkeit bekommen, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Hinsichtlich des Vorfalls haben sie und ihr Mann selbstverständlich größtes Interesse daran, dass Fermi so bald wie möglich von der 272

Bildfläche verschwindet. Wie viel Nygren von Fermis Aktivitäten mitbekommt, weiß ich nicht, doch kann ich mir nicht vorstellen, dass ihm mit solch einem Mitarbeiter langfristig gedient ist. An sich habe ich keinen Grund, Nygren selbst zu misstrauen, nur haben sich in seinem Umfeld allzu viele merkwürdige Vorfälle ereignet.«

Roos ließ sich in seinen Sessel sinken. Seine schmalen Hände ruhten entspannt auf den Armlehnen. Er hatte die Augen geschlossen.

»Ich verstehe«, sagte er leise und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Roffe wartete.

Plötzlich gab Roos ein warmherziges Lachen von sich. »Ich war gestern am Telefon ein wenig grob zu Ihnen«, sagte er.

»Das gehört leider auch zu meinem Job. Am bequemsten wäre es natürlich gewesen, wenn ich Sie mit irgendeinem Vorwand hätte beschwichtigen können. Doch nachdem ich eine Weile mit Ihnen gesprochen hatte, hielt ich es für das Beste, den Stier bei den Hörnern zu packen.« Er öffnete die Augen und sah Roffe durchdringend an.

»Also hören Sie zu: Vor fünf Jahren hat einer unserer Männer mit Interpol zusammengearbeitet. Seine Aufgabe bestand darin, eine Verbrecherorganisation zu unterwandern, die sich in ganz Europa, nicht zuletzt in Schweden verzweigt. Zu diesem Zweck wurde er mit einer geeigneten Identität ausgestattet. Ich kann Ihnen verraten, dass auch eine Reihe anderer Nationen ihre V-Männer auf die Organisation ansetzte, doch allesamt ohne Erfolg. Vorigen Sommer gelang es unserem Mann, Beweise zu sichern, mit deren Hilfe wir die Organisation hätten ausheben können, doch gleichzeitig hatte er sich in eine so prekäre Lage gebracht, dass er untertauchen musste. Es ist nicht auszuschließen, dass der Tipp von einem Maulwurf kam. Unser Mann konnte sich rechtzeitig absetzen. Um sein Leben zu schützen, mussten wir ihm eine neue Identität verpassen, was sein äußeres Erscheinungsbild mit einschloss.

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Es handelt sich um den Landwirt Bengt Nygren. Es gibt nur drei Personen beim Reichspolizeiamt, die seine wahre Identität kennen. Dass Marco Fermi ihn von früher her kennt, ist daher im Grunde ausgeschlossen. Als wir Ihre Anfrage erhielten, nachdem Sie bei der zentralen Meldestelle auf Granit bissen, waren wir natürlich besorgt. Der Leichenfund in Nygrens nächster Umgebung kam auch uns äußerst ungelegen. Wir nahmen Kontakt zu ihm auf und bekamen die in dieser Hinsicht beruhigende Nachricht, dass er mit dem Vorfall nichts zu tun habe. Vermutlich war das Opfer in der Grube gelandet, ehe er den Hof übernahm. Das war zwar Pech, aber keine Katastrophe.

Solch ein Fall schlägt zunächst hohe Wellen und gerät dann rasch in Vergessenheit. Die Informationen zu Marco Fermi sind umso beunruhigender. Nygren kann wirklich keinen Vorarbeiter gebrauchen, der die ganze Umgebung in Aufruhr versetzt. Die Geschichte mit dem Eber ist sonderbar. Dass Nygren die Sache verheimlichen will, versteht sich von selbst. Der Leichenfund hat schon genug Wirbel verursacht. Doch wie ich schon sagte, löst die Tötung des Ebers bei mir alarmierende Assoziationen aus. Sie verstehen sicher, warum. Die Mafia, ein Begriff, den wir auf den gesamten Bereich der organisierten Kriminalität anwenden, bedient sich ja im Allgemeinen einer drastischen Sprache. Falls Fermi der Mafia angehört, die Nygren irgendwie auf die Schliche gekommen ist, könnte die Tötung des Ebers ein Versuch sein, Nygren aus der Deckung zu locken, beispielsweise indem er zu erkennen gibt, dass er den Symbolgehalt der Tat versteht, den Kopf verliert, Hilfe sucht oder andere unbesonnene Reaktionen zeigt. Sollte er enttarnt werden, das heißt von der Mafia identifiziert werden, dann sind seine Tage gezählt.«

Roffe konnte sich einen Einwand nicht verkneifen: »Wenn Nygren daran gelegen ist, kein Misstrauen an seiner Identität aufkommen zu lassen, warum hat er dann nicht sofort die Polizei verständigt, was das Natürlichste gewesen wäre?«

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Roos’ Augenbrauen schnellten erneut nach oben. Er nickte bedächtig. »Da ist was Wahres dran«, sagte er. »Doch ist es auch nichts Ungewöhnliches, dass ein Landwirt vor allem auf seine Ruhe bedacht ist. Nach dem, was Sie mir am Telefon berichtet haben, wurde er bereits wochenlang von Polizisten und Journalisten belagert. Die meisten Bauern hätten sich aus geringerem Anlass zurückgezogen. Und seine wirtschaftlichen Verluste scheinen sich in Grenzen zu halten. Sollte ihm klar werden, dass sein Vorarbeiter hinter der Tötung des Ebers steckt, wird er versuchen, die Angelegenheit unter vier Augen zu klären. Wir wissen ja nicht, wie er sich Fermi gegenüber geäußert hat. Aber wir wissen, dass er eine große Geschicklichkeit besitzt, wenn es darum geht, seine eigene Person zu schützen. Also dürfen wir auch davon ausgehen, dass er sich eines Vorarbeiters entledigen würde, sollte ihm dieser zu unbequem werden. Bleibt die Aussage Hallmans, es sei ein persönlicher Angriff auf ihn gewesen. Das könnte tatsächlich ein Motiv für diese bizarre Handlung sein. Und dass er seine Nachbarin tätlich angreift, könnte ebenfalls dafür sprechen, dass er einfach ein südländischer Hitzkopf ist, aber nicht zwangsläufig ein Mitglied der Mafia. Natürlich dürfen wir keine Möglichkeit außer Acht lassen, wie unwahrscheinlich sie uns auch erscheinen mag. Fermi als Mafioso ist eine These von vielen, und soweit ich dies gegenwärtig beurteilen kann, keine sehr wahrscheinliche. Dennoch möchte ich Sie in diesem Zusammenhang um eine Gefälligkeit bitten.«

Roos hielt inne und sah Roffe fragend an.

»Ich werde mein Bestes tun«, entgegnete Roffe.

»Es wird nicht leicht sein«, sagte Roos, »aber ich möchte Sie bitten, mir ein Foto und mehrere Fingerabdrücke von Fermi zu beschaffen, ohne dass dieser den geringsten Verdacht schöpft.

Trauen Sie sich das zu?«

Roffe dachte nach. »Mit der Unterstützung von zwei wertvollen Mitarbeitern sollte es möglich sein«, entgegnete er.

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»Gut, erledigen Sie das so schnell wie möglich, dann werde ich eine internationale Überprüfung veranlassen. Das ist im Moment alles, was ich für Sie tun kann. Was die übrigen Hindernisse bei Ihren Ermittlungen betrifft, wünsche ich Ihnen natürlich, dass es auch dort bald vorangeht.«

Roos erhob sich geschmeidig und streckte sich. Wie eine Katze, dachte Roffe voller Neid. Er selbst musste beide Arme zur Hilfe nehmen, um sich aus dem tiefen Sessel zu hieven.

Roos streckte ihm die Hand entgegen und lächelte ihn munter an.

»Ich brauche doch nicht zu betonen, dass mich alle Informationen zu diesem Fall brennend interessieren? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich die Mühe machten, mich persönlich auf dem Laufenden zu halten.«

Roffe schüttelte Roos’ ausgestreckte Hand und fühlte plötzlich den starken Drang, ihm seine Sympathie zu bekunden. Leider war er nicht der Geschickteste, was spontane Äußerungen dieser Art betraf, und wurde von einer leichten Verwirrung erfasst.

»Danke. Vielen, vielen Dank. Das wird mir keine Mühe sein

… im Gegenteil, ich meine … ein Vergnügen.«

Er verstummte betreten und bemerkte, dass er immer noch Roos’ Hand schüttelte.

Roos begleitete ihn zur Tür und öffnete sie ihm.

»Werden Sie unmittelbar nach Christiansholm zurückkehren?«

»Nein, ich fliege erst heute Abend. Ich möchte vorher noch meine Tochter besuchen, da ich schon einmal hier bin. Und ihre Mutter ebenfalls«, sagte er ein wenig unmotiviert. »Ich überlege, ob ich sie beide zum Essen einlade, doch ich weiß nicht recht, wohin.«

»Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf«, entgegnete Roos, »dann versuchen Sie es doch mit dem Stallmästergården.

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Das ist ein vorzüglicher Ort, um zwei Damen zum Essen einzuladen.«

»Danke für den Tipp. Das werde ich machen.«

Beschwingt stürzte sich Roffe in das Gewimmel der Großstadt.

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Mittwoch, 10. Mai

Die Tür zu Roffes Büro stand einladend offen. Lasse Wagnhärad kam herein und ließ sich vorsichtig auf einem der Besucherstühle nieder. Seinen Plastikbecher, der bis zum Rand mit heißem, starkem Kaffee gefüllt war, stellte er zum Abkühlen aufs Regal und nahm eine entspannte Position ein.

Roffe riss sich widerwillig vom Bildschirm los und drehte sich mit seinem Stuhl herum.

»Du bist schnell wieder da. Alles in Ordnung?«

Wagnhärad spitzte die Lippen und machte eine vage Handbewegung. »So ziemlich. Du bekommst meinen Bericht nach dem Essen.«

»Das kann bis morgen warten«, sagte Roffe rasch. »Ich habe ein paar delikate Aufträge für dich, die keinen Aufschub dulden.

Was hältst du davon, noch mal nach Knigarp zu fahren und Nygren ein bisschen Feuer unterm Hintern zu machen?«

Wagnhärad sah nicht gerade begeistert aus.

»Ich kann mir kaum etwas Schöneres vorstellen«, entgegnete er.

»Was soll ich machen? Seinen Hund vernehmen?«

Roffe nahm mit zufriedener Miene zwei braune Umschläge aus seiner Schreibtischschublade und legte sie vor Wagnhärad auf den Tisch.

»Mach sie nicht auf«, sagte er. »Schau dir bloß an, wie sie gekennzeichnet sind. Auf dem einen befindet sich ein kleines N, auf dem anderen ein F. Die Buchstaben stehen für Nygren und Fermi. In jedem Umschlag befinden sich zwei Fotos in 278

Klarsichthüllen, eines von Axel Hemberg und eines von Marianne Wester.

Was ich haben will, sind Fermis Fingerabdrücke, aber er soll nicht bemerken, dass er sie uns gibt. Sag ihm, du hättest die Fotos beim letzten Mal vergessen, würdest aber größten Wert darauf legen, dass er sie sich ansieht. Sieh zu, dass er die Klarsichthüllen ordentlich anfasst. Das ist das Wichtigste.«

»Was ist mit Nygren?«

»Um keinen Verdacht zu wecken, machst du mit ihm genau dasselbe, aber seine Fingerabdrücke sind uns egal. Darum die zwei identischen Umschläge. Pass auf, dass du bei Nygren den anderen benutzt, damit Fermis Fingerabdrücke unbeschädigt bleiben. Ich schlage vor, dass du mit Fermi beginnst, aber natürlich kann es sein, dass du improvisieren musst, wenn du vor Ort bist. Noch Fragen?«

Wagnhärad streckte den Arm nach dem Kaffeebecher und trank in kleinen Schlucken.

»Warum dieses plötzliche Interesse an Fermi?«, wollte er wissen.

Roffe kniff die Augen zusammen und bemühte sich um eine geheimnisvolle Miene.

»Was Signore Fermi angeht«, sagte er, »tappst du immer noch im Dunkeln. Falls sich nicht alle äußeren Umstände gegen ihn verschworen haben, deutet alles darauf hin, dass er ziemlich viel Dreck am Stecken hat.«

Wagnhärad schaute verblüfft. »Inwiefern?«

»Leider kann ich dir die Gründe nicht nennen, aber unsere Stockholmer Kollegen haben größtes Interesse an ihm. Sie haben auch die Sache mit den Fingerabdrücken veranlasst.«

»Haben sie auch die Umschläge präpariert?«

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»Nein, das habe ich getan. Dies ist praktisch das Ergebnis meiner morgendlichen Denkarbeit. Gar nicht so übel, wenn du mich fragst.«

»Mit Fermi komme ich schon zurecht, aber bei Nygren sehe ich Schwierigkeiten, der wird sich fürchterlich aufregen.«

»Der kann sich aufregen, so viel er will. Doch er wird sich kaum weigern, einen Blick auf die Fotos zu werfen«, entgegnete Roffe.

»Aber das ist nur die eine Hälfte deines Auftrags. Ich habe eine Anzeige gegen Fermi vorliegen wegen Hausfriedensbruchs und Belästigung. Sie wurde von seiner Nachbarin Katharina Ekman erstattet.«

Die Nachricht brachte Wagnhärad kurzzeitig aus der Fassung.

Sein Gesicht spiegelte grenzenlose Verwunderung.

»Das darf doch nicht wahr sein! Ganz gleich, was Fermi angestellt hat, aber ich war mir sicher, dass er sich gut unter Kontrolle hat. Nun gut, bei Frauen mag sein Temperament schon mal mit ihm durchgehen. Geht es um sexuelle Belästigung?«

»Nicht direkt. Es könnte so aussehen, aber ich vermute, das war nicht die Absicht.«

Roffe gab Wagnhärad eine Kurzfassung der Ereignisse. »Wie du siehst, verbirgt sich hinter seiner geleckten Fassade offenbar ein ziemlich unberechenbarer Typ. Es kann also nicht schaden, wenn du ihm diesbezüglich noch mal auf den Zahn fühlst. Gib ihm einfach Gelegenheit, seine Version des Vorfalls zu erzählen, und stell dich darauf ein, dass er dir gegenüber wieder sein sympathischstes Gesicht zeigen wird. Der Kerl schlüpft einem durch die Hände wie ein nasses Stück Seife. Die Fotos zeigst du ihm am besten gleich zu Anfang, solange seine Laune noch gut ist – sofern sie mit einem gebrochenen Nasenbein gut sein kann.«

280

Wagnhärad, der anfangs so entspannt gewirkt hatte, war mehr und mehr in sich zusammengesunken. Er starrte Roffe düster an und unterdrückte ein Gähnen.

»Da kann ich mich ja auf einen heiteren Nachmittag freuen«, brummte er.

»Und ich mich auf deine Rückkehr«, entgegnete Roffe mit freundlicher Miene.

Wagnhärad schaute auf die Uhr. »Ich geh erst mal was essen.

Mit leerem Magen fühle ich mich dieser Aufgabe nicht gewachsen.« Er stemmte sich hoch und nahm die Umschläge mit den Fingerspitzen, als fürchte er, seine eigenen Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen. Seinen Kaffeebecher ließ er auf dem Regal stehen.

Als er gerade aus der Tür war, sprang Roffe auf und rief ihm nach: »Warte! Ich hab was vergessen. Hast du dich um die Fingerabdrücke von Patrik Andersson gekümmert?«

»Nein, ich dachte, das hättest du inzwischen schon getan.«

»Ich hatte ihn gebeten, deswegen bei uns vorbeizukommen, aber wahrscheinlich hat er es vergessen. Wenn du ohnehin nach Knigarp fährst, könntest du das ja gleich mit erledigen. Ich rufe ihn an und sage, dass du kommst.«

Mit gut gefülltem Magen und schon etwas optimistischer, was seine bevorstehenden Prüfungen betraf, machte sich Wagnhärad auf den Weg nach Knigarp.

Als Katharina Ekman die Tür öffnete, konnte er ihrem offenen Lächeln entnehmen, dass er schon erwartet wurde.

»Roffe hat mich angerufen und Ihren Besuch angekündigt«, sagte sie. »Kommen Sie doch herein. Ich sage meinem Mann, dass Sie da sind.«

Sie ging ihm ins Wohnzimmer voraus und schritt durch die Tür, die, wie er vermutete, zum Atelier führte. Er beobachtete, 281

dass sie die Tür nur so weit öffnete, dass sie gerade durch den Spalt schlüpfen konnte. Offenbar betrat sie einen heiligen Bereich, der nur Auserwählten vorbehalten war. Sie kam rasch wieder heraus und schloss hinter sich die Tür.

»Er kommt gleich. Setzen Sie sich doch.«

Sie selbst nahm auf dem Sofa Platz und sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und Verlegenheit an.

Wagnhärad setzte sich in einen der großen Sessel und musste abermals feststellen, dass sie eine wahre Schönheit war. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie diese besonnene, hübsche Frau ihrem aufdringlichen Nachbarn brutale Schläge versetzte.

Doch Roffe zufolge war genau dies geschehen. Offenbar ein ruhender Vulkan …

Sie lächelte verhalten und fragte: »Haben Sie schon mit Marco Fermi gesprochen?«

Er wich ihrem Blick aus und fühlte sich ertappt, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

»Nein … äh … ich fand es am besten, zuerst zu Ihnen zu kommen.«

Er glaubte die Enttäuschung in ihrem Gesicht sehen zu können. Vielleicht hatte sie sich Aufschlüsse über die Strategie ihres Widersachers erhofft.

»Wir haben ihn seit Sonntag nicht mehr zu Gesicht bekommen«, fuhr sie fort, »und dafür sind wir dankbar.«

Die Tür zum Atelier schwang auf, und Patrik Andersson betrat den Raum. Diesmal trug er keinen verschlissenen Bademantel, sondern einen fleckigen Overall, der von Klecksen eingetrockneter Ölfarbe übersät war. Er schien strahlender Laune zu sein und wischte sich mit einem terpentingetränkten Lappen die Finger ab.

»Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat, aber ich kann einfach nicht in jeder Situation den Pinsel hinwerfen. Ich 282

geh mir rasch die Hände waschen«, sagte er, winkte mit dem Lappen und verschwand durch eine andere Tür, die vermutlich zum Badezimmer führte.

Als er wenig später fröhlich pfeifend zurückkehrte, streckte er Wagnhärad sogleich seine Hände entgegen.

»Sauber genug?«

»Sicher«, entgegnete Wagnhärad und holte seine Utensilien aus der Aktentasche, während die anderen beiden ihn neugierig anblickten und interessierte Fragen stellten. Dank Anderssons Munterkeit herrschte eine gelöste, nahezu ausgelassene Atmosphäre, als sei Wagnhärad nur gekommen, um sie mit den lustigen Einfällen der Polizei bei Laune zu halten.

Als er sich verabschieden wollte, schaute ihn der Maler durchtrieben an und sagte: »Viel Glück bei Marco Fermi.

Angesichts seiner schmerzenden Nase und der Taubheit zwischen den Beinen dürfte er nicht gerade bester Laune sein.«

Den missbilligenden Blick seiner Frau nahm PM nicht zur Kenntnis.

Als Wagnhärad Knigarp erreichte, begegnete er zunächst Nisse Hallman, der schadenfroh verkündete, Marco Fermi habe sich aus dem Staub gemacht.

»Wie, aus dem Staub gemacht?«, fragte Wagnhärad misstrauisch.

Hallman spuckte in hohem Bogen eine zähe, nikotinbraune Speichelmasse auf den Boden und klang ungewohnt fröhlich:

»Na, abgehauen! Keine Ahnung, wo der hin ist. Ich dachte, die Polizei hat ihn vielleicht schon geschnappt.«

»Warum sollten wir?«, entgegnete Wagnhärad zerstreut, während er den Blick über den Hofplatz schweifen ließ, als erwarte er, dass Fermi jeden Moment grinsend um die Ecke schaute. »Wann ist er abgehauen?«

283

»Schon vor ein paar Tagen. Der kann bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

»Ist seine Frau zu Hause?«, fragte Wagnhärad, dem im selben Moment klar wurde, dass diese Frage vollkommen überflüssig war.

»Nee, die ist auch weg«, antwortete Nisse und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, vermutlich in der Gewissheit, jetzt wieder das Regiment zu führen.

Wagnhärad trottete auf das Wohngebäude zu, um Nygren zu sprechen. Das Klopfen konnte er sich sparen, weil der Hund ein so wildes Spektakel aufführte, dass sein Herrchen automatisch die Tür öffnete. Wie erwartet, war Nygren über den Besuch nur mäßig erfreut, setzte jedoch eine wohlwollende Miene auf und begrüßte Wagnhärad höflich. Dieser wollte sich sogleich nach Fermi erkundigen, beherrschte sich aber und »improvisierte«. Er zog das richtige Kuvert aus der Aktentasche und ließ seine einstudierte Erklärung vom Stapel. Es hätte ihn nicht gewundert, hätte sich Nygren über die dilettantische Vorgehensweise mokiert, doch dieser gab sich erstaunlich kooperativ und betrachtete die Fotos eingehend. Dann gab er sie kopfschüttelnd zurück und sagte: »Tut mir Leid, aber ich kenne keine der beiden Personen.«

Gemäß seiner Rolle als dienstbeflissener Kommissar legte Wagnhärad die Umschläge sorgsam in seine Tasche zurück und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, die er verursache. Erst dann erkundigte er sich, wo er Marco Fermi finden könne.

Nygrens Gesicht verfinsterte sich. »Er ist nicht mehr hier«, sagte er knapp.

»Ist er verreist?«

»Nein, er ist vor zwei Tagen weggefahren, um seine Frau zu holen, und seitdem nicht zurückgekehrt. Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.«

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Wagnhärad sah bedrückt aus. »Tja«, sagte er, »dann muss ich leider ein anderes Mal wiederkommen. Erwarten Sie ihn in den nächsten Tagen zurück?«

Nygren warf einen verbitterten Blick auf das Chaos um sich herum und knurrte: »Ich kann nur hoffen, dass er zurückkehrt.

Hier gibt es jede Menge zu tun.«

Wagnhärad blieb nichts anderes übrig, als sich für Nygrens Entgegenkommen zu bedanken und unverrichteter Dinge den Heimweg anzutreten.

Als er unzufrieden wieder in seinem Wagen saß, ging ihm durch den Kopf, dass Nygren irgendwie verändert gewirkt hatte.

Es wusste selbst nicht genau, was diesen Eindruck hervorrief.

An der kühlen Distanz, die stets zu spüren gewesen war, hatte sich nichts geändert, doch hinter dieser Fassade meinte er plötzlich eine innere Unruhe wahrgenommen zu haben.

Vielleicht hing dies nur mit Fermis Verschwinden zusammen, aber da war noch mehr. Wagnhärad, der sich selbst als guten Psychologen betrachtete, hätte wetten können, dass der Kerl verunsichert, wenn nicht gar erschüttert war. Aber das war sein persönlicher Eindruck, den er für sich behalten wollte. Und natürlich konnte dieser auch ganz banale Ursachen haben wie plötzliche ökonomische Probleme oder eine saftige Stromrechnung.

Um drei Uhr war er wieder im Präsidium. Roffe hob erwartungsvoll den Kopf, als er zur Tür hereinkam.

»Das war leider ein Schuss in den Ofen«, begann Wagnhärad.

»Der Kerl ist uns durch die Lappen gegangen, zumindest vorerst. Er war nicht da.«

»Was heißt das, er war nicht da?«, fragte Roffe. »Wo ist er denn?«

»Nisse Hallman äußerte die Hoffnung, dass wir ihn festgenommen hätten. Natürlich habe ich Nygren die Fotos gezeigt, und er hat gesagt, Fermi sei vor zwei Tagen 285

weggefahren, um seine Frau zu holen. Er wirkte erstaunt und verärgert darüber, dass Fermi immer noch nicht zurückgekehrt war. Wohin Fermi gefahren ist, um seine Frau zu holen, hat er nicht gesagt, und ich hielt es für das Beste, auch nicht nachzufragen.«

»Verdammt!«, fluchte Roffe und starrte gedankenverloren an die Wand. »Wie ging’s bei PM?«, fragte er abwesend.

»Alles in Ordnung. Ich bringe die Fingerabdrücke sofort auf den Weg.«

Roffe nickte.

Wagnhärad holte das Kuvert aus seiner Tasche und legte es auf den Schreibtisch.

»Also werde ich mich wohl noch mal nach Knigarp bemühen müssen«, sagte er mit hörbarem Mangel an Begeisterung.

»Ja, das wirst du wohl«, entgegnete Roffe. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass Fermi nicht wiederkommt.«

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22

Freitag, 12. Mai

Roffe Stenberg saß scheinbar beschäftigungslos in seinem Büro und starrte aus dem Fenster. Seiner Umgebung schenkte er keine Beachtung. Vermutlich bemerkte er nicht einmal, dass er mit dem Kugelschreiber unentwegt auf die Tischplatte tippte. Auch dass seine Sekretärin Vera Sahlstedt zweimal den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, war ihm entgangen. Ihre lange Erfahrung auf dem Präsidium hatte sie gelehrt, dass eine solch tiefe Versunkenheit entweder auf private Tagträume oder intensives Nachdenken zurückzuführen war, und beides galt es zu respektieren. Daher nahm sie mit zufriedenem Lächeln ihre Handtasche und ging ins Erdgeschoss, um ihre Kaffeepause ein wenig zu verlängern.

Im selben Moment legte ihr Chef den Kugelschreiber hin und murmelte: »Tja, da bleibt mir wohl nichts anderes übrig.« Dann fuhr er auf seinem Stuhl herum, griff entschlossen zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Reichspolizei. Er fragte nach Regierungsdirektor Roos und wurde umgehend verbunden. Roos’ leise, eindringliche Stimme hatte sofort eine beruhigende Wirkung auf ihn.

»Hier ist Rolf Stenberg aus Christiansholm«, sagte er ein wenig überhastet.

Nach kurzem Zögern, als müsse Roos erst sein Gedächtnis aktivieren, bekam er eine herzliche Erwiderung.

Roffe sagte: »Hier sind ein paar merkwürdige Dinge vorgefallen, die Sie sicher interessieren werden.«

»Ach ja?«, sagte Roos beiläufig. »Ich hoffe, sie helfen Ihnen weiter.«

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»Da bin ich mir nicht so sicher. Die Lage wird ja nicht gerade einfacher und übersichtlicher.«

»Doch nicht etwa ein weiterer Schweinemord?«, fragte Roos, dessen Tonfall nicht zu entnehmen war, ob er scherzte oder nicht.

»Nein«, sagte Roffe, »den Schweinen geht es gut. Aber die Fingerabdrücke, die Sie haben wollten, konnte ich Ihnen leider nicht beschaffen. Ich habe am Mittwoch einen Mitarbeiter nach Knigarp geschickt, der erfahren hat, dass die betreffende Person bereits seit Montag nicht mehr gesehen wurde, was seinen Arbeitgeber zu beunruhigen schien. Wir haben die letzten Tage abgewartet, und heute Morgen hat ihn sein Arbeitgeber dann offiziell als vermisst gemeldet. Um zehn Uhr haben wir die Fahndung eingeleitet, und schon eine halbe Stunde später erhielten wir eine gelinde gesagt überraschende Nachricht von unseren Kollegen aus Mjölby.«

»Aus Mjölby?«, wiederholte Roos mit einer Betonung, als höre er diesen Ort zum ersten Mal. »Ich platze vor Neugier. Was hatten sie zu sagen?«

»Es sieht ganz so aus, als sei unser Mann in Mjölby festgenommen worden«, antwortete Roffe, der sich der sensationellen Wirkung dieser Nachricht bewusst war.

Roos war für einen Moment verstummt. Jedenfalls war nichts als sein Atem zu hören. Schließlich sagte er nachdenklich:

»Wenn er in Mjölby festgenommen wurde, gibt es sicherlich eine komplizierte Begründung dafür.«

»Selbstverständlich«, entgegnete Roffe lächelnd. »Ziemlich kompliziert, würde ich sagen. Wollen Sie sie hören?«

»Ob ich sie hören will?«, fragte Roos mit leisem Glucksen.

»Ich wäre sehr enttäuscht, wenn Sie mir den Rest der Geschichte vorenthielten.«

Roffe räusperte sich und begann mit der Miene eines Mannes, der weiß, dass er eine gute Geschichte zu erzählen hat: »Am 288

Montag, also vor vier Tagen, meldete sich bei der Polizei in Mjölby ein anonymer Anrufer, der behauptete, dass um acht Uhr abends eine große Menge Kokain an eine bestimmte Adresse in Mjölby geliefert werden sollte. Der anonyme Anrufer benutzte ein Handy, konnte aber nicht identifiziert werden. Eine Überprüfung der Adresse ergab, dass es sich um das Einfamilienhaus eines pensionierten Arztes handelte, das sich in einer ruhigen Villengegend befindet. Die Beamten hatten sich rechtzeitig um das Haus postiert, und um Punkt acht fuhr tatsächlich ein Wagen vor. Ein Mann mit einem Päckchen stieg aus und klingelte an der Tür. Die Beamten hatten keine Mühe, ihn festzunehmen. Das Päckchen enthielt ein halbes Kilo Kokain. Der pensionierte Arzt, der in Mjölby eine bekannte und geachtete Persönlichkeit ist und früher in der Kommunalpolitik tätig war, fiel aus allen Wolken und behauptete, nichts mit der Sache zu tun zu haben. Nach mehreren Verhören und weiteren Untersuchungen gelangten die Kollegen zu der Auffassung, dass der Arzt als Lockvogel ausgewählt worden war, um den Kokainlieferanten in die Falle zu locken. Dieser schweigt beharrlich und trägt keine Papiere bei sich. Bleibt das Auto, das mit falschem Kennzeichen unterwegs war. Es hat eine Weile gedauert, um dessen ehemalige Halter aufzuspüren. Der Wagen wurde offenbar nicht in Schweden, sondern in Italien gekauft, wo er dreimal den Besitzer wechselte. Und als die Kollegen aus Mjölby heute unser ziemlich unscharfes Fahndungsfoto auf den Tisch bekamen, trauten sie ihren Augen nicht. Sie meldeten sich sofort bei uns und baten um weiteres Material. Ich rief seinen Arbeitgeber an, der mir bestätigte, dass unser Mann einen silbergrauen Ford Scorpio fährt, Baujahr ’90, den er vermutlich während eines Urlaubs in Italien gekauft hat. Natürlich wusste sein Arbeitgeber nicht, dass die Kennzeichen falsch waren.

Nachdem wir mit den Kollegen aus Mjölby weitere Informationen ausgetauscht haben, besteht wohl kein Zweifel mehr, dass wir von derselben Person sprechen. Ich gehe davon 289

aus, dass sie uns wegen einer Hausdurchsuchung um Hilfe ersuchen werden.«

»Was sagt sein Arbeitgeber dazu?«, fragte Roos.

»Er wirkte schockiert und hatte keine Ahnung, dass sein Vorarbeiter in Drogengeschäfte verstrickt ist.«

»Haben Sie mit ihm selbst gesprochen?«

»Nur am Telefon.«

Roos schwieg eine Weile. Dann war ein leises Seufzen zu hören.

»Ich befürchte, dass die These, die wir bei Ihrem Besuch diskutiert haben, damit nicht vom Tisch ist. Im Gegenteil …«, sagte er ernst.

»Eine unmittelbare Bedrohung vermag ich zwar nicht zu erkennen, doch haben wir allen Grund, wachsam zu sein. Es ist ein sehr unglücklicher Umstand, dass sich auf diesen Ort so viel Aufmerksamkeit richtet.«

Roffe atmete tief durch, als befürchte er, Roos mit der nächsten sensationellen Nachricht zu überfordern.

»Ich habe noch eine weitere Nachricht«, sagte er vorsichtig.

»Um Himmels willen«, stöhnte Roos. »Bei Ihrem Tempo komme ich kaum noch mit.«

»Auch die Kollegen in Stockholm haben sich mit unserem Fahndungsfoto beschäftigt, insbesondere eine Kommissarin, die im Mordfall Marianne Wester ermittelt. Erst vor kurzem hat sie deren private Fotosammlung durchgesehen, und da sie offenbar über ein hervorragendes optisches Gedächtnis verfügt, stutzte sie, als sie unser Fahndungsfoto sah. Sie ließ sich die Fotos von Frau Wester noch einmal kommen und rief mich kurz darauf an.

Die Person, nach der wir fahnden, ist auf drei Fotos gemeinsam mit Marianne Wester zu sehen.«

»Puh, war’s das oder haben Sie noch mehr auf Lager?«

»Im Moment ist das alles.«

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»Haben Sie schon überprüft, wo sich die betreffende Person an dem Tag aufhielt, an dem Frau Wester ermordet wurde?«

»Ich habe versucht, seinen Arbeitgeber anzurufen, um mich danach zu erkundigen, aber im Moment erreiche ich ihn einfach nicht. Ich bleibe natürlich am Ball. Vermutlich hat er viel um die Ohren, jetzt, da sie ein Mann weniger auf dem Hof sind.«

»Der zweite Verdacht, den ich habe, ist schwerwiegender«, sagte Roos bedächtig. »Sie stellten am Dienstag doch selbst in den Raum, dass hinter dem Mord in Stockholm eine größere Organisation stehen könnte. Eine Verbindung unseres Manns zu solch einer Organisation wäre äußerst beunruhigend.«

»Ja, das finde ich auch«, stimmte Roffe mit unangemessener Munterkeit zu. »Aber ich denke, mit dem Ertrag des heutigen Tages können wir sehr zufrieden sein. Wenn das in diesem Tempo weitergeht, bin ich zuversichtlich, dass beide Fälle bald aufgeklärt sein werden. Übrigens habe ich heute ein vergrößertes Foto unseres Mannes zu Ihnen losgeschickt. Und seine Fingerabdrücke haben wir jetzt ja auch.«

»Gewiss«, sagte Roos. »Es versteht sich von selbst, dass wir Interpol einschalten werden. Aber ich werde persönlich ein Auge auf die Entwicklungen haben.«

Mit der wechselseitigen Zusicherung einer weiteren guten Zusammenarbeit beendeten sie das Gespräch.

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23

Am selben Tag

Er hatte soeben den letzten glühenden Schimmer der Sonne im See versinken sehen. Der Himmel verwandelte sich in ein grünblaues Dunkel, das zusehends undurchdringlicher wurde.

Normalerweise ging er nach Sonnenuntergang hinein, doch am heutigen Abend blieb er unschlüssig sitzen und betrachtete schweigend die diffuse Silhouette dessen, was er als seinen Park bezeichnete: eine Anzahl verschiedener Bäume, hauptsächlich Eschen und Birken. Bäume, die er vor Jahren auf dem Abhang zwischen Haus und See eigenhändig gepflanzt hatte. Ein paar mächtige Balsampappeln flankierten das Grundstück zu beiden Seiten und verströmten einen betörenden Duft. Heute Abend betrachtete er sie mit Wehmut, wie etwas, das er bald verlassen musste. Seine Gedanken irrten rastlos zwischen den Eindrücken des Augenblicks und den bedrückenden Ereignissen der letzten Wochen hin und her. Sein Grundgefühl war Angst. Eine diffuse, beklemmende Angst vor etwas, das er nicht benennen konnte.

Unaufhörlich suchte er nach Auswegen und Erklärungen, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Wenn er nur nicht so verdammt einsam wäre. Es gab niemanden, den er um Hilfe bitten oder um Rat fragen konnte. Er musste selbst entscheiden, wie gefährlich die Situation war.

Die Stille wurde von der aufdringlichen Stimme eines Nachrichtensprechers brutal unterbrochen. Mit gequälter Miene versuchte er die monotonen Geräusche des Fernsehers, die aus dem Inneren des Hauses drangen, auf Distanz zu halten. Sie verursachten ihm beinahe Übelkeit. Plötzlich stand seine Frau in der Terrassentür und fragte verwundert: »Sitzt du immer noch hier draußen? Im Dunkeln? Willst du die Nachrichten nicht sehen?«

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Mangelnde Sensibilität konnte er ihr nicht vorwerfen, da er sich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Regel pünktlich um diese Zeit vor den Fernseher gesetzt hatte.

»Nein, ich hab keine Lust«, sagte er kurz angebunden.

Doch wenn er sich einbildete, das Thema damit vom Tisch zu haben, hatte er sich getäuscht. Denn seine Frau, die ein solches Verhalten von ihm nicht gewohnt war, brachte ihre Beunruhigung sofort zum Ausdruck: »Ist was passiert?«

Seine Verärgerung wuchs. »Muss denn irgendwas passiert sein, nur weil ich keine Lust auf die Nachrichten habe?«

»Ja«, antwortete sie mit ungewöhnlicher Entschiedenheit.

»Wenn du mit einer Gewohnheit brichst, die niemand in deiner Umgebung gewagt hätte, in Frage zu stellen, dann muss etwas passiert sein.«

»Gewagt hätte, in Frage zu stellen …? Du tust ja gerade so, als hätte ich jahrelang meine Umgebung terrorisiert. Ich kann mich an viele Tage erinnern, an denen ich weder Zeit noch Lust auf die Nachrichten hatte.«

»Aber irgendwas ist doch los mit dir«, beharrte sie. »Du wirkst so niedergeschlagen.«

Er seufzte gequält und entschied sich, die Chance des Augenblicks zu nutzen. Warum sollte er ihr nicht sein Herz ausschütten? Alles auf einmal konnte er ihr nicht zumuten, doch er wusste schließlich seit langem, dass er irgendwann damit beginnen musste, sie auf die Zukunft vorzubereiten.

»Wenn du so lieb sein würdest, den Fernseher auszuschalten, dann können wir uns hineinsetzen«, sagte er.

Der Raum lag im Halbdunkel, nur eine Leselampe neben seinem Sessel leuchtete. Er bat sie, die Deckenbeleuchtung nicht einzuschalten.

»So ist es mir angenehmer, meine Augen sind ein wenig erschöpft«, sagte er.

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Er wartete, bis sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, und setzte sich neben sie. Als sie sich an ihn schmiegte, legte er den Arm um ihre Schultern und wiegte sie, wie es ihre Gewohnheit war, sacht hin und her, als wolle er sie so weit wie möglich entspannen. Doch im Grunde wollte er sich selbst beruhigen.

»Du weißt doch, wie oft ich an unsere Zukunft denke«, begann er leise und vertraulich. »Wenn ich bei der Reichspolizei aufhöre, steht unserem Glück nichts mehr im Wege«, sagte er und drückte sie leicht. »Dann werden wir aus diesem engen Land verschwinden, überlassen Haus und Boot den Kindern –

sie sollen teilen oder sich drum schlagen – und brechen zu irgendeiner spärlich besiedelten Südseeinsel auf, aber zuerst schauen wir uns China an, und du wolltest doch auch nach Indien. Ob die Lebensbedingungen in der Südsee allerdings so gut sind, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht sollten wir doch in Europa bleiben. Eine kleine Villa am Genfer See, quasi als Stützpunkt für unsere Reisen, wäre doch gar nicht übel. Was meinst du? Möchtest du ein Haus in Montreux haben?«

»Mmm«, murmelte sie träumerisch, als lausche sie seinen Fantasien, von denen er schon so oft erzählt hatte, nur mit halbem Ohr und traue sich nicht, sie ernst zu nehmen.

Er lachte leise und hielt seine Lippen an ihre Schläfe.

»Ja, ich weiß schon, dass du meiner Fantasien müde bist, denn als solche betrachtest du sie doch, oder? Wirklichkeitsflucht auf hohem Niveau, die man mit Gleichmut hinnehmen muss. Denn du bist schließlich eine kluge Frau und weißt, dass die Verwirklichung solcher Träume sehr viel Geld erfordert. Sehr viel mehr, als man sich je ersparen könnte … Aber was würdest du sagen, wenn ich allen Ernstes behauptete, schon jetzt fast genug Geld zu haben, um meine Fantasien in die Tat umsetzen zu können?«

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Sie lachte amüsiert. »Ich würde sagen, dass du im Lotto gewonnen hast, ohne mir davon erzählt zu haben.«

»Hast du mich je ein Los kaufen sehen?«

Er spürte, wie sie erstarrte. »Du hast doch nicht wieder zu spielen angefangen?«, fragte sie ängstlich.

»Nein, ich habe mir das Geld verdient.«

»Wie denn? Du behauptest doch immer, dass dein Gehalt in keinem Verhältnis zu deinem Arbeitseinsatz steht.«

»Das stimmt, und ich spreche auch nicht von meinem Gehalt.«

Sie drehte den Kopf und schaute ihn fragend an. »Wovon sprichst du dann?«

»Ich versuche dir so schonend wie möglich beizubringen, dass wir ziemlich wohlhabend sind. Ich habe noch eine andere Arbeit, die bedeutend mehr Geld abwirft.«

Sie machte sich von ihm frei und rückte ein bisschen zur Seite, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können.

»Was ist das für eine Arbeit und wann gehst du ihr nach?«

Er lächelte, fühlte sich jedoch auf unsicherem Terrain.

»Das ist nicht so leicht zu erklären, aber so viel kann ich dir sagen, dass sie extrem gut bezahlt wird. Sie kostet mich fast keine Zeit, ist dafür mit einem erheblichen Risiko verbunden.«

»Was meinst du mit Risiko? Sind es geheime Aufträge, die du für die Polizei erledigst?«

Er warf ihr einen müden Blick zu. »Du darfst nicht vergessen, Liebste, dass ich es bin, der solche Aufträge vergibt, und ich weiß auch sehr genau, wie schlecht sie bezahlt sind. Doch es gibt andere Auftraggeber, die den Wert riskanter Aufgaben zu schätzen wissen und sie angemessen entlohnen.«

Er beobachtete sie wachsam und fragte sich mit beklommener Neugier, wann bei ihr der Groschen fiele und sie die Tragweite seiner Andeutungen erkannte. Ihr Blick war ausdruckslos, 295

beinahe stumpf, ehe sich ihre Züge plötzlich verhärteten. Ihr Mund formte sich zu einem stummen Schrei, ehe der Anflug eines Zweifels über ihr Gesicht huschte. »Sag mal, erlaubst du dir einen Scherz mit mir?«

Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nichts liegt mir ferner.

Ich erzähle dir das alles aus einem ganz bestimmten Grund.

Natürlich hätte ich dir früher oder später ohnehin davon erzählt, aber der Grund dafür, dass ich es jetzt tue, ist … dass sich die Lage zugespitzt hat. Mit anderen Worten: Es besteht eine gewisse Gefahr, dass ich gezwungen sein könnte, früher in Pension zu gehen, als ich eigentlich geplant habe.«

Sie war verwirrt und erschrocken. Er kannte die äußeren Anzeichen, aber es half nichts; gewisse Fakten ließen sich nun mal nicht beschönigen. Er nahm ihre Hände und streichelte sie beruhigend.

»Hab keine Angst«, sagte er sanft, »du kannst dir doch denken, dass ich bis jetzt alles unter Kontrolle habe.« Er wusste, dass dies Wunschdenken war, sprach aber weiter: »Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass ich, ich meine, dass wir kurzfristig auf Reisen gehen müssen. Aber ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.«

»Arbeitest du für eine Verbrecherorganisation?«, stieß sie hervor.

Er zuckte zusammen und ärgerte sich über ihre unverblümte Wortwahl.

»Ich leiste einer Wirtschaftsorganisation gewisse Dienste, ja.

Eine Organisation, die ein großes Interesse an polizeilichen Interna hat. Ich verschaffe ihr diese Informationen, die sie sich andernfalls auch ohne mich, nur eben auf viel unbequemerem und riskanterem Weg beschaffen würde.«

»Wie lange …?«

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»Seit acht Jahren. Ich hatte auf ein paar weitere Jahre gehofft, aber vermutlich sollte ich dankbar sein, dass es so lange gut gegangen ist.«

Sie entzog ihm abrupt ihre Hände und schlug die Augen nieder. Er wartete schweigend ab, wollte ihr Zeit geben, die schockierenden Informationen zu verdauen. Sie beugte ihren Kopf tief hinunter. Ihre dunkelblonden Haare, in denen nach wie vor keine einzige graue Strähne zu finden war, hingen wie ein schützender Vorhang vor ihrem Gesicht. Die Finger ihrer rechten Hand drehten nervös an ihrem Ehering. Mit wachsender Unruhe begriff er, dass ihre Reaktion nicht vorhersehbar war.

Aus irgendeinem Grund hatte er stets mit ihrer Loyalität gerechnet, doch eigentlich wusste er nicht, wo deren Grenzen lagen. Er wusste nur eins: Dass er sie unbedingt mitnehmen wollte. Ein Leben ohne sie war nahezu unvorstellbar. Sie hatten in ihrer langen Ehe so manche Krise ausgestanden, doch stets aneinander festgehalten. Er glaubte, sie hätten ein großzügiges und tolerantes Verhältnis zueinander entwickelt, das auf aufrichtigem gegenseitigen Vertrauen basierte. Doch wie konnte er sicher sein, dass sie deswegen bereit war, mit ihm ins Exil zu gehen? Ihre Bindung zu den erwachsenen Kindern war außerdem stärker als seine. Als sie endlich die Sprache wiederfand, hörte er ihrer Stimme eine beunruhigende Distanziertheit an.

»Warum tust du das? Etwa wegen des Geldes?«

»Ich hoffe, du verstehst, dass ich mich niemals darauf eingelassen hätte, wäre ich nicht seinerzeit durch die äußeren Umstände dazu gezwungen gewesen.«

»Was für Umstände?«, fragte sie misstrauisch.

Er holte tief Luft und versuchte gegen eine schleichende Mattigkeit anzukämpfen. Es kostete viel Kraft, nach all den Jahren reinen Tisch zu machen.

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»Du weißt doch, dass ich vor acht Jahren unter bedrückenden Spielschulden litt. Du weißt jedoch nicht, dass die Hypothek, die ich damals auf das Haus aufgenommen habe, bei weitem nicht ausreichte, um die Schulden zurückzuzahlen, wie ich dir damals weisgemacht habe. Ich stand kurz vor der finanziellen Katastrophe, und der Gedanke, dir dies alles zuzumuten, war unerträglich. Ich sage dies nicht, um dein Mitleid zu erregen, aber ich trug mich zu dieser Zeit mit ernsthaften Selbstmordgedanken, vorausgesetzt natürlich, ich hätte alles wie einen Unfall aussehen lassen können. Damit dir zumindest meine Lebensversicherung ausgezahlt worden wäre. In dieser Situation bin ich von einem Mitarbeiter der Organisation kontaktiert worden, er gehörte nämlich zu meinen Gläubigern.

Er machte mir einen Vorschlag, den ich nicht ablehnen konnte.

Er rettete mir das Leben.«

»Was hat er dir angeboten?«

»Erstens einen Schuldenerlass und zweitens eine Million jährlich für meine Dienste.«

Sie blickte hastig auf und flüsterte: »Das ist nicht wahr.«

Ihre erschreckte Reaktion nötigte ihm ein Lächeln ab.

»Meinem letzten Kontoauszug zufolge besitze ich rund zehn Millionen. Schon die Verzinsung einer solchen Summe ist beträchtlich.«

Schwer atmend starrte sie ihn an, als begriffe sie erst jetzt, dass er die Wahrheit sagte.

»Aber du hast das Geld doch wohl nicht auf einer Bank?«, entfuhr es ihr.

»Doch, ich habe es auf einer Bank, aber natürlich nicht in Schweden. Es liegt und wächst auf einem Schweizer Nummernkonto. Ich muss mich darum nicht kümmern, bekomme nur in regelmäßigen Abständen einen Kontoauszug, das ist alles.«

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Jetzt hatte der Schock sie eingeholt. Sie begann zu zittern und schlang die Arme um sich, als wolle sie sich schützen. Ihr Blick irrte durch den halb dunklen Raum. Er spürte, dass sie es vermied, ihn anzusehen.

»Was willst du jetzt tun?«, fragte sie.

»Abwarten. Im Moment kann ich nichts tun.«

»Aber irgendwas ist schief gegangen, oder?« Sie flüsterte immer noch, als befürchte sie, belauscht zu werden.

»Ja, etwas ist schief gegangen, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich nicht beurteilen, wie gefährlich die Situation ist. Ich muss abwarten, wie sich die Lage entwickelt.«

»Es besteht also die Gefahr, dass du auffliegst?«

»So weit werde ich es nicht kommen lassen. Daher spiele ich mit dem Gedanken, mich von allem zurückzuziehen. Würdest du in diesem Fall mit mir kommen?«

In ihren eigenen Gedanken befangen, schien sie seine Frage nicht gehört zu haben. Er überlegte, ob er sie in Details einweihen sollte.

»Erst heute ist mir klar geworden, wie gefährlich meine Lage geworden ist. Mein Verbindungsmann ist plötzlich …«

»Ich will nichts wissen«, unterbrach sie ihn mit einer abwehrenden Geste. »Sei so gut und verschone mich mit den Einzelheiten. Ich habe nicht darum gebeten, in irgendeiner Form über diese Dinge informiert zu werden. Tatsache ist, dass ich bis jetzt … vor einer Stunde noch glaubte, mit einem Polizisten verheiratet zu sein.«

Aus irgendeinem Grund kamen ihm ihre Worte vollkommen unsinnig vor. Er gab ein gereiztes Lachen von sich.

»Das bist du immer noch, allerdings mit einem sehr viel reicheren Polizisten, als du gedacht hast. Ist es denn eine so schreckliche Vorstellung, zehn Millionen zu besitzen?«

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»Ich habe damit nichts zu tun, und ich will damit auch nichts zu tun haben!«, schrie sie und stürzte schluchzend aus dem Zimmer. Er hörte, wie sie die Badezimmertür hinter sich zuschlug, und widerstand der Versuchung, ihr nachzulaufen. Es war gut, dass sie sich abreagierte, dann konnten sie ihr Gespräch fortsetzen, wenn sie sich wieder beruhigt hatte.

Sonderbar leer und erleichtert, vielleicht ein wenig enttäuscht, saß er da und lächelte in sich hinein. So musste man sich fühlen, wenn man gründlich abgefertigt worden war.

Nach einer Weile ging er in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Er schaute in den Kühlschrank und redete sich ein, einen Schritt vorangekommen zu sein. Das Eis war jedenfalls gebrochen, und er musste sein Geheimnis nicht mehr allein mit sich herumtragen. Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie ihn verraten könnte, doch ob sie ihn begleiten würde, war alles andere als gewiss. Schlimmstenfalls musste er sich eben allein auf den Weg machen. Ihn schauderte bei diesem Gedanken.

Als er sich an den Küchentisch gesetzt hatte, vor sich ein paar Butterbrote und ein Bier, erschien sie plötzlich verweint und zerzaust in der Tür.

Ehe er etwas sagen konnte, hatte sie sich ihm gegenübergesetzt und das Kinn auf die Hände gestützt. Mit immer noch zittriger Stimme sagte sie: »Okay, erzählst du mir jetzt die Details?«

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24

Montag, 15. Mai

Kriminalkommissarin Gudrun Skog aus Stockholm stand auf und schüttelte der Frau, die gerade den Raum betreten hatte, freundlich die Hand.

»Guten Tag. Nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie einen Kaffee?«

Die Frau schüttelte den Kopf und blickte sich in dem spartanisch möblierten Büro misstrauisch um.

»Ich trinke keinen Kaffee.«

»Möchten Sie lieber einen Tee?«

»Nein danke. Darf ich rauchen?«

»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich das Fenster öffne«, sagte Gudrun Skog und nahm einen Aschenbecher aus der untersten Schreibtischschublade.

Gisela Nordh setzte sich vorsichtig auf die äußerste Stuhlkante und fingerte nervös eine Zigarette aus der Schachtel, die sie unangezündet in der Hand behielt. Die Kommissarin sah ihre Besucherin aufmerksam an.

»Wie geht es Ihnen denn?«, erkundigte sie sich mitfühlend.

Gisela Nordhs Lippen zuckten, während sie hastig die Zigarette anzündete.

»Marianne fehlt mir. Es ist schrecklich einsam … ohne sie …

und ich habe Angst.«

»Haben Sie Angst vor Peter Enqvist?«

Gisela Nordh nickte. »Unter anderem.«

»Vor wem haben Sie noch Angst?«

»Im Moment habe ich vor allen Angst, auch vor der Polizei.«

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Gudrun Skog betrachtete die junge Frau schweigend und konnte ihre Gefühlslage gut nachvollziehen. Sie hätte ihr gern ein wenig von ihrer Angst genommen, doch ihre Aufgabe bestand darin, deren Ursachen auf den Grund zu gehen.

»Haben Sie mit Enqvist gesprochen?«

»Nur ein paarmal am Telefon.«

»Sprachen Sie auch über Marianne?«

»Ja, er hat mich angerufen, weil er sie nicht erreichen konnte.

Er fragte sich, ob ich wüsste, wo sie … Ich sagte ihm, dass sie tot … ermordet wurde … er konnte es nicht glauben.«

»War das eine ehrliche Reaktion?«

»Das weiß man bei ihm nie. Er ist anders als andere Menschen. Ich glaube, echte Gefühle kennt er gar nicht.«

»Was hat er noch gesagt?«

»Er hat mich gefragt, was die Polizei von mir gewollt hätte.

Und er hat mir gedroht, auf keinen Fall seinen Namen zu nennen. Dann hat er noch gesagt, dass in unserem Beruf immer ein Risiko besteht, dass man ermordet wird. Er glaubte, dass es einer von ihren Bekannten war, und meinte, dass ich besonders gut aufpassen soll. Als wenn er nur ein bisschen Geld verloren hätte … So hat er sich angehört.«

»Hat er irgendwelche Namen genannt?«

»Nein.«

Gudrun Skog stand auf und öffnete das Fenster ein Stück weiter. Als sie zum Tisch zurückging, wurde ihr bewusst, wie attraktiv Gisela Nordh eigentlich war. Vielleicht war es übertrieben, sie als bildschön zu bezeichnen, doch besaß sie eine eigentümliche Anziehungskraft, und ihr Äußeres, angefangen bei ihrer Kleidung bis hin zu Frisur und Make-up, zeugte von einem exklusiven und sicheren Geschmack mit einer ausgeprägt persönlichen Note. Ein unvoreingenommener Betrachter hätte sie für eine selbstbewusste, erfolgreiche junge Frau halten 302

können. Sie war erst fünfundzwanzig, Marianne Wester zweiunddreißig gewesen. Gewisse Bemerkungen Gisela Nordhs ließen darauf schließen, dass Marianne Wester ihre Lehrerin gewesen war, was die Kunst anbelangte, sich vorteilhaft in Szene zu setzen. Das Einzige, was auf ihre innere Unruhe hindeutete, waren ihre erschrockenen Augen und die nervösen, wenn auch gepflegten Hände. Leider war die Kommissarin gezwungen, den Druck auf sie zu erhöhen, und mit einem kaum merklichen Seufzen machte sie sich ans Werk.

»Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, sagten Sie, dass Enqvist Ihnen und Marianne vollkommen unbekannt war, bis er sich ein paar Wochen nach Hembergs Verschwinden bei Ihnen meldete. Mir liegen jedoch Informationen vor, nach denen er an besagtem Abend mit Ihnen in der Opernbar war. Ich spreche von dem Abend, an dem Marianne Wester und Patrik Andersson sich kennen lernten.«

Gisela Nordh errötete und senkte den Blick.

»Habe ich das gesagt? Ich … ich weiß nicht mehr, was ich letztes Mal gesagt habe. Ich … war so geschockt … und verzweifelt. Es kann schon sein, dass ich ihn ein paarmal zuvor gesehen habe, aber näher gekannt habe ich ihn nicht.«

»Wussten Sie, dass er Hembergs Auftraggeber war?«

»Nein … äh … ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mir etwas in dieser Richtung gedacht.«

»Was für einen Eindruck hatten Sie von der Beziehung zwischen Enqvist und Andersson?«

»Wie meinen Sie das?«

»Hatten Sie den Eindruck, dass sich die beiden gut kannten?«

»Nein, das kann man wohl nicht behaupten. Aber natürlich haben sie miteinander geredet.«

»Worüber haben sie geredet?«

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»Daran kann ich mich nicht erinnern. Doch, warten Sie … sie haben darüber geredet, wie es ist, auf dem Land zu leben.«

»Aha …«

»Es war Axel, der sagte, Patrik sei verrückt, sich auf dem Land einzuigeln, und dass Peter ihm eine erstklassige Atelierwohnung mitten in der Stadt besorgen könnte. Patrik hat das natürlich nicht gefallen, also hat er die Vorteile aufgezählt, die das Landleben hat. Er hat überhaupt sehr viel geredet.«

»Was für Vorteile hat er genannt?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Wie hat Enqvist reagiert, als Patrik und Marianne zusammen die Gesellschaft verlassen haben? War er vielleicht eifersüchtig?«

Gisela Nordh gab ein nervöses Lachen von sich.

»Eifersüchtig? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er solche Gefühle kennt. Alles, was mit Frauen zu tun hat, scheint er aus seinem Leben verdrängt zu haben.«

»Okay, lassen wir ihn einen Moment beiseite. Was hielten Sie von Patrik Andersson?«

»Das habe ich doch letztes Mal schon gesagt. Er war viel zu betrunken, als dass ich ihn hätte interessant finden können.

Besoffene Kerle sind das Schlimmste, was es gibt.«

Gudrun Skog nickte zustimmend. »Da haben Sie Recht. Falls es noch etwas Schlimmeres gibt, dann allzu nüchterne Kerle.«

»Die treffe ich nie«, entgegnete Gisela Nordh.

»Waren die anderen an diesem Abend nicht genauso betrunken?«

»Nein, ich glaube, weder Axel noch Peter hatten sonderlich viel getrunken. An den Namen des Vierten kann ich mich nicht erinnern. Er saß die meiste Zeit über still in der Ecke; wie viel er getrunken hat, weiß ich nicht. Aber alle haben Patrik ständig mit neuen Drinks versorgt.«

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»Hatten Sie den Eindruck, die anderen wollten ihn betrunken machen?«

»Nicht direkt, aber natürlich war er der Star des Abends. Er sollte ja schließlich gefeiert werden.«

»Und Marianne hat sich an seinem Zustand nicht gestört?«

»Nein, und das war eigentlich merkwürdig, denn sie konnte betrunkene Kerle genauso wenig ausstehen wie ich. Ich konnte auch nicht verstehen, was sie an ihm so aufregend fand.«

Die Kommissarin sah sie durchdringend an. »War es von Anfang an geplant, dass Sie zu der Gesellschaft stoßen sollten?«

Gisela Nordhs Augen flackerten. »Nicht dass ich wüsste.

Marianne und ich wollten eigentlich allein etwas unternehmen.

Für mich war es jedenfalls eine Überraschung, dass wir auf Axel und Peter trafen.«

»Vielleicht hatten sie das Treffen in der Opernbar nur mit Marianne verabredet?«

Gisela Nordh schien einen Augenblick über diese Möglichkeit nachzudenken und schüttelte dann den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Wir haben uns immer alles erzählt.«

Die Kommissarin beobachtete, wie sich Gisela Nordh ihre dritte Zigarette anzündete.

»Wir kennen leider nicht den genauen Inhalt des Briefes, den Patrik an Marianne geschrieben hat«, sagte sie. »Können Sie sich an den ungefähren Wortlaut erinnern?«

»Ah, nein, das ist zu lange her. Ich habe den Brief nur einmal gelesen. Sein Ton war sehr … schroff.«

»Hat er ihr gedroht?«

»Nein, überhaupt nicht. Aber der abweisende Ton hat Marianne sehr verletzt.«

»War sie in ihn verliebt?«

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»Ja, so was in der Art. Ich konnte es nicht fassen. Sie gehörte eigentlich nicht zu den Menschen, die sich schnell beeindrucken lassen. Patrik muss irgendwas an sich gehabt haben … Ich weiß nicht, was.«

Gudrun Skog öffnete eine Schreibtischschublade und nahm eine Klarsichthülle heraus, in der drei kleine Fotos lagen. Sie stammten aus einem Fotoautomaten und hingen immer noch zusammen. Ursprünglich waren es vier gewesen, doch das oberste Foto war abgeschnitten worden. Sie gab Gisela Nordh die Klarsichthülle in die Hand und fragte: »Wer ist die Person auf diesen Fotos?«

Sie studierte aufmerksam die Mimik der vor ihr sitzenden Frau, deren Veränderung nicht zu übersehen war. Die Angst stand Gisela Nordh ins Gesicht geschrieben, die Kommissarin hätte schwören können, dass sie erbleichte.

»Ich kenne diesen Mann nicht«, sagte sie hastig und legte die Hülle auf den Schreibtisch.

»Sie werden doch wohl Marco Fermi wieder erkennen?«, sagte die Kommissarin.

Gisela Nordh schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden.

»Ich kenne diesen Mann nicht«, wiederholte sie und wirkte mit einem Mal verstockt.

»0 doch, ich glaube, Sie kennen ihn. Ihre Reaktion war sehr heftig.«

»Das war, weil … Marianne mit auf den Bildern ist. Ich habe kein Foto von ihr gesehen, seit sie gestorben ist.«

»Wenn es wahr ist, dass Sie sich immer alles erzählt haben, dann sollten Sie auch über Marco Fermi Bescheid wissen.

Marianne sieht auf den Fotos doch sehr verliebt aus.«

Als Entgegnung bekam sie nur ein Achselzucken.

»Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Marco Fermi zu fragen, was er über Sie und Marianne zu erzählen hat.«

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Gisela Nordh zuckte zusammen und blickte auf. »Ich will nicht ermordet werden.«

»Glauben Sie, dass Fermi Marianne ermordet hat?«

»Ich weiß nicht, wer Marianne ermordet hat, und je weniger ich weiß, desto besser für mich.«

»Sie kennen ihn also doch?«

Gisela Nordh atmete schwer, während ihr Blick Hilfe suchend umherirrte.

»Vielleicht habe ich ihn ein paarmal gesehen, aber ich kann nichts über ihn sagen.«

»Was hat Marianne von ihm erzählt?«

»Nichts … so gut wie nichts. Sie hatte Angst vor ihm.«

»Auf den Fotos sieht sie nicht besonders ängstlich aus.«

»Haben Sie die in ihrer Wohnung gefunden?«, fragte sie kleinlaut.

»Wir haben sie nicht bei ihren Privataufnahmen entdeckt.

Diese Fotos lagen unter anderen Dokumenten in einer Schreibtischschublade, als wollte sie sie verstecken. Warum hatte sie Angst vor ihm?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Gisela Nordh und kniff den Mund zusammen.

»Vielleicht sind Sie ja bereit, mir mehr zu sagen, wenn ich Ihnen versichere, dass Marco Fermi wegen Kokainbesitzes in Untersuchungshaft sitzt und vermutlich für viele Jahre ins Gefängnis muss«, versuchte es die Kommissarin.

»Mehr weiß ich nicht.«

»Sie könnten mir zumindest sagen, ob Marco Fermi und Peter Enqvist sich kennen.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Und Axel Hemberg? Kennt er Fermi?«

»Das weiß ich auch nicht.«

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Gudrun Skog ließ die Klarsichthülle wieder in der Schublade verschwinden und schaute Gisela Nordh forschend an. Es bestand kein Zweifel, dass weitere Fragen zwecklos waren.

Dennoch fügte sie hinzu: »Können Sie uns irgendeinen anderen Hinweis geben, der uns helfen könnte, Mariannes Mörder zu fassen?«

»Nein.«

»Das wäre dann alles. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.«

Gisela Nordh stand hastig auf. Mit sichtbarer Erleichterung schüttelte sie der Kommissarin die Hand und war im nächsten Moment aus dem Büro verschwunden.

Gudrun Skog stieß das Fenster weit auf und leerte den Aschenbecher auf der Toilette, ehe sie ihre Sekretärin rief.

»Ich möchte, dass Sie einen Bericht an Hauptkommissar Stenberg in Christiansholm schreiben«, sagte sie ein wenig zerstreut.

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25

Am selben Vormittag

PM war im Atelier. Die Sonne hatte gerade ihren Zenit überschritten. Die Lichtverhältnisse waren perfekt, und er arbeitete mit höchster Konzentration. Das helle Licht verlieh der feuchten Leinwand eine lebendige, nahezu bewegliche Oberfläche, um schon im nächsten Moment eine atemberaubende Tiefe zu offenbaren.

Er war ausnahmsweise frühzeitig aus den Federn gekommen und sah mehreren Stunden ungestörten Arbeitens entgegen. Es war einer dieser gesegneten Tage, an denen eine sprudelnde Arbeitsfreude mit nahezu unbegrenzter Zeit einherging.

Langsam und präzise gab er dem einen Antlitz des Bildes eine feine, dunkle Kontur. Nachdem er die lange, geschwungene Linie beendet hatte, trat er sofort einen Schritt zurück, um das Ergebnis zu begutachten. Während er den Pinsel reinigte und an einem Lappen abwischte, brach er die Stille, indem er ein paar Takte aus der Cavatine des Herzogs aus dem Rigoletto pfiff.

Lady Pamela streckte sich wohlig auf dem Diwan. Als PM zu pfeifen begann, hob sie den Kopf in seine Richtung und öffnete ein Auge; nicht aus Verwunderung, denn PM pfiff oft, sondern um sich wohlgefällig zu vergewissern, dass er auch wirklich da war. Eine summende Fliege hielt sorgsam Abstand von der feuchten Leinwand, deren Berührung ihr sicheres Ende gewesen wäre. Sie umschwirrte Lady Pamela und vervollständigte den Eindruck eines idyllischen, friedvollen Sommertags.

PM hatte zu pfeifen aufgehört und setzte mit angehaltenem Atem einige perfekte Lichtreflexe in ein Auge. Während er nachdenklich den Effekt prüfte, hörte er plötzlich einen Automotor verstummen und ein paar Türen schlagen. Lady 309

Pamela setzte sich auf und lauschte. PM hob die Brauen und fluchte leise. Er legte den Pinsel hin und trocknete sich die Hände. Mit ärgerliche Miene eilte er zur Haustür, um alle Versuche, seine Arbeitsruhe zu stören, im Keim zu ersticken.

Doch als er die Tür öffnete, bot sich ihm ein ungewöhnlicher, wenn nicht unwirklicher Anblick. Vor dem knospenden Flieder, den zarten Akeleien und Herzblumen stand ein Polizeiauto. Ein richtiger Streifenwagen in Blau und Weiß, dessen unübersehbarer Schriftzug keinen Lesekundigen im Zweifel lassen konnte. Auf der Eingangstreppe bauten sich zwei hoch gewachsene Beamte vor ihm auf.

»Wir suchen Patrik Andersson«, sagte der eine. »Sind Sie das?«

Er nickte stumm.

»Dann müssen wir Sie bitten, uns zu begleiten.«

PM blickte ungläubig vom Streifenwagen zu den beiden unbeweglichen Gesichtern, die aus den Uniformen herausschauten, doch ihre Mienen ließen keine weiteren Aufschlüsse zu.

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte er.

Die beiden Polizisten tauschten einen raschen Blick, dann sprach ihr Wortführer den Satz aus, der jeden Gedanken an einen Scherz zunichte machte.

»Wir haben den Auftrag, Sie festzunehmen, weil Sie des Mordes an Marianne Wester verdächtigt werden.«

Er hörte die seltsamen Worte, schien sie aber nicht zu verstehen.

»Was?«, war das Einzige, das er hervorbrachte.

»Sie sollen verhört werden«, fügte der andere hinzu, der offenbar auch sprechen konnte.

Er hatte das Gefühl, jemand ziehe ihm den Boden unter den Füßen weg. Er musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht 310

das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Hinterkopf schien zu brennen, während es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. Sein Mund verkrampfte sich, und er nahm an, dass aus seinen Lippen das Blut wich. Das konnte nicht wahr sein, schoss es ihm durch den Kopf. So etwas passierte einfach nicht. Entweder handelte es sich um ein furchtbares Missverständnis, oder er sah sich zwei entlaufenen Psychopathen gegenüber, die in Polizeiuniformen geschlüpft waren.

»Können Sie sich ausweisen?«, presste er hervor.

Sie zeigten ihm ihre Ausweise. Er deutete kraftlos in Richtung Haus.

»Ich muss Hauptkommissar Stenberg anrufen.«

Die beiden Uniformierten, die wohl argwöhnten, er könne Schwierigkeiten machen, wechselten wie auf Verabredung ihren Gesichtsausdruck. Ihre unpersönliche Höflichkeit wich einer verbissenen Entschlossenheit.

»Das ist nicht nötig. Mit Stenberg können Sie auf dem Präsidium sprechen. Er erwartet Sie.«

Eine Weile starrte er sie ungläubig an, ehe er ausrief: »Weiß er denn, dass Sie … dass Sie mich holen?«

»Er hat uns geschickt«, sagte der eine mit deutlichen Zeichen der Ungeduld. »Wir wollen jetzt, dass Sie mitkommen.

Diskutieren können wir später.«

Ohne sichtbaren Anlass begann PM zu lachen; ein leises, nach innen gerichtetes Lachen.

»Und was passiert, wenn ich mich weigere?«, fragte er neugierig.

Sie blickten ihn durchdringend an. »Das würde ich Ihnen nicht raten«, sagte der eine mit beneidenswertem Selbstvertrauen.

»Sie kommen mit aufs Präsidium, ob Sie wollen oder nicht.«

PM musterte nickend die schwellenden Oberarme und Schultern der Uniformierten.

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»Wie Sie wünschen«, sagte er verbindlich. »Unter diesen Umständen werde ich Ihnen natürlich unnötige Schwierigkeiten ersparen. Aber wenn Sie gestatten, werde ich rasch meine Katze informieren, dass ich sie verlassen muss. Sie wäre gekränkt, wenn ich mich nicht von ihr verabschieden würde. Am besten kommen Sie mit hinein, damit ich nicht durch den Hinterausgang verschwinde oder auf andere dumme Gedanken komme.«

Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und eilte ins Atelier. Die Polizisten folgten ihm auf dem Fuße.

Lady Pamela hatte aufgrund ihres umfangreichen Bauches ein vermindertes Interesse an ihrer Umwelt. Darum machte sie sich auch gar nicht erst die Mühe, den Diwan zu verlassen. Sie warf den beiden Fremden einen flüchtigen Blick zu, konnte im Gegensatz zu PM aber nichts Merkwürdiges an den beiden Uniformen finden. PM streichelte ihr sanft über den Rücken und erklärte der schnurrenden Katze unter den Augen der ungläubig gaffenden Polizisten in aller Ruhe, warum er gezwungen war, sie vorübergehend allein zu lassen. Er schaute an seinem Overall herunter und fragte sich, ob er nicht etwas anderes anziehen sollte, um auf dem Präsidium einen besseren Eindruck zu machen. Außerdem würde er in diesem Aufzug nur Autositze und Stühle schmutzig machen. Aber als er genauer darüber nachdachte, hatte er keine Lust, seine Garderobe zu wechseln.

Da hatten sie eben selbst Schuld.

Im Streifenwagen, auf dem Weg in die Stadt, erwachte sein Zorn. Was zum Teufel hatte sich Roffe nur dabei gedacht, ihn solch einer Behandlung auszusetzen? Hatte er völlig den Verstand verloren? Beeinträchtigte der Stress inzwischen sein Urteilsvermögen? Mit verkniffenem Gesicht überlegte er sich gewandte und kraftvolle Formulierungen, die er Roffe entgegenschleudern wollte. Mit gestochenen Sätzen wollte er 312

ihm mitteilen, was er davon hielt, von zwei dressierten Gorillas aus seiner Arbeit gerissen zu werden.

Doch nachdem sie am Präsidium angekommen waren und PM in einem deprimierenden Vernehmungszimmer eine geschlagene Viertelstunde hatte warten müssen, ehe es jemandem beliebte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, war es nicht PM, der seine aufgestaute Wut zum Ausdruck brachte, sondern Roffe, der blass vor Erregung in den Raum stürmte. Grußlos und ohne Entschuldigung für sein Verhalten schrie er ihn an, ehe PM den Mund öffnen konnte. »Was fällt dir ein, mich anzulügen?«

PM starrte ihn wie gelähmt an und entgegnete kühl: »Bin ich dir etwa eine Erklärung schuldig? Ich dachte, du hättest mir einiges zu erklären.«

Roffe schaute ihn verbittert an. »Im Gegensatz zu dem, was du mir erzählt hast, habe ich erfahren, dass du doch in der Wohnung von Marianne Wester warst, und zwar an dem Tag, an dem sie ermordet wurde. Warum hast du mir das nicht gesagt?«

PM zuckte zusammen und spürte zu seiner Verärgerung, dass er errötete. »Woher weißt du das?«

»Weil meine Stockholmer Kollegen mich darüber informiert haben. Warum hast du mir das verschwiegen?«

»Ich dachte, das wäre nicht so wichtig.«

Roffe stöhnte auf und schlug sich an die Stirn. »Wie kann man nur so dumm sein! Begreifst du denn nicht, dass du deine gesamte Glaubwürdigkeit in Frage stellst, wenn du auch nur im kleinsten Detail die Unwahrheit sagst? Außerdem wirft das die Frage auf, warum du gerade in dieser Sache gelogen hast.«

PM schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln.

»Würdest du mir bitte verraten, wie in aller Welt die Stockholmer Polizei erfahren hat, dass ich in der Wohnung war?«

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»Ganz einfach«, sagte Roffe. »Als sie endlich deine Fingerabdrücke erhielten, stimmten sie mit den Fingerabdrücken auf der Einkaufstüte überein, die du im Schlafzimmer vergessen hast. Außerdem war ein Kassenzettel in der Tüte, der keinen Zweifel daran ließ, an welchem Tag du in der Wohnung warst.«

»Einkaufstüte?«, wiederholte PM fragend.

»Herrgott, Patrik!«, rief Roffe entnervt aus. »Warum machst du hier so ein Theater? An den Fakten führt kein Weg vorbei.«

Erneut loderte PMs Zorn auf. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was für eine verdammte Einkaufstüte? Ich weiß nicht, wovon du redest.«

In diesem Augenblick zuckte eine Erinnerung durch seinen Kopf und er verstummte. Eine Szene spielte sich vor seinem inneren Auge ab. Eine unangenehme Szene, in der er eine geradezu lächerliche Figur abgegeben hatte. Unwillkürlich zog sich sein Gesicht zusammen. Er musste ein erschreckendes Bild geboten haben, denn Roffe beugte sich ihm entgegen und fragte in sanfterem Ton: »Was ist? Geht’s dir nicht gut?«

PM schüttelte den Kopf. »Die Tüte hatte ich völlig vergessen«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich bekam es so mit der Angst zu tun, dass ich sie einfach stehen ließ und davonrannte.«

»Aber warum hast du mir nicht gesagt, dass du in der Wohnung warst?«

»Ist das so schwer zu verstehen?«, rief PM aufgebracht. »Ich hatte ganz einfach die Hosen voll. Sie war tot. Jemand hatte sie umgebracht, anscheinend erst kurz zuvor. Und ich war in ihrer Wohnung. Ich hatte nichts mit der Sache zu tun, aber wer würde mir das schon glauben? In Panik bin ich aus der Wohnung gerannt und habe die ganze Szene seitdem völlig verdrängt. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb habe ich mir eingeredet, sie nie gesehen zu haben.«

Roffe schaute ihn skeptisch an. »Als ich dir erzählte, dass ihr jemand den Hals durchgeschnitten hat, hast du sehr heftig 314

reagiert«, sagte er. »Du wusstest zu diesem Zeitpunkt aber schon, dass sie ermordet worden war. Du hast mir also alles nur vorgespielt?«

PM schaute ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, das war absolut nicht gespielt. Ich wusste nicht, dass man ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Als du mir das erzählt hast, kam mir die ganze Szene wieder zu Bewusstsein. Es war wie ein verspäteter Schock. Ich habe sie nie richtig angesehen. Als ich begriff, dass sie tot war, bin ich Hals über Kopf geflüchtet.«

Roffe blickte ihn düster an. »Es wäre weitaus klüger gewesen, wenn du mir das von Anfang an erzählt hättest«, sagte er.

Die Tür öffnete sich, und Wagnhärad kam herein. Er nickte PM freundlich zu und stellte sein Aufnahmegerät auf den Tisch.

Roffe sagte: »Nun hast du jedenfalls Gelegenheit, wahrheitsgetreu zu schildern, was damals passiert ist. Lasse wird das Verhör leiten.«

Roffe und Wagnhärad ließen sich am Tisch nieder. PM

schaute von einem zum andern. Dann ließ er seinen scheuen Blick durch den nackten Raum schweifen.

»Was passiert danach?«, fragte er gehetzt. »Werde ich eingebuchtet oder kann ich nach Hause fahren?«

Roffe schaute auf die Tischplatte.

»Nach dem Verhör kannst du gehen«, sagte er kurz angebunden.

»Aber ich weiß nicht, was meine Kollegen in Stockholm mit dir vorhaben. Das hängt wohl davon ab, was jetzt ans Tageslicht kommt.«

»War es wirklich nötig, die beiden Gorillas zu schicken und mich so zu erschrecken?«, fragte PM grimmig. »Hättest du mich nicht einfach bitten können, hierher zu kommen?«

Roffe verzog den Mund und schaute seinen Freund amüsiert an.

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»Du wirst ziemlich überrascht gewesen sein«, sagte er mit einem Anflug von Schadenfreude.

»Überrascht?«, rief PM beleidigt. »Ich hätte fast mein Vertrauen in den Rechtsstaat verloren.«

»Was meinst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich erfuhr, dass du mich angelogen hast?«, entgegnete Roffe schroff. »Ich war nicht in der Stimmung, dich um irgendwas zu bitten. Ich wollte dich wachrütteln. Außerdem hättest du auch gar keinen Wagen gehabt, um allein in die Stadt zu kommen. Katharina ist schließlich bei der Arbeit.«

Wagnhärad schaltete das Aufnahmegerät ein.

»Also von Anfang an«, sagte er. »Erzählen Sie uns, was Sie getan haben, nachdem Sie am Dienstag, den fünfundzwanzigsten April, in Stockholm aus dem Zug stiegen.

Um wie viel Uhr sind Sie eigentlich angekommen?«

»Um sechs«, antwortete PM mürrisch.

»Was taten Sie dann?«

»Ich habe die U-Bahn zum Mariatorget genommen. Ein Freund von mir hat ein Atelier in der Tavastgata, zu dem ich einen Schlüssel habe. Ich pflege dort zu übernachten, wenn ich in Stockholm bin.«

»Dorthin sind Sie also zuerst gefahren?«

»So früh am Morgen wollte ich Frau Wester nicht belästigen.

Außerdem fühlte ich mich nach der Nacht im Zug wie zerschlagen. Ich habe schließlich nicht den Schlafwagen benutzt, sondern die ganze Nacht über gesessen. Also bin ich erst mal in Ivans Atelier und habe mich ein wenig aufs Ohr gelegt. Ivan war nicht da. Das ist er morgens eigentlich nie.«

»Wann haben Sie das Atelier wieder verlassen?«

»Ich glaube, so gegen halb neun. Ganz genau kann ich es Ihnen nicht sagen. In einer Kneipe in der Hornsgata habe ich gefrühstückt. Dann habe ich die U-Bahn bis zum Hötorget 316

genommen, weil ich die Kungsgata hinunter bis zum Stureplan gehen wollte. In der Kungsgata gibt es eine Galerie, die ein paar Bilder von mir ausstellt, und ich wollte mir ansehen, wie sie gehängt waren. Von dort aus bin ich auf direktem Wege zur Engelbrektsgata gegangen.«

»Können Sie sich erinnern, wie spät es zu dieser Zeit war?«

»Ungefähr elf, würde ich sagen. Ich klingelte an der Tür, doch niemand öffnete. Ich dachte mir, sie wäre vielleicht noch nicht wach, also habe ich etwas heftiger gegen die Tür geschlagen.

Dann bin ich nach unten auf die Straße und habe eine Viertelstunde später einen neuen Versuch unternommen. Als sie immer noch nicht aufmachte, kam ich auf die Idee, sie anzurufen, um zu hören, was ihr Anrufbeantworter zu sagen hat.

Also bin ich runter zur nächsten Telefonzelle.«

»Ja?«

»Es war eine ganz normale Bandansage: ›Guten Tag. Dies ist der telefonische Anrufbeantworter von Marianne Wester. Ich bin im Moment nicht zu Hause. Sie können mir aber gerne eine Nachricht hinterlassen …‹ Irgend so was.«

»Haben Sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Ja, mehrere, über den Tag verteilt. Die müssen Sie doch bis zum Überdruss gehört haben.«

»Sind Sie nach dem ersten Anruf wieder zur Wohnung gegangen?«

»Ja, das bin ich. Ich habe geklingelt und geklopft und habe mich dann auf die Treppe gesetzt, um zu warten. Einmal kam es mir so vor, als hätte ich ein Geräusch in der Wohnung gehört.

Da bin ich aufgesprungen und habe erneut gegen die Tür gehämmert. Ich rüttelte frustriert an der Klinke, aber die Tür war abgeschlossen, wie nicht anders zu erwarten.«

»Was haben Sie gehört?«

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»Ich weiß nicht genau, ein leises Geräusch. Ich dachte, ich hätte mich geirrt. Aber nach dem, was dann passierte, kann sehr wohl jemand in der Wohnung gewesen sein.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich konnte ja nicht den ganzen Tag lang auf der Treppe sitzen bleiben. Leute kamen und gingen, und ich wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Ich kaufte mir eine Zeitung und setzte mich wieder nach draußen auf eine Bank, von der aus ich das Eingangstor im Auge behalten konnte. Während ich wartete, wurde ich immer wütender. Zwar hielt ich sie ohnehin nicht für besonders ehrlich, aber dieses Verhalten empfand ich als bodenlose Frechheit. Ich überlegte mir alle möglichen Gründe für ihr Verhalten, aber das machte die Situation nicht besser.

Außerdem hatte ich inzwischen einen riesigen Hunger. Ich fragte eine Frau nach der Uhrzeit, es war halb zwei. Da entschied ich mich, etwas essen zu gehen. Aber zuerst habe ich noch mal bei ihr geklingelt und sie auch noch mal angerufen.

Dann bin ich auf der Suche nach einem Imbiss den Stureplan hinuntergegangen und direkt einem alten Bekannten in die Arme gelaufen, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er heißt Jonne und arbeitet in der Werbebranche. Auf seinen Vorschlag hin haben wir ein kleines türkisches Restaurant in der Grev Turegata aufgesucht. Ich war mit meinen Gedanken aber die ganze Zeit über bei dem verdammten Miststück, das mich so an der Nase herumgeführt hatte. Ich habe auch vom Restaurant aus noch mal anrufen.«

»Wie lange waren Sie dort?«

»Wohl eine gute Stunde. Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung schöpfte ich neue Hoffnung und sagte mir, sie sei vielleicht unterwegs gewesen und habe sich verspätet. Doch auch jetzt öffnete niemand die Tür. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll, war aber nicht in der Lage, einfach aufzugeben. Ich wollte unbedingt an Axel herankommen, und sie schien die einzige Person zu sein, die mir dabei helfen konnte. Also latschte ich 318

wieder hinunter, setzte mich auf meine Bank und wartete dort mehrere Stunden. Zwischendurch habe ich irgendwo die Toilette benutzt und danach wieder bei ihr geklingelt. Ich glaube, ich habe auch noch mal angerufen. Dann bin ich wieder zum Stureplan und habe mir Tabak, ein paar Süßigkeiten, eine große Tüte Chips und ein paar Dosen Bier gekauft. Das türkische Essen hatte mich ziemlich durstig gemacht. Ich habe mir sogar den Expressen gekauft, woran sie den Grad meiner Verzweifelung erkennen können. Dann bin ich mit einer kleinen Plastiktüte zurück zur Wohnung, um die Lage zu untersuchen.«

»Woher kannten Sie den Zahlencode für das Eingangstor?«

»Den hatte sie mir in ihrem Brief verraten, 2138, den werde ich wohl nie wieder vergessen. Da es draußen langsam kalt wurde, setzte ich mich wieder auf die Stufen und ignorierte all die unfreundlichen Blicke der Leute, die durch das Tor gingen.

Dort saß ich also, futterte meine Süßigkeiten und las den Expressen. Wirklich die reine Zeitverschwendung. Langsam schwante mir, dass weiteres Warten zwecklos war, und ich überlegte, ob ich den Rest des Abends nicht mit Ivan, dem Besitzer des Ateliers, verbringen sollte. Alles war besser, als weiter wie ein Idiot auf den Stufen zu hocken. Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, klingelte ich noch einmal und drückte noch einmal die Türklinke hinunter – und siehe da, die Tür ging auf. Ich war völlig verdutzt und habe sicher ziemlich blöd aus der Wäsche geschaut. Ein Stockwerk über mir wurde eine Tür geöffnet, worauf jemand die Treppe hinunterlief.

Ich zog mich rasch in die Wohnung zurück und schloss die Tür hinter mir, um nicht gesehen zu werden.«

»Wie spät war es da?«

»Ich weiß es nicht, vielleicht sechs Uhr, jedenfalls war es immer noch hell draußen.«

319

»Sie sagten, Sie hätten am Vormittag zum ersten Mal an der Klinke gerüttelt. Sind Sie ganz sicher, dass die Tür zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war?«

»Ja, hundertprozentig sicher. Ich habe mit aller Kraft daran gerüttelt. Am Abend glitt die Tür dagegen mit Leichtigkeit auf.«

»Und zwischendurch haben Sie kein weiteres Mal die Klinke gedrückt?«

»Nein, kein weiteres Mal.«

»In Ordnung, fahren Sie fort.«

»Zuerst schaute ich in die Küche. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als wäre ich ein Einbrecher. Mir kam die ganze Situation nicht geheuer vor. Die Tür zum Schlafzimmer war ebenfalls angelehnt. Ich schob sie auf und tastete in dem dunklen Raum nach einem Lichtschalter. Als ich die Deckenlampe einschaltete, begriff ich sofort, dass die Person, die auf dem Bett lag, tot sein musste. Die Decke war über ihren Kopf gezogen und die Beine waren sonderbar verdreht. Dann sah ich, dass das ganze Bett voller Blut war. Ich begann zu zittern und traute mich nicht, die Decke wegzuziehen. Trotzdem war ich mir vollkommen sicher, dass es sich um Marianne Wester handelte, die in ihrem Bett ermordet worden war. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, dass sich in irgendeinem Winkel ein Psychopath versteckt hielt und mich beobachtete. Meine Beine wären fast eingeknickt, aber irgendwie bin ich in den Flur gekommen und war drauf und dran, ins Treppenhaus zu stürzen und um Hilfe zu rufen. Doch mein nächster Gedanke war, dass mich jeder für den Mörder halten würde; ich weiß nicht, warum, vielleicht hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so wütend auf sie gewesen war. Jedenfalls nahm ich mich zusammen und dachte nach. Es brauchte ja niemand zu wissen, dass ich in der Wohnung gewesen war und sie gesehen hatte. Aber dazu musste ich meine Fingerabdrücke beseitigen. Es gab schließlich Leute, die wussten, dass ich sie kannte, und ihre Nachbarn hatten mich 320

den ganzen Tag um das Haus streichen sehen. In der Küche fand ich ein Geschirrtuch, das immer noch feucht war, und so habe ich mich gezwungen, ins Schlafzimmer zurückzugehen, um den Lichtschalter und den Teil der Tür abzuwischen, den ich möglicherweise berührt hatte. Mit dem Geschirrtuch habe ich auch das Licht wieder ausgeschaltet und kam mir dabei ziemlich clever vor, aber die Plastiktüte, die ich bei ihrem Anblick vermutlich fallen gelassen hatte, habe ich völlig vergessen. Auf dem Weg zur Haustür habe ich ziemlich unsystematisch die Stellen abgewischt, von denen ich glaubte, ich hätte sie berührt, und schließlich dachte ich noch daran, die Klinke der Wohnungstür von beiden Seiten zu reinigen. Ich überlegte, was ich mit der Tür machen sollte, und entschied mich – ich weiß nicht, warum –, sie hinter mir zuzuziehen. Dann lief ich davon.

Das Geschirrtuch warf ich irgendwo an der Norrlandsgata in einen Mülleimer. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin sollte, ich wollte nur weg, weg, weg. Kurz darauf fand ich mich in der Kungsgata wieder und sah einige Leute vor dem Kino stehen.

Ohne groß nachzudenken kaufte ich mir ebenfalls eine Karte und folgte den Leuten mit hinein. Ich habe nicht einmal geschaut, welcher Film gezeigt werden sollte. Fragen Sie mich nicht, wie er hieß oder wovon er gehandelt hat. Das weiß ich alles nicht. Ich muss einen völligen Blackout gehabt haben, denn ich kann mich erinnern, wie ich erschrak, als mich plötzlich jemand an der Schulter schüttelte und sagte, ich müsse das Kino verlassen, der Film sei vorbei. Dann ging ich ziemlich langsam zum Hauptbahnhof, wo ich noch einen Kaffee getrunken und gewartet habe, bis mein Zug ging. Das war um kurz nach elf.«

PM lehnte sich zurück und sah Roffe an. »Das war alles. Mehr kann ich nicht berichten.«

Roffe nickte. »Wollen wir hoffen, dass der Bericht die Gemüter in Stockholm ein wenig beruhigen kann«, sagte er.

Wagnhärad entschuldigte sich, er habe noch ein Menge zu tun, nahm das Aufnahmegerät und verließ den Raum.

321

»Zumindest in einem Punkt kannst du beruhigt sein«, sagte Roffe.

»Ja?«

»Die Blutprobe hat ergeben, dass Marianne Wester HIV-negativ war.«

PM schloss für einen Moment die Augen und ließ hörbar die Luft entweichen. Seine Erleichterung war offenkundig.

»Danke, zumindest dafür …«, sagte er, während er an die Decke blickte. Es war unklar, ob er Roffe oder höheren Mächten dankte.

Nachdem sie einige Minuten schweigend am Tisch gesessen hatten, fragte PM: »Wie komme ich jetzt nach Hause?«

Roffe schaute auf die Uhr. »Wann hört Katharina auf?«

»Kommt nicht in Frage«, knurrte PM. »Die arbeitet bis acht, und ich hab keine Lust, hier den ganzen Tag rumzuhängen. Ich wurde mitten aus meiner Arbeit gerissen und hierher geschleppt.

Ich will so schnell wie möglich nach Hause und weitermachen.«

»Okay, okay«, sagte Roffe und hob abwehrend die Hände.

»Dann fahren wir dich eben nach Hause. Bist du jetzt zufrieden?«

»Nicht besonders, aber wenn das dein bestes Angebot ist, muss ich es wohl annehmen.«

Roffe sah seinen Freund forschend an. »Ich hoffe, dass diese Geschichte unsere Freundschaft nicht allzu sehr beeinträchtigt«, sagte er ernst.

»Das Risiko ist nicht von der Hand zu weisen, wenn du mir zwei Bullen auf den Hals hetzt, die mir sagen, ich stehe unter Mordverdacht«, sagte er kühl.

Roffe stand schwerfällig auf. Er sah bedrückt aus.

»Ich habe einfach eine verdammte Angst gekriegt, als ich erfahren habe, dass du mich in einem so wesentlichen Punkt 322

belogen hattest. Und du weißt ja aus eigener Erfahrung, wie wütend man werden kann, wenn man Angst hat.«

PMs Gesicht war starr und unversöhnlich. »Es wäre gut, wenn du deine Bluthunde jetzt zusammentrommeln könntest«, sagte er schroff. »Ich hab keine Zeit, hier noch länger rumzusitzen. Ich will nach Hause und arbeiten.«

»Wie der Herr wünschen. Ich lasse den Wagen vorfahren«, sagte Roffe und verließ den Raum.

323

26

Mittwoch, 17. Mai

Der Kunsthändler Hans Ramklo aus Eskilstuna hatte einen schweren Tag hinter sich. Als er sich um kurz nach vier in seiner einsamen Villa, die um zahlreiche Möbel und Gegenstände ärmer geworden war, in einen Sessel sinken ließ, fragte er sich, ob sich plötzlich die ganze Welt gegen ihn verschworen habe.

Der Tag hatte bereits auf die schlimmstmögliche Art begonnen. Noch ehe er richtig zu sich gekommen war, hatte ihn seine Freundin Majlis mit hysterischen Vorwürfen überhäuft, die nahtlos an den Streit des vorigen Abends anknüpften. Schon mehrmals hatte sie ihm gesagt, dass sie endgültig genug habe und sofort ausziehen wolle.

Während des Frühstücks hatte sie ihm all seine unerträglichen Eigenschaften an den Kopf geworfen. Im Moment konnte er sich nur noch daran erinnern, dass sie ihm in sexueller Hinsicht ein stupides, geradezu abstoßendes Verhalten bescheinigt hatte.

Eine Aussage, die er nicht nachvollziehen konnte. Im Lauf des Tages hatte er immer wieder darüber nachgegrübelt, doch ihr Vorwurf blieb ihm ein Rätsel.

Als er gegen zehn in sein Geschäft kam und die Post öffnete, musste er einmal mehr einen unheilschwangeren Brief des Finanzamts zur Kenntnis nehmen, und als wäre das nicht schon genug gewesen, hatte er kurz vor Ladenschluss noch überraschenden Besuch bekommen, dessen Konsequenzen er mit Recht fürchtete.

Er fingerte nervös an seinem Handy und schenkte sich, entgegen seiner Gewohnheit und obwohl er nichts zu Mittag gegessen hatte, ein großes Glas Gin ein. Um sich etwas Mut anzutrinken, kippte er den Gin in einem Zug hinunter und wurde 324

sofort von einem stechenden Schmerz in der Magengrube bestraft. Mit verzerrtem Gesicht wählte er eine ganz bestimmte Nummer.

Keine Antwort. Er überlegte eine Weile und wählte dann eine andere Nummer.

»Hallo?«

»Enqvist?«

»Ja.«

»Hier ist Hasse. Ich weiß, dass ich diese Nummer nicht benutzen soll, aber auf dem anderen Handy warst du nicht zu erreichen.«

»Das liegt zu Hause. Ich bin im Büro. Was ist los?«

»Ich habe heute unerwarteten Besuch bekommen, und ich brauche deinen Rat, wie ich in dieser Sache weiter verfahren soll. Axel Hemberg ist vorhin in meinem Geschäft aufgetaucht.«

»Was du nicht sagst. Was wollte er?«

»Mir seine Schuldscheine verkaufen, natürlich zu einem günstigen Preis.«

»Der Kerl ist wirklich dreist. Und dumm dazu. Begreift er denn nicht, dass er sich sein eigenes Grab schaufelt?«

»Er hat keine Ahnung, dass ich auch dem Kreis angehöre. In diesem Zusammenhang sind wir uns nie begegnet. Vor ein paar Jahren haben wir beide ein paar gute Geschäfte miteinander gemacht, daher kennen wir uns. Er hält mich sicher für einen kleinen Provinzhändler, der keine Gelegenheit auslässt, einen guten Deal zu machen.«

»Was hat er dir angeboten?«

»Er kam kurz vor vier und hat mir erzählt, dass er an einem großen Ding dran ist und unbedingt Bares braucht. Er hatte einen ganzen Packen Schuldscheine dabei, die in zwei Monaten zur Bezahlung fällig werden. Er bot an, mir den ganzen Packen für sechzig Prozent des nominellen Wertes zu verkaufen. Als ich 325

zögerte, ging er auf fünfzig runter. Ich tat so, als wäre ich interessiert, sagte ihm aber, dass ich etwas Zeit brauchte, um das Geld zu beschaffen.

Wir haben verabredet, dass er heute Abend um zehn zu mir nach Hause kommt.«

»Und du bist sicher, dass er keinen Verdacht geschöpft hat?«

»Ganz sicher.«

»Dann pass auf, dass er dir nicht durch die Lappen geht. Ich wollte schon lange mal ein Wörtchen mit ihm reden. Warte mal, wir sollten … Olof und Robert erledigen einen Auftrag in Västerås. Hast du ihre Nummer?«

»Ja.«

»Sie können in einer Stunde bei dir sein. Ruf sie an und sag ihnen, diese Sache geht vor. Ich will Hemberg morgen Abend um neun in der Hütte haben.«

»Morgen Abend? Was sollen wir bis dahin mit ihm anfangen?«

»Legt ihn auf Eis. Sprich das mit den beiden ab. Die wissen, wie man so was macht. Ich will aber, dass er in guter Verfassung ist, wenn ich mit ihm rede. Sag ihnen das. Ich will, dass er einen klaren Kopf hat und zu einem normalen Gespräch in der Lage ist. Bereitet ihm keine zu großen Unannehmlichkeiten. Es ist schließlich der letzte Tag seines Lebens.«

»Wissen sie, wo die Hütte liegt?«

»Ja. Ruft mich an, wenn’s Probleme gibt, und zwar auf dem Handy. Ich geh jetzt nach Hause.«

Hans Ramklo legte sein Handy beiseite und ließ sich tiefer in den Sessel sinken. Sein Gesicht war schweißnass, ihm war übel.

Was hatte er nur getan, um in so etwas hineingezogen zu werden?

326

Für einen kurzen Moment überlegte er gar, seinen alten Geschäftspartner zu warnen, um später zu behaupten, dieser habe ihn versetzt. Aber er traute sich nicht. Denn falls das herauskäme, musste er selbst die schlimmsten Konsequenzen befürchten. Er hatte sich stets geschworen, niemals in einen Mord verwickelt zu werden. Doch jetzt blieb ihm keine Wahl.

Es war zu spät, die Verabredung abzusagen, und was passieren würde, falls er sich seinem Auftraggeber widersetzte, daran wollte er gar nicht erst denken.

Er ließ den Blick durch den unordentlichen Raum schweifen, der eine beklemmende Einsamkeit ausstrahlte. Noch gestern hatte er mit Majlis auf dem Sofa gesessen und einen schwedischen Spielfilm angeschaut. Zwar hatten sie noch während des Films zu streiten begonnen – eine Auseinandersetzung, die sich bis in die Nacht fortsetzte –, doch angesichts seiner jetzigen Lage kam ihm der gestrige Abend wie die reine Idylle vor.

Seine Bekanntschaft mit Olof und Robert war äußerst flüchtig.

Gott sei Dank hatte er bisher nicht viel mit ihnen zu tun gehabt.

Doch waren ihm gewisse Gerüchte über ihre Brutalität zu Ohren gekommen, und schon bei dem Gedanken, diesen Typen seine Haustür zu öffnen, drehte sich ihm der Magen um. Apropos Magen: Er hatte fürchterlichen Hunger und musste unbedingt etwas essen, ehe sie bei ihm auftauchten.

Die Küche bot einen traurigen Anblick. In der Spüle türmte sich das Geschirr. Hatte sie möglicherweise auch den Kühlschrank ausgeräumt? Er öffnete die Tür. Ein vertrocknetes Schweinekotelett sowie ein paar Bratkartoffeln von gestern Mittag waren alles, was da war. Er schlang das kalte Essen hinunter und spülte mit einem weiteren Gin nach. Dann ging er auf wackligen Beinen zum Telefon und rief an.

»Hallo, hier ist Hasse Ramklo aus Eskilstuna. Ich habe gerade mit Enqvist telefoniert. Ich soll euch informieren, dass es einen 327

Job gibt, der absoluten Vorrang hat. Ich bekomme heute Abend um zehn Besuch von Axel Hemberg …«

»Hemberg? Ist der immer noch im Land?«

»Sieht so aus, da er heute Abend bei mir vorbeikommt.

Enqvist will, dass ihr ihn morgen Abend um neun Uhr lebend in der Hütte abliefert.«

»Morgen Abend? Was sollen wir bis dahin mit ihm anfangen?«

»Das weiß ich auch nicht. Enqvist sagt, ihr hättet mit so was Erfahrung.«

»Verstehe, wir lassen uns was einfallen.«

»Aber keine Gewalt. Enqvist hat betont, dass Hemberg morgen in guter Verfassung sein soll.«

»Alles klar. Es reicht doch wohl, wenn wir um acht bei dir sind?«

»Das dürfte in jedem Fall reichen.«

Er legte auf. Es war kurz nach fünf. Was sollte er tun?

Abwaschen? Aufräumen? Was für eine unglückliche Fügung, dass Majlis ihn ausgerechnet heute verlassen hatte. Wenn sie noch da wäre, hätte er Axel niemals zu sich nach Hause eingeladen. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder verzweifelt über ihren Entschluss sein sollte. Er ging in die Küche und nahm den Abwasch in Angriff.

Um kurz vor acht klingelte es an der Tür. Zu diesem Zeitpunkt war er schon ziemlich angetrunken und dachte für einen Moment, sie seien zu viert gekommen. Er machte sicher keinen guten Eindruck und empfand einen scharfen Kontrast zwischen seiner eigenen Labilität und ihrer effektiven Professionalität. Sie erkundeten zuerst das Haus und diskutierten die verschiedenen Möglichkeiten, den morgigen Tag zu verbringen. Der Partykeller wurde als geeigneter Verwahrungsort für Hemberg ausgewählt und mit einem provisorischen Schlafplatz versehen.

328

Aus der kleinen Toilette neben dem Partykeller wurden alle Gegenstände entfernt, die Hemberg auf dumme Gedanken bringen konnten. Als sie eine Injektionsspritze herausholten, fühlte Ramklo einen vorsichtigen Einspruch für angebracht:

»Enqvist hat doch gesagt, er soll einen klaren Kopf behalten.«

Der mit der Spritze lachte herablassend. »Morgen Abend wird er völlig klar im Kopf sein. Und wenn er noch einen Funken Verstand hat, wird er wissen, dass dies seine letzte Nacht ist.

Und wenn nicht seine letzte, dann jedenfalls seine vorletzte, und da kann es dir doch scheißegal sein, ob er ein Auge zumacht oder nicht. Das hier ist nur ein bisschen Morphium, das ihm helfen wird, sich zu entspannen und die Situation ein bisschen positiver zu sehen, als sie ist.«

Ramklo starrte die Spritze an und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.

»Was soll ich tun, wenn er kommt?«, fragte er. »Soll ich mit ihm reden, oder wollt ihr euch gleich um ihn kümmern?«

»Hast wohl zu viel getrunken, was? Natürlich sollst du mit ihm reden. Wir können ja wohl nichts tun, ehe er nicht richtig im Haus ist. Aber ich rate dir, wieder nüchtern zu werden, sonst gefährdest du die ganze Aktion.« Er wandte sich an seinen Kompagnon: »Herr Ramklo ist ein bisschen von der Rolle und braucht einen starken Kaffee. Aber stell ihn erst mal unter die kalte Dusche.«

Bei diesen Worten zuckte Ramklo zusammen und mobilisierte den letzten Rest seiner Selbstachtung.

»Danke, Hilfe ist nicht nötig«, entgegnete er kurz und ging ins Badezimmer.

Als es auf zehn Uhr zuging, saß er einigermaßen nüchtern im Eingangsbereich auf einer Stuhlkante und hatte die Haustür fest im Blick. Irgendwo in seinem Haus hielten sich zwei Männer lautlos im Verborgenen. Er kam sich vor wie ein schlecht vorbereiteter Schauspieler, der, obwohl er seinen Text vergessen 329

hatte, gleich auf die Bühne musste. Außerdem wusste er, dass Olof und Robert über sein Verhalten genauestens Bericht erstatten würden.

Es klingelte an der Tür. Er wischte seine schweißnassen Handflächen an seiner Hose ab, bevor er zur Tür ging und öffnete.

Axel Hemberg kam gut gelaunt herein.

»Hallo, Hasse. Wow, was für ein tolles Haus! Und was für eine schöne Gegend. Am Abend ist es ja wunderbar ruhig hier.«

Er zog eine Flasche aus der Manteltasche. »Ich hab einen Martell mitgebracht. Gute Geschäfte sollte man mit einem edlen Kognak begießen.«

Ramklo nahm die Flasche entgegen und bemühte sich um ein unbeschwertes Lachen. »Du bist wie immer die Großzügigkeit selbst.«

Hemberg schaute sich fragend um. »Wohnst du etwa allein?«

Ramklo ging ins Wohnzimmer voraus.

»Ja, seit neuestem. Meine Freundin hat mir gerade den Laufpass gegeben.«

Hemberg legte eine prall gefüllte Aktentasche auf den Tisch und strich ein paar unsichtbare Falten seines eleganten Anzugs glatt.

»Das tut mir Leid. Vielleicht bereut sie ihren Entschluss ja und kommt zurück.«

»Schon möglich. Das hat sie früher auch schon mal gemacht.

Aber eigentlich bin ich ganz froh, wieder mein eigener Herr zu sein. Setz dich doch, ich hole zwei Gläser.«

Von seiner eigenen Kaltblütigkeit überrascht, ging Ramklo auf etwas unsicheren Beinen in die Küche. Da die Kognakschwenker erwartungsgemäß verstaubt waren, spülte er sie rasch unter dem Wasserhahn. Während er sie abtrocknete, hörte er Stimmen aus dem Wohnzimmer. Sein Herz begann zu 330

rasen. Hilflos verharrte er mitten in der Küche, hielt sich das Geschirrtuch vor den Mund und lauschte. Alles schien friedlich vor sich zu gehen. Es klang wie eine ruhige Unterhaltung. Sollte er hineingehen? Er hätte alles dafür gegeben, nicht dabei sein zu müssen, hatte jedoch das Gefühl, dass seine Gegenwart vorausgesetzt wurde.

Mit versteinerter Miene und den überflüssigen Kognakschwenkern in der Hand kam er ins Wohnzimmer zurück. Axel Hemberg saß ungewöhnlich steif in seinem niedrigen Sessel, flankiert von den beiden Männern. Einer von ihnen hielt ihm eine Pistole an den Kopf. Ramklo schlug die Augen nieder und stellte die Gläser auf den Tisch.

»Tut mir Leid«, murmelte er mit belegter Stimme.

Hemberg versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Sein Gesicht war grau, er stand offensichtlich unter Schock. Ramklo wurde von heftigem Mitleid gepackt. Der Mann im Sessel hatte ihm nie etwas Böses getan. Warum musste er jetzt an seiner Erniedrigung teilhaben? Er hasste die beiden Gangster, die Enqvist ihm geschickt hatte, doch am meisten hasste er seine eigene Feigheit.

»Möchtest du trotzdem einen Kognak?«, fragte er verlegen.

Hemberg nickte.

Mit zitternder Hand füllte er das Glas fast bis zum Rand und reichte es seinem Gast.

Hemberg trank in einem Zug.

Die Zeit schien stehen zu bleiben, während die beiden Ganoven offenbar darauf warteten, dass er das Kommando übernahm. Er räusperte sich: »Enqvist will mit dir sprechen«, sagte er mit gequetschter Stimme.

Keine Reaktion.

Er machte eine vage Geste in Richtung der beiden Männer.

»Diese Jungs fahren dich morgen nach Stockholm. Heute 331

Nacht schläfst du hier. Wir haben dir im Partykeller … einen Schlafplatz hergerichtet.«

Schweigen.

»Vielleicht solltest du dich gleich hinlegen …«

Endlich geschah etwas. Der Mann mit der Waffe machte eine vielsagende Geste, während der andere Hemberg unter den Achseln packte und aus dem Sessel hob. Hemberg schwankte kurz, bevor seine Beine einknickten und er zu Boden stürzte.

Die drei Männer trugen ihn in den Partykeller.

Als er auf der Matratze lag, kam er wieder zu sich und unternahm plötzlich einen gewaltsamen und überraschenden Versuch aufzuspringen. Doch die Wirkung der Spritze ließ nicht lange auf sich warten, und nach ein paar Minuten hatte er sich wieder beruhigt. Als Ramklo sich noch einmal zu ihm umdrehte, bevor er sich erschöpft die Treppe hinaufschleppte, lag Hemberg auf dem Rücken und starrte relativ ruhig an die Decke.

332

27

Donnerstag, 18. Mai

Auf allen vieren jätete Katharina die Erdbeerbeete und genoss jede Sekunde. Sie liebte diese meditative Tätigkeit, die ihr ein Gefühl für die Relationen des Daseins wiedergab.

Als das schrille Klingeln des Telefons die friedvolle Stille zerriss, legte sie die Hacke beiseite und rappelte sich murrend auf. Das Telefon lag zwischen ein paar Topfpflanzen im offenen Fenster. Auf dem Weg dorthin sah sie zu ihrem Mann hinüber, der immer noch schmollend in der Hängematte lag, wo er anscheinend für den Rest des Tages zu bleiben gedachte.

Da sie schlechte Nachrichten inzwischen gewohnt war, hob sie den Hörer mit derselben gespannten Erwartung ab, mit der man einen Stein hochhebt, um zu sehen, was darunter ist.

»Hallo, hier ist Roffe. Ist PM in der Nähe?«

Ihr Gesicht verhärtete sich. »Nein, er will mit niemandem reden«, sagte sie entschieden.

»Du meinst wohl, er will nicht mit mir reden. Ist er etwa immer noch sauer wegen Montag?«

»Ist ja wohl kein Wunder«, entgegnete sie solidarisch. »Das war ein ziemlicher Schock für ihn.«

»Ich gebe zu, dass wir ihn etwas hart angefasst haben, aber zu meiner Entschuldigung kann ich anführen, dass auch ich schockiert war. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte, als ich die Informationen aus Stockholm bekam.«

Katharina schwieg.

»Hast du für mein Verhalten denn überhaupt kein Verständnis?«, fragte Roffe vorsichtig.

»Sehr wenig«, antwortete Katharina bedächtig. »Ich finde, 333

nach all den Jahren solltest du wissen, was Patrik für ein Mensch ist. Er ist ein notorischer Lügner, wenn er sich bedrängt fühlt, aber er ist kein Frauenmörder.«

»Ich glaube auch nicht, dass er Männer umbringt. Aber ich war einfach so wütend. Na ja, das spielt jetzt keine Rolle mehr, vermutlich bin ich auch schon berufsgeschädigt.«

Katharina bereute ihre Schroffheit und erkundigte sich in freundlicherem Ton: »Wolltest du etwas Bestimmtes?«

»Ja, das kann man wohl sagen. Ich habe eine gute Nachricht.

Da PM nicht mit mir sprechen will, kannst du ihm vielleicht etwas ausrichten.«

»Alle guten Nachrichten werden dankbar entgegengenommen«, sagte sie seufzend.

»Eigentlich handelt es sich um eine kleine Sensation. Ich habe gerade mit meinen Kollegen in Stockholm gesprochen, und sie haben gute Gründe zu der Annahme, dass Axel Hemberg noch am Leben ist.«

Ein Ruck ging durch Katharina. »Was sagst du da? Haben sie ihn etwa gefunden?«

»Nein, aber sie sind ihm auf der Spur und hoffen, ihn heute Abend noch zu finden.«

»Mach’s nicht so spannend«, sagte sie ungeduldig. »Wenn sie wissen, dass er noch lebt, dann werden sie ihn wohl gefunden haben.«

»Da irrst du dich. In Stockholm wohnt ein Mann namens Peter Enqvist, dem PM möglicherweise einmal begegnet ist. Hast du seinen Namen schon mal gehört?«

»Nein.«

»Eine zwielichtige Gestalt, die einen Großteil von Axels Geschäften übernommen hat und vielleicht mit dem Mord an Marianne Wester in Verbindung steht. Die Sache ist die …«

»Warte, ich glaube, das wird Patrik interessieren.«

334

Sie ließ den Hörer sinken und rief nach draußen: »Sie haben Axel gefunden. Er lebt. Willst du mit Roffe sprechen?«

Patrik sprang mit erstaunlicher Leichtigkeit aus der Hängematte und war in weniger als fünf Sekunden am Telefon.

»Hallo, was gibt’s?«

»Gute Nachrichten. Die Stockholmer Polizei ist an Peter Enqvist dran. Der war vermutlich nach der Vernissage mit euch in der Bar. Sie haben seit Tagen sein Handy abgehört und auf diese Weise erfahren, dass eine weitere Person Axel gestern Abend zu sich nach Hause eingeladen hat. Enqvist hat zwei Mitarbeitern die Order erteilt, Axel heute Abend um neun zu irgendeiner Hütte zu bringen. Dort soll er wahrscheinlich von Enqvist verhört und danach liquidiert werden.«

»Liquidiert …? Sie wollen ihn töten?«

»Ja, sieht so aus. Aber es besteht eine gewisse Hoffnung, dass wir es rechtzeitig verhindern können. Es scheint so zu sein, dass Enqvist und Axel für dieselbe Verbrecherorganisation arbeiten und Axel mit der Kasse durchgebrannt ist. Jetzt soll er zur Verantwortung gezogen werden.«

»Wie wollt ihr verhindern, dass er ermordet wird?«

»Indem wir alle Hebel in Bewegung setzen und Enqvist beschatten, wenn er sich, wie verabredet, zu dieser Hütte aufmacht. Wir wissen bis jetzt leider nicht, wo sie liegt. Ich werde gleich nach Stockholm fliegen. Wenn es schief geht, wollen sie, dass ich Axel identifiziere.«

Patrik starrte Katharina schweigend an.

»Hallo, bist du noch da?«, fragte Roffe.

»Ja, äh, ich … bin nur völlig überrascht. Steht wirklich fest, dass es Axel ist?«

»Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es noch einen anderen Axel Hemberg gibt, hinter dem Enqvist her ist.«

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»Ich hoffe inständig, dass ihr ihn retten könnt. Was auch immer er auf dem Kerbholz hat, das hat er nicht verdient. Aber es ist schon sonderbar …«

»Was meinst du?«

»Gerade hat man sich damit abgefunden, dass er möglicherweise nicht mehr am Leben ist, da taucht er plötzlich aus der Versenkung auf und soll ermordet werden … Was sind das eigentlich für schmutzige Geschäfte, in die er verwickelt ist?«

»Die Ermittlungen laufen noch, aber ich glaube, wir haben gute Chancen, sie bald abschließen zu können. In Stockholm wird alles daran gesetzt, ihn zu retten. Aber jetzt muss ich los.«

Patrik lachte. »Ihr rettet ihn bestimmt. Wie aussichtslos die Lage auch scheint, Axel fällt eigentlich immer wieder auf die Füße. Außerdem müsst ihr ihn retten, damit ich mir ihn endlich vorknöpfen kann. Aber im Ernst, ich hoffe sehr, dass ihm das Glück heute Abend zur Seite steht. Grüß ihn von mir, falls du mit ihm sprechen solltest.«

336

28

Am selben Nachmittag

Auf der Suche nach seinem ehemaligen Vorgesetzten Hjalmar Påhlström irrte Roffe über die Korridore. Seit seinem Abschied vor mehreren Jahren hatte sich an seinem früheren Arbeitsplatz viel verändert.

Es war kurz nach fünf, und die Büros leerten sich zusehends.

Da erblickte er plötzlich ein wohlbekanntes Gesicht. »Hallo Roffe, wie geht’s dir denn? Behandeln sie dich anständig in Christiansholm? Bist du wieder in festen Händen?«

Roffe küsste Gudrun Skog flüchtig auf die Wange.

»Mir geht’s so lala«, sagte er. »Christiansholm ist der Traum für jeden Kriminalkommissar, und ich bin nicht wieder in festen Händen. Was ist mit dir? Immer noch verheiratet?«

Sie seufzte.

»Mehr verheiratet als ich kann man gar nicht sein. Also wenn Christiansholm so ein Traum ist, sollte ich dich vielleicht beerben, wenn du zum Polizeidirektor befördert wirst. Das kann doch eigentlich nicht mehr lange dauern. Schließlich habe ich keine Lust, hier ewig Kommissarin zu bleiben. Hast du Hjalle schon gesehen?«

»Nein, aber ich habe nach ihm gesucht.«

Gudrun nahm ihn am Arm und zog ihn auf den Korridor.

»Komm mit, ich führ dich rum. Hjalle streitet sich mal wieder mit dem Direktor herum. Wir sind alle auf Hjalles Seite, aber du weißt ja, wie das ist. Granestam kriegt immer alles in den falschen Hals. Daran hat sich bis heute nichts geändert.«

»Worum geht’s denn diesmal?«

337

»Um die Vorgehensweise. Hjalle will in diesem Fall äußerst behutsam vorgehen. So behutsam, wie man bei dem riesigen Aufgebot, das uns zur Verfügung steht, nur sein kann. Aber Granestam besteht natürlich auf einem Sonderkommando, und die gehen in der Regel alles andere als behutsam vor. Die Frage ist, ob es Hjalle gelingt, ihn zur Vernunft zu bringen.«

In Gudruns Büro setzte sich Roffe auf einen Stuhl, während sie mit der Schreibtischplatte vorlieb nahm. Sie neigte den Kopf zur Seite und schaute ihn lächelnd an.

»Du siehst aus, als würde es dir richtig gut gehen«, sagte sie nachdenklich. »Etwas fülliger bist du geworden. Kocht jemand für dich?«

»Ich koche selbst. Deshalb nehme ich auch zu. Ich habe eben keine Hemmungen, was fette Saucen oder gute Weine betrifft, und selbst vor Desserts schrecke ich nicht zurück. Was ist mit dir? Wer sorgt für dein leibliches Wohl? Du bist immer noch genauso gertenschlank wie mit fünfundzwanzig.«

»Ach«, seufzte sie, »Åke und ich joggen mindestens dreimal die Woche durch den Wald und nehmen niemals den Aufzug, obwohl wir im achten Stock wohnen. Wir sind Experten für gesunde Ernährung und zucken schon bei dem Gedanken zusammen, dass wir in derselben Welt leben, in der auch Sahnetorten und Chips existieren. Das ist zwar nicht immer besonders lustig, aber wir glauben nun mal an die ewige Jugend.«

»Was habt ihr für Zukunftspläne?«, fragte Roffe.

»Wir wollen aufs Land ziehen und uns Hühner, Hunde und Katzen anschaffen. Der soziale Druck in Stockholm ist doch unerträglich. Hier muss man ständig demonstrieren, wie erfolgreich man ist.«

»Also wenn du es auf meine Stelle abgesehen hast, kannst du Hühner und Hunde vergessen. Um eine Katze könntest du dich gerade noch kümmern. Will Åke denn auch aufs Land?«

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Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Er spielt wohl manchmal mit dem Gedanken, aber im Grunde bin ich mir nicht sicher, ob es für uns eine gemeinsame Zukunft gibt. Oh, da kommt Hjalle.«

Hauptkommissar Hjalmar Påhlström, ein kurz gewachsener, schmächtiger Mann, der auf die sechzig zuging, erschien im Türrahmen. Seine schwarzen Haare waren nach wie vor frei von grauen Strähnen, hatten sich jedoch merklich gelichtet, und die Züge seines ewig sonnengebräunten Gesichts waren ein wenig eingefallen. Die dunklen Augen unter den markanten Brauen blickten so durchdringend und stechend wie eh und je, doch Roffe wusste, dass er ein zurückhaltender Mann war. Einst als Choleriker verschrien, hatten die vielen kräftezehrenden Konflikte sein Temperament spürbar abkühlen lassen, und heute war er die Friedfertigkeit selbst, vielleicht mit einem Anflug von Resignation.

Ehe er den Mund öffnen konnte, sagte Gudrun Skog: »Ich sehe dir an, dass Granestam nicht klein beigeben will.«

Sein heftiges Atmen verriet seine Erregung. »Ich habe mit Engelszungen geredet, aber gegen dieses Ego kommt man einfach nicht an. Dem ist doch völlig egal, wie die Sache ausgeht, Hauptsache er hat mal wieder seine Autorität unter Beweis gestellt. Ich wasche meine Hände jedenfalls in Unschuld.«

Als er Roffe ansah, hellte sich sein Gesicht auf. »Hallo, Roffe, schön dich zu sehen. Hier geht wie üblich alles drunter und drüber. Wenn man nur einmal in Ruhe seine Arbeit machen könnte, wäre alles viel einfacher. Du kennst ja die alte Leier.

Hat Gudrun dir schon erzählt, dass Granestam uns ein Sonderkommando auf den Hals hetzen will? Die kennen doch immer nur eine Methode, und man weiß schließlich nie, wie das endet. Komm, lass uns in mein Büro gehen und abwarten, was passiert.«

339

Påhlström ging voraus, die Hände tief in den Taschen vergraben. Für Roffe hatte er stets etwas äußerst Privates ausgestrahlt. In seinem ausgeleierten Pullover und den ausgelatschten Schuhen hätte er ebenso gut auf dem Weg vom heimischen Esstisch zum Fernseher sein können.

Doch in seinem Büro hatte sich eine hektische Stimmung verbreitet. Roffe wurde Polizeimeister Stig Hansson vorgestellt, der in ständigem Funkkontakt zu den Einsatzkräften stand.

Hjalle übernahm die Kommunikation und versorgte Roffe zwischendurch mit allen wesentlichen Informationen.

»Ausnahmsweise ist mir ein wirklich großes Kontingent zur Verfügung gestellt worden«, sagte er. »Diesmal gibt’s keine halben Sachen. Wenn nur dieses Sonderkommando nicht wäre, würde ich mich freuen wie ein Kind an Weihnachten. Wir gehen davon aus, dass die Hütte von der Stadt aus bequem zu erreichen ist. Wir wissen natürlich nicht, in welcher Richtung, aber wir haben Einsatzkräfte an allen Ausfahrtsstraßen postiert.«

»Was macht Enqvist?«, fragte Roffe.

»Sitzt noch in aller Ruhe in seinem Büro. Ist ja auch erst halb sechs, und er scheint keine Eile zu haben. Wir haben zwei Wagen und zusätzlich zwei Einsatzgruppen in seiner Gegend.

Jetzt können wir nur abwarten, bis er sich in Bewegung setzt.

Was mich daran erinnert, dass ich das Sonderkommando instruieren muss.«

Hjalle gab dem Leiter des Sonderkommandos, das sich versteckt hielt, präzise Anweisungen. Währenddessen setzten Gudrun und Roffe ihr Gespräch leise fort.

»Wir hatten großes Glück«, sagte sie. »Normalerweise wickelt Enqvist seine dubiosen Geschäfte ausschließlich über gestohlene oder anderweitig registrierte Handys ab. Doch gestern hatte er sein Handy zu Hause vergessen und nahm den Anruf in seinem Büro entgegen. Übrigens haben wir auch diese rätselhafte Nummer identifiziert, die sich auf der Rückseite eines Bildes in 340

seinem Büro befand. Rückwärts gelesen ist sie eine Handynummer. Angemeldet ist es auf einen gewissen Allan Jonebro aus Göteborg. Frührentner, Alkoholiker, früher Sozialarbeiter. Während des Verhörs hat er ausgesagt, vor ein paar Jahren einen netten Kerl in einer Kneipe kennen gelernt zu haben. Er hieß Figge oder Sigge und hat ihm eine beträchtliche Summe angeboten, wenn er sich für einen Handyvertrag registrieren lässt. Als Erklärung hat der andere angegeben, dass er viel auf Reisen sei und keine feste Adresse habe. Für Jonebro war das ein gutes Geschäft, also ließ er sich darauf ein. Zwei Jahre lang bekam er Anfang Dezember einen Umschlag mit jeweils dreißigtausend Kronen, um die Telefonrechnungen der nächsten Jahre zu bezahlen. Von dem Geld hat er sogar noch einiges übrig behalten, hat Jonebro erzählt. Sie hatten verabredet, dass er den Vertrag kündigt, sollte er Anfang Dezember kein Geld mehr erhalten. Seine nette Kneipenbekanntschaft hat er nie wieder gesehen und natürlich auch keine Ahnung, was mit dem Handy geschehen ist. Es könnte sein, dass es von jemandem benutzt wird, der in der Hierarchie über Enqvist steht. Enqvist ist mit Sicherheit nicht der dickste Fisch, den wir an der Angel haben.«

»Vermutlich nicht. Habt ihr versucht, die Nummer zu wählen?«

»Nein, möglicherweise werden wir irgendwann dazu gezwungen sein, aber im Moment wollen wir alles tun, um sie nicht auf uns aufmerksam zu machen.«

Hjalle wandte sich an Roffe: »Was meinst du, welche Rolle Hemberg in dieser Angelegenheit spielt? Ist er im Besitz von Informationen, die der Organisation gefährlich werden könnten, oder handelt es sich um eine simple Racheaktion, weil er sie betrogen hat?«

»Vermutlich beides«, tippte Roffe. »Vielleicht ist er so plötzlich abgetaucht, weil er sich bedroht fühlte. Und dass er gleichzeitig versuchte, Kapital aus der Angelegenheit zu 341

schlagen, ist doch nahe liegend. Möglicherweise hatte er gehofft, irgendwo im Ausland neu anfangen zu können. Ich nehme an, dass diese Pläne ökonomisch gescheitert sind, sodass er gezwungen war, nach Stockholm zurückzukehren, um sich mehr Geld zu beschaffen.«

»Was den vermuteten Mord an Hemberg betrifft, ist Patrik Andersson also entlastet.«

»Meiner Meinung nach können wir Patrik Andersson ohnehin vernachlässigen«, sagte Roffe. »Irgendetwas sagt mir, dass Hembergs Verschwinden mit dem Mord an Marianne Wester in Verbindung steht. Vielleicht haben sie unter einer Decke gesteckt. Oder der Mörder vermutete dies zumindest. Hemberg ging auf Nummer Sicher und tauchte ab. Marianne Wester ist das nicht mehr gelungen. Möglicherweise ist sie von Enqvist oder von einem seiner Killer liquidiert worden.«

»Warum nicht von Marco Fermi?«, warf Gudrun ein.

»Fermi ist ein undurchsichtiger Typ. Er ist quasi das Bindeglied in der Kette. Wir wissen ja, dass er Kontakt zu Marianne und höchstwahrscheinlich auch zu Gisela Nordh hatte und dass er an dem Ort angestellt war, an dem die Leiche gefunden wurde. Außerdem war er der nächste Nachbar von Patrik Andersson. Hätte er kein perfektes Alibi, wäre er zweifellos der Hauptverdächtige im Mordfall Marianne Wester.«

»Er könnte natürlich auch jemanden mit dem Mord beauftragt haben, zum Beispiel Enqvist.«

»Du meinst, dass Enqvist ihm untergeordnet ist? Daran habe ich auch schon gedacht. Einiges spricht dafür. Aber was sollte er für ein Interesse haben, Andersson den Mord in die Schuhe zu schieben?«

»Keine Ahnung, schließlich kenne ich die beiden nicht, aber Gründe ließen sich bestimmt viele finden.«

342

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Fermi riskiert hätte, leichtfertig die Aufmerksamkeit auf sich und den Hof zu lenken.

Da glaube ich schon eher, dass Enqvist seine Gründe hatte, Marianne Wester aus dem Weg zu räumen, und dass Andersson sich als idealer Sündenbock anbot. Entweder hat er sie gezwungen, die beiden Briefe zu schreiben, oder er hat sie selbst verfasst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war, der Andersson am fünfundzwanzigsten April nach Stockholm gelockt hat. Wenn alles nach Plan läuft, könnte sich das heute Abend noch bestätigen.«

Hjalle nickte. »Klingt überzeugend, abgesehen davon, dass Enqvist kaum an Hembergs Tod geglaubt haben dürfte und daher jederzeit befürchten musste, dass er wieder auftaucht und seine Strategie durchkreuzt. Und so ist es ja auch gekommen.«

»Das stimmt, aber er rechnete natürlich damit, dass sich Hemberg aus reinem Selbsterhaltungstrieb versteckt halten würde. Nun gut, jetzt ist Hemberg wieder aufgetaucht, und Enqvist wird sich denken: Umso besser, dann löse ich dieses Problem eben ein für alle Mal.«

»Stimmt!«, sagte Hjalle. »Nur gut, dass Enqvist zuerst mit ihm reden will. Sonst hätten wir wohl keine Chance …«

Jemand rief Hjalles Namen, und Roffe wandte sich wieder an Gudrun.

»Was habt ihr jetzt mit mir vor? Soll ich zur Hütte mitkommen oder mich hier im Hintergrund halten?«

»Du kommst mit uns«, antwortete sie. »Wir fahren mit Hjalle im selben Wagen. Stig fährt uns. Sobald wir erfahren, in welche Richtung Enqvist unterwegs ist, hängen wir uns dran, aber das kann natürlich noch eine Weile dauern.«

Hjalle hob die Hand, und alle lauschten erwartungsvoll.

Irgendetwas war geschehen. Aus einem in der Surbrunnsgata postierten Auto kam die Nachricht, Enqvist habe sein Büro verlassen und schlendere gemächlich dem Sveavägen entgegen.

343

Zwei Männer und ein Auto hätten in gebührendem Abstand die Verfolgung aufgenommen. Hjalle vermutete, dass Enqvist irgendwo etwas essen wolle. »Apropos essen«, sagte er zu Gudrun, »wo bleibt eigentlich die Pizza?«

»Ist unterwegs«, antwortete sie.

Roffe schaute sie entgeistert an. »Du isst Pizza?«

Sie lächelte verlegen. »Hjalle hat doch vorhin gesagt, der heutige Tag ist eigentlich wie Weihnachten. Also sollte man sich auch was Besonderes gönnen, findest du nicht? Ich hab dir übrigens auch eine bestellt.«

»Danke, die wird mir jetzt gut tun. Wie soll der Einsatz eigentlich ablaufen?«

»Du weißt doch, was Hjalle immer predigt: intelligente Improvisation. Kein krampfhaftes Festhalten an starren Strategien. Deshalb hält er es auch für vollkommenen Wahnsinn, bei so vielen unsicheren Faktoren wie in diesem Fall ein Sonderkommando hinzuzuziehen.«

Bei diesen Worten huschte ein verschmitztes Lächeln über Hjalles Gesicht. »Soll ja schon vorgekommen sein, dass ein Sonderkommando sich verfährt und zu spät am Tatort erscheint.«

»Sich verfährt? Wie willst du das anstellen?«

»Bei solch großen Operationen kann es jederzeit zu Missverständnissen bei der Kommunikation kommen … Wäre wirklich nicht das erste Mal.«

In diesem Moment wurde gemeldet, Enqvist habe ein Steakhouse am Sveavägen betreten. Hjalle hatte also richtig vermutet.

»Gutes Restaurant«, sagte er, »das Entrecote kann ich nur empfehlen. Ah, da kommt ja die Pizza. Ist doch ein gutes Timing. Wir haben genauso viel Zeit zu essen wie Enqvist.

Dann sollte es losgehen.«

344

Nach vierzig Minuten erhielten sie die Nachricht, dass Enqvist gerade bezahlt habe und auf dem Weg zum Ausgang sei.

Gudrun sprang auf und lief aus der Tür. Zu Roffes Erstaunen erschien ihr Chauffeur, Polizeimeister Hansson, auf einmal im Jogginganzug.

Bevor sie den Raum verließen, wurde gemeldet, Enqvist gehe zur Surbrunnsgata zurück, vermutlich um sein Auto, einen flaschengrünen BMW, zu holen, den er auf dem Firmengrundstück geparkt hatte.

Als sie auf dem Weg zu ihren Autos waren, schloss sich ihnen Gudrun wieder an. Auch sie war so gekleidet, als wolle sie eine große Runde im Wald drehen. Hjalle wechselte ein paar Worte mit dem Leiter des Sonderkommandos, der bereits im Mannschaftswagen saß.

Er nahm auf dem Vordersitz Platz und hielt fortwährend Funkkontakt zur Einsatzzentrale. Gudrun und Roffe saßen auf der Rückbank. Über Polizeifunk wurden sie in regelmäßigen Abständen über Enqvists Route auf dem Laufenden gehalten:

»Er biegt auf die Odengata ab. Fährt in westliche Richtung …«

Sie achteten darauf, nicht zu dicht aufzuschließen. Ein weißer Saab, der in der Nähe der Surbrunnsgata postiert gewesen war, hielt unmittelbaren Kontakt zu Enqvists Wagen.

Als klar war, dass Enqvist auf der E4 Richtung Süden blieb, gab Hjalle seine Anweisungen. »Einsatzleitung an alle: Zielobjekt bleibt auf der E4 Richtung Süden. Wir folgen ihm, außerdem die Wagen zwei und drei. Wagen sieben und acht schließen sich uns an. Wagen vier, fünf, sechs und neun kehren zur Einsatzzentrale zurück. Der Mannschaftswagen fährt nach Södertälje und wartet dort auf weitere Instruktionen.«

Er drehte sich um und hob triumphierend den Daumen.

Gudrun schüttelte den Kopf. »Was soll der Mannschaftswagen in Södertälje?«, fragte sie.

345

»Irgendwo muss er doch schließlich bleiben«, antwortete Hjalle grinsend. »Dort ist er mir jedenfalls nicht im Weg. Sollte der Zugriff missglücken, ist Södertälje mit Sicherheit ein guter Standort, um die Flüchtenden abzufangen. Außerdem wissen wir gar nicht, ob sie in der Hütte bleiben oder noch weiter gen Süden fahren werden.«

»Und wenn die Hütte hinter Södertälje liegt? Kommandierst du den Wagen dann nach Nyköping?«

»Wenn wir den Zeitfaktor berücksichtigen, kann der Treffpunkt nicht weiter als hundertfünfzig Kilometer von Stockholm entfernt liegen. Aber ich bin mir sicher, dass wir nicht so weit fahren müssen. Frag mich nicht, warum, ich habe so ein Gefühl …«

Von Hjalles Funkkontakt zu dem weißen Saab gelegentlich unterbrochen, setzten sie ihren Weg schweigend fort. Nach weiteren zehn Minuten konnte Hjalle erneut frohlocken. Sie erfuhren, das Zielobjekt sei in Richtung Tumba abgebogen.

»In Tumba habe ich letztes Jahr Mittsommer gefeiert«, sagte Gudrun. »Åke und ich haben dort gute Freunde.«

»Gibt’s dort viele Ferienhütten?«, fragte Hjalle.

»Wir waren zwar in einem Wohngebiet, aber in der Umgebung dürfte es zahlreiche geben, da bin ich ganz sicher«, antwortete sie.

»Dann nimm du das Straßenverzeichnis und schau dir die Gegend noch mal genau an.«

Hjalle nahm Kontakt zum Sonderkommando auf.

»Treffpunkt liegt offenbar östlich von Södertälje«, gab er durch.

»Wir bleiben am Zielobjekt dran. Bereitet euch darauf vor, kurzfristig eine Straßensperre zu errichten. Ab jetzt keine Funkgespräche mehr und weitere Instruktionen abwarten.«

346

Sie erreichten die Weggabelung nach Tumba und verließen die E4.

Hjalle wies ihren Fahrer an, das Tempo zu erhöhen, und sprach ins Mikro: »An Wagen zwei: Wir überholen euch, damit er mal ein anderes Auto im Rückspiegel sieht. Wagen drei, sieben und acht halten sich zwei Kilometer hinter uns.«

Ungefähr zwanzig Kilometer hinter Tumba bog der BMW auf eine kleinere, immer noch relativ stark befahrene Straße ab, und Hjalle hoffte inständig, dass Enqvist nicht plötzlich einen schmalen Waldweg nahm, was die Observierung erheblich erschweren würde. Doch genau das geschah. Plötzlich blinkte er und verschwand linker Hand auf einem in der Dunkelheit kaum zu erkennenden Kiesweg ohne Beschilderung.

»Verdammt!«, fluchte Hjalle. »Halt an, wir können ihm nicht weiter folgen.«

Auf der Karte erkannten sie zu ihrer Erleichterung, dass der Kiesweg nur kurz war und mitten im Wald endete. Sie warteten auf die übrigen Autos, ehe sich vier Männer zu Fuß auf den Weg machten und sowohl die Hütte als auch Enqvists Wagen schon bald identifiziert hatten.

Der grüne BMW stand vor einer schlichten, auf einer Anhöhe gelegenen Sommerhütte, deren Veranda nahezu die halbe Grundfläche einnahm. In ungefähr zweihundert Metern Entfernung befand sich eine weitere, offenbar unbenutzte Hütte.

Hjalle wandte die Improvisationstaktik an, für die er berühmt war. Zunächst musste er die fünf Einsatzwagen aus dem Blickfeld entfernen. Nachdem er die offene Landschaft verflucht hatte, beorderte er zwei Autos auf den nächsten Parkplatz, während die anderen beiden mit Mühe ein akzeptables Versteck im Wald fanden. Nachdem er gehört hatte, Enqvist sei in der Hütte verschwunden, rollten sie nahezu lautlos auf den Kiesweg und stellten ihren Wagen an einer Ausbuchtung hinter einem 347

großen Stapel geschlagener Baumstämme ab. Es war Viertel nach acht und die Dämmerung weit fortgeschritten.

Unter Hjalles Leitung, der auf dem Beifahrersitz Informationen empfing und Anweisungen gab, entfaltete sich eine ebenso hektische wie geräuscharme Betriebsamkeit. Roffe, dem bewusst war, dass er in diesem Stadium der Operation keine Funktion hatte, verhielt sich passiv. Er würde seinen Kollegen später noch von Nutzen sein können.

Gudrun war mit dem Polizeimeister von der Bildfläche verschwunden, und Roffe rechnete aus, dass es insgesamt achtzehn Personen waren, die sich um die Hütte verteilten. Alles wirkte wohl durchdacht, wie nicht anders zu erwarten war, wenn Hjalle das Kommando hatte. Roffe, dem wenig daran lag, im Dunkeln über unsichtbare Wurzeln zu stolpern, genoss das befreiende Gefühl, einmal nicht die Verantwortung zu tragen, und machte es sich auf dem Rücksitz bequem.

Die Männer, die dem Haus am nächsten standen, konnten vermelden, dass Enqvist in aller Ruhe eine Tasse Kaffee trank, während er abwechselnd das Aftonbladet las und fernsah. Eine gespannte Ruhe hatte sich ausgebreitet. Roffe, der sich in Anbetracht der lauen Temperaturen seiner Jacke entledigt und die Füße hochgelegt hatte, lauschte mit Wohlbehagen dem einförmigen Schreien einer Eule.

Gegen neun Uhr schwenkte ein Transporter – einem scharfsichtigen Beamten zufolge handelte es sich um einen Dodge Van – auf den Kiesweg ein und parkte hinter Enqvists Auto. Was dann in rascher Folge geschah, konnte Roffe zwar nicht mit eigenen Augen erkennen, doch gewann er durch Hjalles energische Direktiven ein recht genaues Bild von der Situation.

Im selben Augenblick, in dem zwei Männer aus dem Transporter stiegen, öffnete Enqvist die Tür und kam ihnen entgegen. Sie wechselten ein paar Worte miteinander, ehe einer 348

der Männer die Hintertür öffnete und in den Wagen sprang.

Unmittelbar darauf kam er mit einer schweren Last wieder heraus. Es war Hemberg, an Händen und Füßen gefesselt, dessen Körperhaltung darauf schließen ließ, dass er bewusstlos war. Zu dritt trugen sie ihn hinein. Es war nun fast ganz dunkel.

Hjalle gab zwei Wagen die Anweisung, die Einfahrt zum Kiesweg zu blockieren. Damit war die Hütte immer noch von vierzehn Beamten umstellt.

Zwei Männer bekamen das verabredete Signal, sich zum Transporter zu schleichen, um unter dessen vorderem Teil eine Rauchpatrone zu installieren. Unmittelbar darauf hatte Hjalle Kontakt zu Gudrun und Stig, die kurzatmig durchgaben, sich bereits in der Nähe der Auffahrt zu befinden. Sie klangen, als seien sie tatsächlich vom Joggen erschöpft. Roffe begann zu verstehen, was Hjalle im Schilde führte, und sah anerkennend zu ihm hinüber.

Doch irgendwas schien nicht nach Plan zu laufen. Gudruns Stimme klang erregt. »Wir sehen keinen Rauch. Was ist los?«

Hjalle fluchte mit zusammengebissenen Zähnen und nahm Kontakt mit dem Team am Transporter auf. »Was zum Teufel macht ihr da so lange?«, fauchte er. »Die Jogger sehen keinen Rauch. Beeilt euch!«

Gudrun meldete sich erneut. »Vielleicht haben sie uns schon gesehen. Wir simulieren einen Stein im Schuh. Tut was!«

Roffe stellte sich vor, wie die beiden Jogger am Wegesrand unmittelbar vor Enqvists Hütte verzweifelt versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Sie durften sich dort keinesfalls länger aufhalten, wollten sie kein Misstrauen erregen und ein Scheitern der gesamten Aktion riskieren. Während Roffe und Hjalle unwillkürlich den Atem anhielten, bekamen sie die unheilschwangere Nachricht, die Rauchpatrone sei erloschen.

Ein neuer Versuch wurde unternommen, und Hjalle flüsterte etwas vor sich hin, das wie ein Stoßgebet klang. Schließlich die 349

befreiende Nachricht: »Alles okay. Kräftige Rauchentwicklung.«

Im selben Augenblick hörten sie Gudruns erleichterte Stimme.

»Wir sehen den Rauch. Laufen jetzt zum Haus.«

Hjalle ließ sich kurz zurücksinken und atmete erleichtert aus, war aber schon im nächsten Moment wieder voll konzentriert.

Ein Team, das sich bis zum Ostgiebel der Hütte vorgearbeitet hatte, konnte berichten, dass die vermeintlichen Jogger inzwischen vor der Tür standen und Gudrun bereits geklopft habe. Von wiederholtem Knistern unterbrochen, erhielten Hjalle und Roffe eine sehr detaillierte Beschreibung der aktuellen Lage. Die Tür wurde von Enqvist einen Spaltbreit geöffnet, und Gudrun zeigte aufgeregt in Richtung des Transporters, der wegen der starken Rauchentwicklung kaum noch zu sehen war.

Für einen langen Moment schien Enqvist ratlos zwischen dem Joggerpaar und dem Transporter hin und her zu schauen, ehe er sich besann und etwas ins Haus rief. Einer der beiden Männer erschien in der Tür. Als er den Rauch sah, zögerte er keine Sekunde und spurtete fluchend auf das Auto zu. Währenddessen äußerten Gudrun und Stig zahlreiche Vermutungen, wie der Brand entstanden sein könnte, und gaben Tipps zu seiner Behebung, alles mit dem Zweck, Enqvist von der Tür wegzulocken und abzulenken, damit die Einsatzkräfte den Ring um die Hütte unmerklich enger ziehen konnten. Erst als er Geräusche hörte, die nicht von dem Mann an dem rauchenden Wagen stammten, wurde er misstrauisch, doch im selben Moment wurde Enqvist auch schon von hinten überwältigt.

Auch die vier Männer, die in die Hütte eindrangen, hatten ein leichtes Spiel. Der dritte Ganove wurde mit einem solchen Tempo überrumpelt und entwaffnet, dass an Widerstand gar nicht zu denken war.

»So muss das laufen!«, sagte Hjalle mit unverhohlener Freude, nachdem er gehört hatte, dass die drei Männer entwaffnet und 350

festgenommen worden waren. Mit breitem Lächeln wandte er sich Roffe zu: »Ich muss sagen, dass ich sehr beeindruckt bin.

Was sagst du dazu? Nicht ein einziger Schuss ist gefallen. Also besser kann es nun wirklich nicht laufen.«

Roffe brachte wortreich seine Bewunderung für die professionelle Durchführung und Hjalles perfekte Regie zum Ausdruck. Kurz darauf lief ihnen Gudrun aus dem Dunkel entgegen. Sie war so euphorisch wie eine Schauspielerin, die nach einer glanzvollen Vorstellung ihren verdienten Applaus erwartet.

Ausgelassen scharten sich alle um das Einsatzfahrzeug. Der Gegensatz zu der angespannten Stille, die eben noch geherrscht hatte, hätte nicht größer sein können. Hjalle organisierte den Rückzug und sagte zu Gudrun und Roffe: »Ich will Enqvist bei mir im Wagen haben. Ihr fahrt zusammen mit Hemberg in Wagen zwei.«

Roffe wusste, dass er jetzt an der Reihe war. Zu ihm würde Hemberg vermutlich das größte Vertrauen haben.

Hjalle bekräftigte das: »Wir haben ihm gerade das Leben gerettet, er sollte also überaus erleichtert sein. Aber er darf nicht zu viel Zeit zum Nachdenken bekommen. Gudrun wird das Verhör auf dem Präsidium leiten, doch bis dahin wird er sich irgendeine Geschichte zurechtgelegt haben. Versucht deshalb alles, um ihm während der Fahrt ein paar Aussagen zu entlocken, die er beim Verhör sicher nicht machen wird. Wartet, ich gebe euch noch ein Aufnahmegerät mit.«

In diesem Moment erblickten sie Axel Hemberg, der ihnen, gestützt auf zwei Polizisten, schwankend entgegenkam. Roffe wandte sich rasch ab, damit Hemberg ihn nicht sofort erkannte, und sagte zu Gudrun: »Es wäre gut, wenn du zuerst mit ihm sprichst, ehe er mich erkennt. Dann können wir sehen, welche Linie er fährt. Wenn ich mich recht entsinne, ist er glatt wie ein Aal.«

351

»Du meinst, ich soll ihm das Gefühl geben, dass es immer noch Schlupfwinkel für ihn gibt?«

»So in etwa.«

Axel Hemberg zitterte so heftig, dass sie ihn behutsam ins Auto manövrieren mussten. Als er schließlich auf der Rückbank saß, starrte er bewegungslos vor sich hin und sagte kein Wort.

Gudrun und Roffe nahmen ihn in die Mitte, und das Auto setzte sich in Bewegung.

352

29

Am selben Abend

Da es dunkel im Auto war, lief Roffe nicht Gefahr, erkannt zu werden. Sobald sie auf der Hauptstraße waren, wandte sich Gudrun in mitfühlendem Ton an Hemberg: »Sie sahen sehr mitgenommen aus, als Sie zum Wagen gebracht wurden. Im Moment kann ich Ihnen nur eine Kopfschmerztablette anbieten, wenn Sie möchten. Auf dem Präsidium können wir uns besser um Sie kümmern. Haben Sie in letzter Zeit etwas zu essen bekommen?«

Hemberg schüttelte den Kopf. Roffe ahnte mehr, als dass er sah, wie Hemberg sie mit unmerklichem, aber geschultem Blick taxierte.

»Danke für Ihre Hilfe«, murmelte er leise und fuhr mit schwacher Stimme fort: »An Essen wage ich im Moment gar nicht zu denken. Ich kann immer noch nicht fassen, was geschehen ist. Wo sind wir eigentlich?«

»Südlich von Tumba.«

»Tumba? Kein Wunder, dass ich die Orientierung verloren habe.« Das erzwungene Lachen seiner brüchigen Stimme klang wie ein Schluchzen, Roffe warf seinem ehemaligen Mitschüler einen diskreten Blick zu. Er hatte sich seit ihrer letzten Begegnung vor ungefähr zehn Jahren nicht wesentlich verändert. Zwar sah er im Moment ein wenig derangiert aus, doch wenn Roffe ihn recht kannte, war sein Äußeres tadellos gewesen, bis Enqvists Killer sich seiner angenommen hatten.

Neu war allerdings sein gepflegter Vollbart, der vermutlich der Tatsache zu verdanken war, dass er hatte untertauchen müssen.

»Von woher hat man Sie zu dieser Hütte gebracht?«, fragte Gudrun.

353

»Aus Eskilstuna.«

»Eine sehr lange Fahrt, wenn man gefesselt ist«, sagte sie ernst.

Erst jetzt schien Hemberg vollständig zu realisieren, dass er seinen Peinigern und damit seinem sicheren Tod entgangen war.

Mit einem Mal klang er wie befreit.

»Ja, eine schrecklich unangenehme Art zu reisen. Ich kann noch gar nicht glauben, dass es vorbei ist. Eben war ich noch sicher, sterben zu müssen, und jetzt sitze ich hier. Wie soll man sich für sein Leben bedanken? Vermutlich kann man das nicht.«

»Sie können ja alle beteiligten Polizisten zum Essen einladen«, sagte Gudrun scherzhaft.

»Ja, das würde ich gern tun und jeden Einzelnen von Ihnen umarmen«, antwortete er gerührt, wobei er sich Gudrun entgegenbeugte, als wolle er sogleich mit ihr beginnen. Doch sie wandte rasch den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. Er schien es nicht zu bemerken, so ergriffen war er von seiner wiedergewonnenen Freiheit.

»Wenn man bedenkt, was ich durchgemacht habe, fühle ich mich erstaunlich gut«, sagte er. »Obwohl mir alle Knochen wehtun. Die hatten mich verdammt stramm gefesselt. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich bin am Leben!« Er lachte auf, und diesmal war es ein richtiges Lachen.

»Sieht so aus, als brauchten Sie keine Kopfschmerztablette mehr«, sagte Gudrun munter.

»Nein, die brauche ich wirklich nicht.« Er senkte die Stimme und sagte vertraulich: »Aber es gibt etwas anderes, das Sie für mich tun könnten.«

»Und was?«

»Die haben mir wirklich alles abgenommen. Ich habe nicht einmal mehr ein bisschen Kleingeld bei mir. Ich weiß natürlich, dass in diesem Fall gründlich ermittelt werden muss, und ich 354

werde alles tun, um meinen Teil zur Aufklärung beizutragen.

Aber vielleicht könnten Sie mir erst einmal mein Eigentum wiedergeben, meine Kreditkarten, meinen Pass … Die Nacht werde ich dann wohl in einem Hotel verbringen. Gott, wie sehr ich mich nach einer warmen Dusche und einem weichen Bett sehne! Morgen werde ich dann ausgeruht sein und Ihnen all Ihre Fragen beantworten können. Das Präsidium werde ich schon finden.«

»So hatten wir uns das eigentlich nicht vorgestellt«, sagte Gudrun liebenswürdig. »Es wird das Beste sein, Sie kommen gleich mit aufs Präsidium und machen eine vollständige Zeugenaussage.«

Axel erstarrte und schlug sofort einen sehr viel kühleren Ton an: »Ist das wirklich notwendig? Ist es nach allem, was ich durchgemacht habe, nicht etwas viel verlangt, dass ich die halbe Nacht aufbleibe und Fragen beantworte? Und irgendwo muss ich ja schließlich schlafen.«

»Sie brauchen nicht die halbe Nacht aufzubleiben«, sagte Gudrun. »Das wird heute Abend nur eine vorläufige Befragung.

Selbst Polizisten müssen irgendwann schlafen. Morgen früh findet die ausführliche Vernehmung statt. Daher ist es am besten, Sie übernachten gleich auf dem Präsidium.«

Axel schien beleidigt zu sein. »Das sind ja ganz neue Methoden. Also ich habe wirklich noch nie gehört, dass die Polizei das Opfer eines Verbrechens gegen seinen Willen festhält. Sie wollen mich doch wohl nicht dafür bestrafen, dass ich das Opfer von Raubmördern wurde.«

»Raubmörder?«, fragte Gudrun. »Kannten Sie die Männer denn nicht?«

Kurzes Schweigen.

»Ich habe sie noch nie in meinem Leben gesehen!«, rief er aufgebracht. »Das ist wirklich nicht die Sorte von Leuten, mit der ich Umgang pflege. Ich wurde auf offener Straße überfallen 355

und entführt. Ich habe einen Schock erlitten und brauche vor allem einen Arzt. Soll ich jetzt erneut meiner Freiheit beraubt werden? Von der Polizei selbst? Ich dachte, Sie würden zumindest ein Minimum an Rücksichtnahme zeigen.«

Gudrun ignorierte seine Bemerkung. »Woher wissen Sie, dass die Männer Sie töten wollten?«, fragte sie neugierig.

»Das versteht sich doch von selbst. Sie haben mich fortwährend bedroht, und Sie haben doch selbst gesehen, wie viele Waffen sie dabei hatten. Nachdem sie mir alles gestohlen hatten, wollten sie, dass ich etwas unterschreibe, damit sie an mein Konto herankommen. Was sie danach mit mir vorhatten, ist wohl nicht schwer zu erraten.«

Gudrun nickte und sagte nachdenklich: »Ich verstehe. Haben Sie denn viel Geld auf dem Konto?«

Axel starrte finster vor sich hin und antwortete nach einiger Bedenkzeit: »Ein paar Millionen.«

»Nicht übel«, entgegnete Gudrun beeindruckt. »Da hatten die Männer aber Glück. Sie hätten ja auch an einen armen Schlucker geraten können.«

Axel schien der Verlauf ihres Gesprächs nicht zu behagen. Er wand sich unruhig hin und her, als habe er zwischen den beiden Polizisten plötzlich zu wenig Platz.

»Den armen Schlucker hätten sie vermutlich wieder laufen lassen«, sagte er mit offensichtlichem Unverständnis über ihre Naivität, »aber zufällig sind sie an den Geschäftsmann Arne Hansson geraten, der in Eskilstuna auf der Durchreise war.

Leider hatte ich ein paar Dokumente dabei, die auf ihr Interesse stießen.«

»Arne Hansson, ist das Ihr Name?«

»Gewiss, und wenn Sie mir nicht glauben, dann kontrollieren Sie doch meine Papiere, die sich hoffentlich ebenfalls auf dem Weg zum Präsidium befinden.«

356

Obwohl Roffe diesem aufschlussreichen Gespräch gern noch länger zugehört hätte, fand er es an der Zeit, sich zu erkennen zu geben. Er gab die Rolle des anonymen Polizisten auf und sagte mit leiser, aber deutlich vernehmbarer Stimme: »Ich gratuliere dir, Axel.«

Der vorgebliche Arne Hansson glaubte sicher, sich verhört zu haben; dennoch drehte er den Kopf und brauchte beim Schein der Straßenbeleuchtung nur wenige Sekunden, um Roffe wiederzuerkennen. Entgeistert starrte er ihn an. Roffe lächelte ihm freundlich und, wie er hoffte, beruhigend zu, denn er empfand in diesem Moment großes Mitleid mit Axel.

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er.

»Roffe … was tust du denn hier?«

»Ich soll dich identifizieren. Normalerweise arbeite ich in Christiansholm.«

»Was hast du eben gesagt?«

»Dass ich dir gratuliere.«

»Wozu?«

»Dazu, dass es sich bei der nicht identifizierten Leiche aus der Jauchegrube ganz offensichtlich nicht um dich handelt, und dazu, dass du auch heute dem Tod von der Schippe gesprungen bist. Einem solchen Überlebenskünstler darf man gratulieren, finde ich.«

Obwohl Axel in dieser Hinsicht nicht widersprechen konnte, schien er von seinem großen Glück nichts mehr wissen zu wollen. Sein Ausdruck war nun wieder äußerst konzentriert, als versuche er hartnäckig, sich der neuen Situation anzupassen.

Roffe ließ keine Zeit verstreichen, sondern übernahm nach einem raschen Blickwechsel mit Gudrun das Verhör.

»Außerdem bin ich hier, um dir ein paar Fragen zu stellen, die für mich von größtem Interesse sind. Da ich morgen früh nach Christiansholm zurückmuss, werde ich sie dir jetzt stellen. Arne 357

Hansson sollten wir schnellstens vergessen. Du gibst zu, dass du Axel Hemberg bist?«

Axel nickte resigniert. »Aber es ist nicht alles so einfach, wie du dir das vorstellst«, murmelte er verärgert.

»Sicher nicht.«

»In gewisser Weise bin ich erleichtert, dass alles vorbei ist. Ich glaube, viel länger hätte ich das auch nicht durchgehalten. Wenn du wüsstest, unter welch gewaltigem Druck ich stehe.«

Roffe kannte Axels geistige Flexibilität und wusste, dass sich dieser bereits gut auf die gegenwärtige Situation eingestellt hatte.

»Ich kann es mir denken«, sagte er verständnisvoll. »Aber vermutlich wissen wir mehr, als du ahnst. Nutz die Situation und mach deinem Herzen Luft. Fang ganz von vorne an. Wann bist du in die Fänge von Enqvists Organisation geraten?«

»Von vorne!« Axel lachte gequält. »Das ist eine lange Geschichte. Sagtest du nicht, dass du morgen früh wieder nach Christiansholm musst?«

»Ich glaube dir gern, dass es eine lange und komplizierte Geschichte ist. Dann gib mir eben eine gute Zusammenfassung.

Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass irgendwelche Details für die Nachwelt verloren gehen. Gudrun wird das Verhör später gewissenhaft fortsetzen.«

Axel warf Gudrun einen raschen Blick zu und musterte sie offenbar ein weiteres Mal. Dann ließ er sich mit diskretem Stöhnen in das Polster zurücksinken und setzte eine leidgeprüfte Miene auf.

»Ich … fange am besten damit an, wie ich Peter Enqvist kennen lernte. Also im Grunde genommen begann alles damit, dass ich mich plötzlich in einer schrecklichen finanziellen Klemme befand. Sonst hätte ich mich nie mit Enqvist 358

eingelassen. Das war, kurz nachdem ich meine Galerie eröffnet hatte.«

»In welchem Jahr?«

»1985 war die Eröffnung, und ein Jahr später war ich pleite.

So geht das, wenn man es in der Kunstbranche auf die ehrliche Tour versucht. Es war ein ständiges Auf und Ab, und ich war bis über beide Ohren verschuldet. Ich hatte noch mit dem Konkurs meines Vaters zu kämpfen und wickelte gerade meine Scheidung ab … Meiner Frau bist du nie begegnet?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Da hast du auch nichts verpasst. Jedenfalls versuchte sie, mich über den Tisch zu ziehen, so wie alle anderen auch. Zu allem Überfluss erkrankte zu dieser Zeit auch noch meine Mutter. Sie war nach dem Selbstmord meines Vaters am Boden zerstört; mir selbst ging es nicht viel besser. Ich musste für ihre Pflegekosten aufkommen. Sie war schon immer eine sehr empfindsame und eigenwillige Person und wäre bei der normalen Pflege beinahe vor die Hunde gegangen. Also habe ich ihr einen Platz in einem privaten Pflegeheim …«

»Okay!«, unterbrach ihn Roffe brüsk. »Ich habe verstanden, dass du damals einige Probleme hattest. Wie kam Enqvist ins Bild?«

»Ich habe ihn durch Bekannte kennen gelernt, das erste Mal auf einer Party. Wir haben viel über Kunst geredet. Er erzählte von seinen guten Geschäften und meinte, wir sollten unbedingt zusammenarbeiten. Ich habe das anfangs nicht besonders ernst genommen, aber nach ein paar Wochen erschien er in der Galerie und schlug mir ein Geschäft vor. Ich sollte einige Lithografien von Dali verkaufen. Die Lithografien waren günstig, mein Erfolgshonorar dagegen umso höher. Ein verlockender Deal also, und als ich nach ein paar Monaten sämtliche Blätter verkauft hatte, zeigte Enqvist sich äußerst zufrieden und schlug eine Ausweitung der Zusammenarbeit vor.

359

Ich war nicht besonders scharf drauf, denn ehrlich gesagt kam er mir ziemlich undurchsichtig vor. Doch als ich auf Distanz zu ihm ging, ließ er seine Maske fallen und begann mir zu drohen.

Mir sei doch wohl klar gewesen, dass es sich bei den Dali-Lithos um Fälschungen handelte, und niemand würde mir glauben, wenn ich das leugnete. Ich war so überrumpelt, dass ich nicht einmal auf den Gedanken kam, dass er mich nicht belasten konnte, ohne sich selbst zu belasten. Er deutete an, ich würde erhebliche Schwierigkeiten bekommen, falls ich die Zusammenarbeit verweigerte.«

»Und, hatte er nicht Recht?«, fragte Roffe. »Hast du nicht von Anfang an gewusst, dass es sich um Fälschungen handelte?«

»Nein, das habe ich nicht. Und eigentlich kann man auch nicht von Fälschungen sprechen. Es ging um eine Serie mit doppelter Nummerierung. Darum waren die Blätter auch so billig. So etwas ist immer schwer zu entscheiden.«

»Dann lässt sich kaum leugnen, dass du die Sache von Anfang an durchschaut hast«, sagte Roffe, der sich über Axels Scheinheiligkeit zu ärgern begann. »Aber erzähl weiter, was ist dann passiert?«

»So, wie die Dinge lagen, blieb mir keine Wahl. Von diesem Tag an fungierte ich als eine Art anonymer Zwischenhändler, wenn es um den Verkauf falscher Druckgrafiken ging. Alles war perfekt organisiert. Die Geschäfte erstreckten sich über das ganze Land, ja sogar bis nach Dänemark und Norwegen. Wenn ich mich auf der sicheren Seite fühlte, verkaufte ich selbst ein paar Blätter, aber nicht besonders oft. Enqvist zwang mich auch, Gemälde und kleine Skulpturen zu verkaufen, die allem Anschein nach echt waren. Ich habe nie zu fragen gewagt, wie er an sie herangekommen ist. Seine kalte, unpersönliche Ausstrahlung machte mir Angst. Wie soll ich das weiter erklären? Er hatte mich in der Hand. Kunst interessiert ihn nicht die Bohne. Sie ist für ihn nur Mittel zum Zweck; etwas, das sich zu Geld machen lässt. Übrigens wurde mir im Lauf der Zeit klar, 360

woher die Kunstgegenstände kamen, die ich für ihn weiterverkaufte. Und ich begriff, dass Enqvist nicht allein war, sondern über eine Reihe von Leuten verfügte, die seine Interessen vertraten. Diese Erkenntnis war für mich sehr schmerzhaft. Als ich endlich ein bisschen Geld zu verdienen begann, forderte er plötzlich zwanzig Prozent meiner gesamten Einkünfte, also auch der Einkünfte, die nichts mit unseren Geschäften zu tun hatten. Natürlich wurde ich wütend und weigerte mich. Da lächelte er bloß zynisch und verließ wortlos die Galerie. Am nächsten Tag, kurz vor Geschäftsschluss, kamen zwei Gorillas zu mir herein, und sofort wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte. Zuerst dachte ich, sie wollten mich ausrauben, aber sie fassten nichts an, sondern drängten mich einfach in mein Büro, wo sie mich einer ausgeklügelten Behandlung unterzogen. Es war eine schreckliche Qual, hinterließ aber nahezu keine Spuren. Es waren absolute Profis, die so leise und konzentriert arbeiteten, als wären sie Techniker, die nur die Telefonleitungen überprüften. Bevor sie gingen, besaßen sie die Frechheit, eine Bezahlung für ihre Dienste zu fordern. Sie sagten, ihr Stundenlohn betrage zweitausend Kronen, und da sie mich eine halbe Stunde behandelt hätten, wären tausend Kronen fällig. Natürlich bezahlte ich ohne zu zögern. Es dauerte mehrere Stunden, bis ich in der Lage war, nach Hause zu fahren. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich auch die zwanzig Prozent an Enqvist widerspruchslos bezahlte. Im Grunde war es eine Art Schutzzahlung, um weiteren Misshandlungen zu entgehen. Ich habe die beiden Männer nie wieder gesehen, doch das bloße Wissen, dass sie existierten, machte mich gegenüber Enqvist gefügig.«

Axel hielt inne und kramte in seinen Hosentaschen. Als er nicht fand, wonach er suchte, rief er zornig: »Diese Banditen haben mir sogar mein Taschentuch weggenommen.«

Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter und wurde von seinem Bart aufgesogen. Gudrun reichte ihm ein paar 361

Papiertaschentücher. Er nahm sie dankbar entgegen und tupfte sich umständlich die Stirn ab. Roffe warf einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr. Er wollte keine Zeit verlieren und das Verhör zügig fortsetzen.

»So viel also zu den Kunstgeschäften«, sagte er kurz.

»Kommen wir zu Enqvists sonstigen Tätigkeiten, die offenbar sehr vielfältig sind.«

Axel schaute ihn vorwurfsvoll an und ließ die Mundwinkel hängen. »Du wolltest schließlich alles von Anfang an hören«, sagte er beleidigt. »Zu den anderen Dingen wollte ich gerade kommen.«

»Gut, wir haben nämlich nicht die ganze Nacht lang Zeit.«

»Wie ich eben schon sagte, begann ich mit der Zeit zu begreifen, woher die Kunstobjekte kamen, die ich für ihn verkaufte. Anfangs fürchtete ich, es handle sich um Diebesgut, aber das war nicht der Fall. Vielmehr handelte es sich um das Nebenprodukt einer anderen Tätigkeit, nämlich der des Geldverleihens. Kunstobjekte dienen bei Geldgeschäften ja gern als Sicherheit und werden bei Überschreitung der Zahlungsfrist einfach gepfändet. Nachdem ich ein paar Jahre mit Enqvist zusammengearbeitet hatte, fing er an, mich mit anderen Aufträgen zu versorgen. Ich sollte die Kreditvergabe in einem gewissen Gebiet organisieren, das schließlich ganz Mittelschweden umfasste. Zu diesem Zeitpunkt war mir bewusst, dass Enqvist einer Organisation angehörte, die er ausschließlich ›den Kreis‹ nannte. Vieles deutete darauf hin, dass der Kreis eine international operierende Organisation war, doch hatte ich zunächst nur vage Vorstellungen von ihr. Eines begriff ich jedoch rasch, nämlich dass Enqvist nicht zu den Topleuten gehörte. Manchmal spürte ich, dass auch er unter Druck stand. Was die ganze Maschinerie am Laufen hielt, war die Angst ihrer Mitarbeiter. Der Kreis ist auf verschiedensten Feldern tätig und sorgt gut für seine loyalen Mitglieder. Was mit 362

denen geschieht, die sich widersetzen, hätte ich heute Abend erfahren, wenn ihr mich nicht da rausgeholt hättet.«

»Gewissen Personen gegenüber bist du als Gönner in Erscheinung getreten«, sagte Roffe. »Was kannst du mir darüber erzählen?«

Axel zuckte zusammen und blickte ihn fragend an. »Als Gönner? Was meinst du damit?«

»Das weißt du ganz genau. Ich spreche von Marianne Wester und Gisela Nordh.«

Axel schwieg, und Roffe hätte darauf wetten können, dass sein Gehirn unter Hochdruck arbeitete.

»Ja … äh … was willst du denn genau wissen?«, fragte Hemberg schließlich.

»Die Wahrheit natürlich. Schildere mir deine Beziehung zu den beiden Frauen und was es mit deiner Gönnerschaft auf sich hatte.«

»Ich verstehe gar nicht, was du mit Gönnerschaft meinst«, maulte Axel. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich eine Art Zuhälter war. Und was soll ich dir schon erzählen? Du weißt doch sowieso schon alles.«

»Nicht alles, aber mehr, als du glaubst. Also, wie funktionierte deine Zusammenarbeit mit den Frauen? Gab es eigentlich noch andere als diese beiden?«

»Nein, gab es nicht, und ich verstehe auch nicht, was das hier zur Sache tut. Meines Wissens haben die beiden nichts verbrochen, nun gut, vielleicht haben sie ein bisschen bei der Steuererklärung getrickst, aber das ist ja wohl nichts Außergewöhnliches.«

»Ich wiederhole meine Frage: Wie sah eure Zusammenarbeit aus?«

»Ich habe ihnen die Kontakte zu gewissen Personen vermittelt, die ich durch Enqvist kennen lernte. In der Praxis hieß das, dass 363

ich als eine Art Fremdenführer für bestimmte, meist ausländische Gäste tätig war. Ich habe sie auf Kosten des Kreises großzügig eingeladen, und wenn die Situation es zuließ, habe ich ihnen im Lauf des Abends die beiden Frauen vorgestellt.«

»Kuppelei?«

»So würde ich das nicht nennen. Es handelte sich immerhin um zwei erwachsene Frauen, die wussten, was sie taten. Die Zusammenarbeit war unkompliziert. Finanziellen Gewinn habe ich daraus nicht geschlagen.«

»Was waren das für … ›Gäste‹, wenn ich dich zitieren darf?«

»Das weiß ich nicht, und ich habe auch nie danach gefragt. Ich sollte für ihre Entspannung sorgen. Ob es sich um Mitglieder des Kreises oder um Geschäftspartner handelte, habe ich nie herausbekommen.«

»Hast du dafür gesorgt, dass Marianne Wester und PM sich kennen lernten?«

Axel sah Roffe erstaunt an. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte er kopfschüttelnd. »Was sollte denn der Kreis für ein Interesse haben, die beiden zusammenzuführen?«

»Woher soll ich das wissen«, entgegnete Roffe. »Tatsache ist, dass die beiden sich durch deine oder durch Enqvists Vermittlung kennen gelernt haben, denn Enqvist war an besagtem Abend doch wohl auch dabei.«

»Du sprichst von dem Abend nach der Vernissage? Das war reiner Zufall. Ich hatte keine Ahnung, dass Marianne und Gisela in der Opernbar auftauchen würden. Und dass Marianne sich offenkundig zu PM hingezogen fühlte, war ihre Privatsache.«

»Wenden wir uns den Kreditgeschäften des Kreises zu. Sie gingen offenbar glänzend und brachten dir eine Menge Geld ein.

Was ist eigentlich schief gelaufen, dass du dich sozusagen französisch verabschieden musstest?«

364

Axel stieß einen gereizten Laut aus, der sich offenbar auf Roffes nonchalante Ausdrucksweise bezog.

»Du weißt ja nicht, wovon du redest«, sagte er bitter. »Glaubst du etwa, mir hätte dieses Leben Spaß gemacht? Die letzten Jahre waren in vieler Hinsicht die Hölle für mich. Ich lebte in ständiger Angst und fühlte mich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Ich wollte nur eines: endlich wieder ein freier Mann sein. Doch ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte.«

»Aber gut verdient hast du schon?«

»Herrgott, ja! Irgendeine Entschädigung für diesen Albtraum musste es ja wohl geben.«

»Und schließlich ist es dir gelungen, sie abzuschütteln. Wie hast du das geschafft?«

»Ich hatte lange darüber nachgedacht und verschiedene Pläne im Kopf, traute mich aber nicht, sie in die Tat umzusetzen. Doch schließlich geschah etwas, das mich so in Panik versetzte, dass ich mich zum Handeln gezwungen fühlte. Es ging um den Handel mit den falschen Lithografien. Ich hatte ihn immer mit der größten Diskretion und unabhängig von meiner sonstigen Galeristentätigkeit betrieben. Ständig fürchtete ich, dass irgendwann alles auffliegen würde. Und eines Tages wäre es fast so weit gewesen. Ich hatte einer älteren Dame mehrere Lithos verkauft, die angeblich von Miro stammten, und bekam zwei Tage später Besuch von ihrem aufgebrachten Sohn, der mir sagte, er würde sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Das Schlimmste war, dass ich ihn kannte. Wir hatten zusammen Kunstgeschichte studiert. Er ist ein ausgesprochener Miró-

Experte und auch mit dem Umlauf falscher Grafiken bestens vertraut. Zuerst wollte er mich anzeigen, kam dann jedoch auf eine andere Idee. Er wollte die Lithos behalten, aber das Geld zurückhaben. Darüber hinaus forderte er Schweigegeld. Da es sich um eine ziemlich große Summe handelte und die ganze Situation nicht ungefährlich war, wollte ich mich mit Enqvist 365

beratschlagen, ehe ich zahlte. Ich bat den Mann, am nächsten Tag wiederzukommen, und nahm in der Zwischenzeit Kontakt zu Enqvist auf. Er hörte sich die ganze Geschichte an und wollte den Namen des Mannes wissen. Zu mir sagte er, ich solle Ruhe bewahren und die Forderungen des Mannes erfüllen. Der Kreis würde die Kosten übernehmen. Doch als er am nächsten Tag nicht erschien und weitere Tage verstrichen, ohne dass ich ihn zu Gesicht bekam, rief ich Enqvist erneut an, weil ich fürchtete, der Erpresser könnte es sich anders überlegt haben und zur Polizei gegangen sein. Enqvist sagte mir, ich brauche mich nicht zu beunruhigen, die Sache sei bereits erledigt. Ich ahnte Böses, hütete mich aber davor, neugierige Fragen zu stellen. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung, in einem Müllcontainer in der Grevgata sei eine männliche Leiche gefunden worden. Das war, als hätte mir jemand eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Ich wusste, dass der Mann in der Grevgata wohnte.

Ich verfolgte alle Berichte zu diesem Fall in den Zeitungen und im Fernsehen. Für mich gab es keinen Zweifel, wer da ermordet worden war. Das war im Oktober letzten Jahres, und ich hatte endgültig die Schnauze voll. Ich hielt es einfach nicht mehr länger aus. Doch um verschwinden zu können, brauchte ich ein gewisses Startkapital, und sah bei meiner damaligen Situation nur eine Möglichkeit, rasch an Bargeld zu kommen. Eine Möglichkeit, die ich nutzte.«

»Ich nehme an, du sprichst von PMs Bildern«, sagte Roffe grimmig.

»Ich muss daran erinnern, dass ich in einer absoluten Zwangslage war, und natürlich wollte ich PM irgendwann für seinen Verlust entschädigen, aber in diesem Moment brauchte ich einfach alles, was ich zusammenkratzen konnte.«

»Und was konntest du noch zusammenkratzen?«

»Über meine Geschäfte musste ich Enqvist Rechenschaft ablegen, spätestens jeden dritten Monat. Seit Anfang September hatte ich bereits zwei Millionen eingenommen, und in der Kasse 366