Helena Brink

Der leiseste

Verdacht

scanned 2006/V1

Ein Toter ohne Gesicht, eine junge Frau mit durchschnittener Kehle, ein spurlos verschwundener Galerist – das südschwedische Christiansholm ist in Aufruhr. Als Kriminalkommissar Rolf Stenberg die Ermittlungen aufnimmt, ahnt er nicht, dass sein bester Freund, der Maler Patrik Andersson, bald zu den Hauptverdächtigen zählt. Nur Patriks Frau glaubt an seine Unschuld.

Eine Überzeugung, die ihr fast zum Verhängnis wird …

ISBN: 3-453-26503-3

Original: I stilla lantlig frid

Aus dem Schwedischen von Knut Krüger

Verlag: Diana Verlag

Erscheinungsjahr: 2004

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Der Maler Patrik und seine Frau Katharina leben zurückgezogen in ihrem alten Landhaus in Christiansholm. Die Idylle ist jäh vorbei, als auf der benachbarten Farm eine nicht identifizierbare Leiche entdeckt wird. Handelt es sich um den Galeristen Axel Hemberg, der mit Patriks Geld spurlos verschwand? Dann wird eine Stockholmer Freundin des verschwundenen Kunsthändlers brutal ermordet in ihrer Wohnung gefunden. Patrik verstrickt sich in Widersprüche und muss zugeben, mit der Edelprostituierten eine Affäre gehabt zu haben. Damit rückt er ins Zentrum der Ermittlungen und sein Freund, Kommissar Rolf Stenberg, gerät in große Bedrängnis. Katharina ist zutiefst verletzt von Patriks Verrat. Dennoch glaubt sie an die Unschuld ihres Mannes und beginnt auf eigene Faust, Nachforschungen anzustellen. Zu spät erkennt sie, dass sie es mit einer Organisation aufgenommen hat, deren Arm bis weit über die Grenzen Schwedens reicht.

Autor

Helena Brink ist ein Pseudonym, hinter dem sich ein schwedisches Schriftstellerehepaar verbirgt. Ihr Debüt »Der leiseste Verdacht« sorgte in Schweden für großes Aufsehen, ebenso wie ihr zweiter Roman, der dort gerade erschienen ist.

1

Mittwoch, 19. April

Jemand hämmerte unnachgiebig gegen die Tür. PM schreckte auf, blinzelte und warf einen benommenen Blick auf den Wecker. Das Zimmer war in gleißendes Sonnenlicht getaucht.

Er hatte vergessen, die Vorhänge vorzuziehen. Erst halb zwölf.

Wer in aller Welt veranstaltete an seiner Tür ein solches Spektakel, noch dazu um diese Uhrzeit?

Sicher niemand, den er kannte. Zumindest niemand, den er gut kannte. Freunde und Bekannte waren mit seinem Tagesrhythmus vertraut und wussten um seine Kompromisslosigkeit, wenn es galt, diesen zu schützen. Er warf die Decke zur Seite, war mit einem Sprung auf den Beinen, riss den Vorhang mit einer wütenden Bewegung vor das Fenster und stürzte zurück ins Bett. Schon viel besser so. Das harte Licht hatte sich in behagliches Halbdunkel verwandelt.

Erneutes Hämmern. Der Idiot, wer auch immer es sein mochte, war wirklich beharrlich. Er lag auf dem Rücken und wartete.

Eine Zeit lang blieb es ruhig, dann hörte er ein Auto starten. Na endlich. Er drehte sich auf die Seite, verbarg seinen Kopf unter dem Kissen und versuchte wieder einzuschlafen.

Vergebens.

Obwohl er zu einer bewussten Konfrontation mit dem Dasein noch nicht bereit war, erging sich seine innere Stimme in Spekulationen: Vielleicht hatte sich jemand nur seine Bilder ansehen wollen. Vielleicht wollte dieser Jemand ein Gemälde direkt beim Künstler kaufen, ohne dass ein Galerist seine Finger mit im Spiel hatte und den Preis nach oben trieb. Womöglich waren ihm ein paar tausend durch die Lappen gegangen. Warum riefen seine Kunden nicht vorher an?

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Oder die Zeugen Jehovas? Die hatten ihn früher schon zu den unchristlichsten Zeiten belästigt. Aber die hätten nicht solch einen Lärm veranstaltet, sondern zaghaft angeklopft. Ein umherirrender Tourist, der verzweifelt versuchte, die Hauptstraße wiederzufinden? Möglich. Jemand vom benachbarten Bauernhof, der ein entlaufenes Schwein suchte?

Wohl kaum. Ach, verdammt, er wollte schlafen. Er hob das Kissen vom Kopf und lauschte. Außer Vogelgezwitscher war nichts zu hören.

Er drehte sich um und betrachtete die andere Hälfte des breiten Bettes. Sie war ordentlich gemacht und betrüblich leer. Von Dienstag auf Mittwoch übernachtete Katharina stets bei einer Kollegin, weil sie am Mittwoch Vormittagsdienst in der städtischen Bibliothek hatte und keinen Wert darauf legte, im Morgengrauen dreißig Kilometer mit dem Auto zurückzulegen.

In Ermangelung ihrer physischen Gegenwart schnüffelte er an ihrem Kopfkissen. Ein Hauch ihres Dufts war immer noch wahrnehmbar. Er fühlte sich hungrig und gab den Versuch auf, seinen Schlaf fortzusetzen. Er stand auf, schlüpfte in einen kurzen, verschlissenen Frotteebademantel und trottete barfuß in Richtung Küche. Im Flur warf er einen grimmigen Blick durch die Glasscheibe der Haustür. Von dem Ruhestörer war nichts mehr zu sehen.

Wider besseres Wissen ging er am Atelier vorbei, das heißt, er nahm einen bedeutenden Umweg in Kauf. Er wusste, dass dies vor dem Frühstück ein gewisses Risiko barg, zu Niedergeschlagenheit und schlimmstenfalls zu Anfällen von Verzweiflung führen konnte. Sollte sich die Arbeit des gestrigen Tages als unzulänglich erweisen, hatte er diesem Befund nichts entgegenzusetzen. Im Atelier herrschte um diese Zeit außerdem eine fast schmerzliche Helligkeit. Unbarmherzig und entlarvend.

Er drückte sich an der Wand entlang und vermied es sorgsam, die Leinwand anzusehen, die auf der Staffelei in der Mitte des Raumes stand. Stattdessen wanderte sein Blick über eine Reihe 5

bekannter, wohltuend unveränderlicher Gegenstände. Durch dieses Umgehungsmanöver gelang es ihm schließlich, einen Standort einzunehmen, der es ihm erlaubte, einen Blick auf die schicksalsschwangere Leinwand zu werfen. Er riskierte ein Auge. Es hätte schlimmer kommen können. Aber zufrieden war er nicht. Er trat ein paar Schritte zurück, kniff die Augen zusammen und betrachtete das halb fertige Bild mit den immer noch feuchten Farben. Zu dunkel. Viel zu dunkel und zu wenig Kontraste. Wenn er an der Lichtgebung etwas änderte, konnte aus dem Bild noch was werden. Aber das war ein heikles Unterfangen. Er musste das richtige Gleichgewicht haben und genau wissen, was er tat. Bald würde sich zeigen, ob es der richtige Tag dafür war.

Er erblickte sein Cello, das in souveräner Lässigkeit immer noch da stand, wo er es gestern abgestellt hatte. Auf dem Notenständer lagen Bachs Solosuiten. Die Sarabande aus der zweiten Suite war aufgeschlagen. Er konnte nicht widerstehen, setzte sich hin, nahm das Cello zwischen die Beine. Er spannte den Bogen und kämpfte sich verwegen durch das gesamte Stück. Gar nicht mal so schlecht. Setzte beschwingt mit dem ersten Menuett fort, das ihm allerdings größere Schwierigkeiten bereitete. Um diese Uhrzeit durfte man nicht zu viel erwarten.

Erst einmal musste er frühstücken.

Durch das Küchenfenster beobachtete er, wie sich zwischen den Büschen etwas regte. Eine große, gelb getigerte Katze kam hervor und promenierte gemächlich über den Rasen. Er vergewisserte sich, dass der Futternapf gefüllt war, und goss Milch in die Trinkschale. Dann öffnete er die Küchentür und wartete geduldig. Die Katze hatte keine Eile, sondern schnupperte zunächst an einigen ihrer Lieblingsstellen, bevor sie in die Küche trippelte, das Futter links liegen ließ und hingebungsvoll ihre Milch schlabberte.

Während er Kaffee kochte und Sauermilch, Käse und Brot auf den Tisch stellte, sprach er mit der Katze, die inzwischen auf die 6

Arbeitsplatte gesprungen war, um sich mit ihm auf gleicher Höhe zu befinden und Zärtlichkeiten austauschen zu können.

Eine knappe halbe Stunde blieb er am Küchentisch sitzen und trank seinen Kaffee. Er überflog die Zeitung des gestrigen Tages; die von heute lag immer noch im Briefkasten. Die Katze saß zu seinen Füßen und leckte sich das Fell.

Abgesehen davon, dass er so rüde geweckt worden war, schien es ein schöner Tag zu werden.

Draußen fuhr ein Wagen vor. Die Katze lauschte, und PM

fluchte im Stillen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Falls es derselbe Idiot war, der ihn geweckt hatte, würde er sich durch sein Klopfen verraten. Richtig, es polterte an der Tür.

Mürrisch stand er auf und bemerkte in diesem Moment, wie unzulänglich er gekleidet war. Er zögerte einen Augenblick, zuckte mit den Schultern und ging zur Tür, bemüht, eine grimmige Miene aufzusetzen.

Draußen stand ein Fremder. Ein hoch gewachsener Kerl mit grauer Windjacke und Jeans. Etwas jünger als er selbst. Zwei hellblaue Augen lächelten ihn an.

»Guten Tag, mein Name ist Lasse Wagnhärad. Ich bin von der Polizei und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

PM schaute ihn skeptisch an. Der Text kam ihm bekannt vor.

Bekannt und banal zugleich. Redeten Polizisten wirklich so? Er betrachtete das Auto, einen schwarzen Audi. Darin saß ein weiterer Mann und schaute zu ihnen herüber.

»So was kommt vor«, sagte er zerstreut.

»Wie bitte?«

»Dass man Fragen stellen möchte.« Er schloss demonstrativ die Tür hinter sich und fuhr fort: »Ich würde mir gern erst mal Ihren Dienstausweis ansehen, ich meine, man weiß ja nie …

Dann können Sie mir sagen, was Sie für Fragen haben, und ich kann mir überlegen, ob ich sie beantworte.«

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Das Lächeln des Polizisten wurde breiter. Er hielt PM seinen Ausweis vors Gesicht.

»Bitte schön, hier ist mein Ausweis. Lasse Wagnhärad, Kriminalkommissar, wie Sie sehen.«

PM studierte den Ausweis in aller Seelenruhe und gab sich schließlich lächelnd der beharrlichen Freundlichkeit des Polizisten geschlagen.

»In Ordnung, Sie haben mich überzeugt. Kommen Sie doch herein, es ist ziemlich windig heute.« Er deutete auf den Wagen.

»Und Ihr Kollege auch, wenn er möchte.«

Der Kommissar gab dem anderen ein Zeichen, worauf ein kleiner, gedrungener Mann mit blauem Anorak und blonden Stoppelhaaren aus dem Wagen stieg. Er gab PM die Hand und stellte sich in aller Kürze vor: »Polizeimeister Bergh.«

»Patrik der Maler«, erwiderte PM.

Er hielt den beiden Beamten die Tür auf und bat sie mit einer einladenden Geste ins Wohnzimmer.

»Wir sind vorhin schon mal da gewesen«, sagte der Großgewachsene, »aber da waren Sie nicht zu Hause.«

PM ließ den Blick rasch durchs Zimmer schweifen, um sich zu vergewissern, dass keine allzu privaten Dinge herumlagen.

»Doch, ich war zu Hause«, entgegnete er. »Aber ich öffne niemals die Haustür, wenn ich noch im Bett liege.«

»Das macht nichts. Wir hatten noch andere Besuche zu erledigen. Wir haben mit Kalle Svanberg auf der anderen Seite von Knigarp gesprochen.«

PMs Miene verfinsterte sich wieder. »Was soll das heißen, das macht nichts? Veranstalten Sie immer so einen Heidenlärm an den Haustüren fremder Leute?«

Der andere lachte versöhnlich. »Es gab keine Klingel, und man will doch schließlich sichergehen, dass man gehört wird.«

»Sie wurden gehört«, versicherte PM trocken.

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Der hoch aufgeschossene Kommissar sah sich neugierig um und sagte beeindruckt: »Also ich muss schon sagen, Sie haben wirklich ein sehr schönes Haus. Haben Sie alles selbst restauriert?«

»Ja.«

Er musterte die Wände, die Decke und das Gebälk. »Da müssen Sie aber viel Arbeit gehabt haben. Eine wundervolle Arbeit, versteht sich. Wann ist das Haus gebaut worden? Ich schätze, so um die Mitte des 19. Jahrhunderts.«

PM nickte anerkennend.

Die Augen des Kommissars schimmerten entrückt. »Ach, solche Häuser haben doch viel mehr Charme als diese gleichförmigen Neubauten. Ich habe nördlich der Stadt eine Sommerhütte, viel kleiner als dieses Haus hier, aber meine Frau und ich rackern uns jedes Wochenende ab, um sie auf Vordermann zu bringen. Das grenzt an Besessenheit.«

PM lachte verständnisvoll. »Ich weiß, was Sie meinen. Wir wohnen hier seit achtzehn Jahren und werden auch niemals fertig.«

»Der Boden muss noch von früher sein. Solche breiten Dielen gibt es heute gar nicht mehr.«

»Ja, ich vermute, die sind schon immer hier gewesen.«

Polizeimeister Bergh schien gegen den Charme des Hauses immun zu sein. Er hatte schweigend in einem breiten Sessel Platz genommen, streckte den Rücken und zückte pflichtbewusst seinen Notizblock. Doch der Kommissar schien den eigentlichen Grund seines Kommens vollkommen vergessen zu haben. Nichts entging seinem Kennerblick, ja, er steckte sogar den Kopf in den offenen Kamin, um nach einer Weile zu verkünden, dass dieser nur teilweise als Original angesehen werden könne. Es bestand kein Zweifel, dass er lieber die Ärmel aufgekrempelt und mit einem Stück Sandpapier die alte 9

Holztäfelung in Angriff genommen hätte, als seine polizeilichen Ermittlungen voranzutreiben.

Schließlich räusperte er sich und bemühte sich um eine dienstliche Miene. Er setzte sich in den anderen Sessel, worauf PM, der ahnte, dass der entscheidende Augenblick gekommen war, rasch auf dem Sofa Platz nahm.

Der Kommissar sagte: »Ihr Nachbar vom Hof Knigarp hat heute Morgen gemeldet, er habe in seiner Jauchegrube vor dem Schweinestall eine Leiche gefunden. Sie kam an die Oberfläche, als ein Teil der Jauche abgepumpt wurde, um damit die Felder zu düngen.«

PM blickte von einem ernsten Gesicht zum anderen.

»Was …?«, sagte er.

»Die Leiche hat vermutlich längere Zeit in der Grube gelegen.

Können wir nun mit unseren Fragen beginnen?«

PM breitete die Arme aus. »Schießen Sie los!«

»Können Sie sich – sagen wir, während des letzten Jahres – an irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse erinnern? Ist vielleicht eine Person aus dieser Gegend spurlos verschwunden?«

PM dachte eine Weile nach, bevor er den Kopf schüttelte.

»Hier geschieht nie etwas Ungewöhnliches«, entgegnete er.

»Zumindest nicht, was die Menschen betrifft. Außerordentliche Beobachtungen habe ich nur in der Natur gemacht.«

»Und die wären?«

»Ich spreche von Tieren.«

Der Polizeimeister hielt seinen Stift bereit.

PM begann zögerlich: »Ungefähr vor einem Monat hatten wir zeitweise einen Steinadler auf unserem Grundstück. Der hielt sich in der großen Eiche unten am Bach auf, aber ich nehme an, das gehört nicht hierher.« Er blickte aus dem Fenster und fuhr nachdenklich fort: »Von den Leuten in dieser Gegend kann ich 10

nichts Ungewöhnliches berichten. Manchmal fällt mir das Leben hier schwer, weil alles so vorhersehbar ist. Obwohl man natürlich nicht vorhersehen kann, dass jemand in die Jauchegrube fällt. Das muss jemand gewesen sein, der nicht aus der Gegend kam. Jemand, der nicht wusste, dass die hiesigen Bauern die Angewohnheit haben, tonnenweise Schweinekot in ihren Gruben aufzubewahren. Andererseits sind die Jauchegruben doch eingezäunt.«

»Eben«, entgegnete Wagnhärad. »Wir glauben nicht, dass der Mann versehentlich in die Grube fiel. Es sieht eher so aus, als sei er hineingestoßen worden.«

PM streckte den Rücken. »Ein Mord also?«

»Vermutlich.«

»Das wäre in dieser Gegend ja wirklich ziemlich ungewöhnlich«, räumte PM ein.

Der Kommissar nahm einen weiteren Anlauf. »Sie haben also nichts Ungewöhnliches bemerkt, das in Verbindung mit dem Vorfall stehen könnte, den wir soeben geschildert haben?«

»Nein.«

»Kennen Sie jemanden aus dieser Gegend, der plötzlich verschwunden oder weggezogen ist?«, wiederholte Wagnhärad.

»Natürlich kommt es vor, dass Leute wegziehen. Der vorherige Besitzer von Knigarp ist vor einem halben Jahr weggezogen.«

»Das ist uns bekannt. Noch andere, die weggezogen sind?«

»Der alte Ström oben an der Kurve ist letzten Herbst ins Altersheim gezogen.«

»An welcher Kurve?«

»Wenn Sie die Straße in nordwestliche Richtung nehmen, sehen Sie oben am Waldrand ein Haus stehen, genau dort, wo die Straße einen Knick macht. Wahrscheinlich steht es jetzt leer.

Ström war Witwer und nicht mehr sehr gut beieinander. Ich 11

nehme an, sie konnten ihn schließlich davon überzeugen, dass er in einem Altersheim besser aufgehoben ist als zu Hause. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.«

»Wir werden das nachprüfen. Können Sie uns etwas über Ihren neuen Nachbarn sagen?«

»Da fällt mir nichts ein.«

»Also irgendwas werden Sie uns doch sagen können.«

PM lachte. »In diesem Fall haben Sie Pech, dass Sie ausgerechnet heute kommen. Meine Frau und meine Tochter haben eine viel bessere Wahrnehmung, was Ereignisse in der Nachbarschaft betrifft. In dieser Hinsicht gelte ich in meiner Familie als hoffnungsloser Fall.«

Wagnhärad warf einen Blick auf die Uhr. »Dann sollten wir vielleicht auch mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter sprechen. Wann kommen sie nach Hause?«

»Meine Frau kommt gegen drei Uhr, aber meine Tochter werden Sie nicht antreffen, es sei denn, Sie fahren nach Kalmar.

Sie geht dort aufs Gymnasium und wohnt bei meiner Schwester.«

Wagnhärad stieß einen unwillkürlichen Seufzer aus und wirkte mit einem Mal ein wenig gehetzt. »Wir werden sehen, ob wir bis drei wieder hier sein können.«

Er sah PM forschend an, als überlege er, ob es der Mühe wert war, diesem Sonderling noch mehr Informationen aus der Nase zu ziehen. PM hingegen verspürte eine gewisse Sympathie für diesen Kriminalkommissar mit seiner Passion für alte Häuser und wollte ihm gern behilflich sein. »Über meinen neuen Nachbarn weiß ich wirklich nichts zu sagen, aber über seinen Hof kann ich Ihnen so einiges erzählen«, sagte er.

Wagnhärad nickte zweifelnd. »Aha …«

»Ich habe ihn schließlich seit fast zwanzig Jahren beobachten können, habe seine Veränderung und seinen Verfall erlebt.«

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»Seinen Verfall?«

»Das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Als wir vor achtzehn Jahren hierher kamen, war er in Besitz meines Onkels, der den Hof vierzig Jahre lang vorbildlich bewirtschaftet hat. Er hatte Milchkühe und baute Rüben, Getreide und Kartoffeln an.

Schweine hatte er auch, aber in überschaubarer Anzahl. Nicht dass der Hof früher so gewaltige Erträge abgeworfen hätte, aber heute ist er völlig runtergewirtschaftet und kann niemanden mehr ernähren. Während der letzten elf Jahre haben sich die Besitzer förmlich die Klinke in die Hand gegeben. Jeder hat versucht, alles aus dem Hof herauszuholen, um ihn dann zu einem überhöhten Preis wieder zu verkaufen. Aus irgendeinem Grund haben alle auf Schweinezucht im großen Stil gesetzt. Die wurde ständig ausgebaut, und inzwischen gibt es nichts anderes mehr als Schweine. Fast alle Anbauflächen sind verpachtet.«

»Der Hof scheint sehr alt zu sein.«

»Ist er auch. Die ältesten Gebäude stammen aus dem 17.

Jahrhundert. Haben Sie das Haus gesehen, in dem der Vorarbeiter wohnt?«

Wagnhärad schüttelte den Kopf, machte aber ein interessiertes Gesicht. Bergh hatte aufgehört mitzuschreiben und starrte unbeteiligt aus dem Fenster.

»Schauen Sie sich die Gebäude nur genauer an, wenn Sie nächstes Mal dort sind. Es lohnt sich. Das Wohnhaus ist später erbaut worden, wohl um 1900 herum, aber die Architektur ist bemerkenswert. Nicht gerade das, was man sich in dieser Gegend erwarten würde.«

»Das einzige Gebäude, das ich von innen gesehen habe, ist das, in dem die Verwaltung untergebracht ist«, entgegnete Wagnhärad. »Das war offensichtlich auch einmal als Wohngebäude geplant.«

»Ja, ich glaube, dort hat früher das Gesinde gewohnt. Dann haben Sie sicher auch die monströsen Schweineställe gesehen, 13

die sie in den letzten zehn Jahren dort hingeklotzt haben. Ein schrecklicher Anblick, und sicher noch schrecklicher, in ihnen zu hausen. Ich rede von den Schweinen. Der jetzige Eigentümer, dieser Nyström …«

Bergh schaltete sich ein: »Bengt Nygren«, stellte er richtig.

»Es geht das Gerücht, dass er die Schweinezucht weiter ausbauen will. Ich hoffe, dass das nicht wahr ist. So langsam reicht’s mir nämlich mit dem Schweinegestank und der Überproduktion an Jauche.«

Wagnhärad wechselte das Thema. »Wer ist auf dem Hof angestellt?«

»Nur zwei Leute. Zum einen Nisse Hallman, der seit Ewigkeiten auf dem Hof arbeitet und schon da war, als wir hierher zogen. Zu ihm haben wir einen ganz guten Kontakt. Ein paar Mal im Jahr kommt er zum Kaffeetrinken bei uns vorbei.

Und dann gibt es da diesen jungen Kerl, ein Schweizer, soviel ich weiß.«

»Marco Fermi«, warf Bergh ein.

»Genau. Sie wissen ja schon alles. Scheint ein tüchtiger Kerl zu sein. Ist dort Vorarbeiter. Vielleicht kann er den Hof wieder auf Vordermann bringen. Er und seine Frau sind letzten Winter, so um Neujahr herum, hierher gekommen.«

Wagnhärad sagte: »Wir haben gehört, dass Nygren und das Ehepaar Fermi auf dem Hof leben, während Nils Hallman in Äsperöd wohnt, was drei Kilometer von hier entfernt sein soll.

Ist das richtig?«

»Ja, er fährt jeden Tag mit seinem Moped hierher. Ich glaube, selbst ein Schneesturm würde ihn nicht davon abhalten.«

»Was halten Sie von Nils Hallman?«

»Nisse ist in Ordnung, auch wenn er Menschen allgemein mit Skepsis begegnet. Ich glaube, den Schweinen bringt er mehr Vertrauen entgegen. Wird schon seine Gründe dafür haben.«

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»Halten Sie es für möglich, dass er mit jemandem in Streit geriet, seinen Widersacher erschlug und die Leiche in der Jauchegrube verschwinden ließ?«

PM schaute die beiden Polizisten ungläubig an und schüttelte energisch den Kopf. »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, nein, völlig unmöglich. Er ist kein Hitzkopf und geht Konflikten generell aus dem Weg. Und falls er doch jemanden erschlagen haben sollte, hätte er die Leiche nie und nimmer in die Jauchegrube geworfen.«

»Warum?«

PM lachte. »Das ist schwer zu erklären, aber er gehört zu einer aussterbenden Sorte von Bauern, die einen echten und tiefen Respekt vor der Jauche haben. Sie ist für ihn so etwas wie eine kostbare Gabe Gottes. Eine Leiche in die Jauchegrube zu werfen, wäre einfach pietätlos.«

Obwohl Wagnhärad nicht sonderlich überzeugt wirkte, wechselte er das Thema.

»Was ist mit Sandström, dem Vorbesitzer? Was halten Sie von ihm?«

»Verschonen Sie mich …«

»Was heißt das?«

»Dass ich ihn nicht ausstehen konnte. Und ich war weiß Gott nicht der Einzige. Überheblich, geizig und dumm. Damit ist alles über ihn gesagt.«

Wagnhärad lachte. »Die Urteile über Sandström sind in der Tat einhellig.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Es heißt, er habe wiederholt Polen schwarz bei sich arbeiten lassen. Können Sie das bestätigen?«

»Das ist sicher richtig.«

»Der Ordnung halber brauchen wir noch ein paar persönliche Angaben von Ihnen. Sie heißen Patrik Andersson?«

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»Ja, so steht’s in meiner Geburtsurkunde. Allgemein bin ich als Patrik der Maler bekannt, meine Freunde nennen mich PM.«

Wagnhärad ließ verstohlen den Blick über die Wände schweifen, an denen die Bilder dicht an dicht hingen.

»Und von Beruf sind Sie Künstler?«

»Ja, und das an der Wand sind alles meine Bilder. Gehen Sie ruhig näher heran, die beißen nicht.«

»Und Ihre Frau heißt Katharina Ekman und arbeitet in der Stadtbibliothek?«

»Stimmt. Haben die Svanbergs Ihnen das alles verraten?«

»Äh, bestätigt, könnte man sagen.«

»Ich wette, die konnten Ihnen viel mehr Informationen geben, als ich dazu in der Lage bin.«

Wagnhärad ging auf diese Bemerkung nicht ein, stand auf und sagte: »So, ich denke, das war’s fürs Erste. Wenn uns noch was einfällt, melden wir uns bei Ihnen.«

»Tun Sie das, und grüßen Sie Roffe von mir.«

»Roffe?«

»Hauptkommissar Rolf Stenberg. Wir sind alte Schulfreunde.

Ab und zu spielen wir miteinander … äh … musizieren, wollte ich sagen. Wenn auch nicht besonders oft in den letzten Jahren.

Er ist ja ein viel beschäftigter Mann.«

Über Wagnhärads Gesicht huschte ein wohlwollendes Lächeln.

»Ach so, Sie kommen aus Christiansholm? Also, das kann man wirklich nicht hören.«

»Ich habe auch hart daran gearbeitet, meinen Dialekt loszuwerden, als ich nach der Schule nach Stockholm ging.

Roffe hat zwar auch mehrere Jahre in Stockholm gewohnt, aber er war ein größerer Lokalpatriot als ich und hat sich sein Schonisch bewahrt.«

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»Dabei hätte ich wetten können, dass Sie aus Stockholm sind«, sagte Wagnhärad verblüfft.

Nachdem PM die Tür hinter den beiden Polizisten geschlossen hatte, suchte er seine Pfeife. Auf dem Kaminsims lag sie nicht, also versuchte er sein Glück in der Küche. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, sah er das Auto davonrollen und fühlte sich erleichtert. Nun konnte er sich endlich seiner Arbeit widmen. Doch als der Wagen die Einfahrt an den Fichten erreicht hatte, hielt er auf einmal an und setzte zurück. Ein weißer Fiat kam ihm entgegen. Der Weg war zu schmal, als dass beide Autos hätten aneinander vorbeifahren können. PM schaute auf die Uhr. Es war erst halb drei. Katharina war heute früh dran.

Unmittelbar an der Einfahrt passierte sie den wartenden Audi und hielt hinter dem Eingangstor. Die beiden Kriminalbeamten kamen ihr rasch entgegen, Wagnhärad hatte bereits lächelnd seinen Dienstausweis gezückt.

PM runzelte die Brauen und fluchte leise vor sich hin. Jetzt würden sie wieder hereinkommen und alles noch einmal erzählen. Vermutlich würde es Abend werden, bis er endlich zum Arbeiten kam. Und tatsächlich sah er, wie Katharina die beiden Männer mit einer einladenden Geste ins Haus bat. Doch der höfliche Kommissar blickte auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Eine eindeutige Ablehnung. Offenbar meinte er, dass sich die offenen Fragen am Gartentor klären ließen.

Er trat näher ans Fenster und beobachtete gespannt das Gesicht seiner Frau. Wagnhärad erzählte ihr offenbar gerade vom Fund der Leiche. Auch gut, dann konnte er sich das sparen. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, ihre Lippen erstarrten. Für einen Moment sah sie verwirrt aus, doch schon im nächsten hatte ihr Gesicht seine Lebendigkeit wiedergewonnen. Sie begann zu sprechen.

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Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seine selbstbewusste Ehefrau schien die beiden Polizisten einem Verhör zu unterziehen. Bereitwillig beantworteten sie jede ihrer Fragen, zumindest so lange, bis sie sich daran erinnerten, wer hier eigentlich die Fragen stellen sollte.

Bergh zückte plötzlich seinen Notizblock, während Wagnhärad eine ernste Miene aufsetzte. PM hoffte schadenfroh, dass ihre Bemühungen vergeblich waren. Er war sicher, dass Katharina auch ihr eigenes Verhör dominieren würde.

Er liebte diese hartnäckige Frau, die ständig eine so unverbesserlich Effizienz an den Tag legte. Manchmal war er nahe daran, sie für naiv zu halten, doch bewunderte er ihre souveräne Selbstsicherheit und ihre Fähigkeit, auch in den kompliziertesten Situationen die Ruhe zu bewahren. Sie ging immer vom guten Kern eines jeden Menschen aus, und auf merkwürdige Weise gelang es ihr in der Regel auch, diesen sichtbar zu machen. Sein eigenes Selbstbewusstsein war labilerer Natur und kam mitunter nicht ohne eine gewisse Überheblichkeit aus.

Nun fielen sie einander ins Wort. Offenbar gab es vieles, das Katharina unbedingt loswerden wollte, und der bedächtige Bergh hatte alle Mühe mitzuschreiben.

PM trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Fensterbank. Worüber redeten sie nur die ganze Zeit? Was zum Teufel erzählte sie ihnen alles? Ihrer überschwänglichen Gestik nach zu urteilen, musste es sich um etwas äußerst Interessantes handeln. Er schaute sie fasziniert an. In seinen Augen war sie schon immer eine rätselhafte Mischung aus südländischem Temperament und schwedischem Pragmatismus gewesen.

Eine Kombination, die ihn verwirrte und anzog.

Unter ihren Vorfahren war einst ein italienischer Immigrant gewesen, dessen Gene, wenn auch quasi in abgeschwächter Form, sowohl ihr Aussehen als auch ihren Charakter vorteilhaft 18

beeinflussten. Ihm hatte sie die aristokratische Krümmung ihrer vielleicht eine Spur zu großen Nase zu verdanken, ebenso ihre dunklen, bernsteinfarbenen Augen sowie ihr dichtes, schwarzes Haar, das sie in einem langen, geflochtenen Zopf auf dem Rücken trug.

Der feine olivfarbene Teint ihrer Haut vervollständigte den Eindruck, dass ihre Wurzeln am Mittelmeer lagen. Ihre Schönheit hatte einen zutiefst individuellen Charakter, und er wurde niemals müde, sie zu zeichnen. Er war davon überzeugt, dass sich alle Männer von ihr angezogen fühlten, und hätte ihre schwedische Nüchternheit in der Ehe nicht die Oberhand gewonnen, wäre er vor Eifersucht noch verrückt geworden.

Endlich löste sich die Gruppe an der Hofeinfahrt auf.

Katharina ging dem Haus entgegen, während die Polizisten in ihr Auto stiegen. PM entdeckte seine Pfeife, die er vorhin auf den Herd gelegt haben musste, um den beiden Beamten die Tür zu öffnen. Er ließ sie liegen und eilte in die Diele, um seine Frau zu begrüßen.

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Dagens Nyheter, Donnerstag, 20. April

Rätselhafter Leichenfund in Jauchegrube Auf einem unweit von Christiansholm gelegenen Bauernhof machte ein Landwirt gestern eine grausige Entdeckung, als er beim Abpumpen der Gülle auf eine stark verweste und zersetzte männliche Leiche stieß. Die Polizei hält es für unwahrscheinlich, dass es sich um ein Unglück handelt, und geht bis auf weiteres von einem Verbrechen aus. Wie lange der Körper, der bislang nicht identifiziert werden konnte, in der ätzenden Flüssigkeit gelegen hat, ist schwer zu beurteilen. Die Polizei bittet die Bevölkerung um ihre Mithilfe und ist besonders an Hinweisen über Personen interessiert, die seit vier bis acht Monaten als vermisst gelten.

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3

Donnerstag, 20. April

Katharina legte die Zeitung beiseite und sah ihren Mann nachdenklich an, während sie ihren heißen Kaffee schlürfte. Er war tief in seine Morgenlektüre versunken, eine Gebrauchsanweisung für einen Kaminofen, der mittelfristig dazu beitragen sollte, ihre Heizkosten zu senken. Er kaute abwesend an seinem Butterbrot mit gekochtem Ei und Kaviarcreme und war sich der Aufmerksamkeit seiner Frau nicht bewusst.

»Weißt du, was ich glaube?«, fragte sie.

Er war weiter in seine Broschüre vertieft. »Mmm?«

»Ich glaube, sie haben seinen Geliebten aus der Grube gefischt.«

PM schaute auf. »Wessen Geliebten?«

»Na, den des so genannten Bauern.«

»Wovon redest du?«

Katharina reichte ihm die Zeitung und deutete auf eine Notiz.

»Ich rede von dem schrecklichen Gewaltverbrechen, das unsere beschauliche Provinz erschüttert.«

Er überflog die Zeilen. »Was hast du von einem Geliebten gesagt?«

»Ich habe den Gedanken geäußert, dass es der Geliebte des angeblichen Bauern gewesen sein könnte, den sie aus der Jauchegrube gefischt haben.«

»Geht jetzt deine Fantasie mit dir durch?«

»Was ist dagegen einzuwenden, wir sind doch unter uns.«

»Wieso nimmst du an, dass er schwul ist?«

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»Ach, ich habe keine Ahnung von seinen Neigungen. War doch nur so eine Idee. Gibt’s noch Kaffee?«

Er schenkte ihnen beiden nach. »Warum sagst du

›angeblicher‹ Bauer?«

»Auch nur so eine Idee.«

Er legte die Broschüre weg, lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Nacken.

»Du machst mich neugierig«, sagte er. »Erzähl!«

Katharina rührte in ihrer Tasse und sah aus dem Fenster.

Draußen hatte es begonnen zu schütten. Es sah aus wie ein grauer Vorhang.

»Oh je, ich hoffe, es hört auf, bis ich fahre«, sagte sie. »Wir haben zwar Regen gebraucht, aber jetzt reicht es langsam.« Sie gähnte und zog ihren Bademantel enger um sich. »Ich habe doch schon früher gesagt, dass er als Bauer keine überzeugende Figur abgibt.«

»Hast du irgendwas Bestimmtes gegen ihn?«

»Nein, eigentlich nicht …« Sie dachte einen Augenblick nach.

»Ich würde ihm vielleicht nicht gerade meine Topfpflanzen anvertrauen, aber einen Gebrauchtwagen würde ich ihm glatt abkaufen. Es ist schwer zu erklären, doch immer wenn ich ihn sehe, habe ich das Gefühl, dass er sich verkleidet hat. Dass er nur vorgibt, ein Bauer zu sein. Manche Menschen machen den Eindruck, als spielten sie eine Rolle. Findest du nicht?«

»Doch, ich weiß, was du meinst. Aber ich habe nie gefunden, dass Bauern alle vom gleichen Schlag sind. Lässt man die letzten Jahre Revue passieren, dann haben wir auf dem Hof doch die unterschiedlichsten Typen erlebt. Und da passt Nygren eigentlich ganz gut rein.«

»So meine ich das auch nicht. Rein äußerlich mag er ja als waschechter Schweinezüchter durchgehen. Er hat nie etwas gesagt oder getan, was unser Misstrauen hätte erregen können.

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Aber immer wenn ich ihn in dem schmutzigen Overall und mit seiner Schirmmütze sehe, habe ich so merkwürdige Assoziationen.«

»Wirklich?«

»Ja, ich finde, ein Smoking oder ein Nadelstreifenanzug würde ihm viel besser stehen. Er sieht so verloren aus zwischen den Schweineställen und Traktoren, und der Jauchegeruch passt einfach nicht zu ihm. Findest du nicht, dass er in einem anderen Milieu viel überzeugender wäre, zum Beispiel in einem Nachtclub oder in einem Wirtschaftsunternehmen?«

PM lachte. »Ein verzauberter Schweinezüchter.«

Auch Katharina schmunzelte. »Ja, warum nicht.«

»Ich frage mich, ob du den Kerl mit so viel Skepsis betrachtest, weil er nicht verheiratet ist.«

»Unsinn, die Welt ist voller Junggesellen, die kein bisschen rätselhaft sind. Es ist etwas anderes … Außerdem hat man eine Leiche in seiner Jauchegrube gefunden. Gib zu, dass ihn das ein wenig interessant macht.«

»Einverstanden, aber wenn du findest, dass ihn das verdächtig macht, darf ich dich daran erinnern, dass er selbst es war, der die Leiche gefunden und die Polizei verständigt hat.«

»Ja, und wenn er den Mann eigenhändig in die Grube geworfen hat, konnte er sich ausrechnen, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis die Leiche an die Oberfläche käme. Für eine Identifizierung des Toten ist es jetzt bestimmt zu spät, also wird sich auch nichts mehr beweisen lassen. Eine Jauchegrube ist doch der perfekte Ort, um jemanden verschwinden zu lassen. Kein Leichengeruch der Welt kommt gegen diesen Gestank an.«

PM blickte seine Frau herausfordernd an. »Ihr Scharfsinn ist verblüffend, Miss Marple.«

23

Katharina schlug einen sanfteren Ton an. »Solche Spekulationen am Frühstückstisch regen das Gehirn an.«

»Und die Zähne?«, fragte er.

»Welche Zähne?«

»Man kann eine Leiche anhand der Zähne identifizieren. Das scheint dein diabolischer Schweinezüchter nicht bedacht zu haben.«

Katharina schüttelte sachte den Kopf. »Tut mir Leid, aber eine Identifikation anhand der Zähne ist nur möglich, wenn man den Zahnarzt des Toten findet. Und wie sollte das möglich sein, da man nicht einmal weiß, ob der Mann aus Schweden kam.«

PM schien eine Weile seinen Gedanken nachzuhängen.

Katharina stand auf und deckte den Tisch ab. Er sah ihr dabei zu, und nach einer Weile sagte er: »Weißt du eigentlich, was aus Sandbergs geworden ist?«

»Wer ist das?«

»Die Vorbesitzer.«

»Die hießen Sandström. Nein, ich habe keine Ahnung, wo sie hingezogen sind. Ich hatte ja nur sporadischen Kontakt mit ihnen. Du meinst, bei der Leiche könnte es sich um Sandström handeln?«

»Das ist ebenso gut möglich wie vieles andere. Es ist doch erst ein gutes halbes Jahr her, seit sie weggezogen sind.«

»Märta Sandström hätte doch sicher Alarm geschlagen, wenn ihr Mann verschwunden wäre.«

»Nicht, wenn sie ihn selbst aus dem Weg geräumt hätte.«

»Ich frage mich, wer von uns hier ein Opfer seiner blühenden Fantasie ist.«

»Du hast schließlich das Recht auf verwegene Theorien nicht für dich allein gepachtet.«

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Katharina setzte sich wieder hin, stützte das Kinn auf die Hände und sah ihren Mann zustimmend an.

»Die Idee ist gar nicht mal so schlecht. Wäre ich an Märta Sandströms Stelle, könnte ich der Versuchung kaum widerstehen. Die Frage ist, ob sie ihn erwürgte, bevor sie ihn in die Grube stieß. In diesem Fall wünsche ich ihr, dass sie mit dem Geld, das sie für den Hof bekommen hat, nach Australien durchgebrannt ist, um sich eine Schaffarm und einen attraktiven jungen Liebhaber zuzulegen.«

PM tat schockiert. »So viel wird der Hof kaum abgeworfen haben. Für eine Schaffarm könnte es vielleicht reichen, aber sie müsste schon ein Vermögen hinblättern, damit sich ein junger, attraktiver Mann mit ihr einlässt.«

»Du scheinst sie ja nicht besonders anziehend zu finden.«

»Ich bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie mich angesprochen hat.«

»Also, ich fand den Alten unausstehlich. Der hat uns doch ständig das Gefühl gegeben, wir dürften nur dank seiner großen Gnade hier wohnen. Er glaubte bestimmt, dass das Haus immer noch zum Hof gehört. Außerdem hat er mich ständig mit seinen Blicken ausgezogen.«

»Ist das wahr? Dann hoffe ich wirklich, dass er in der Jauchegrube gelandet ist.«

Katharina schien des Themas plötzlich überdrüssig zu sein, zwinkerte demonstrativ und seufzte unüberhörbar. PM strich mit seinem Zeigefinger über ihren Nasenrücken. Eine Geste, die andeutete, dass er um ihre Gemütslage besorgt war.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte er sanft.

Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Die Sache scheint dich doch sehr mitgenommen zu haben. War ich zu schroff, als ich darüber geredet habe?«

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Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, nein, ich war doch nicht anders. Mir ist die ganze Angelegenheit einfach unheimlich. Dir geht es doch sicher genauso.«

Er dachte nach. »Eigentlich geht mich die Sache ebenso wenig an, als wäre sie in Lappland passiert. Was mich eher beunruhigt, ist die Tatsache, dass wir im Moment zu einer Art Wallfahrtsort werden. Die Leute kommen von überall her, um sich den Tatort mit eigenen Augen anzusehen.«

»Heute Nacht habe ich davon geträumt.«

»Von den Schaulustigen?«

»Nein. Ich träumte … Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es ging um den Fund der Leiche. Irgendwie hatten wir damit zu tun. Das hat einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen.«

Das Geräusch eines Automotors drang durch das eintönige Plätschern des Regens. Als sie eine Autotür schlagen hörten, zuckte sie zusammen und starrte aus dem Fenster. PM stand auf.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte er. »Ist nur Kalle Svanberg, der mir bei der Installation des Kaminofens helfen will. Lass den Abwasch einfach stehen, den mache ich später.«

Als er an ihr vorbeiging, um die Haustür zu öffnen, beugte er sich zu ihr hinunter, hob ihren schweren Zopf an und küsste sie in den Nacken. Sie beantwortete den Kuss mit einer flüchtigen, zärtlichen Geste, schien jedoch ganz in Gedanken versunken.

Es war noch eine knappe Stunde Zeit, bis sie zu ihrem Arbeitsplatz aufbrechen musste, doch obwohl sie noch jede Menge zu tun hatte, blieb sie unschlüssig sitzen und verfolgte die unberechenbare Spur der Tropfen, die über die Scheibe liefen. Aus der Diele drangen Kalles breites Schonisch und Patriks polterndes Lachen. Nach einer Weile kamen sie in die Küche. Patrik kramte in einer der Schubladen, während Katharina und Kalle sich über den Frühling unterhielten, der sich bisher von seiner besten Seite gezeigt hatte, auch wenn 26

zurzeit wenig von ihm zu spüren war. Katharina war froh, dass er kein Wort über die Leiche in der Jauchegrube verlor. Kalle hatte einen ausgeprägten Sinn für die Erfordernisse des Alltags.

Warum sollte er sich also noch mit Geschehnissen von gestern beschäftigen? Seit dem gestrigen Polizeibesuch und dem heutigen Vormittag waren in seiner Welt sicher eine Menge wichtiger Dinge geschehen, und Katharina widerstand der Versuchung, das Thema von sich aus zur Sprache zu bringen.

Die beiden Männer verschwanden fröhlich plaudernd in Richtung Atelier, und Katharina wunderte sich, dass sie weiterhin so bedrückt war. Abgesehen von dem schrecklichen Vorfall auf dem Nachbarhof war doch alles wie immer. Er sollte sie nicht länger belasten.

Eigentlich kannte sie den Grund ihrer Unruhe sehr genau, doch sie scheute sich, Patrik damit zu behelligen. Denn sie hatte nichts Konkretes in der Hand, nur düstere Vorahnungen eines bevorstehenden Unglücks. Sie kam sich albern und überspannt vor. Vermutlich hatte es mit ihrem Traum zu tun, aber nicht nur damit. Die Vorahnungen hatten sie schon gestern Abend beschlichen. Etwas Bedrohliches schien sich anzubahnen.

Aber das konnte sie Patrik nicht sagen. Der hatte von ihren bösen Ahnungen sicher genug. Nicht dass sie ständig welche hätte, aber das Thema war heikel. Schon einmal hatte sie so ein komisches Gefühl gehabt, und Patrik hatte davon nichts wissen wollen, was an und für sich verständlich gewesen war. Später hatte sie sich davor gehütet, »Ich hab’s doch gewusst!«

auszurufen, obwohl ihr die Worte auf der Zunge gelegen hatten.

Aber damals hatte es sich um etwas gehandelt, das sie beide im höchsten Grad persönlich betraf. Jetzt gab es für ihre Unruhe keinen vernünftigen Grund. Was war geschehen? Eine Leiche war auf dem Nachbargrundstück gefunden worden. Und weiter?

Patrik hatte Recht, die Sache ging sie nichts an. Nicht mehr zumindest als jeder andere Mord, und Morde waren auf dieser Welt an der Tagesordnung. Natürlich war dieser ganz in ihrer 27

Nähe geschehen. Sie war an der Jauchegrube doch ständig vorbeigegangen, manchmal ihren Gestank verfluchend, ohne zu ahnen, dass dort seit Monaten eine Leiche vor sich hin moderte.

Warum musste dies nur ausgerechnet zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem sie eine ihrer schwersten Ehekrisen der vergangenen achtzehn Jahre endlich überwunden zu haben glaubten? Sie blickten wieder hoffnungsvoller in die Zukunft.

Patrik, dessen Schwermut nicht völlig verschwunden, aber doch bedeutend abgeschwächt war, hatte seine Arbeitsfreude wiedergefunden. Die lange vermisste Leichtigkeit des Daseins schien zurückzukehren …

Sie streckte sich gähnend und schlug entschlossen mit der Hand auf die Tischplatte. Warum den Teufel an die Wand malen? Es war mitten am Vormittag, gleich würde sie zur Arbeit fahren. Noch gestern war sie voller Optimismus gewesen.

Warum zog sie sich nicht endlich an, statt unentwegt den ewigen Regen anzustarren? Ihr bisheriges Leben mit PM unter akzeptablen Umständen weiterzuführen, war alles, was sie wollte. Und sie konnten jetzt keine störenden Einflüsse von außen gebrauchen.

Sein Lachen drang aus dem Atelier durch mehrere Wände zu ihr. Sie liebte dieses ungehemmte Lachen, hatte es immer getan

Plötzlich musste sie lächeln. Nächsten Sommer konnten sie ein großes Jubiläum feiern. Vor genau zwanzig Jahren hatten sie sich bei einer Mittsommernachtsfeier kennen gelernt. Obwohl es, was die Details betraf, unterschiedliche Meinungen gab. Sie hatten sich nie darauf einigen können, wann sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Beide erklärten mit Nachdruck, der andere würde sich irren. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich inmitten einer riesigen Menschenmenge befunden hatten, war diese Uneinigkeit vielleicht auch nicht so verwunderlich.

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Zumindest wusste sie mit Sicherheit, dass sie sich 1975

während des legendären Mittsommerfests auf der Insel Djurö erstmals begegnet waren. Ein Fest unter freiem Himmel, das am Vormittag begonnen und am nächsten Vormittag geendet hatte.

Es war eine dieser Massenveranstaltungen gewesen, bei denen man immer nur einen Bruchteil der Gäste kennt. Speisen und Getränke waren von behandschuhten Kellnern serviert worden, die im Stil der Jahrhundertwende gekleidet waren. Es war ein verschwenderisches Fest mit einer Reihe prominenter Gäste gewesen. Vor Katharinas unerfahrenen und naiven Augen hatte sich die Elite des schwedischen Kulturlebens um die luxuriösen Tafeln versammelt.

Die Gästeschar teilte sich nach einiger Zeit zwangsläufig in kleinere Gruppen auf, doch Katharina hatte leider zu keiner von ihnen Anschluss gefunden. Nicht einmal ihre spendablen Gastgeber kannte sie persönlich, und die bekannten Gesichter waren rasch gezählt. Sie hatte Jan auf das Fest begleitet, der, gewissen Zweifeln zum Trotz, als ihr Zukünftiger galt. Die Zweifel bestanden auf beiden Seiten. Jedenfalls war er rasch in der Menge verschwunden. Um ihre Einsamkeit zu überspielen, hatte sie eine Zeit lang erfolglos versucht, sich einer angeheiterten Gruppe nach der anderen anzuschließen. Sie wollte bereits nach Hause fahren und verfluchte den treulosen Jan, der sie so schmählich im Stich gelassen hatte. Doch war sie zu dieser Zeit erst dreiundzwanzig Jahre alt und glaubte aufrichtig, sich in der aufregenden großen Welt zu bewegen, dort, wo das Kulturleben mit großem K stattfand. Den Tränen nahe, hielt sie tapfer durch, bis Patrik kam und sie rettete.

Obwohl sie damals noch nicht wusste, dass er Patrik hieß, weil er vergessen hatte, sich vorzustellen. Jedenfalls erschien damals ein bärtiger, ziemlich angetrunkener Mann auf der Bildfläche und legte den Arm um ihre Schultern. Er zog sie auf eine der Bänke, die um die Tische standen, und gab ihr einen fürchterlich starken Schnaps zu trinken. Obwohl seine Artikulation zu 29

wünschen übrig ließ, hielt er ihr einen kleinen amüsanten Vortrag über die Kunst, große Feste zu überstehen. Er hob die Wichtigkeit hervor, sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen, um den Ekel vor solchen Veranstaltungen zu überwinden und zu verhindern, dass man das ganze Affentheater durchschaut. Er quasselte in einer Tour, während er ihr noch mehr zu trinken gab, und sparte nicht mit zweideutigen Komplimenten. Dass er es auf sie abgesehen hatte, war offensichtlich, doch besaß er so viel Charme und Humor, dass sie ihre Einsamkeit vergaß und sich in seiner Gesellschaft wohl fühlte. Sie war von seinen Augen fasziniert und bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass sein Bart ganz weich war, wenn sie mit ihm in Berührung kam. Schließlich fing auch sie zu erzählen an, und je mehr sie trank, desto nüchterner kam er ihr vor. Ihre Erinnerungen an den weiteren Verlauf des Festes waren allerdings ziemlich vage. Sie meinte sich entsinnen zu können, dass sie auf der taufeuchten Wiese zu tanzen versucht und viel gelacht hatten. Schwer zu sagen, wie alles geendet hätte, wäre nicht Jan plötzlich in ihr schwankendes Blickfeld getreten und hätte sie aufgefordert, sich ihm anzuschließen.

Ein gutes Jahr war darauf vergangen. Die Zweifel an ihrer Beziehung hatten sich in Gewissheit verwandelt, was dazu führte, dass ihre Wege sich trennten. Katharina wohnte zu dieser Zeit mit ihrer Freundin Sara zusammen. Gemeinsam studierten sie Literaturwissenschaft an der Universität in Stockholm, träumten von der großen Liebe und einer beruflichen Zukunft im literarischen Milieu. Und während sie auf die Erfüllung ihrer Wünsche warteten, schneiderten sie sich haufenweise neue Kleider und verpassten den Wänden ihrer Wohnung ständig neue Farben. Es war eine herrliche Zeit.

Sara hatte eine drei Jahre ältere Schwester namens Siri, die oft bei ihnen vorbeischaute, vor allem, um ihr kompliziertes Liebesleben zu erörtern. Sie hatte eine aufreibende Beziehung mit einem Künstler, den sie beharrlich in den düstersten Farben 30

schilderte, als hoffnungslos egozentrisches und untreues Exemplar beschrieb. Dennoch konnte sie nicht von ihm lassen.

Mitte August, kurz vor Semesterbeginn, hatten Sara und Katharina kurz nacheinander Geburtstag und entschlossen sich, eine gemeinsame Party zu organisieren. Unter den ungefähr fünfzehn Gästen befanden sich auch Siri und ihr berüchtigter Künstler. Es handelte sich um Patrik. Katharina freute sich aufrichtig, ihre Sommerbekanntschaft wiederzusehen, sah sich jedoch mit einem fragenden Blick und einem höflich reservierten Lächeln konfrontiert. Es war ein peinlicher Moment und Katharina von so viel Oberflächlichkeit tief gekränkt. Aber es kam alles noch schlimmer. Während des relativ trockenen Abends – die literaturbeflissenen Freundinnen konnten ihre Gäste nur mit überschaubaren Mengen Rotwein bewirten –

verliebte sie sich unsterblich in den unzuverlässigen Kerl. Sie verfluchte sich im Stillen, versuchte sich sogar einzureden, dass ihre Gefühle sie zum Narren hielten, doch wusste sie nur zu gut, was sie so anzog. Sie spürte, dass sich hinter den schweren Lidern ein erfahrener und abenteuerlustiger Mensch mit einem unstillbaren Lebenshunger verbarg. An seiner Egozentrik bestand indes kein Zweifel. Er besaß eine natürliche Neigung, bei größeren Gesellschaften im Mittelpunkt zu stehen, ohne deswegen weniger liebenswert zu erscheinen. An Kreativität und Vitalität konnte es niemand mit ihm aufnehmen.

Für unzuverlässig oder treulos hielt sie ihn nicht, die scheinbare Rücksichtslosigkeit schien seiner Naivität zu entspringen. Er wollte niemandem etwas Böses, überfuhr die Menschen nur manchmal mit seiner ungestümen Intensität. Im Grunde war er auch keine rätselhafte Persönlichkeit; sein Wesen lag offen zutage. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägt maskulin und ein wenig hochmütig, was jedoch von seinem sinnlichen Mund und den sonderbar hellen Augen gemildert wurde. Wenn es etwas Rätselhaftes an ihm gab, dann waren es seine fast türkisfarbenen Augen, die von erstaunlicher Tiefe waren und 31

jederzeit ihren Ausdruck verändern konnten. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihnen. Sein Kopf war schön geformt, sein Haarwuchs üppig, und wie sich sein dichter Vollbart anfühlte, daran konnte sie sich noch ganz genau erinnern. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn mit den Augen verschlang, und hatte Siri gegenüber ein schlechtes Gewissen, als sie sich den Geschmack seiner vollen Lippen vorstellte. In gewisser Hinsicht war es ein quälender Abend gewesen.

Ein paar Tage später kam er ohne Siri wieder. Er bemühte sich gar nicht erst, irgendeinen Vorwand zu erfinden, sondern gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er an ihr interessiert war.

Zunächst gingen sie sittsam zusammen ins Kino und hielten Händchen. Danach, bei ihm zu Hause, wartete sie vergeblich darauf, dass er sie mit seinem üblichen Redeschwall überschüttete. Doch er schwieg so lange, bis sie ganz nervös wurde und glaubte, sie würde ihn langweilen. Als sie ihn schließlich fragte, was los sei, erklärte er unumwunden, dass seine Verliebtheit ihn habe verstummen lassen und er nicht wisse, was er sagen solle. Vor Freude und Erleichterung fiel sie ihm sogleich um den Hals, und es bestehen geteilte Meinungen, wer anschließend wen verführte. Jedenfalls verbrachten sie die nächsten beiden Tage in seinem Bett und nahmen dort sogar ihre Mahlzeiten zu sich.

Dies war der strahlende Beginn einer Beziehung gewesen, die seit neunzehn Jahren Bestand hatte, wenngleich sie nicht frei von Tiefschlägen und Enttäuschungen war. Denn in Patriks Vergangenheit hatte es eine Reihe von Frauen gegeben, die gelegentlich, vor allem in den ersten Jahren, wieder auf der Bildfläche erschienen, und auch sie musste die Erfahrung machen, dass er unzuverlässig und untreu sein konnte. Nein, er zeigte sich nicht gerade widerstandsfähig, wenn es um Frauen ging. Sie hatte getobt und ihn verflucht, bis sie glaubte, den Kelch der Eifersucht bis zur Neige geleert zu haben. Inzwischen behauptete Patrik immerhin, dass sein gewaltiger Lebenshunger 32

vorwiegend von geistigen Dingen befriedigt wurde. In seine dunkelblonde Mähne und seinen Bart hatten sich graue Strähnen gemischt. Er sprach weniger, und sein einst so provozierender Blick hatte sich mehr nach innen gewandt. Wenn sie auch nicht so recht an seine Enthaltsamkeit glauben mochte, wusste sie doch, dass die Versuchungen seltener waren als früher, und sie war immer noch vernarrt in ihn.

Katharina warf einen Blick auf die Uhr, die über dem Kühlschrank hing, und sprang auf. Sie musste sich beeilen.

Nach einer Katzenwäsche und hastigem Ankleiden eilte sie ins Atelier, wo die Installation des Kaminofens schon weit fortgeschritten war.

»Ich muss los«, sagte sie.

Patrik stand vom Boden auf und zeigte ihr seine Handflächen, die zu schmutzig für Zärtlichkeiten waren. Stattdessen schlang er die Arme um sie und küsste sie auf den Hals.

»Wir sind bald fertig. Willst du, dass ich was Bestimmtes tue, bis du wieder zu Hause bist?«

Sie machte sich lachend frei und fühlte sich plötzlich wie befreit.

»Ja, ich will, dass du endlich das verdammte Tor reparierst.

Denk dir eine gute Ausrede aus, wenn das nachher immer noch nicht erledigt ist.«

Kalle Svanberg schüttelte sein schlohweißes Haupt.

»Ich denke, dir bleibt keine andere Wahl«, sagte er.

»Du kennst Katharina nicht«, entgegnete Patrik. »Sie liebt meine fantasievollen Ausreden und wäre nur enttäuscht, wenn ich einfach das Tor reparierte.«

Katharina ließ sie stehen und ging zum Auto.

33

4

Dienstag, 25. April

Als das Telefon klingelte, schaltete Katharina den Staubsauger aus, den sie in einem plötzlichen Anfall von Tatendrang hervorgeholt hatte.

»Hallo, hier ist Roffe.«

»Das ist aber eine Überraschung. Wir haben ja lange nichts von dir gehört. Wo hast du gesteckt?«

»Na ja, so lange war’s auch wieder nicht. Ihr wart doch erst neulich zum Abendessen bei mir, wann war das noch gleich

…?«

»Das war Mitte Februar, und seitdem haben wir mehrmals vergeblich versucht, dich hierher zu kriegen, wie du eigentlich wissen solltest. Also entweder hast du eine Frau kennen gelernt, die deinen Erwartungen entspricht, oder du bist völlig abgestumpft und hockst nur noch vor der Glotze.«

Roffe seufzte unüberhörbar. »Okay, ich habe wirklich eine Frau kennen gelernt, und Gott sei Dank entspricht sie nicht meinen Erwartungen. Sie ist viel aufregender. Aber mehr sage ich dazu nicht, schließlich haben wir uns erst zweimal gesehen.

Für irgendwelche voreiligen Schlüsse ist es viel zu früh.«

Katharina unterdrückte mit Mühe ihre Neugier.

»Welche voreiligen Schlüsse? Du hörst dich wirklich wie ein Polizist an. Aber vielleicht kannst du uns ja sagen, ob wir uns Hoffnungen machen dürfen, sie irgendwann mal kennen zu lernen.«

»Nein, kann ich nicht.«

»Wann sehen wir dich?«

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»Wenn ich hier aus dem Gröbsten raus bin, komme ich euch besuchen. Im Moment ertrinke ich in Arbeit.«

»Das war noch nie anders bei dir. Leitest du eigentlich die Ermittlungen im Fall der Leiche, die in der Jauchegrube gefunden wurde?«

»Ja, natürlich, wer sonst? Alles wird auf meinen Schultern abgeladen … Du, ich hab’s eilig. Ich wollte nur schnell ein paar Sachen mit PM besprechen. Ist er zu Hause?«

»Wäre er zu Hause, würde er wahrscheinlich schlafen, aber er ist gestern Abend nach Stockholm gefahren.«

»Er ist in Stockholm? Was tut er da?«

»Ich weiß nicht genau. Hoffentlich verdient er ein bisschen Geld.«

»Geht es um eine neue Ausstellung?«

»Nein, so rosig sieht’s leider nicht aus. Er hätte auch gar nicht genügend Bilder dafür. Ich glaube, es geht eher um alte Geschäfte. Du weißt schon, diese Katastrophe mit Axel Hemberg.«

»Herrgott, hat er die Sache immer noch nicht aufgegeben?

Axel ist doch nicht plötzlich wieder aufgetaucht?«

»Nein, aber Patrik hat Kontakt zu einem Typen aufgenommen, der ihm vielleicht helfen kann, an einen Teil des Geldes ranzukommen. Frag mich nicht, wie. Patrik hat kein Wort verraten, ehe er losfuhr. Vermutlich will er nicht, dass ich mir allzu große Hoffnungen mache. Jedenfalls kommt er morgen nach Hause. Er will heute Abend den Nachtzug nehmen.«

»Dann wird er also morgen früh da sein? Du arbeitest doch sicher, oder?«

»Ja, er bleibt einfach in der Stadt, bis ich fertig bin. Dann fahren wir gemeinsam nach Hause.«

»Das passt doch ausgezeichnet. Sag ihm bitte, dass er bei mir auf dem Präsidium vorbeischauen soll. Ich muss etwas 35

Wichtiges mit ihm besprechen. So um elf herum wäre am besten.«

Katharina hätte ihn gern gefragt, um was es ging, aber sein geschäftiger Ton hielt sie davon ab.

»Ich werde es ihm sagen. Und du kommst uns bald besuchen, versprochen?«

»Versprochen.«

Mit einem mulmigen Gefühl nahm sie den Staubsauger wieder in Betrieb.

36

5

Mittwoch, 26. April

Katharina stapelte gerade liegen gelassene Bücher auf ihrem Rollwagen, als Ulla vorbeikam.

»Dein Mann sitzt im Zeitschriftenraum und schläft«, sagte sie.

Katharina lachte. »Ich weiß. Er ist mit dem Nachtzug aus Stockholm gekommen und fährt nachher mit mir nach Hause.

Ich werde ihn gleich wecken.«

»Ach, lass doch. Er sieht so friedlich aus und verbreitet eine so ruhige Atmosphäre. Er ist sicher todmüde, wenn er die ganze Nacht im Zug gesessen hat.«

»Ich muss aber. Er hat um elf eine Verabredung. Ich habe versprochen, ihn zu wecken.«

Die Neugier leuchtete aus Ullas Augen, und Katharina ahnte, dass ihre Kollegin fieberhaft nach einem Vorwand suchte, um sie unauffällig auszuhorchen. Doch Ulla fiel nichts anderes ein als:

»Aha, er war in Stockholm?«

»Ja«, entgegnete Katharina kurz angebunden und konzentrierte sich auf die Bücher.

Ulla gab auf und ging weiter, während Katharina die Bücher in die Regale einsortierte. Sie war bedrückt. Vermutlich hatte Patrik in Stockholm kein Glück gehabt. Unmittelbar nachdem die Bibliothek geöffnet hatte, war er mit diesem gehetzten Blick, den sie nicht ausstehen konnte, zur Tür hereingestürmt. Als sie ihn fragte, wie es gelaufen sei, hatte er nur mit den Schultern gezuckt, und als sie von Roffe erzählte, hatte er verärgert das Gesicht verzogen. Sie fragte sich, was Roffe von ihm wollte. Er hatte sich am Telefon ziemlich reserviert angehört.

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Die Mutlosigkeit, die Patrik am Morgen ausgestrahlt hatte, kannte sie sehr genau. Würde das ganze Elend wieder von vorn beginnen? Dabei hatte sie so sehr gehofft, dass diese leidige Geschichte für immer der Vergangenheit angehörte.

Das Geld an sich war nicht das Hauptproblem. Patrik war in dieser Hinsicht relativ gleichgültig. Bis zu einem gewissen Grad akzeptierte er dessen Notwendigkeit, machte aber kein Aufhebens darum. Es ging ihm auch nicht darum, seine Fähigkeiten dadurch unter Beweis zu stellen, dass er besser verdiente als sie – im Gegenteil. Wurde er von jemandem gefragt, wie man vom Malen existieren könne, pflegte er mit provozierender Beiläufigkeit zu antworten, man müsse sich nur die richtige Frau aussuchen, die einen über Wasser halte.

Was ihm vor allem zu schaffen machte, war die bittere Tatsache, dass ein unverfrorener Betrüger die Früchte zweijähriger harter Arbeit dreist an sich gerissen hatte. Patrik hätte den Verlust wahrscheinlich besser verkraftet, hätte er sich einreden können, das unschuldige Opfer widriger Umstände geworden zu sein. Aber so einfach war es nicht. Er hatte den Verlust seiner eigenen Fahrlässigkeit zuzuschreiben. Er hätte sich niemals so weit mit Axel Hemberg einlassen dürfen.

Patrik besaß seit Jahren gute und zuverlässige Kontakte unter den Galeristen. Zwar hielten sich seine Verkäufe in Grenzen –

die Zeiten waren nun einmal so –, doch hatten sie ausgereicht, um zu ihrem gemeinsamen Lebensunterhalt beizutragen und ihn weiter inspiriert arbeiten zu lassen. Unsterblichkeit ist mir Lohn genug, pflegte er zu sagen. Im Übrigen kamen sie ganz gut mit ihrem Gehalt zurecht.

Sie hatte das bedrückende Gefühl, dass Axel ihn mit dem Gift der Unzufriedenheit infiziert hatte. Aber das wagte sie nicht auszusprechen. Patrik hätte das entrüstet zurückgewiesen.

Jedenfalls verfluchte sie den Tag, an dem Axel Hemberg in ihr Leben getreten war. Obwohl er eigentlich ein alter Bekannter von ihnen beiden war. Patrik war mit ihm zusammen zur Schule 38

gegangen, und sie selbst hatte ihn während ihrer Studienzeit in Stockholm kennen gelernt. Sie hatte ihn bereits damals für einen windigen Snob gehalten.

Doch erst vor vier Jahren war er wirklich in ihr Leben getreten. Hatte völlig unvermutet auf der Matte gestanden, um sich »endlich einmal die Bilder des guten, alten PM anzusehen«, wie er sich ausdrückte.

Hemberg hatte den weltgewandten Kunsthändler gespielt und einen teuren Kognak sowie eine blutjunge Malerin mitgebracht, die den gesamten Abend hindurch vielleicht fünfundzwanzig Wörter von sich gab. Obwohl Katharina über den Besuch nur mäßig erfreut gewesen war, hatten sie das ungleiche Paar sogar zum Abendessen eingeladen, denn auf dem Land werden die Gesetze der Gastfreundschaft noch ernst genommen. Sie war zu höflich gewesen, ihn direkt darauf anzusprechen, hatte sich jedoch im Stillen gefragt, was wohl aus Axels Ehefrau geworden sein mochte, die sie als recht sympathisch in Erinnerung hatte. Es wurde ein ziemlich feuchter Abend, an dem Axel sie schon zu einem frühen Stadium über seinen wundersamen Lebenswandel ins Vertrauen zog. Über seine Frau verlor er kein Wort.

Vor Patriks Bildern stehend, hielt er eine mit Fachausdrücken gespickte Lobrede, während seine junge Begleiterin, die sich geheimnisvoll und entrückt gab, abwechselnd an Axels Lippen und Patriks Augen hing. Axels Begeisterung schien echt zu sein, wenngleich Katharina seinen Enthusiasmus auch seiner feinen Nase zuschrieb, die ein Geschäft witterte.

In Anbetracht von Axels akademischer Ausbildung, seiner Galeristenkarriere in Stockholm sowie den von ihm angedeuteten internationalen Kontakten konnte es nicht ausbleiben, dass er Patrik im Sturm eroberte. Der war bisher immer nur kleinmütigen Galeristen begegnet, die unablässig über die schlechten Zeiten jammerten und ständig vom Konkurs bedroht waren. Axel brachte frischen Wind in die Szene.

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Der Abend hatte damit geendet, dass Patrik und Axel in ziemlich angeheitertem und rührseligem Zustand eine Kooperation vereinbarten, während die junge Malerin Patrik immer unverhohlener signalisierte, dass sie zu allem bereit war.

Der Abend verlief nicht gerade nach Katharinas Geschmack, die am Ende auf alle Gastfreundschaft pfiff und sich Patrik energisch widersetzte, als er dem Paar großzügig anbot, bei ihnen zu übernachten. Sie wusste genau, dass sie eine peinliche Szene machte, als sie ihren Gästen erklärte, sie müsse auch an die Tugend ihres Mannes denken, die von Natur aus eine gebrechliche sei. Falls die Gäste nicht mehr in der Lage seien, ihr Auto zu benutzen, sollten sie eben ein Taxi nehmen. Ihr Wagen dürfe gern bei ihnen auf dem Hof übernachten. Diese Unverblümtheit hatte immerhin zur Folge, dass sich der Umgang mit Axel Hemberg in der Folgezeit auf einen rein geschäftlichen Kontakt beschränkte.

Patrik schickte ihm zunächst versuchsweise ein paar Bilder, und schon bald verlangte Axel nach mehr. Offenbar war die Prahlerei mit seinen wertvollen Kontakten doch mehr als leeres Gerede gewesen, und Axel erwies sich als wahres Genie, was den Verkauf der Bilder betraf. Patrik überließ ihm seinen gesamten Bestand und lernte das angenehme Gefühl kennen, ein gefragter Mann zu sein. Die steigenden Einkünfte waren auch nicht gerade unangenehm. Doch Axel zufolge handelte es sich nur um Peanuts, um Appetithappen, die er auf den Markt warf, während er eine große Einzelausstellung seiner Werke vorbereitete. Patrik arbeitete Tag und Nacht an diesem Projekt, und Katharina musste zugeben, dass er selten von so viel Lebenslust erfüllt gewesen war wie in dieser Zeit. Er hatte Energie für drei und sprühte vor Ideen. Ab und zu rief Axel aus Stockholm an und entwarf großartige Visionen. Nach der Ausstellung in Stockholm sollten sie ihr Augenmerk auf New York richten, wo er ausgezeichnete Kontakte habe.

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Katharina machte aus ihrer Antipathie gegenüber Axel keinen Hehl und bezweifelte seine Redlichkeit als Geschäftsmann.

Doch Patrik wiegelte lachend ab: »Natürlich ist er ein Filou, ist es immer gewesen, aber er ist auch ein exzellenter Verkäufer, und solange er mich nicht übers Ohr haut, soll er ruhig weiter dafür sorgen, meine Bilder unter die Leute zu bringen. Sie sind schließlich jede einzelne Krone wert, die er den Leuten aus der Tasche zieht. Außerdem ist es ein herrliches Gefühl, als Maler so geschätzt zu werden.«

Ja, das Geschäft ging glänzend, und sie freute sich für Patrik, doch insgeheim blieb eine gewisse Skepsis, die sie für sich behielt.

Dann war endlich die Zeit für die große Einzelausstellung gekommen. Sie fand im Herbst statt und wurde, wie Axel prophezeit hatte, ein großer Erfolg. Doch der Triumph währte nicht lange. Leider fiel die Ausstellung zeitlich mit Axels wirtschaftlichem Kollaps zusammen, den natürlich niemand vorausgesehen hatte. Und wie Axel nun einmal war, wartete er nicht auf seine Gläubiger, sondern machte sich mit sämtlichem Geld, das ihm verblieben war, aus dem Staub, wohl wissend, dass ein Großteil dieses Geldes Patrik gehörte.

Die Katastrophe war nicht mehr zu leugnen, und Patrik fiel aus allen Wolken. Katharina erging es nicht anders, denn obwohl sie gewisse Zweifel an Axels Rechtschaffenheit gehegt hatte, hätte sie ihm eine solche Kaltblütigkeit niemals zugetraut. Doch im Gegensatz zu ihr, die geneigt war, das Ganze als bittere Erfahrung abzuhaken, dürstete Patrik nach Rache. Wenn er auch nicht an Axels Blut interessiert war, so wollte er diesem wenigstens den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Er weigerte sich, die Tatsache zu akzeptieren, dass Axel ihn hereingelegt hatte. Natürlich hatte er Anzeige erstattet, und die polizeilichen Ermittlungen liefen, doch erwartete sich niemand einen raschen Erfolg. Patrik nahm die Angelegenheit also selbst in die Hand.

Monatelang trieb ihn sein Rachedurst zu einer wilden Jagd auf 41

den flüchtigen Galeristen. Ohne Erfolg. Erst gegen Weihnachten hatte er sich so weit beruhigt, dass man es einigermaßen mit ihm aushalten konnte. Katharina atmete auf und hoffte auf bessere Zeiten.

In den letzten beiden Monaten war sogar seine Arbeitslust zurückgekehrt.

Tatsächlich hatte dieser Frühling so hoffnungsvoll begonnen.

Sie war sicher gewesen, dass sie auch diesen Sturm gemeinsam überstanden hatten. Bis vor ein paar Tagen dieser Brief gekommen war. Ein Brief von jemandem, der behauptete, Patrik zumindest zu einem Teil seines Geldes verhelfen zu können.

Unmittelbar nach Erhalt des Briefes war Patrik in seine alte Verbitterung zurückgefallen. Sie erkannte es an seinen Augen, die rastlos umherirrten, ohne etwas Bestimmtes wahrzunehmen.

Er wollte sofort nach Stockholm aufbrechen, und sie konnte ihn nicht daran hindern.

Sie selbst war der ganzen Angelegenheit so überdrüssig, dass sie Gespräche über den Verkauf von Bildern kaum noch ertragen konnte. Sie setzte in diesen Brief, den sie nie zu Gesicht bekommen hatte, keine Hoffnungen, hatte aber auch keine Lust, über das Thema mit ihm zu diskutieren. Sollte er doch einfach fahren.

Jetzt war er zurück, und man konnte beim besten Willen nicht behaupten, dass die Lage sich verbessert hatte.

Sie warf einen Blick auf die Uhr und ging in den Zeitschriftenraum. Patrik saß in einem niedrigen Sessel, der Kopf war auf die Brust gesunken. Sie bückte sich und hob die Zeitung auf, die zwischen seinen Füßen lag, faltete sie zusammen und schüttelte ihn leicht an der Schulter.

»Es ist fast elf Uhr«, sagte sie leise.

Er zuckte zusammen und sah sich verwirrt um. Dann gähnte er und streckte die Beine.

»Ja, danke.«

42

Ein älterer, weißhaariger Herr, der die Sydsvenskan las, blickte neugierig herüber.

»Gehört das Wecken zum Service des Hauses?«, fragte er.

PM schaute ihn ernst an. »Nur wenn man einen dieser neuen Plastikausweise besitzt«, antwortete er.

Katharina enthielt sich eines Kommentars und verließ lächelnd den Raum.

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6

Am selben Tag

PM schob behutsam die angelehnte Tür auf und erblickte Roffes breiten Rücken. Er betätigte die Tastatur seines Computers, über dessen Bildschirm kompakte Textmassen liefen. Schaute man aus dem überdimensionalen Fenster des schmalen Raums, sah man die Häuserzeile auf der anderen Straßenseite. Das Büro enthielt das übliche Inventar: Schreibtisch, Computer, mit Büchern und Unterlagen gefüllte Regale, eine nichts sagende Lithografie und zwei hässliche Stühle. Nach PMs Meinung ein Prototyp dieser beklemmenden Büroräume, deren Interieur nur der Notwendigkeit gehorchte und jeden persönlichen Zug im Keim erstickte.

Er trommelte mit den Fingerspitzen gegen den Türrahmen.

Roffe fuhr herum. Seine ernste Miene hellte sich auf.

»Schön, dass du da bist! Setz dich.«

Roffe deutete auf die Besucherstühle, die PM mit Widerwillen betrachtete. »Wärst du nicht hier, würde ich sofort Reißaus nehmen. Wie kannst du in so einer Atmosphäre nur arbeiten?«

Roffe lachte. »Ich habe gar keine Zeit, darüber nachzudenken.« Er zeigte auf seine Stirn. »Dafür habe ich ein reiches Innenleben.«

»Vermisst du nicht das alte Präsidium? Hier kriegt man doch Depressionen.«

»Zugegeben, das alte Präsidium war schöner. Aber hier ist mehr Platz. Und heller ist es auch.«

PM setzte sich und schlug die Beine übereinander.

»Wie geht’s dir? Wir haben uns lange nicht gesehen.«

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»Könnte schlimmer sein, ich habe nur unglaublich viel zu tun.

Zu wenige Mitarbeiter und zu viele Verbrechen. Im Grunde bin ich ziemlich urlaubsreif.«

»Ich dachte, du kannst Urlaub nicht ausstehen.«

»Ist doch klar, dass die Ferien immer anstrengender werden mit Anita und den Kindern und der ganzen Familie. Ganz zu schweigen von all den Veranstaltungen, die man besuchen muss.«

»Aber ihr beide seid doch längst geschieden, und die Kinder sind erwachsen, jedenfalls zwei von ihnen. Du solltest endlich mal Urlaub von diesen Urlauben machen.«

»Das ist aber die einzige Zeit im Jahr, in der wir alle zusammen sind. Und ich hatte mich doch mit Anita darauf geeinigt, auch weiterhin gemeinsam Urlaub zu machen, der Kinder wegen.«

»Versuch’s mal mit Meuterei. Würde mich nicht wundern, wenn du nicht der Einzige wärst, der sich erleichtert fühlen würde. Wann kannst du Urlaub nehmen?«

»Nicht vor August.«

»Dann hast du ja noch ein paar Monate Zeit, um Kräfte zu sammeln.«

Roffe verzog das Gesicht. »Ausruhen kann ich mich, wenn ich tot bin. Unsere Abteilung ist sowieso schon völlig überlastet.

Und dann taucht auch noch diese Leiche bei euch auf. Ich wollte dir ein paar Fragen dazu stellen.«

PM sah erstaunt aus. »Sag nicht, dass du mich deswegen hierher zitiert hast.«

»Es ist leider unumgänglich«, sagte Roffe betrübt.

PM gab sich versöhnlich. »Kein Problem. Ich habe nichts dagegen, darüber zu sprechen. Ich weiß nur nicht, was ich dir noch erzählen soll. Alles, was ich weiß, habe ich doch schon deinen beiden Kollegen gesagt, die uns besucht haben.«

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Roffe sah ihn ernst an. »Darf ich dir zuerst eine Frage zu deinem Ausflug nach Stockholm stellen?«

»Natürlich.«

»Hast du möglicherweise Axel Hemberg getroffen?«

»Was zum Teufel hat das mit der Sache zu tun? Aber wenn du es unbedingt wissen willst – ich habe ihn nicht getroffen! Der Dreckskerl ist abgetaucht. Das solltest du eigentlich wissen.«

»Schon, aber ich dachte, du wolltest jemanden treffen, der dir angeblich einen Teil deines Geldes beschaffen könnte, um das Hemberg dich betrogen hat. Hat dieser Jemand behauptet, in Kontakt zu Hemberg zu stehen?«

PM sah Roffe verwirrt an. »Worauf willst du hinaus?«

Roffe gab ihm ein Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. »Das haben wir gestern mit der Post bekommen.«

Es war ein maschinengeschriebener Brief, adressiert an das Polizeipräsidium in Christiansholm.

Wie ich durch einen Zeitungsbericht erfahren habe, wurde in einer Jauchegrube auf Hof Knigarp eine männliche Leiche gefunden. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es sich um den Stockholmer Galeriebesitzer Axel Hemberg handeln könnte, der seit September vorigen Jahres spurlos verschwunden ist. Hemberg war zunächst aus persönlichen Gründen untergetaucht, doch seit ein gewisser Patrik Andersson, besser bekannt als Patrik der Maler, mich gezwungen hat, ihm Hembergs Geheimadresse in Christiansholm mitzuteilen, und überdies gedroht hat, Hemberg umzubringen, haben weder ich noch sonst jemand etwas von Hemberg gehört.

Marianne Wester

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Gewohnheitsgemäß registrierte Roffe jede noch so kleine Veränderung im Gesichtsausdruck seines Freundes, während dieser den Brief las. Wie erwartet, durchlief dessen Gesicht alle Stadien der Verwunderung, der Ungläubigkeit und Bestürzung.

PM war blass geworden. Schwer atmend ließ er die Hand sinken, die den Brief hielt, und starrte unverwandt auf den Schreibtisch.

Roffe wartete eine Zeit lang vergeblich auf einen Kommentar, ehe er fragte: »Wer ist Marianne Wester?«

PM löste den Blick vom Schreibtisch und sah kopfschüttelnd aus dem Fenster.

»Woher soll ich das wissen!«, antwortete er schroff.

»Es ist also nicht wahr, dass du sie gezwungen hast, Hembergs geheime Adresse zu verraten?«

PM verzog gequält das Gesicht und hielt sich eine Hand vor die Stirn, sodass sie seine Augen verbarg. Er machte eine abwehrende Geste.

»Warte«, sagte er.

Roffe wartete lange. Schließlich sagte PM in nahezu resigniertem Ton: »Also gut, ich weiß, wer sie ist.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Roffe klang erstaunt.

»Weil die ganze Geschichte so verdammt peinlich ist. Und weil mir alles ein Rätsel ist. Das ist doch völliger Irrsinn. Sie selbst hat mich schließlich aufgefordert, nach Stockholm zu kommen.«

»Sie? Katharina sagte mir, du wolltest irgendeinen Kerl treffen, der dir helfen könnte, an einen Teil des Geldes ranzukommen.«

»Ja, das habe ich Katharina gesagt, aber in Wahrheit wollte ich zu dieser Frau fahren.«

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»Du meinst also, dass die Frau, die du gestern in Stockholm getroffen hast, diesen Brief geschrieben hat.«

»Ja, aber ich habe sie nicht getroffen.«

Roffe stand auf und streckte die Hand über den Tisch.

Vorsichtig nahm er seinem Freund den Brief ab und legte ihn in eine der Schubladen. Er setzte sich wieder, lehnte sich zurück und sagte freundlich: »Ich schlage vor, du erzählst mir die ganze Geschichte.«

»Heißt das etwa, dass ich des Mordes verdächtigt werde?«

Roffe lächelte. »Ach was! Wir haben unzählige Tipps bekommen, was die Identität der Leiche betrifft. Aber natürlich bin ich verpflichtet, alle ernsthaften Hinweise zu prüfen, die bei uns eingehen, und dieser Brief ist bei uns eingegangen.«

PMs Blick glitt an den unerbittlichen Wänden entlang, als suche er nach einer Möglichkeit, dem Thema doch noch aus dem Weg zu gehen.

»Katharina darf nichts erfahren!«, sagte er mit Nachdruck.

»Was ich dir jetzt erzähle, darf ihr niemals zu Ohren kommen.

Wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, dann ausschließlich ihr gegenüber.«

»Wie du willst.«

»Ich habe diese Frau anlässlich der Stockholmer Ausstellung im vergangenen Herbst kennen gelernt. Nach der geglückten Vernissage hatte uns Axel alle in eine Bar eingeladen. Es wurde nicht gerade ein hemmungsloses Besäufnis, aber nüchtern geblieben ist keiner. Axel kann ja sehr spendabel sein, wenn er ein großes Geschäft wittert. Später am Abend sind wir dann mit einigen seiner Freunde in der Opernbar gelandet, wo sich uns zwei Frauen anschlossen. Axel schien sie ziemlich gut zu kennen. Wir blieben bis spät in die Nacht zusammen, und schließlich habe ich eine von ihnen nach Hause begleitet. Das war Marianne Wester. Ich war ziemlich betrunken und wollte nur diese eine Nacht mit ihr verbringen. Als ich ihre Wohnung 48

am Vormittag verließ, war ich sicher, dass ich sie niemals wiedersehen würde, und ich war froh darüber. Aber sie hatte die Sache offenbar anders aufgefasst. Wenig später bekam ich einen Brief von ihr, der mir extrem unangenehm war. Axel muss ihr meine Adresse gegeben haben. Sie wollte mich in ihrem Sommerhaus treffen, das irgendwo in den Schären liegt. Ich hatte den Eindruck, dass sie ziemlich wohlhabend war. Außer dem Sommerhaus besaß sie schließlich diese große und exklusiv eingerichtete Wohnung in der Stockholmer Innenstadt. Wenn ich sie richtig verstanden habe, hat sie irgendeine Beratertätigkeit. Den Brief habe ich verbrannt, damit ihn Katharina nicht irgendwann in die Finger bekommt. Ich schrieb ihr zurück und bat sie so höflich wie möglich, die ganze Geschichte einfach zu vergessen und mich in Zukunft in Frieden zu lassen. Dann geschah die Sache mit den Bildern, die dir ja bekannt ist. Mein Reingewinn nach der Ausstellung belief sich auf ungefähr hundertsechzigtausend Kronen, von denen mir Axel bereits zwanzigtausend als Vorschuss gegeben hatte. Mit dem Rest ist er einfach abgehauen. Als ich nach Stockholm kam, um ihn zur Rede zu stellen, waren noch sechs unverkaufte Bilder übrig. Ich brauchte die Hilfe der Polizei, um an sie heranzukommen. Mehr habe ich mir von ihr auch nicht versprochen. Ich erstattete Anzeige, worauf die Polizei ihre Ermittlungen aufnahm, aber ich hatte keine Geduld. Ich wollte Axel selbst ausfindig machen und das Geld aus ihm herauspressen. Wir hatten ein paar gemeinsame Bekannte, und bei denen habe ich angefangen. Es war merkwürdig, aber alle schienen von Axels Flucht völlig überrascht zu sein. Dabei war ich nicht der Einzige, dem er noch Geld schuldete. Nur war ich der Einzige, der auf eigene Faust etwas unternehmen wollte.

Dann habe ich seine Exfrau Birgitta ausfindig gemacht. Kennst du sie?«

Roffe schüttelte den Kopf. »Ich bin ihr nur einmal flüchtig begegnet.«

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»Sie hat wieder geheiratet und scheint diesmal bedeutend mehr Glück mit ihrem Mann gehabt zu haben. Sie wusste so einiges zu erzählen. Im Gegensatz zu seinen Freunden und Bekannten wunderte sie sich überhaupt nicht, als sie hörte, dass er mein Geld veruntreut hat. Sie behauptete, dass er seine Geschäftspartner reihenweise übers Ohr haut und vermutlich mit einem Bein im Gefängnis steht. Außerdem sagte sie, wenn eine Person wüsste, wo Axel sich aufhält, dann Marianne Wester. Sie deutete sogar an, dass Marianne Wester die auslösende Ursache ihrer Scheidung vor ein paar Jahren war. Und wenn Axel mit einem Bein im Gefängnis stünde, meinte Birgitta, dann täte Marianne es mit beiden. Sollte mir recht sein. Ich war einzig und allein daran interessiert, an mein Geld heranzukommen. Also habe ich Marianne aufgesucht, was mir ziemlich unangenehm war, nachdem ich den Brief geschrieben hatte. Wie zu erwarten, zeigte sie mir die kalte Schulter und tat anfangs so, als verstünde sie gar nicht, was ich von ihr wollte. Aber ich hatte eine Stinkwut und wollte mich nicht so einfach abspeisen lassen. Ich war mir sicher, dass sie wusste, wo Axel sich versteckt hielt, also habe ich einfach behauptet, ich wüsste so einiges über ihre schmutzigen Geschäfte und hätte genügend Informationen, um sie wegen Beihilfe dranzukriegen. Ich habe sie massiv unter Druck gesetzt und in diesem Zusammenhang wohl auch gedroht, ihn umzubringen. Schließlich gab sie mir seine Adresse, und stell dir vor: Er wohnte in Christiansholm, und zwar in seinem Elternhaus in Näsby, das ich noch aus der Schulzeit kannte. Ich hatte das Schwein überall in Stockholm gesucht, dabei war er mir die ganze Zeit über so nah gewesen. Hätte ich mir im Grunde auch denken können; ich wusste ja, dass er das Haus zeitweise vermietet. Er hatte mir gegenüber einmal erwähnt, dass er es nicht verkaufen könne, solange seine Mutter noch am Leben sei. Wie du vielleicht weißt, ist sie senil und liegt im Pflegeheim. Marianne hat mir also verraten, dass er sich ein Zimmer des Hauses stets freihalte. Ihr zufolge hatte er es seit 50

langem als Zufluchtsort geplant, sollte das Pflaster in Stockholm zu heiß für ihn werden.

Optimistisch fuhr ich nach Hause und war mir sicher, dass ich zumindest einen Teil meines Geldes aus ihm herauspressen würde. Aber ich habe ihn nie erwischt. Ein ums andere Mal habe ich es bei ihm versucht und schließlich sogar mit seinen Mietern gesprochen, aber auch sie hatten seit Monaten nichts mehr von ihm gehört. Das ist der Stand der Dinge. Irgendwann bin ich der ganzen Sache dann überdrüssig geworden. Ich hatte einfach keine Kraft mehr und wollte von der ganzen Angelegenheit nichts mehr wissen.«

PM starrte düster aus dem Fenster und machte plötzlich den Eindruck, als sei er mit den Gedanken ganz woanders. Roffe folgte seinem Blick und sagte: »Du musst mir auch von deiner letzten Stockholm-Reise erzählen, damit ich mir ein vollständiges Bild machen kann.«

PM rutschte auf seinem unbequemen Stuhl hin und her und lachte verbittert auf. »Da gibt es nicht viel zu erzählen, abgesehen davon, dass ich ein Vollidiot bin, der immer noch nicht versteht, was hier eigentlich gespielt wird. Am Montag bekam ich also diesen Brief von Marianne, der mich in helle Aufregung versetzte. Schließlich war es mir gerade gelungen, die ganze Geschichte so einigermaßen zu verdrängen. Es ist schon ein paar Monate her, dass ich die Hoffnung aufgegeben habe, irgendwie an Axel heranzukommen. Sie schrieb mir, sie habe mich nicht an der Nase herumführen wollen, sondern wirklich geglaubt, dass Axel sich in sein Elternhaus zurückgezogen habe. Erst später habe sie erfahren, dass Axel nicht in Christiansholm sei, sondern vermutlich von Anfang an geplant hatte, sich ins Ausland abzusetzen. Sie sei selbst fürchterlich wütend auf ihn, weil er auch ihr noch Geld schulde.

Erst jetzt sei ihr klar geworden, dass sie ebenfalls zu den Betrogenen gehört. Doch nun, behauptete sie, habe sie durch eine zuverlässige Quelle erfahren, dass Axel wieder in 51

Stockholm sei. Sie wisse auch wo, könne aber aus verschiedenen Gründen nicht zur Polizei gehen. Sie schlug vor, wir sollten gemeinsame Sache machen. Sie wollte mich zu ihm führen, und ich sollte versuchen, so viel Geld wie möglich aus ihm herauszuholen. Sie betonte, ich müsse sofort nach Stockholm kommen, weil er sehr umtriebig sei und jederzeit wieder verschwinden könne. Sie schlug den kommenden Tag, also Dienstag vor. Ich biss sofort an und machte mich gutgläubig auf den Weg.«

»Hast du den Brief aufgehoben?«, fragte Roffe.

»Nein, den hab ich verbrannt, bevor ich weg bin. Katharina habe ich erzählt, ich wolle zu einem alten Bekannten von Axel, einem männlichen Bekannten, versteht sich, der mir geschrieben und seine Hilfe angeboten habe.«

»Und was ist in Stockholm passiert?«

PM schwieg eine Weile. Roffe bemerkte, dass er außergewöhnlich blass geworden war. Schließlich zuckte sein Freund mit den Schultern.

»Nichts. Sie war nicht da. Ihr Anrufbeantworter teilte mit, sie sei gerade nicht zu Hause oder so was. Ich habe wie ein Verrückter gegen ihre Tür gehämmert und Sturm geklingelt.

Habe noch eine ganze Weile vor ihrem Haus auf sie gewartet, aber sie ist nicht aufgetaucht.«

»Wie erklärst du dir das?«

»Ich neige zu der Auffassung, dass sie mir eins auswischen wollte. Schließlich hatte ich sie abgewiesen und bedroht. Was weiß denn ich, wie nachtragend sie ist.«

Roffe nickte nachdenklich. »Das scheint mir nicht unwahrscheinlich. Der Brief könnte durchaus ein Bestandteil ihres Racheplans sein. Wir sollten mit ihr reden. Kannst du mir ihre Adresse geben?«

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PM sprang erregt auf. »Was soll denn das für einen Sinn haben? Sie hat doch schließlich erreicht, was sie wollte. Ich habe mich schön hinters Licht führen lassen und stehe als der Depp da, der ich nun mal bin. Reicht das nicht?«

»Sie erhebt in ihrem Brief einen schwerwiegenden Vorwurf gegen dich.«

»Den kann doch wohl niemand ernst nehmen. Ich habe jedenfalls nicht die geringste Lust, mich noch länger mit dem Thema abzugeben.«

»Dir ist doch wohl klar, dass ich einen solchen Hinweis nicht einfach übergehen kann, es sei denn, er wäre offenkundiger Blödsinn. Natürlich bin auch ich davon überzeugt, dass der Brief ein Bluff ist, aber ich muss der Sache nachgehen, sonst mache ich mich eines dienstlichen Vergehens schuldig. Willst du, dass ich ihre Adresse selbst herausfinde?«

»Engelbrektsgata 5.«

»Danke, ich werde meinen Kollegen in Stockholm die nötigen Informationen zukommen lassen, damit sie die Sache weiterverfolgen können. Mach dir keine Sorgen, das wird sich alles regeln.«

Roffe schaute auf die Uhr. »Ich brauche jetzt was zu essen.

Kommst du mit?«

PM schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger. Ich setze mich einfach in die Bibliothek und warte. Katharina ist in einer Stunde fertig. Ich muss nach Hause und mich erst mal richtig ausschlafen.«

Sie verabschiedeten sich auf der Straße, weil sie in unterschiedliche Richtungen mussten.

»Ich lasse von mir hören, wenn sich irgendwas tut«, sagte Roffe.

»Ja, tu das«, entgegnete PM ohne große Begeisterung und trottete dem Zentrum von Christiansholm entgegen.

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7

Am selben Tag

Doch PM ging nicht unmittelbar zur Bibliothek zurück.

Während eines flotten Spaziergangs steuerte er plötzlich eine leere Bank im Stadtpark an. Er verspürte ein starkes Bedürfnis, seine Gedanken zu ordnen. Aber wo anfangen? Er stocherte in zähem Nebel. Ein unbändiger Zorn tobte in ihm, sein Herz raste.

Im Grunde hatte es zu rasen begonnen, als Roffe ihm den Brief gezeigt hatte. Verdammt noch mal, gestern hatte er den Schock seines Lebens bekommen und heute … heute sah alles fast noch schlimmer aus.

Er ließ den Blick über das Gewimmel im Park schweifen. Es war Mittagszeit, und auf den Bänken ringsum wandten die Leute ihre Gesichter gen Himmel, um sich mit ihrer Tagesration Sonne zu versorgen. Zwei Pudel, ein weißer und ein grauer, hatten auf dem Kiesweg vor seinen Füßen eine leidenschaftliche Liaison, während sie ihre menschlichen Anhängsel hinter sich her zogen.

Auf dem Rasen, ein Stück weit entfernt, saß eine Horde Jugendlicher auf ihren Jacken und ließ ein unausgesetztes Geschnatter hören. Ab und zu prustete jemand los, gefolgt von kollektiven Lachsalven.

Seine Gedanken kreisten beharrlich um das Gespräch mit Roffe. Wenn er doch nur kapieren könnte, welche Rolle er in dieser Angelegenheit spielte. Offensichtlich hatte Marianne ihm eins auswischen wollen. Aber warum? Nur um sich zu revanchieren? Er atmete tief durch. Sobald er sich ein wenig beruhigt hatte, wollte er weitergehen. In seiner momentanen Verfassung konnte er Katharina jedenfalls nicht unter die Augen treten. Sie hatte zuweilen die unheimliche Fähigkeit, direkt in sein Herz zu blicken.

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Ein Rentner mit Alkoholfahne gesellte sich zu ihm und begann mit einer komplizierten Schilderung seiner Beziehung zu den Tauben der Stadt. Während er ein paar trockene Brotkanten zerkrümelte und unter den Vögeln, die sich um die Bänke scharten, verteilte, vertraute er PM an, dass Tauben keinesfalls so dumm seien, wie es den Anschein habe. Viele von ihnen kenne er persönlich, sagte er und begann sehr überzeugend einige beim Namen zu nennen und ihre Charaktereigenschaften zu schildern. Dankbar für dies bisschen Ablenkung lauschte PM

fasziniert seiner Suada und stellte ihm einige Fragen. Doch der umnebelte Alte wurde des Themas bald überdrüssig und begann stattdessen, sich über die Inkompetenz der Politiker und den unaufhaltsamen Verfall der Gesellschaft zu verbreiten. PM war im Grunde geneigt, ihm in vielem Recht zu geben, fand das Thema jedoch allzu deprimierend. Er verabschiedete sich höflich und schlenderte gemächlich der Bibliothek entgegen.

Katharina stand bereits auf der Treppe und wartete auf ihn.

»Ich habe früher Schluss gemacht«, sagte sie und fasste ihn liebevoll am Arm. Sie gingen zum Parkplatz. Katharina schaute ihn verstohlen an und lachte unsicher.

»Du siehst aus, als müsstest du dringend ins Bett und dich ausschlafen.«

Er entgegnete nichts.

Sie stiegen in ihren kleinen Fiat, den sie mit sicherer Hand durch den dichten Stadtverkehr lenkte. Als sie vor einer roten Ampel hielten, wandte sie sich ihm zu.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass du eine Stinklaune hast?«

Er kauerte auf seinem Sitz und stierte vor sich hin.

»Ja, meine Laune ist miserabel«, gab er schließlich zu.

»Außerdem ist mir kalt. Kannst du die Heizung anmachen?«

»Hab ich schon, aber es dauert eine Weile, bis es warm wird.«

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Die Ampel schaltete auf Grün, und sie fuhren durch die äußeren Stadtbezirke.

»Willst du darüber reden?«, fragte sie.

Er seufzte gequält. »Ja, ist wohl besser, ich bringe es gleich hinter mich. Die Reise war ein totales Fiasko.«

»Kein Geld?«

»Kein Geld. Ich hab den Kerl nicht zu Gesicht bekommen. Die ganze Reise war umsonst.«

»Wie merkwürdig …«

»Ja.«

»Du hast doch bestimmt seine Adresse gehabt. War er nicht zu Hause?«

»Er war nicht zu Hause, und ans Telefon ist er auch nicht gegangen. Genauso vom Erdboden verschluckt wie Axel.«

»Das verstehe ich nicht. Glaubst du, er wollte dich reinlegen?«

»Sieht ganz so aus.«

»Aber warum? Das ergibt doch alles keinen Sinn. Was hat er denn davon, dich nach Stockholm zu locken?«

»Frag mich was Leichteres.«

Katharina schaute ihn erzürnt an.

»Was soll ich denn anderes fragen? Du hast mir ja überhaupt nichts verraten. Nicht einmal seinen Brief hast du mir gezeigt.«

PM kniff die Augen zusammen und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen.

»Ehrlich gesagt ist mir jetzt alles scheißegal. Dass das Geld weg ist, hatte ich doch längst akzeptiert. Ich werde jedenfalls keinen Finger mehr krumm machen, um es zurückzukriegen. Ich bin müde und habe keine Lust mehr, über das Thema zu reden.«

»Du scheinst ja wenig geschlafen zu haben.«

»Ich habe im Zug ein bisschen vor mich hin gedöst, das ist alles. Du weißt doch, wie man sich nach solch einer Nacht fühlt.

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Jedenfalls war es schön, Stockholm wieder zu verlassen. Die Stadt geht mir mehr und mehr auf die Nerven.«

»Was wollte Roffe?«

»Reden.«

»Das hab ich mir schon gedacht. Gestern am Telefon klang es aber so, als ginge es um eine sehr dringliche Angelegenheit.«

PM gähnte und versuchte sich zu strecken, soweit es sein Gurt und das kleine Auto zuließen.

»Er hat sich Sorgen gemacht, aber das wird sich alles regeln.

Lass uns ein anderes Mal darüber reden.«

»Wie du willst.«

Katharina bog von der großen Ausfallstraße auf eine kleinere Straße ab. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen.

PM richtete sich wieder auf und sah sich aufmerksam um.

»Endlich kann man wieder durchatmen«, sagte er, jetzt schon entspannter. »Diesen Anblick habe ich vermisst, seit ich Montagabend in den Zug gestiegen bin. Saftige Wiesen, knospende Bäume und ein weiter, blauer Himmel. Keine Ampeln, keine Tankstellen, keine Reklameschilder … Fahr mich einfach zu unserem bescheidenen Zuhause am Ende der Welt. Lass mich an meinem eigenen Herd sitzen und gib mir ein großes Glas von meinem besten Whisky. Wenn du dann noch versprichst, den Fernseher aus zu lassen, gibst du mir den Glauben an die Welt zurück.«

»Natürlich fahre ich dich nach Hause, aber es ist schon ein starkes Stück, dass ausgerechnet du mich bittest, den Fernseher aus zu lassen.«

»Stimmt, wenn es einen Dauerglotzer bei uns gibt, dann bin ich das.«

Schweigend setzten sie ihren Weg durch die helle Frühlingslandschaft fort. Schließlich drehte PM den Kopf und betrachtete Katharinas Profil.

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»Jetzt bin ich wieder schrecklich egozentrisch gewesen, nicht wahr?«, sagte er.

»Ja, das bist du.«

»Gibst du mir noch eine neue Chance?«

»Ja.«

»Wie ist es dir ergangen, während ich fort war, mein Liebling?«

»Och, ich hatte es eigentlich ganz ruhig und gemütlich.«

»Höre ich da einen betrübten Unterton?«

Katharina lachte. »Es hört sich zwar merkwürdig an, aber irgendwie bin ich doch froh, dich wieder am Hals zu haben.«

»Ist irgendwas Erwähnenswertes passiert?«

»Marika hat gestern angerufen. Sie und Daniel kommen am Wochenende nach Hause.«

»Wie schön.«

Katharina warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Du hast doch nicht vergessen, dass Kajsa, Olle und Joakim zur Walpurgisnacht zu uns kommen?«

PM griff sich seufzend an den Kopf. »Doch, das hatte ich vergessen. Ich nehme an, daran lässt sich nichts mehr ändern?«

»Wenn du unbedingt willst, sage ich ihnen ab. Aber ich würde sie sehr gern sehen.«

»Gut, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin heute nicht zurechnungsfähig. Nachdem ich ausgeschlafen habe, wird es mir schon viel besser gehen. Natürlich möchte ich sie auch gern sehen.«

»Sicher?«

»Sicher!«

Eine Weile sah er sie schweigend an. Danach legte er vorsichtig seine Hand auf ihre, die das Steuer umfasste. Er drückte sie leicht. Dann blickte er wieder starr vor sich hin und 58

fühlte eine beklemmende Selbstverachtung. Er unternahm einen ernsthaften Versuch, sich zusammenzureißen, und sagte eine Spur zu munter: »Irgendwas Neues von der Jaucheleiche?«

Katharina sah etwas erstaunt aus, ging aber auf seinen Ton ein:

»Kann schon sein. Ich habe gestern Besuch von einem alten Verehrer gehabt.«

»Ach, wirklich. Hat er sich an dich rangemacht?«

»Nicht körperlich.«

»Ah, wahrscheinlich der Pfarrer der Freikirche in Äsperöd.«

»Nein, ein Schweinehirte.«

»Ein Schweinehirte, der einen platonischen Annäherungsversuch wagt, wie interessant.«

»Ich habe mit ihm Kaffee und ein paar Gläser Schnaps getrunken, Gammeldansk, versteht sich. Wir haben eine gemeinsame Leidenschaft für dieses Getränk.«

»Nisse!«, verkündete PM triumphierend.

»Genau.«

Er runzelte die Brauen und sagte mit gespieltem Zorn: »Ich werde diesem Casanova die Hammelbeine lang ziehen, wenn er meint, er könnte meiner Frau nachstellen und ihren Gammeldansk austrinken, wenn ich nicht zu Hause bin. Setz mich am Schweinestall ab, wenn wir da sind, damit ich ihm eine Tracht Prügel verpassen kann.«

»Kommt nicht in Frage. Nisse ist ein faszinierender alter Mann, wenn man seinen Gestank außer Acht lässt. Wir hatten eine äußerst anregende Konversation.«

»Ich dachte, man kann mit ihm über nichts anderes reden als über die Niedertracht des Menschen.«

»Nun, er hat mir wirklich sein Herz geöffnet und mir das eine und das andere erzählt.«

»Was zum Beispiel?«

59

»Zum einen meint er zu wissen, wer die Leiche in der Jauchegrube war. Das hat er übrigens auch der Polizei erklärt.

Und jetzt ist er stinksauer, weil sie ihn offenbar nicht ernst genommen haben.«

»Und wer war es seiner Meinung nach?«

»Kannst du dich noch an den Polen erinnern, der zu Sandströms Zeit schwarz auf dem Hof gearbeitet hat?«

»Wen meinst du? Polen gab es so viele.«

»Ich meine den, der letzten Sommer hier war. Netter Kerl.

Sprach ziemlich gut Schwedisch. War so zwischen dreißig und vierzig Jahre alt.«

»Ach, du meinst den, der auch als Taxifahrer in Malmö gearbeitet hat.«

»Genau den meine ich. Nisse ist sich sicher, dass er in der Jauchegrube gelandet ist. Sandström hatte ihm einen Teil seines Lohns vorenthalten, was einen Riesenkrach zwischen den beiden zur Folge hatte. Nisse war Zeuge der Auseinandersetzung. Sandström ist auf den Polen losgegangen und besaß sogar sie Frechheit, ihm mit der Polizei zu drohen.

Als Nisse den Polen das letzte Mal gesehen hat, hatte er eine blutige Nase und heulte. Am nächsten Tag war er verschwunden. Als Nisse Sandström fragte, wo der Pole geblieben sei, erntete er nur ein verächtliches Schnauben. Ich halte es für durchaus möglich, dass dieser Mistkerl einen polnischen Schwarzarbeiter erschlägt, nur damit er ihn nicht bezahlen muss. Das würde zu ihm passen. Ich nehme doch an, dass auch die Polizei in dieser Richtung ermittelt. Aber du weißt ja, wie Nisse ist. Von einigen Dingen hat er etwas verworrene Vorstellungen. Er kann nicht begreifen, warum sie Sandström nicht gleich einbuchten, nach allem, was er der Polizei erzählt hat.«

»Komisch, davon hat Roffe gar nichts gesagt.«

»Warum sollte er das? Habt ihr über die Leiche gesprochen?«

60

»Ja, unter anderem.«

»Was hat er gesagt? Haben sie schon irgendeine Spur?«

»Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema nur gestreift. Was hat Nisse noch gesagt?«

Katharina lachte und verzog das Gesicht. »Er hat eine ganze Menge gesagt. Ich habe ihn selten so gesprächig erlebt. Er beschrieb mir haarklein das Aussehen der Leiche, nachdem er sie aus der Grube gezogen hatte. Mir wäre fast der Kaffee hochgekommen, und ich habe ständig versucht, das Thema zu wechseln, aber Nisse gab keine Ruhe, ehe ich nicht jedes ekelhafte Detail kannte.«

»Ich dachte, Nygren hätte die Leiche gefunden.«

Katharina rümpfte die Nase. »Nygren gibt sich doch nicht mit Schweinekot ab. Und Marco auch nicht. Nein, Nisse war dabei, die Jauche aus der Grube zu pumpen, weil er die Felder düngen wollte. Da bemerkte er plötzlich, dass der Schlauch nicht mehr richtig ansaugte. Als er mit einer Stange in der Jauche herumstocherte, erschien plötzlich etwas Großes an der Oberfläche, was bei näherem Hinsehen Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Ich will seine malerische Beschreibung lieber nicht wiederholen. Jedenfalls hat er Nygren geholt, der Nisse zufolge ganz grün im Gesicht wurde.«

Sie waren fast zu Hause. An der Biegung zur schmalen Zufahrt erblickte Katharina ihren blauen Briefkasten und verlangsamte das Tempo. Zur Rechten lagen Knigarps Schweineställe wie riesige rote Blechcontainer auf kahlen Feldern. Vor fünfzehn Jahren hatte es hier noch fruchtbares Weideland gegeben. Vor den Schweineställen, nahe am Weg, befand sich die offene Jauchegrube in Gestalt eines rundes Bassins mit breiten Betonkanten, ungefähr zwanzig Meter im Durchmesser, das von einem soliden, engmaschigen Zaun umgeben war. Im Übrigen stapelten sich vor dem Zaun allerlei Gerümpel, alte Autoreifen und Benzinkanister, halb verfaulte 61

Strohballen sowie zahlreiche landwirtschaftliche Maschinen unterschiedlichen Alters und Verfallsstadiums.

Die Zufahrt zu ihrem Haus befand sich anfangs zwischen den Schweineställen auf der einen und den übrigen Gebäuden des Hofs auf der anderen Seite. Im weiteren Verlauf wurde der Anblick zunehmend erfreulicher. Genau am Kreuzungspunkt zwischen dem kleinen und dem großen Weg stand die bescheidene, einst dem Gesinde vorbehaltene Hütte, in der sich mittlerweile das Büro befand. An der einen Außenwand war ihr Briefkasten befestigt. Hinter der Hütte erhoben sich im Schutz einiger uralter Buchen imponierend große und schöne Stallungen aus Granit. Früher waren hier Milchkühe und Pferde untergebracht, jetzt dienten sie als Depot. Das Haus des Vorarbeiters wurde fast vollständig von einem alten Weißdorn verdeckt, obwohl es an sich sehr sehenswert war. Dieses Gebäude sowie das alte Waschhaus lockten immer wieder kulturhistorisch interessierte Touristen nach Knigarp. Das Wohnhaus lag in vornehmer Abgeschiedenheit. Ein stattlicher, zweigeschossiger Backsteinbau mit dem Charakter eines herrschaftlichen Gutshofes. Er stammte aus dem Jahr 1905, die Jahreszahl war über dem Eingang zu lesen, und auch jetzt noch konnte man mit dem Auto über eine alte Lindenallee bis zum Haus gelangen.

Das Außergewöhnliche an Knigarp war jedoch die Lage. Der Hof stand auf einer Anhöhe, von der aus man einen kilometerweiten Blick über ein flaches Tal hatte, durch das sich ein Bach schlängelte. Zwischen den Feldern und Gehöften erstreckten sich dichte Buchenwälder, und im Frühling, wenn die Wälder zum Leben erwachten, lag ein hellgrüner Schimmer über dem weiten Tal. Die Aussicht war zu Recht in der gesamten Umgebung berühmt.

Katharina hielt neben dem Briefkasten, kurbelte die Scheibe hinunter und angelte sich mit gestrecktem Arm die Post, ohne aus dem Wagen zu steigen. Dann fuhr sie die letzten fünfhundert 62

Meter, die zwischen Weiden und Laubbäumen hindurchführten, zu ihrem Haus.

Nachdem sie das Eingangstor durchfahren hatte, stellte sie den Motor aus und löste den Gurt.

Sie gab ihrem Mann einen sanften Schubs.

»Raus mit dir. Im Kofferraum ist eine Kiste. Die kannst du mit reinnehmen.«

Er wand sich mühsam aus dem Wagen und machte sich an der Kofferraumklappe zu schaffen. Katharina schloss die Haustür auf.

»Stell sie einfach in die Küche«, sagte sie. »Dann kannst du dich an deinen Herd setzen. Schenk mir ruhig auch einen Whisky ein. Ich komme gleich.«

Trotz des sonnigen, milden Wetters zögerte PM nicht lange und entfachte ein Feuer im Kamin. Er zog zwei Sessel an den Kamin heran und füllte die Gläser mit seinem besten Whisky, während die Flammen emporloderten. Er ließ sich in einen der Sessel sinken, legte die Füße auf die vordere Kante des Kamins und seufzte wohlig auf, als er die Hitze an den Fußsohlen spürte.

Als Katharina hereinkam, zeigte er auf ihr Glas, das auf dem Kaminsims stand.

Sie nahm Platz, nippte an dem Whisky und sah ihren Mann prüfend an.

»Geht es dir jetzt besser?«, fragte sie.

Er blickte sie unschlüssig an. »Na ja, mir geht es so gut, wie es nach zweitägigem sinnlosem Herumirren in einer verrückten Welt eben möglich ist«, entgegnete er.

»Was wollen wir essen?«, fragte sie.

»Müssen wir was essen?«

»Ich denke schon, aber ich habe heute keine Lust zu kochen.

Du vermutlich auch nicht.«

»Lass uns einfach ein paar Stullen schmieren.«

63

Katharina trat sich die Schuhe von den Füßen und kuschelte sich tiefer in ihren Sessel.

»In Ordnung. Ich mache einen Salat dazu. Aber erst mal muss ich mich ein bisschen entspannen.«

»Was hat er dann gemacht?«, fragte PM.

»Wer?«

»Nygren, nachdem Nisse ihm gezeigt hat, was er aus der Jauchegrube gezogen hat.«

»Vermutlich wird er umgehend die Polizei verständigt haben.

Über Nygren hatte Nisse übrigens so einiges zu sagen.«

»Und was?«

»Er meint, Nygren interessiert sich gar nicht für die Schweine, nimmt sie nicht richtig ernst, und das kann Nisse einfach nicht nachvollziehen. Außerdem fährt Nygren immer wieder für ein paar Tage weg, ohne jemandem zu sagen, wo er erreichbar ist.

Er gibt seinen Angestellten keine klaren Anweisungen. Schon ein paar Mal ist es zu Missverständnissen bei den Lieferungen für die Schlachterei gekommen. Dass er sich mit den praktischen Aspekten der Schweinezucht nicht auskennt, macht Nisse nichts aus, denn in dieser Hinsicht gibt es sowieso niemanden, der ihm das Wasser reichen kann. Aber dass Nygren nicht einmal versucht, finanziell das Maximale aus den Schweinen herauszuholen, kommt Nisse verdächtig vor.«

PM lachte auf. »Jemand, der die Schweine so ernst nimmt wie Nisse, findet sich ja auch kein zweites Mal. Du scheinst dich zu freuen, jemanden gefunden zu haben, der deine Theorie bekräftigt – du weißt schon, die vom falschen Bauern, der sich bei Vollmond in einen Nachtclubbesucher verwandelt.«

»Meinst du wirklich?«

»Das sind doch ganz normale menschliche Eigenschaften.

Wenn die größten Vorwürfe darin bestehen, dass er nichts von 64

Schweinen und vom Geldverdienen versteht, dann ist Nisse ein alter Querulant.«

»Natürlich ist er ein Querulant, das ist er schon immer gewesen, aber das ändert nichts daran, dass Nygren ein undurchsichtiger Typ ist. Ich frage mich, warum er sich ausgerechnet für die Schweinezucht entschieden hat, wenn er offenbar nichts davon versteht. Außerdem mag ich seinen Hund nicht. Nisse sagt, er sei lebensgefährlich. Und dann ist da noch die Sache mit Marco.«

»Ich gebe zu, dass man dem Köter nicht trauen kann, aber was ist mit Marco?«

»Du weißt doch, dass Nisse vor Wut schäumt, wenn auch nur die Rede von Marco ist. Eigentlich merkwürdig, denn Marcos Charme erliegt doch fast jeder. Fragt sich nur, warum er als Vorarbeiter eingestellt wurde. Er besitzt keinerlei Ausbildung, die irgendwas mit der Landwirtschaft zu tun hätte. Nisse zufolge hatte er noch nie ein lebendes Schwein gesehen, ehe er hierher kam. Und ausgerechnet er wird von Nygren mit der Gesamtverantwortung für den Hof betraut. Ist doch kein Wunder, dass Nisse sich darüber aufregt. Er hat mit Schweinen mehr als vierzig Jahre Erfahrung, und da kommt plötzlich so ein junger Schnösel daher und will ihm vorschreiben, was er zu tun hat.«

»Ich glaube gar nicht, dass Marco so jung ist. Ich denke, er ist über fünfunddreißig. Außerdem macht er einen energischen und intelligenten Eindruck. Er wird sicher schnell dazulernen. Nisse ist schon in Ordnung, aber mit Marco kann man viel besser reden.«

Katharina lachte. »Außerdem sieht er viel besser aus.«

PM sah seine Frau forschend an. »Du scheinst eine Schwäche für Marco zu haben.«

65

»Ist schon ein ziemlich attraktiver Kerl«, sagte sie. »Gib zu, dass er Reklame für Zahnpasta, Haarshampoo oder exklusive Krawatten machen könnte.«

»Zugegeben, aber was kann er schon dafür? Jedenfalls ist es praktisch, einen Vorarbeiter zu haben, der auf dem Hof wohnt, im Gegensatz zu Nisse. Was hat Marco eigentlich gemacht, bevor er hierher kam?«

»Er hat mit Annika in Stockholm gewohnt und war Fernfahrer.

Ist für irgendeine Spedition durch ganz Europa gefahren. Muss eine ziemlich anstrengende Zeit gewesen sein. Schließlich hatte er keine Lust mehr und wollte auf dem Land wohnen. Im Gegensatz zu Annika, die am liebsten nach Stockholm zurückziehen würde.«

PM nahm die Kaminzange und rückte die Holzscheite zurecht.

Seine Gedanken kreisten erneut um das Gespräch mit Roffe, und er spürte, wie die Unruhe wieder von ihm Besitz ergriff.

»Aha«, sagte er geistesabwesend.

»Ich kann das gut verstehen«, fuhr Katharina fort. »Sie gehört einfach nicht auf einen Bauernhof. Sieh sie doch an, wie sie mit engem Rock und hochhackigen Schuhen hinter Marco her stöckelt, wenn er die Schweine füttert. Die Dinge, auf die man normalerweise Wert legt, wenn man auf dem Land lebt, interessieren sie alle nicht. Was ist los mit dir? Du hörst ja gar nicht zu.«

PM zuckte zusammen.

»Entschuldige, fast wäre ich eingeschlafen. Was hast du gesagt? Ach, natürlich, Annika. Was interessiert sie denn?«

»Sie scheint nur Augen für Marco zu haben. Sie vergöttert ihn regelrecht. Natürlich hat sie das nicht gesagt, aber man sieht es ihr an. Ich glaube, sie würde mit ihm auch auf einer Müllhalde wohnen. Sie muss ziemlich einsam sein. Vielleicht sollte ich mal mit ihr Kaffee trinken, oder meinst du, wir sollten sie lieber zusammen zum Essen einladen?«

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»Ja …?«

Katharina beugte sich vor und klopfte ihm an die Stirn.

»Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«

PM stellte sein leeres Glas auf den Kaminsims. Der Whisky hatte seine Fantasie beflügelt. Er ließ sich erschöpft in den Sessel zurücksinken und warf seiner Frau einen unsicheren Blick zu.

»Glaubst du, ich könnte einen Menschen erschlagen?«

Sie sah ihn forschend an, streckte die Beine aus und legte die Füße in seinen Schoß.

»Was für eine seltsame Frage. Ich weiß es nicht. Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Eigentlich kannst du doch keiner Fliege was zu Leide tun. Warum?«

»Alle kennen doch meine Wutausbrüche.«

Katharina lachte. »Denkst du an einen bestimmten Menschen, den du gern ins Jenseits befördern möchtest?«

»Ich weiß nicht, wozu ich imstande gewesen wäre, hätte ich Axel in meiner größten Wut in die Finger bekommen.«

»Ich denke, du hättest ihn ziemlich vermöbelt, hättest aber auch darauf geachtet, ihn nicht ernsthaft zu verletzen.«

PM beugte sich vor und legte ein paar Holzscheite ins Feuer.

»Du hältst es also für unwahrscheinlich, dass ich ihn erschlagen und in Nygrens Jauchegrube geworfen habe?«

Katharina kicherte. »Was für ein absurder Gedanke. Obwohl es zeitlich genau hinkäme. Axel ist ja wirklich seit Monaten spurlos verschwunden. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir:

›Rasender Künstler wirft ermordeten Galeristen in Jauchegrube.‹

Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse.«

Als er nichts entgegnete, fuhr sie irritiert fort: »Was ist eigentlich los mit dir? Setzt dir die Geschichte mit Axel schon wieder so zu? Du musst endlich einen Schlussstrich unter etwas 67

ziehen, das sich nicht mehr ändern lässt. Es gibt wichtigere Dinge im Leben.«

Ein lang gezogenes Maunzen ließ beide aufhorchen. Katharina ging zur Haustür und ließ die gelb getigerte Katze herein, die sofort in Richtung Kamin tippelte und auf Katharinas Sessel sprang. Katharina nahm sie in den Schoß. PM beugte sich vor und streichelte ihr sanft über den Rücken.

»Wie dick sie geworden ist«, sagte er.

»Weißt du nicht, dass sie wieder trächtig ist?«

»Herrgott, schon wieder? Hoffentlich werden es diesmal nicht so viele.«

Sie blickte der Katze tief in ihre jadegrünen Augen und fragte:

»Was meinst du, Lady Pamela, wie viele werden es?«

Sie erhielt einen undurchdringlichen Blick zur Antwort, gefolgt vom mehrfachen Zucken des buschigen Schwanzes.

PM lehnte sich seufzend zurück. »Mindestens zwanzig.«

»Was sagst du?«

»Ich habe nicht richtig mitgezählt, aber ihr Schwanz hat mindestens zwanzigmal gezuckt.«

Katharina setzte Lady Pamela auf seinen Schoß.

»Ich mache uns jetzt was zu essen«, sagte sie.

68

8

Dienstag, 2. Mai

Gegen eins klingelte das Telefon. PM saß allein beim Frühstück und wollte zunächst gar nicht drangehen, bis ihm einfiel, dass es auch Katharina oder Marika sein konnten, die ihn sprechen wollten. Er legte die Zeitung beiseite, ging in die Diele und hob den Hörer ab.

»Hallo?«

»Hallo, hier ist Roffe. Habe ich dich geweckt?«

PM fühlte sich sonderbar bedrückt und schloss die Augen, ehe er nach langem Schweigen antwortete: »Nein, ich sitze gerade beim Frühstück.«

Roffe klang angespannt. »Der … äh … Fall, du weißt schon, ist doch komplizierter, als ich dachte. Du könntest nicht zufällig noch mal in die Stadt kommen?«

PM stützte sich gegen die Wand. Er fühlte sich plötzlich vollkommen kraftlos. Als würde alle Energie durch seine Füße aus ihm abfließen.

»Heute passt es schlecht«, sagte er und hörte selbst, wie seine Stimme nach Festigkeit suchte. »Katharina arbeitet heute. Oder möchtest du, dass ich ein Taxi nehme?«

»Nein, das ist nicht nötig.« Roffe machte eine Pause.

»Übernachtet Katharina heute in der Stadt?«

»Ja.«

»Dann komme ich zu dir. Da ist es ruhiger und gemütlicher.«

PM lachte dumpf. »Wollen wir es uns gemütlich machen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Roffe mit müder Stimme, »aber wir müssen in Ruhe miteinander reden.«

»In Ordnung, ich lade dich zum Essen ein.«

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»Äh, wir sollten vielleicht nicht vergessen, dass du Gegenstand der Ermittlungen bist«, sagte Roffe mit erzwungener Unbeschwertheit. »Sonst könnte man das als Bestechung auslegen. Lass mich lieber das Essen machen, wenn ich komme. Außerdem schmeckt’s dann besser.«

»Keine Einwände. Was brauchst du für Zutaten?«

»Lass mich nachdenken …«, Roffe ging sein Repertoire an Rezepten durch, »irgendwas, was schnell geht … und satt macht. Ah, mir fällt was ein! Das meiste habe ich zu Hause.

Hast du Zwiebeln und ein paar Eier?«

»Ich glaube schon. Sonst fahre ich mit dem Fahrrad ins Dorf und kaufe welche. Wann kommst du?«

»Ich kann erst in ein paar Stunden aufbrechen. So gegen vier könnte ich bei dir sein.«

»Also bis später.«

Nachdem PM aufgelegt hatte, betrachtete er sich unschlüssig im Spiegel, der in der Diele hing. Er hatte jeden Appetit verloren, und allein der Gedanke, das Atelier aufzusuchen, stieß ihn ab. Er ging in die Küche zurück und deckte den Tisch ab.

Das halb gegessene Käsebrot zerkrümelte er in den Futternapf der Katze, den Kaffee goss er in den Ausguss. Er atmete schwer und musste sich eine Weile hinsetzen, um sein Herz zu beruhigen. Verdammt, das Herz hatte ihm doch noch nie Probleme bereitet. Nur in der letzten Zeit hatte es ihm hin und wieder zu schaffen gemacht. Er sollte sich vielleicht etwas mehr bewegen. Er nahm sich seine Pfeife und legte sie nach kurzem innerem Ringen wieder hin. Es war beinahe halb zwei. Was sollte er tun, bis Roffe kam? Unruhig stand er auf, warf einen Blick in den Kühlschrank und stellte fest, dass nur noch zwei Eier von bedenklich hohem Alter darin waren. Er sollte unbedingt frische besorgen. Roffe nahm es mit solchen Dingen sehr genau. Außerdem hatte er ein bisschen frische Luft nötig.

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Er holte sein altes Fahrrad aus dem Schuppen, ein stabiles Gefährt aus der Zeit, in der nur Rennräder mit Gangschaltungen ausgestattet waren. Es hatte solide Reifen, die auf fast jedem Untergrund weich und sicher liefen. Das strahlende Frühsommerwetter machte ihn sofort munter. Keine Wolke am Himmel und eine Temperatur, die alle Rekorde schlug. Rasch lief er ins Haus zurück, zog Shorts und Sandalen an.

Als er auf stramm aufgepumpten Reifen den kurvigen Kiesweg hinabrollte und genießerisch die süßlich-herben Düfte der Weiden und des Waldes einsog, gewann er seine alte Zuversicht zurück. Vielleicht war die Katastrophe doch noch abzuwenden, wenn er einen kühlen Kopf bewahrte. Er hatte riesiges Glück, dass Roffe mit den Ermittlungen betraut worden war. Roffe war ein verlässlicher Freund, der wusste, wie wichtig es war, Katharina aus der Sache herauszuhalten. Seinen schlechten Nachrichten sah er gefasst entgegen. Damit hatte er gerechnet. Wenn nur Katharina nichts zu Ohren kam.

Als er auf der Höhe von Knigarp angelangt war, wurde seine Atmung automatisch flacher. Er trat kräftig in die Pedalen, um möglichst schnell die Schweineställe mit ihren penetranten und wenig balsamischen Gerüchen hinter sich zu lassen.

Er benötigte ungefähr eine Viertelstunde, um nach Äsperöd zu radeln. Eine Viertelstunde, die er genoss. Wie merkwürdig, dass er das nicht öfter tat. Merkwürdig überhaupt, dass er nicht öfter das Fahrrad benutzte.

Allerdings suchte er Astrid Enokssons Dorfladen nicht ohne schlechtes Gewissen auf. Er hatte sich seit Monaten dort nicht mehr blicken lassen. Bis vor ein paar Jahren hatten Katharina und er dort regelmäßig eingekauft, durchdrungen von der Überzeugung, wie wichtig es war, einen kleinen, ländlichen Tante-Emma-Laden zu unterstützen. Doch schließlich waren auch sie der Bequemlichkeit erlegen, ihre Besorgungen in der Stadt zu erledigen, wo es eine größere Auswahl gab und die Preise oft niedriger waren. Für Katharina ließ es sich gut 71

einrichten, nach Feierabend in der Stadt einzukaufen und mehrmals in der Woche mit einer größeren Wagenladung nach Hause zu kommen. Außerdem lag das Dorf in der entgegengesetzten Richtung. Dorthin gelangten sie ohnehin selten, und so kam es, dass er Astrid Enoksson nur mehr mit einem Besuch beehrte, wenn er zufällig entdeckte, dass er keinen Tabak mehr hatte oder die Milchvorräte erschöpft waren.

Er lehnte sein Fahrrad neben dem Laden an die Hauswand und überlegte, ob er es abschließen sollte, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war. Der Ort machte wie üblich einen nahezu gespenstisch verlassenen Eindruck. Er kam sich albern vor, aber er musste das Fahrrad einfach abschließen. Es war schließlich eine gut erhaltene Antiquität.

Das Glöckchen bimmelte, als er die Tür öffnete. Sofort erblickte er Astrid Enokssons kleine, gedrungene Gestalt. Sie begrüßte ihn überschwänglich.

»Nein, so eine Überraschung! Ist das wirklich Patrik der Maler, der sich bei diesem herrlichen Wetter die Ehre gibt?«

Sie warf einen Blick aus dem Fenster und registrierte sofort, dass der Wagen nicht da war.

»Sind Sie etwa zu Fuß gekommen?«

»Nein, mit dem Fahrrad. Das sollte ich öfter machen. Ich bin wirklich berauscht von all den Düften und Farben. Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«

Sie schaute ihn wohlwollend an und richtete kokett ihre unverwüstliche Dauerwelle.

»Ich kann nicht klagen«, sagte sie. »Das ist doch wirklich die schönste Zeit im ganzen Jahr. Und jetzt haben wir auch noch so wundervolles Wetter bekommen. Wollen wir hoffen, dass es sich hält.«

»Und Ihrem Enkelkind geht es gut?«

»Ich habe ein zweites bekommen«, sagte sie voller Stolz.

72

»Anna hat letzte Woche einen Jungen zur Welt gebracht.«

PM machte große Augen. »Wie schön zu hören. Ich gratuliere.«

Astrid seufzte selig auf. »Ja, es ist eine große Freude«, sagte sie, »obwohl man sich manchmal ziemlich alt vorkommt. Ehe man sich’s versieht, sind die kleinen Bengel schon erwachsen.

Wollen Sie Tabak kaufen?«

»Das auch, aber vor allem brauche ich ein paar Eier. Haben Sie welche?«

Astrid sah ihn vorwurfsvoll an. »Aber natürlich habe ich Eier.

Ganz frisch hereingekommen. So frisch kriegt man sie in der Stadt nur selten. Wie viele dürfen es sein?«

»Äh, sechs Stück ungefähr. Oder wie viele sind in einem Karton?«

»Zehn.«

»Dann nehme ich zehn.«

Sie stellte den Eierkarton auf die Ladentheke. »Wie geht es Ihrer Frau und Ihrer Tochter? Ihre Frau hat wahrscheinlich wie immer viel um die Ohren.«

»Ja, sie arbeitet immer noch in der Stadtbibliothek.«

»Und besucht sie noch so viele Kurse wie früher?«

»Nein, nur noch einen pro Woche.«

»Das ist gut. Man muss doch auch ein bisschen Zeit für sich selbst haben.« Mit schelmischem Lächeln fügte sie hinzu: »Und für seinen Mann natürlich, sonst kommt der noch auf dumme Gedanken.«

PM lachte. »Ja, ein bisschen Zeit hat sie auch für mich übrig, aber das birgt natürlich gewisse Risiken.«

»Wie meinen Sie das?«

»Dann hat sie mehr Zeit, mich zu kontrollieren und mit Arbeitsaufträgen zu versorgen.«

73

»Das ist bestimmt sehr nützlich. Und Marika? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie eine richtige Schönheit geworden. Sie hat doch sicher jede Menge Verehrer.«

»Sie wohnt in Kalmar bei meiner Schwester. Ich habe sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber in ein paar Wochen kommt sie uns besuchen.«

Astrid sah verdutzt aus. »Sie wohnt in Kalmar? Warum das?«

Seufzend erklärte PM die näheren Umstände; er wusste nicht, zum wievielten Male.

»Zum einen wohnt ihr Freund in Kalmar, und der übt zurzeit nun mal eine stärkere Anziehungskraft auf sie aus als ihre Eltern. Außerdem sind die Busverbindungen von hier in die Stadt ja indiskutabel. Es war schon immer ein Riesenaufwand für uns, Marika zur Schule zu bringen und wieder abzuholen.

Und meine Schwester wohnt direkt neben dem Gymnasium in Kalmar. So bleibt Marika auch der beschwerliche Schulweg erspart. Natürlich ist es ohne sie ziemlich leer geworden, aber sie ist achtzehn Jahre alt, und wir müssen uns ohnehin auf ein etwas ruhigeres Dasein einstellen.«

Astrids Augen funkelten vor Neugier. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Marika verlobt ist? Wie schön! Sie werden sehen, dann wird es auch nicht mehr lange dauern, bis Sie Großvater werden.«

PM verzog das Gesicht. »Also das hat nun wirklich keine Eile.«

Rasch fügte Astrid hinzu: »Natürlich sollten sie zuerst die Schule beenden, bevor sie heiraten. Aber Enkelkinder sind doch immer eine so große Freude.«

PM leitete den Rückzug ein, indem er einen Blick auf das Regal mit dem Tabak warf.

»Ich nehme ein Päckchen Hamilton und …«

Plötzlich schien Astrid etwas einzufallen. Sie sah erschrocken 74

aus. »War das nicht eine grässliche Geschichte mit dieser Leiche, die sie gefunden haben? Das war doch ganz in Ihrer Nähe. Was hat Ihre Frau dazu gesagt? Das muss ein großer Schock für Sie beide gewesen sein. Und man weiß ja auch gar nichts. Ich meine, wer’s gewesen ist. Die Polizei ist hier gewesen und hat mich gefragt, ob ich etwas Auffälliges beobachtet hätte. Aber nach so langer Zeit ist es doch schwierig, sich zu erinnern. Sie haben gesagt, die Leiche hätte über ein halbes Jahr da dringelegen. Hierher kommen doch alle möglichen Menschen. Leute, die man nie zuvor gesehen hat und auch niemals wiedersehen wird. Leute auf der Durchreise. Mir wird ganz schummrig, wenn ich daran denke. Erst gestern habe ich zu Inga gesagt, man kann ja nie wissen. Vielleicht war der Mörder ja sogar bei uns im Laden, habe ich ihr gesagt, während er die Leiche im Kofferraum hatte. Diese Jauchegrube liegt doch unmittelbar am Wegesrand. Die Polizei hält es auch für möglich, dass jemand die Leiche von weither transportiert und dort abgeladen hat. Aber Inga meinte, dass meine Fantasie mit mir durchgeht, denn niemand schafft sich eine Leiche am helllichten Tag vom Hals, sagte er. So etwas macht man in der Nacht, und da sind die Geschäfte geschlossen. Nisse hat doch die Leiche gefunden. Hatte ihn ziemlich mitgenommen, die Sache. Er war am selben Tag bei mir im Laden und sah immer noch ganz blass aus, der Arme. Er sagte, dass er in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Ekelhaftes gesehen hat. Der Körper war völlig zerfressen, sagte er. Dass sich die Leute in den großen Städten gegenseitig umbringen, das ist man ja gewohnt, aber dass so was auch bei uns möglich ist, hätte doch keiner vermutet. Haben Sie etwas Neues gehört? Ich meine, hat die Polizei Ihnen vielleicht verraten, ob es irgendeine Spur gibt?«

»Nein, wir wissen auch nicht mehr als die anderen Leute, obwohl wir so nahe dran wohnen«, antwortete PM.

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»Ich finde, die Polizei könnte uns ein bisschen mehr über den Stand der Ermittlungen informieren. Für die Leute in der Gegend ist die Ungewissheit doch schwer zu ertragen.«

»Vielleicht gibt es nicht viel zu berichten.«

»Ja, das ist möglich. Aber ich hoffe doch, dass der Fall irgendwann aufgeklärt wird. Es ist doch unheimlich, so gar nichts zu wissen.«

»Die Äpfel dort sehen schön aus«, sagte PM, um das Thema zu wechseln. »Sind das Golden Delicious? Dann nehme ich fünf Stück.«

»Wie wär’s auch noch mit einer Abendzeitung?«

PM schüttelte den Kopf. »Ich lese keine Abendzeitungen.

Davon kriege ich nur schlechte Laune.«

Astrid sah erstaunt aus. »Aber es ist doch gut zu wissen, was um einen herum so passiert.«

»Das stimmt, zumindest teilweise. Aber Gott sei Dank gibt es ja noch andere Quellen, die einen mit Informationen versorgen.

Wenn ich die Abendzeitungen lese, vergeht mir einfach der Appetit.«

»Finden Sie sie wirklich so schlecht?«

»Ja, das finde ich. Aber jetzt möchte ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Heute kommt mich ein guter Freund besuchen.

Katharina ist in der Stadt, und er hat versprochen, das Essen zu machen, weil er meinen Kochkünsten nicht traut. Da will ich ihn zumindest mit einem guten Dessert überraschen. Können Sie mir etwas vorschlagen?«

Astrid sah sich suchend um. Ihr Blick wanderte zwischen einer fertigen Crème brûlée und einer halb fertigen Mousse au Chocolat hin und her.

»Die Zubereitung sollte nicht zu lange dauern oder zu aufwändig sein«, fügte PM hinzu.

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»Ich … habe natürlich auch schöne Eistorten in der Kühltruhe«, entgegnete sie zögerlich.

»Welche Geschmacksrichtungen?«

»Birne …«

»Birne, wunderbar! Die nehme ich. Und dazu eine Schokoladensauce. Haben Sie Blockschokolade?«

»Ich habe fertige Schokoladensauce aus der Tube.«

»Dann nehme ich eine Tube und ein paar frische Birnen zum Garnieren. Damit wird er sicher zufrieden sein, meinen Sie nicht?«

»Ganz bestimmt.«

»Also bitte noch das Päckchen Hamilton und eine Schachtel Streichhölzer. Und das Ganze bitte auf zwei Tüten verteilt, damit ich auf beiden Seiten des Lenkers ungefähr dasselbe Gewicht habe.«

Astrid begann etwas unwillig die Tüten zu füllen. Sie schien noch mehr auf dem Herzen zu haben, ehe sie ihn ziehen lassen wollte.

»Wie hat Nygren es aufgenommen?«, fragte sie schließlich.

»Das ist doch fürchterlich, einen Hof zu übernehmen und dann gleich mit so einer schrecklichen Sache konfrontiert zu werden.

War er sehr schockiert?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, seit sie die Leiche gefunden haben. Eigentlich bekommt man ihn nur selten zu Gesicht, und mit mir ist das wohl auch nicht anders, nehme ich an. Aber gefreut wird er sich nicht gerade haben, davon können wir ausgehen.«

»Ach so, Sie haben also nur wenig Kontakt zu ihm?«

PM hörte einen enttäuschten Unterton in ihrer Stimme.

»Wir grüßen uns hin und wieder und wechseln ein paar Worte über das Wetter, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen. Er hat offenbar viel um die Ohren und ist nicht sehr gesprächig.«

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»Finden Sie? Ich hatte den Eindruck, dass er sehr freundlich und aufgeschlossen ist.«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Ja, er war einmal bei mir im Laden, allerdings nur ein einziges Mal. Ich vermute, er macht es wie die allermeisten auch und erledigt seine Einkäufe in der Stadt.«

Astrid schien plötzlich verstimmt und warf einen missmutigen Blick durch das Fenster auf die menschenleere Straße.

PM fühlte, dass der Vorwurf auch ihm galt, und wusste nicht, was er sagen sollte. Doch sie nahm sich rasch wieder zusammen und sagte seufzend: »Ja, die Zeiten ändern sich eben. Als Per und ich den Laden in den fünfziger Jahren übernommen haben, sah alles noch anders aus. Glauben Sie mir, damals gab es jede Menge Leute hier. An den Samstagen war so viel los, dass wir noch eine Aushilfskraft einstellen mussten. Und als die Mädchen größer wurden, haben sie natürlich auch mit angepackt. Alles war damals schöner. Unser Geschäft war gewissermaßen ein Treffpunkt für die Leute aus dem Ort.

Vielleicht wissen Sie noch, dass Per nebenan einen Kiosk besaß.

Den haben sie schon vor langer Zeit abgerissen. Abends kamen immer viele Jugendliche und standen mit ihren Fahrrädern und ihren Mopeds vor dem Kiosk. Die hatten damals nichts anderes zu tun. Bei Per kauften sie Süßigkeiten und einzelne Zigaretten.

Waren alles nette Jungs und Mädels, keine Rowdys darunter.

Damals konnte man die Mädchen noch guten Gewissens auf die Straße lassen. Heute tun mir die Leute Leid, die Kinder haben, wenn man sich überlegt, was ihnen alles zustoßen kann, ich meine, bei all den Drogen und Verbrechen überall. Hier gibt es fast keine Jugendlichen mehr. Im Ort wohnen vor allem ältere Leute. Aber dieser Nygren hat auf mich wirklich einen netten Eindruck gemacht.«

Astrid senkte die Stimme und lehnte sich über die Ladentheke.

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»Sie glauben gar nicht, wie erschrocken ich war, als er hier zur Tür reingekommen ist. Er sah Per so ähnlich, dass mir fast das Herz stehen geblieben wäre. Etwas größer und kräftiger war er vielleicht, aber Gesicht und Stimme waren zum Verwechseln ähnlich. Nicht wie Per in den letzten Jahren, bevor er gestorben ist. Da war er ja völlig abgemagert und ausgezehrt. Aber so wie in seinen besten Jahren, so sah er aus. Dasselbe freundliche, offene Gesicht, die Nase, das Kinn, einfach alles. Die Ähnlichkeit war fast erschreckend. Mir wurde es ganz weich in den Knien. Dann kamen wir ins Gespräch miteinander, und als ich verstand, um wen es sich handelte, habe ich mich ein bisschen beruhigt. Ich habe natürlich nichts gesagt und auch sonst niemandem davon erzählt, denn das kommt einem doch alles ein bisschen, wie soll ich sagen … übernatürlich vor. Aber ich fand ihn sehr sympathisch und habe mich gefreut, dass er hierher ziehen wollte. Diese Sandströms, die den Hof vorher bewirtschaftet haben, waren doch eigentlich ziemlich unangenehme Leute. Das war übrigens das erste Mal, dass er zu seinem neuen Hof wollte. Er hatte ihn sich bis dahin noch gar nicht ansehen können. Alles war von einem Makler geregelt worden. Er hatte das Auto voller Sachen und hat mehrere Tüten mit Lebensmitteln eingekauft. Später hat er dann Svens Hunde gesehen und mich gefragt, ob ich einen guten Züchter kenne, denn genau solche Hunde wollte er haben. Er brauche zwei Wachhunde, hat er gesagt. Ich habe ihm geraten, mit Sven zu sprechen, weil ich weiß, dass er selbst diese Hunde züchtet, wie heißen die noch gleich? Irische … irische …«

»Irische Wolfshunde.«

»Genau. Sehr liebenswerte Hunde. Aber er hat meinen Rat nicht befolgt. Hat nie mit Sven gesprochen. Hat er sich denn irgendwelche anderen Hunde angeschafft?«

»Ja, er besitzt einen, und der ist ganz und gar nicht liebenswert, sondern eher von der blutrünstigen Sorte. Meine 79

Frau hat Todesangst vor ihm. Aber als Wachhund ist er sicher sehr effektiv.«

»Was Sie nicht sagen. Aber wissen Sie, komischerweise mochte Nisse ihn auch nicht.«

»Wen? Nygren?«

»Er sagt, dass der Hof heruntergewirtschaftet wird. Aber man weiß ja auch, wie Nisse ist. Er hat doch an keinem der Eigentümer ein gutes Haar gelassen. Ich frage mich, ob es überhaupt jemanden gibt, den er leiden kann.« Astrid stieß einen leisen Seufzer aus.

»Auf mich hat Nygren jedenfalls einen netten Eindruck gemacht. Ich dachte, er würde sicher ab und zu bei mir vorbeischauen, aber er hat sich nie wieder blicken lassen.

Wahrscheinlich haben Sie Recht, und er hat auf dem großen Hof einfach sehr viel um die Ohren. Gibt es denn eine Frau Nygren?«

»Nicht dass ich wüsste. Er scheint allein zu leben.«

»Wie schade. Das kann für einen Mann nicht einfach sein, so ganz allein zu leben. Keinen zu haben, der einem das Essen kocht. Dann muss er sich damit auch noch herumplagen.«

»Vielleicht kocht er gern.«

»Ja, wer weiß. Es soll ja Männer geben, denen das Spaß macht. Per hat sich nie darum gekümmert. War ganz unglücklich, wenn ich einmal eine Zeit lang fort musste. Nein, hier rede und rede ich … Sie haben doch sicher noch andere Dinge zu tun. Außerdem bekommen Sie doch Besuch zum Essen. Ich schlage das Eis doppelt in Packpapier ein, dann hält es sich, wenn Sie sich beeilen.«

PM zahlte und eilte aus dem Laden, ehe Astrid noch weitere Gesprächsthemen einfielen. Er stieg auf sein Fahrrad und stieß einen Seufzer aus. Er wusste selbst nicht, ob er erleichtert war, weil sie ihm keine Vorwürfe wegen seiner seltenen Besuche 80

gemacht hatte, oder weil sie nicht mehr dazu gekommen war, alle Einzelheiten im Leben ihrer zahlreichen Nachkommen zu schildern. Jetzt hatte er einen beschwerlichen Heimweg vor sich, mit vielen Steigungen und zwei schweren Tüten am Lenker. Er stellte sich auf die Pedale und nahm den ersten Hügel in Angriff.

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9

Am selben Tag

Rolf Stenberg fuhr in gemächlichem Tempo, fest entschlossen, die unverhoffte Abwechslung eines Landausflugs nach Kräften zu genießen. Mit Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass der Frühling sich in fortgeschrittenem Stadium befand. Bald würde der Sommer da sein und mit ihm all die lästigen Pflichten gegenüber seiner Familie.

Der von Anemonen übersäte Buchenwald schimmerte nie so grün wie zu dieser Zeit. Doch hätte er diese Pracht ebenso gut in einer gut gemachten Fernsehreportage bewundern können. Die Eindrücke flimmerten duftlos an ihm vorüber wie die Bilder auf einer Mattscheibe. Warum hielt er nicht an und setzte sich zwischen die Anemonen, atmete tief durch und ließ die Natur auf sich wirken? Weil Hauptkommissar Stenberg, wie üblich, keine Zeit hatte. PM erwartete ihn um vier Uhr. Er würde sich ohnehin verspäten.

Er hatte ein mulmiges Gefühl, wenn er an den Zweck seines Ausflugs dachte. Ein ums andere Mal sagte er sich, dass er keine Schuld daran trug. Umstände, die sich seinem Einfluss entzogen, hatten ihn in diese beklemmende Situation gebracht. Doch was half die Erkenntnis, dass er schuldlos daran war? Seine Nachrichten würden das Leben seines Freundes nachhaltig erschüttern. Was dies für ihre langjährige Freundschaft bedeutete, daran wollte er gar nicht erst denken.

Und wie stand es um seine Arbeitsmoral? Es zwang ihn doch niemand, tagaus, tagein in seinem Büro zu hocken, um unzählige Telefonate zu erledigen, den nie versiegenden Strom an Besuchern zu empfangen und sich durch Aktenberge zu fressen, die seinen Schreibtisch zu ersticken drohten. Der Sinn dieser täglichen Plackerei – das redete er sich jedenfalls ein –

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war eine Minderung der Arbeitsbelastung, war die Hoffnung, die Aktenberge eines Tages vollständig abgetragen zu haben.

Als er Martin, seinem fünfundzwanzigjährigen Sohn, von diesem Ansinnen erzählte, hatte der nur herzlich lachend erwidert: »Vergiss es, Papa! Die Aktenberge werden nie kleiner werden. Du solltest lieber damit anfangen, mehr an dich selbst zu denken. Es dankt dir keiner, wenn du dich zu Tode schuftest.« Das Wahre an dieser Bemerkung war so schwer verdaulich, dass er sich fürs Erste nicht weiter mit ihr beschäftigte.

Eigentlich war er kaum jemandem Rechenschaft schuldig, was seine Arbeitsmethoden betraf, und auch seine Zeiteinteilung ging niemanden etwas an. Dennoch stiegen an einem solchen Tag uralte Erinnerungen in ihm auf, an sonnendurchflutete Tage, an denen er einst die Schule geschwänzt hatte. Tage, die lust- und angstvoll zugleich gewesen waren. Die Missachtung von Regeln und Verboten war noch nie seine Sache gewesen, und schon als Kind hatte er dies als persönliche Schwäche betrachtet. Das Schuleschwänzen, heimliches Rauchen und andere Dinge, die für die meisten in einem gewissen Alter selbstverständlich waren, hatten ihm stets Gewissensbisse bereitet. Aber natürlich hatte er die Verachtung seiner gleichaltrigen Freunde mehr gefürchtet als alles andere, also hatte auch er sich in der Kunst des Ungehorsams geübt und sein Kreuz in aller Stille getragen. Doch allmählich hatte er die Ursache seiner Furcht vor Regelübertretungen erkannt. Sie lag in dem Bild, das er sich von seinem Vater gemacht hatte. Er war wie ein beharrlicher Schatten, der nie von seiner Seite wich und in seiner selbstgerechten Güte über all seine Handlungen urteilte und richtete.

Seine beiden Eltern entstammten freikirchlich geprägten Elternhäusern. Seine Mutter war zu wirklicher Güte imstande gewesen, wenngleich er sie vorwiegend eingeschüchtert und unterdrückt in Erinnerung hatte. Sein Vater war machtbesessen 83

und scheinheilig gewesen. Sein unbeugsamer Wille hatte sich weniger durch lautstarke Forderungen als vielmehr durch unheilvolles Schweigen und subtilen Sarkasmus bemerkbar gemacht. Er dominierte das Leben der gesamten Familie mit seiner ebenso maß- wie freudlosen Pedanterie. Obwohl sein Tod schon viele Jahre zurücklag, geschah es immer noch, dass Hauptkommissar Stenberg harte Gewissenskämpfe mit ihm ausfocht.

Dass er sich für den Beruf des Polizisten entschieden hatte und sich für die Einhaltung der Gesetze engagierte, betrachtete er als eine Ironie des Schicksals. Der Vater war mit der Berufswahl des Sohnes zufrieden gewesen, und da diesem allein der Gedanke zuwider war, es dem Vater recht zu machen, wurde er ein rebellischer Polizist. Methodisch hatte er seine Abneigung gegen ein formalistisches Rechtsverständnis und die vorgefassten Anschauungen vieler Kollegen entwickelt. Für ihn war es eine Frage der Disziplin, zu allen Formfragen eine entspannte und unkonventionelle Haltung einzunehmen. Er hielt sich für einen guten Polizisten und zählte die Vorbehalte vonseiten seiner Kollegen und Vorgesetzten, denen er sich im Lauf der Jahre gegenübersah, zu seinen Verdiensten. Ein Rebellentum, das er durch sein übertriebenes Verantwortungsbewusstsein, das ihn mit Haut und Haar zu verschlingen drohte, teuer bezahlte.

Sein Freund PM war in vieler Hinsicht das krasse Gegenteil von ihm. Vermutlich hatte er deswegen eine so tiefe Zuneigung zu ihm gefasst.

Sie kannten sich, seit sie im Alter von sieben Jahren gemeinsam die Grundschule besucht hatten. Roffe hatte unverhohlene Bewunderung für den vorlauten Patrik empfunden, der Kieselsteine gegen die Schulfenster schleuderte, den Mädchen nachstellte und freche Sprüche an die Toilettenwände kritzelte, ohne auch nur die geringsten Anzeichen von Furcht zu zeigen.

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Als Roffe nach einiger Zeit zu Patrik nach Hause eingeladen wurde, kannte seine Verwunderung keine Grenzen, denn sein neu gewonnener Freund war offensichtlich kein einzigartiges Phänomen. Seine gesamte Familie schien vom selben Schlag zu sein. Patriks Eltern hatten nicht weniger als fünf großmäulige Kinder, die lärmend und selbstgewiss eine geräumige alte Villa bewohnten, in der ein ständiges Chaos zu herrschen schien.

Außerdem besaßen Patriks Eltern eine berühmt-berüchtigte Buchhandlung in der Stadt; ein Umstand, der Roffe erst Jahre später bewusst wurde.

Zu dieser Zeit gab es in Christiansholm zwei Buchhandlungen, von denen nur die eine als zweifelsohne respektabel galt. Sie war wohlgeordnet und führte neben Schulbüchern und Konfirmationsbibeln auch Erbauungsliteratur sowie die einschlägigen Bestseller. Außerdem gab es dort Schreibwaren.

In der anderen herrschte zumeist drangvolle Enge. Auf den Tischen und der Ladentheke türmten sich die Novitäten. Es roch nach Staub und Zigaretten. Hierher ging man, um sich einen Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen in Lyrik und Prosa zu verschaffen, und suchte man nach etwas Gewagtem, beispielsweise einem skandalumwitterten Roman, der öffentlichen Anstoß erregte, wurde man hier stets fündig. Dieser anrüchige Ort war nicht nur ein Treffpunkt für literarische Feinschmecker und politische Extremisten, sondern auch für Gymnasiasten, die als besonders progressiv gelten wollten.

Ohne seinen Vater direkt anzulügen, gelang es Roffe, diesem jahrelang zu verschweigen, dass Patrik der Sohn des nur in gewissen Kreisen geschätzten Buchhändlers war. Als die Wahrheit schließlich ans Licht kam, waren es die Liebe und der Respekt des Vaters für die Musik, welche die Situation retteten.

Zu dieser Zeit gingen beide Freunde bereits aufs Gymnasium und standen unter dem Einfluss ihres enthusiastischen Musiklehrers Ahlstedt, der sich mit heldenhafter Beharrlichkeit auch um das städtische Amateurmusikleben verdient machte.

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Roffe war der Sohn eines Organisten und hatte die Grundlagen des Klavierspiels erlernt, noch ehe er richtig sprechen konnte.

Patrik, der aus einer Familie kam, in der viel musiziert wurde, nahm seit dem sechsten Lebensjahr Cellounterricht. Ahlstedt hielt ihn für sehr talentiert, was auch Roffes Vater milde stimmte. Ein Junge, der so musikalisch war, konnte nicht von Grund auf verdorben sein, auch wenn er einen dubiosen Vater hatte.

Während ihrer gesamten Gymnasialzeit waren die beiden Jungen davon überzeugt, dass ihnen eine Karriere als Musiker bevorstand. Eine Überzeugung, die von Musiklehrern und Eltern eifrig genährt wurde. Doch Patrik war vielseitig begabt und neugierig auf die meisten Dinge. Er schloss sich mit einigem Erfolg einer Laienspielgruppe an und wollte eine Zeit lang Schauspieler werden. Später wandte er sich der Malerei zu und hielt mit beinahe beunruhigender Beharrlichkeit an ihr fest.

Roffe konnte sich gut an Patriks erste Vernissage erinnern. Eine seltsame Veranstaltung, die in der Diele der großen Villa stattfand, wo er ein paar Ölbilder aufgestellt und zahlreiche Zeichnungen mit Reißnägeln an die verschlissenen Tapeten geheftet hatte. Damals gingen sie in die Unterprima. Patrik hatte vehement die Werbetrommeln gerührt und die halbe Schule mit dem Versprechen, der Wein werde in Strömen fließen, zu sich nach Hause gelockt. Roffe konnte sich nicht erinnern, dass die Bilder auf das Publikum einen nachhaltigen Eindruck gemacht hätten. Es lag zweifellos am Wein, dass der Andrang so zahlreich war.

1965 hatten sie Abitur gemacht, und dieser Sommer war zweifellos der glücklichste seines Lebens gewesen. Die Schulpforte, die er als Gefängnistor empfunden hatte, stand sperrangelweit offen und gab den Blick auf ungeahnte Möglichkeiten frei. Patrik hatte sicher Ähnliches empfunden, nur dachte er bereits weiter. Nach Wochen des Feierns, die sie sich ehrlich verdient zu haben glaubten, kehrte er dem 86

verschlafenen Christiansholm den Rücken und machte sich auf nach Stockholm. Die offizielle Begründung lautete, er wolle Privatstunden bei einem Cellolehrer der Musikhochschule nehmen. Roffe war sich hingegen nicht mehr so sicher, was seine Berufswahl betraf. Er wohnte weiterhin zu Hause und sprang hier und da für seinen Vater als Organist ein. Doch schon nach einem Jahr hatte er von diesem Leben genug, und es kam zu der unvermeidlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Vater. In jugendlicher Raserei brach er mit seiner Familie und folgte seinem Freund Patrik nach Stockholm.

Aus Patriks Musikstudium war nicht viel geworden, denn im Stockholm der sechziger Jahre, das von Studentenunruhen, der Anti-Vietnam-Bewegung und der Hippiezeit geprägt war, gab es allzu viele Ablenkungen. Patrik fand sich inmitten aller -ismen und subversiven Anschauungen mühelos zurecht, hatte bereits jede Menge Freunde unterschiedlichster Herkunft und hielt sich vorwiegend in Künstlerkreisen auf. Sein Cello nahm er nur sporadisch zur Hand, dafür widmete er sich zunehmend der Malerei. Es war zu dieser Zeit, dass er sich einen Bart und den Namen Patrik der Maler zulegte und die Leute ihn PM zu nennen begannen.

Zwischen Patriks leidenschaftlichen und selbstbewussten Freunden kam sich Roffe stets deplatziert vor. An den Studentenrevolten und Anti-Vietnam-Demonstrationen nahm er nur halbherzig teil. Ein paar Mal begleitete er PM in die einschlägigen Lokale, in denen man vor Zigarettenqualm kaum atmen konnte und Ravi Shankars nicht enden wollendes Sitarspiel sowie der Hollenlärm der Rolling Stones jede Unterhaltung unmöglich machten. Im Zwielicht, denn etwas anderes als Kerzenschein gab es in diesen Kneipen nicht, ahnte er die bleichen, in sich gekehrten Gesichter. Er hatte tapfer an den ständig kursierenden Joints gezogen und war in eine narzisstische Selbstbespiegelung versunken. Die Frauen waren in seiner Erinnerung schmerzlich schön und unerreichbar 87

gewesen. Wie junge Priesterinnen thronten sie zwischen marokkanischen Kissen und indischen Tüchern und schwebten zweifellos in höheren Sphären als er. Er hätte nicht einmal zu träumen gewagt, dass er ihnen gefallen könnte. Patrik fühlte sich in diesem Milieu hingegen wie zu Hause, und was Frauen anging, war ihm jede Unsicherheit fremd.

Nein, der Versuch des Freundes, einen Revolutionär aus ihm zu machen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Herbst 1965 schrieb sich Roffe an der juristischen Fakultät ein.

Im Jahr darauf wurde Patrik an der Kunstakademie aufgenommen. Da Patrik außerdem viel reiste, sahen sie sich in den nächsten Jahren nur selten.

Während seines Jurastudiums lernte Roffe Anita kennen. Ein Grund für ihre gegenseitige Anziehungskraft bestand darin, dass sie beide mit ihren Familien gebrochen hatten. Er war unter der scheinheiligen Tyrannei seines Vaters aufgewachsen, während sie unter ihrer machtbesessenen Mutter gelitten hatte. Zwei verwundete und ausgestoßene Seelen waren sich begegnet und wärmten sich am Verständnis des anderen. Zumindest zu Beginn.

Ehe er es sich versah, wohnten sie in einer Einzimmer-wohnung in Hagersten und erwarteten ihr erstes Kind, das den Namen Martin tragen sollte. Ihre finanzielle Lage war mehr als bescheiden, und er wusste nicht mehr richtig, wie es begonnen hatte, doch als sie nach einem weiteren Jahr der Geburt ihres zweiten Kindes Susanne entgegenblickten, kroch das stolze, aber bettelarme Paar zu Kreuze und versöhnte sich mit seinen Eltern. Eine Heirat war unausweichlich und hatte, quasi als Belohnung für gutes Betragen, eine materielle Unterstützung beider Großelternpaare zur Folge.

Es bestand kein Zweifel, dass Roffe dazu neigte, sein Leben kompliziert zu machen. Das begriff er, als ihm die Arbeit in seinem bescheidenen, aber hoch verschuldeten Haus in Högdalen mal wieder über den Kopf wuchs. Seine Frau, die sich 88

seit der großen Versöhnung in ständigem Streit mit ihrer Mutter befand, hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten – und ihm die tägliche Beaufsichtigung ihrer beiden Kinder übertragen.

Dies allein wäre kein Problem gewesen, hätte er nicht darüber hinaus mit seinem Vater in permanenten, demütigenden Verhandlungen wegen eventueller Vorschüsse gelegen, um die nächste Ratenzahlung leisten zu können. Doch waren nicht alle Tage so bedrückend gewesen. Er und Anita waren damals überzeugt davon, das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben, und in gewisser Weise stimmte das auch.

Trotz des kräftezehrenden Familienlebens gelang es ihm schließlich, sein Studium zu Ende zu bringen. Doch als er sich dem Examen näherte, begriff er, dass seine Noten keinesfalls ausreichen würden, um eine glänzende Karriere als Richter oder Staatsanwalt in Angriff zu nehmen. Nicht einmal für eine Laufbahn als gewöhnlicher Anwalt oder Wirtschaftsjurist würden sie ausreichen. Die rettende Idee lag im Grunde auf der Hand, da Anitas Vater bei der Stockholmer Polizei angestellt war. Eines Tages hatte er diesen Gedanken erstmals laut ausgesprochen. Wenn er sich bei der Polizei bewarb, sollte einem raschen Aufstieg nichts im Wege stehen. Er hatte es satt, von seinem Vater und seiner Schwiegermutter abhängig zu sein, und wollte endlich sein eigenes Geld verdienen. Deshalb wählte er für seine schriftliche Abschlussarbeit das Thema »Die Machtmittel der Polizei in Relation zur Rechtssicherheit des Individuums«.

Er erinnerte sich noch genau, wie gedemütigt er sich gefühlt hatte, als er PM seinen Entschluss mitteilte. Der Freund hatte ihn kopfschüttelnd angeschaut und ausgerufen: »Du willst Bulle werden? Wie zum Teufel sollen wir dann noch normal miteinander umgehen können?« PMs Enttäuschung war unverkennbar gewesen. Fast schien es so, als müsse er seinen Freund damit verloren geben.

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Aber ihre Freundschaft bestand auch diese Prüfung. Zwar konnte sich PM auch später ironische Bemerkungen zu Roffes Berufswahl nicht verkneifen, doch waren sie stets von der gutmütigen Sorte, und seine eigene Karriere bespöttelte er nicht minder.

Nach zehn Jahren bei der Stockholmer Polizei war alles so gekommen, wie er vorausgesehen hatte. Er war erwartungsgemäß die Karriereleiter emporgekrabbelt, Anita und er waren in ein größeres Haus in Bromma übergesiedelt, und ihr drittes Kind, Camilla, wurde in eine Familie hineingeboren, die ihre ersten Krisen hinter sich und ihre Schäfchen einigermaßen im Trockenen hatte. Anita und er beherrschten inzwischen sogar die Kunst, den Eindruck einer intakten Familie zu vermitteln, zumindest nach außen hin. Er verdiente das Geld, und sie kümmerte sich darum, dass zu Hause alles funktionierte. Doch Roffe stellte sich zunehmend die Frage, ob dies der eigentliche Sinn allen menschlichen Strebens war. Natürlich war es das nicht. Die Freunde, mit denen er dieses Thema erörterte, versicherten ihm einhellig, er habe nur die Voraussetzungen für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geschaffen. Aber diese ließen auf sich warten, und schließlich dämmerte ihm, dass sie sich nicht offenbaren würden, falls er nicht zu einer radikalen Änderung bereit war. Und das Radikalste, was ihm in dieser Zeit einfiel, war eine Bewerbung bei der Polizei in Christiansholm.

Eine Anstellung bei der dortigen Behörde würde ihn zumindest zeitweise von den Fesseln seiner bürgerlichen Existenz befreien, die er so hartnäckig aufgebaut und verteidigt hatte. Im Grunde seines Herzens war er ein geselliger Eremit, der gegen eine Familie nichts einzuwenden hatte, solange er nicht mit ihr unter einem Dach leben musste. Die Rolle dessen, der seine Angehörigen schnöde im Stich lässt, nahm er gern an und gönnte seiner Frau all die Sympathie und das Mitleid, die ihr von Freunden und Verwandten entgegenschlugen.

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Nach einer Weile stellte er fest, dass die Idee, sechshundert Kilometer zwischen sich und die Familie zu legen, für alle von großem Nutzen war. Anita war aufgeblüht und widmete sich auf einmal verschiedensten Interessen. Seine Kinder sah er mehrmals im Jahr und hatte mit ihnen eine sehr viel schönere Zeit als damals, als er noch unglücklich in Stockholm mit ihnen zusammengelebt hatte. Richtig glücklich war er zwar auch in Christiansholm nicht, doch hier konnte er seinen irrationalen Impulsen nachgeben, ohne so vielen Menschen auf die Zehen zu treten. Seine einzige Belastung waren die ewigen Ferien, weil Anita darauf bestand, sie auch weiterhin für die gesamte Familie zu organisieren. Aber auch das würde eines Tages ein Ende haben. Bald würden die Kinder zu rebellieren beginnen, und dann …

Als Roffe an Knigarps Schweineställen vorbeirollte, drängten die Probleme der Gegenwart drastisch in sein Bewusstsein zurück. Er drosselte das Tempo und bog in den Weg ein, der zu PMs Haus führte.

Als er aus dem Auto stieg, trat PM aus der Tür. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, und Roffe registrierte beklommen, dass sie beide es eilig hatten, den Blick abzuwenden. Schlechte Nachrichten lagen in der Luft, und keiner von ihnen wollte es sich anmerken lassen. Eine Plastiktüte in jeder Hand, betrachtete Roffe den Vorgarten. Er hatte keinesfalls vor, mit der Tür ins Haus zu fallen. Zunächst sollten sie in Ruhe miteinander essen. Er sog den betörenden Blumenduft ein.

»Narzissen«, sagte er.

»Kann sein«, entgegnete PM vage.

Er stand immer noch mit nahezu abweisender Miene an der Treppe und hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.

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Roffe verspürte einen irritierenden Drang, sich weiter in das Thema Blumen zu vertiefen. Außerdem verdiente der Garten seine volle Aufmerksamkeit.

»Hat Katharina das allein zustande gebracht oder hast du ihr dabei geholfen?«

»Ich mähe den Rasen, und wenn sie sagt, ich soll ein Loch graben, dann tue ich das. Warum?«

Roffe sagte nachdenklich: »Sie hat wirklich ein unglaubliches Händchen für alles, was wächst. Am meisten bewundere ich ihre Begabung, alles so natürlich aussehen zu lassen. Ich meine die Mischung aus angelegtem und wildem Garten. Ich betrachte das als eine große Kunst. Du weißt doch, wie sehr ich zu akribisch angelegte Gärten hasse.«

»Ich dachte, du hasst sie nur, wenn du sie selbst anlegen musst.«

»Stimmt, in Högdalen und Bromma habe ich das bis zur Verblödung gemacht«, sagte Roffe. »Jedes leere Fleckchen musste bepflanzt werden. Man konnte keinen Schritt mehr tun, ohne auf irgendwelchen Blumen herumzutrampeln. Von eigenen Gärten habe ich die Nase gestrichen voll. Da bewundere ich lieber, was andere zustande gebracht haben.«

PM deutete auf die Plastiktüten. »Dauert es lange mit dem Essen?«

»Kommt drauf an. Wenn du mir hilfst und nicht dauernd davonläufst, dauert es nur eine halbe Stunde. Bist du hungrig?«

»Nicht besonders. Aber wenn wir uns beeilen, können wir noch draußen essen.«

»Okay«, sagte Roffe. »Dann lass uns anfangen.«

Sie gingen in die Küche, wo Roffe seine Tüten leerte.

»Ich mache Spaghetti Carbonara, aber nach meinem eigenen Rezept«, sagte er. »Das ist einfach und lecker. Du hast doch Eier? Ich brauche vier Stück.«

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»Ja, sollen sogar frisch sein.«

»Wollen wir’s hoffen. Ich brauche eine Bratpfanne und einen großen Kochtopf für die Spaghetti. Gut … würdest du ihn mit Wasser füllen? Stopp, nicht so viel, die Nudeln brauchen auch noch Platz. Dann kannst du den Schinken würfeln.«

Roffe arbeitete zügig und routiniert, während sein Gastgeber ihn nach Kräften unterstützte und sich bemühte, nicht im Weg zu stehen.

»Was für Wein hast du mitgebracht?«, fragte PM.

»Einen Chianti Ruffino zum Trinken und einen trockenen Weißen zum Kochen.«

»Chianti habe ich auch noch. Wir können doch die Flaschen austauschen und eine von meinen nehmen, die schon eine Weile lagern?«

»Gute Idee. Wenn du mit dem Schinken fertig bist, kannst du den Käse reiben. Ist zwar kein richtiger Parmesan, aber dieser tut’s auch. Ich habe ihn beim Käsehändler gekauft. Ansonsten ist Käse ja heutzutage ein trauriges Kapitel, vor allem in diesen riesigen Supermärkten. Hast du den Schinken gewürfelt? Die Zwiebeln sehen glasig aus. Also, hinein mit dem Schinken und einen ordentlichen Schuss Wein dazu. Ah, welch ein Duft! Jetzt könntest du noch ein paar Knoblauchzehen in Scheiben schneiden und dazugeben.«

»Soll ich etwa alles tun?«, beklagte sich PM. »Ich dachte, du wolltest die Carbonara machen.«

Roffe sah ihn streng an. » Ich mache die Carbonara, und du bist mein Assistent. Natürlich bin ich für das Resultat verantwortlich und werde dieses himmlische Gericht persönlich abschmecken.

Und in meine Eiersauce darfst du mir ebenfalls nicht reinpfuschen. Aber nimm doch ein Glas Wein, wenn du überanstrengt bist, und schenk mir auch eines ein. Das regt den Appetit an. Ach, und gib mir doch bitte einen Schneebesen.«

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Schweigend kosteten sie den Wein. Dann begann Roffe nochmals in seinen Plastiktüten zu wühlen und rief aus:

»Verdammt! Jetzt habe ich doch tatsächlich die Petersilie vergessen!«

PM, der immer noch mit dem Schälen des Knoblauchs beschäftigt war, blickte auf und fragte: »Ist das so wichtig?«

»Wichtig?« Roffe verdrehte die Augen. »Natürlich ist das wichtig. Ohne Petersilie ist es einfach nicht dasselbe.«

»Ich kann dich beruhigen. Im Garten haben wir massenhaft Petersilie.«

Roffe wäre vor Erleichterung fast in die Luft gesprungen.

»Dann sind wir gerettet. Holst du uns einen ordentlichen Bund?

Aber beeil dich, das Wasser kocht schon.«

Er warf PM, der folgsam nach draußen trottete, einen langen Blick nach. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er wirkte gedämpft, beinahe teilnahmslos. Wohl kaum die geeignete Verfassung für schlechte Nachrichten. Aber was sollte er tun?

Jemand musste schließlich mit ihm sprechen. Doch zuerst das Essen und ein paar Gläser Wein, dann würden sie reden.

Nachdem die gehackte Petersilie mit geriebenem Käse, Schinken, geschlagenen Eiern und Knoblauch eine glückliche Verbindung eingegangen und mit den dampfenden Spaghetti vermischt worden war, sagte Roffe: »Jetzt kommt das Wichtigste, um dieses Gericht zu einer richtigen Carbonara zu machen.«

Er griff behutsam zu seiner mitgebrachten Pfeffermühle und ließ einen dichten Regen gemahlenen schwarzen Pfeffers auf die gelbe Nudelmasse niedergehen. Er wirkte äußerst zufrieden.

»Ja, so sieht das gut aus. Als hätte sich ein Kohlenhändler über der Schüssel am Kopf gekratzt.«

Essen und Wein standen auf dem Gartentisch bereit. Der eine oder andere Seufzer sowie das leichte Klappern von Besteck und 94

Gläsern waren die einzigen Geräusche, die anfangs zu hören waren. Beobachtet wurden sie von drei wohlerzogenen Katzen, die in gebührendem Abstand auf eventuelle Reste warteten. Die Vögel gaben ein frenetisches Abendkonzert, während die tief stehende Sonne den Garten in goldenes Licht tauchte.

Nach einer Weile sagte Roffe: »Gar nicht so schlecht. Trink du den Wein aus. Ich muss noch fahren.«

PM schaute auf und sagte anerkennend: »Schmeckt wirklich ausgezeichnet. Man merkt, dass du professionelle Hilfe hattest.

Der Wein ist auch nicht zu verachten.«

Roffe lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Kommst du manchmal zum Cellospielen?«, fragte er.

PM stocherte mit einem abgebrochenen Zahnstocher in seinen Zähnen.

»Manchmal spiele ich die Solosuiten von Bach, das ist alles«, sagte er. »Und du?«

»Ich glaube, ich habe das Klavier seit einem Monat nicht angerührt. Es ärgert mich maßlos, aber ich komme einfach nicht dazu.«

PM gab einen mürrischen Laut von sich. »Wer hindert dich denn? Es zwingt dich doch niemand, mehr als acht Stunden am Tag ein Bulle zu sein.«

Roffe verzog säuerlich das Gesicht. »Fängst du jetzt auch noch an? Martin liegt mir schon ständig in den Ohren, ich würde zu viel arbeiten.«

»Tust du ja auch. Nimm dir ab und zu mal frei. Komm mich besuchen, dann können wir zusammen spielen, so wie in alten Zeiten.«

Roffe warf seinem Freund einen rätselhaften Blick zu und entgegnete: »Ab dem Herbst kann ich meine Arbeit vielleicht völlig umstrukturieren.«

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PM hob die Brauen. »Bist du dir darüber im Klaren, dass du seit zwei Jahren von dieser Umstrukturierung sprichst? Bis jetzt hat sie nur dazu geführt, dass du immer mehr um die Ohren hast.«

»Ich weiß, aber jetzt wird sich vielleicht wirklich etwas verändern. Der Polizeidirektor lässt sich im Oktober pensionieren.«

PM applaudierte. »Na endlich. Dann wirst du also befördert?«

»Abwarten«, antwortete Roffe vorsichtig. Dann bemerkte er plötzlich die geduldig wartenden Katzen. »Wie viele Katzen habt ihr? Die gelbe erkenne ich wieder. Wie heißt sie noch gleich?«

»Lady Pamela. Die anderen beiden sind ihre Kinder.«

»Sie ist ganz schön dick.«

»Ja, sie ist wieder trächtig.«

»Warten sie etwa darauf, dass für sie etwas abfällt?«

»Natürlich.« PM schaute in die Schüssel. »Willst du noch mehr haben? Ansonsten könnten sie doch den Rest bekommen.«

»Also, ich bin satt«, sagte Roffe.

»Wie wär’s mit einem Espresso?«

»Hört sich gut an. Ich bleibe sitzen und lausche den Vögeln.«

PM nahm die Essensreste und trug sie ins Haus. Die Katzen folgten ihm. Roffe hoffte inständig, der weitere Abend würde ebenso unbeschwert verlaufen, wie er begonnen hatte.

Als sie kurz darauf vor ihren Kaffeetassen saßen, hatte die Dämmerung eingesetzt. Die Luft war immer noch mild, aber die Schatten waren länger geworden. PM stopfte seine Pfeife und steckte sie an. Roffe rückte ein Stück zur Seite, um dem Rauch zu entgehen, der seiner Meinung nach den Duft von Katharinas Blumenbeeten zerstörte.

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Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, spürte Roffe, dass es an der Zeit war. Er sah prüfend zu seinem Freund hinüber und sagte: »Dafür, dass du einer der redseligsten Menschen bist, die ich kenne, bist du ziemlich schweigsam heute.«

PM zog nachdenklich an seiner Pfeife und entgegnete nach einer Weile: »Katharina sagt, ich würde jedes Jahr schweigsamer. Sie betrachtet das als gutes Zeichen.«

»Damit könnte sie Recht haben. Aber ich wundere mich trotzdem.«

»Warum?«

»Ja, bist du denn nicht neugierig, was ich dir zu sagen habe?«

»Nein. Ich vermute, es handelt sich um schlechte Nachrichten, da du am Telefon nicht damit herausrücken wolltest.«

»Am Telefon war mir das zu kompliziert. Die Angelegenheit hat sich in eine Richtung entwickelt, die mir ganz und gar nicht gefällt.«

»Welche Angelegenheit?«

»Nun, sagen wir, die Anzeichen, die darauf hindeuten, du könntest etwas mit der nicht identifizierten Leiche in der Jauchegrube zu tun haben.«

PM streckte gähnend die Glieder. »Ach, diese Sache.«

»Du erinnerst dich doch, dass ich Marianne Wester verhören wollte?«

»Ja, natürlich. Was hatte sie zu sagen?«

Roffe registrierte erstaunt das beinahe demonstrative Desinteresse seines Freundes und fuhr fort: »Meine Kollegen in Stockholm hatten schon vergangenen Donnerstag versucht, sie zu erreichen, konnten aber nicht an sie herankommen, genauso wenig wie du.«

PM zuckte die Achseln. »An manche Frauen kommt man eben schwer heran. Vielleicht wollen sie sich so interessant machen.«

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»Damit kenne ich mich nicht aus«, erwiderte Roffe trocken.

»Meine Erfahrung mit Frauen ist bescheidener als deine. Doch falls es dich interessiert, erzähle ich dir, was dann geschah.«

PM stopfte sich erneut seine Pfeife und zündete sie umständlich an.

»Nur zu«, sagte er.

»Als sie weder die Tür öffnete noch ans Telefon ging, haben sie, wie in solchen Fällen üblich, ihre Daten überprüfen lassen und festgestellt, dass sie nur wenige Stunden, nachdem ich ein Verhör beantragt hatte, von einem Mann namens Tranehed als vermisst gemeldet worden war. Dieser Tranehed, seines Zeichens Direktor irgendeines Unternehmens, war offenbar ein guter Freund, der in regelmäßigem Kontakt zu ihr stand. Sie waren am Dienstagabend miteinander verabredet gewesen, also am selben Tag, an dem du zu ihr wolltest. Als sie am Dienstag nicht kam und auch am nächsten Tag nicht zu erreichen war, begann Tranehed sich Sorgen zu machen und verständigte die Polizei. Normalerweise nimmt man so eine Vermisstenmeldung ja erst mal gelassen auf, aber in diesem Fall kam mein geplantes Verhör sowie die mögliche Verbindung zu einem Mordfall hinzu. Also beschloss man, ihre Wohnung zu durchsuchen.

Marianne Wester lag tot in ihrem Bett, ermordet.«

Roffe machte eine Pause, um eventuelle Reaktionen seines Freundes zu beobachten. Aber es gab keine. PM saß vollkommen regungslos da, wie eine Statue, während ihm die erloschene Pfeife im Mundwinkel hing. Nicht ein Laut kam über seine Lippen. Roffe fragte sich, ob er ihm überhaupt zugehört hatte. Es war so dunkel geworden, dass seine Gesichtszüge nicht zu erkennen waren. Die Luft wurde kühl, und Roffe, der zu seiner eigenen Verwunderung die Situation etwas unheimlich fand, fragte, ob sie hineingehen sollten.

PM zuckte zusammen, als sei er plötzlich geweckt worden.

»Wie?«, fragte er schroff.

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»Du meinst, wie sie ermordet wurde?«

»Ja.«

»Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«

Endlich zeigte PM eine sichtbare Reaktion. Die Pfeife fiel ihm aus dem Mund, und er begann zu zittern. Roffe bemerkte es zuerst an seinen Händen, die auf dem Boden nach der Pfeife tasteten. Dann sah er, dass seine Schultern zuckten. Als PM auf die Knie sank, um nach seiner Pfeife zu suchen, tat Roffe dasselbe, um ihm zu helfen. Sie fanden sie gleichzeitig, doch PM war nicht in der Lage aufzustehen. Als hätte er Gelee in den Gliedern.

Roffe fasste ihn unter den Achseln und zog ihn nach oben.

Dann legte er sich einen Arm über die Schultern und half ihm ins Haus. Als PM auf dem Sofa lag, sah Roffe sich nach einer Decke um.

»Du hast einen Schock«, sagte er. »Das geht bald vorüber. Wo gibt es hier eine Lampe? Man sieht ja kaum die Hand vor Augen.«

Er erhielt keine Antwort, entdeckte jedoch eine Tischlampe, die er anknipste.

»Willst du etwas zu trinken haben? Vielleicht etwas Starkes?«

PM schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen.

»Es geht mir schon besser«, sagte er. Doch seine klappernden Zähne bezeugten das Gegenteil.

Roffe ließ sich neben PMs Kopf in einen Sessel sinken und sagte: »Atme ein paarmal tief ein, das wird dir helfen.«

PM befolgte den Rat und fand dies anscheinend so wohltuend, dass er eine Weile damit fortfuhr. Das Zittern nahm ab, und er setzte sich halb auf.

»Ein Whisky-Soda würde mir gut tun«, sagte er. »Die Flasche steht im Eckschrank da drüben. Schenk dir auch einen ein.«

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»Nein danke«, sagte Roffe. »Ich muss nachher noch nach Hause. Whisky und Wasser fifty-fifty?«

»Ja.«

Als PM das Glas entgegennahm, sah er Roffe in die Augen.

»Und? Wie verdächtig bin ich?« Er brachte ein kraftloses Lachen zustande. »Ist das Haus schon von Polizisten umstellt, muss ich jetzt alles stehen und liegen lassen?«

Roffe ließ sich schwer in den Sessel sinken. Mit einem Mal fühlte er sich vollkommen ausgelaugt und ungeheuer bedrückt.

»Es sieht nicht gut aus, das weißt du. Es ist ein verdammter Mist, dass sie ausgerechnet an dem Tag ermordet wurde, als du in Stockholm warst.«

»Glauben deine Stockholmer Kollegen, dass ich der Mörder bin?«

»Sie halten es zumindest für möglich. Das ist doch selbstverständlich. Solltest du Axel Hemberg auf dem Gewissen haben, hättest du gute Gründe, auch Marianne Wester zu beseitigen, und leider lässt sich nicht leugnen, dass du zum Zeitpunkt des Mordes in ihrer Nähe warst. Die Situation ist alles andere als einfach. Auch wenn es keinen Hauptverdächtigen gibt, ist doch klar, dass unter anderem gegen dich ermittelt wird, solange deine Unschuld nicht erwiesen ist.«

PM stellte sein Glas ab. Er hatte es in einem Zug geleert.

»Und du?«, fragte er. »Du scheinst mich nicht für den Mörder zu halten, was unleugbar eine Erleichterung ist. Die Indizienlage ist doch erdrückend; was macht dich trotzdem so skeptisch?«

»Nichts, das ich zu Protokoll geben könnte, leider. Es ist die Tatsache, dass ich dich ziemlich gut kenne. Seit ungefähr vierzig Jahren. Ich weiß, wie du dich in allen möglichen Situationen verhältst. Vielleicht nicht in allen, aber in vielen. Ich kenne dein aufbrausendes Temperament und könnte mir notfalls vorstellen, dass du in blinder Wut auf jemanden einschlägst, der sich beim 100

Fallen tödliche Verletzungen zuzieht. Vielleicht, wenn auch höchst unwahrscheinlich, wärst du sogar in der Lage, die Leiche in deiner Panik in der Jauchegrube deines Nachbarn zu versenken. Aber ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass du wohlüberlegt nach Stockholm fährst, um einer Frau, deren Aussagen dir gefährlich werden könnten, die Kehle durchzuschneiden. Ich glaube einfach nicht, dass du so tickst.«

»Vielen Dank«, sagte er matt. »Ich glaube auch nicht, dass ich so ticke.«

Roffe fuhr fort: »Die Sache sieht im Moment folgendermaßen aus: Dem Hinweis von Marianne Wester, dass es sich bei der gefundenen Leiche um Axel handeln könnte, haben wir anfangs nicht viel Beachtung geschenkt. Doch seit ihrer Ermordung ist dies eine heiße Spur geworden. Ich selbst halte es für möglich, aber keinesfalls für sicher, dass zwischen dem Mord und der Leiche in der Jauchegrube ein Zusammenhang besteht. Und natürlich ist es möglich, dass dich jemand nach Stockholm gelockt hat, um dir beide Morde in die Schuhe zu schieben. In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich dich noch nach den Namen von Axels Freunden fragen wollte, mit denen ihr zusammen unterwegs wart. Hattest du die früher schon einmal gesehen?«

»Nein, noch nie.«

»Wie hießen sie?«

»Woher soll ich das jetzt noch wissen? Ich hatte ja schließlich einiges getrunken. Aber warte, ich glaube, der eine hieß Peter.

Peter Engkvist oder Enberg, der Nachname fing mit En an, denke ich. Der blieb den ganzen Abend ziemlich nüchtern …

hatte kalte Augen. Ein unsympathischer Typ. Er hat uns in der Galerie abgeholt, und ich fühlte mich sofort provoziert, weil er nicht einen Blick auf meine Bilder warf. Ich hatte den Eindruck, dass Axel irgendwie Angst vor ihm hatte. Und ich erinnere mich daran, dass ich später den Eindruck gewann, Axel würde ihm 101

Geld schulden. An den anderen Kerl kann ich mich kaum erinnern. Er stieß später zu uns, seinen Namen habe ich überhaupt nicht mitgekriegt.«

»Hast du ihnen erzählst, wo du wohnst?«

»Glaub ich nicht. Warum hätte ich das tun sollen? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung mehr, was ich ihnen gesagt habe.«

»Und die Frauen, Marianne und die andere? Schienen sie Axels Freunde zu kennen?«

»Nein, ich glaube, sie kannten nur Axel. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

Roffe ließ sich das alles durch den Kopf gehen. Nach einer Weile sagte PM mit unsicherer Stimme: »Ich hätte nie geglaubt, dass so etwas passieren kann.«

»So was passiert täglich«, entgegnete Roffe.

»Ich weiß, aber normalerweise passiert es anderen, nicht mir

… und Katharina.«

Roffe sagte vorsichtig: »Ich finde, du solltest Katharina so schnell wie möglich in die Sache einweihen. Es wäre schlimm, wenn sie von anderer Seite davon erfährt.«

PMs Gesicht verzerrte sich, als hätte er einen Schlag bekommen.

»Glaubst du, das weiß ich nicht? Ich denke an nichts anderes.«

Er sprang plötzlich auf und warf die Decke beiseite.

»Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass sie glaubt, die ganze Geschichte mit Axel sei ausgestanden. Dass sie glaubt, alles würde wieder gut werden … und dass ich diese Seitensprünge nicht mehr nötig hätte … das habe ich auch geglaubt. In die Sache mit Marianne bin ich einfach so reingeschlittert und dachte, ich käme mit ein paar Gewissensbissen davon. Ich habe schreckliche Angst davor, wie sie reagieren wird. Vielleicht hat sie endgültig die Schnauze voll von mir.«

102

Unerwartet verspürte Roffe einen wachsenden Zorn auf den Freund und wollte ihm einen weiteren Schlag versetzen.

»Du bist dir doch darüber im Klaren, dass Marianne Wester als eine Art Edelnutte betrachtet werden muss?«

PM schüttelte den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht.

Zumindest damals nicht. Zugegeben, nach all den Sauftouren mit Axel hätte ich einen gewissen Verdacht schöpfen können.«

Roffe schaute auf seine Hände und lachte leise.

»Für jemanden mit so viel Erfahrung bei den Frauen bist du ganz schön naiv, nicht wahr?«

»Herrgott, ich war doch stockbesoffen.«

Roffe hob den Kopf und sah PM in die Augen.

»Unter diesen Umständen ist ein gewisses Ansteckungsrisiko wohl nicht auszuschließen«, sagte er. »Auch Katharina wird daran denken.«

PM sank zurück und sah vollkommen resigniert aus.

»HIV?«

»Das riskiert man heutzutage.«

»Was kann ich jetzt noch dagegen tun?«

Roffe bereute seine Schroffheit und sagte mit ruhiger Stimme:

»In solch einem Fall werden einige Routineuntersuchungen durchgeführt. Ich werde mich gleich morgen informieren, was ihre Blutprobe ergeben hat, und dir dann Bescheid geben.

Außerdem gibt es momentan noch so viele offene Fragen. Du darfst nicht glauben, dass sich die Ermittlungen nur auf dich konzentrieren.«

»Ich danke dir. Was machen jetzt deine Kollegen in Stockholm?«

»Die stellen erst mal ihre Wohnung auf den Kopf und verhören ihren Bekanntenkreis, der ziemlich groß sein dürfte. In Anbetracht ihres Berufs ist nicht auszuschließen, dass es 103

mehrere Menschen gibt, die ein Motiv hätten, sie aus dem Weg zu räumen.«

PM blickte auf. »Ich verstehe auch gar nicht, warum ausgerechnet ich auf einmal so interessant sein soll. Ich kannte sie doch kaum und hatte kein Ahnung, was für ein Leben sie führte.«

Roffe seufzte und sagte geduldig: »Was dich in den Augen der Polizei so interessant macht, ist ihre Andeutung, du könntest Axel Hemberg getötet haben, nachdem du sie gezwungen hattest, dir seine Adresse zu verraten. Dass ihr nach dieser Unterstellung der Hals durchgeschnitten wurde, verleiht ihr natürlich zusätzliches Gewicht.«

»Und wenn gar nicht sie es war, die den Brief geschrieben hat?«

»Du sagst es. An diese Möglichkeit habe ich auch schon gedacht.«

PM stand auf und begann unruhig auf und ab zu gehen.

»Warum seid ihr euch so sicher, dass der arme Teufel in der Jauchegrube ermordet wurde?«, fragte er. »Dieser Pole, zum Beispiel, von dem alle glauben, er sei abgehauen … Es könnte doch sein, dass er aus Versehen in die Grube fiel, als er die Jauche abpumpen wollte.«

Roffe unterdrückte ein Gähnen und schaute auf die Uhr. Es war beinahe zehn. Er wollte zum Ende kommen. Zumindest wollte er um elf zu Hause sein, so wie üblich.

»Das wäre natürlich die bequemste Lösung«, sagte er. »Meine Lieblingstheorie sozusagen. Aber alles deutet auf einen Mord hin. Beim Leeren der Grube sind wir auf ungefähr zwanzig Kilo Steine gestoßen, ziemlich große Brocken. Die weitere Untersuchung hat ergeben, dass sie in den Kleidern gesteckt haben, um den Körper am Boden zu halten. Als Nisse Hallman dann mit einer Stange rumgestochert hat, ist der Stoff zerrissen, 104

und die Leiche trieb nach oben. Die Steine blieben auf dem Grund liegen.«

PM tigerte weiter hin und her, während er sich mit den Händen fortwährend durch die Haare fuhr.

»Und jetzt glauben alle, dass es Axel Hemberg war, den Nisse aus der Jauche gefischt hat«, sagte er.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Roffe. »Wir beschäftigen uns mit den verschiedensten Theorien, das habe ich doch schon gesagt.«

PM blieb vor Roffe stehen. »Mit welchen?«

»Wie ich dir neulich schon erzählt habe, gibt es jede Menge Hinweise aus der Bevölkerung. Die meisten bringen uns natürlich nicht weiter, aber es bleiben doch einige übrig, denen sich nachzugehen lohnt. Diesen Polen, der schwarz auf dem Hof gearbeitet hat und sicher nicht von allein in die Grube fiel, haben wir auch noch nicht abgeschrieben. Nisse Hallman glaubt fest daran, dass Sandström ihn in die Grube gestoßen hat, um ihn nicht bezahlen zu müssen.«

PM lachte hämisch auf. »Ich hätte zu gern Sandströms Visage gesehen, als ihr ihn in die Mangel genommen habt. Denn das habt ihr doch wohl, oder?«

»Bis jetzt sind wir nicht an ihn herangekommen. Er ist mit seiner Frau gerade auf Rhodos. Wagnhärad wird ihn verhören, sobald er nach Hause kommt.«

»Auf Rhodos? Seid ihr euch sicher, dass er wirklich zurückkommt?«

»Ja, das sind wir. Sonst werden wir ihn holen.«

»Was ist mit den anderen Spuren?«

»Eine Frau aus Christiansholm behauptet, dass ihr verschwundener Liebhaber von seiner Frau und deren Lover ermordet wurde. Klingt zwar wie aus einer Seifenoper, aber der Mann ist wirklich seit einem halben Jahr spurlos verschwunden, 105

und seine Frau hat auch wirklich einen Liebhaber. Dann liegt eine Anzeige aus der städtischen psychiatrischen Klinik vor. Vor fünf Monaten sind zwei psychisch gestörte Patienten entlaufen.

Einer von ihnen wurde ein paar Wochen später in Malmö aufgegriffen. Er behauptete, er habe seinem Freund ›über die Grenze geholfen‹, was auch immer das heißen mag. Zuvor hatten sie hier ein Auto gestohlen. Wir tun momentan alles, um die Leiche möglichst rasch zu identifizieren, aber das geht nur anhand der Zähne und erfordert eine gewisse Zeit.«

»Weitere Spuren?«

»Schon, aber die kann ich jetzt nicht alle vor dir ausbreiten.

Ich bin ziemlich müde und werde mich wohl gleich auf den Weg machen.«

PM blieb stehen und sah sich um, als suche er nach einem Anlass, der den Freund am Aufbrechen hindern könnte. Er schnippte mit den Fingern.

»Jetzt hab ich doch völlig die Eistorte vergessen!«, rief er aus.

»Ich habe eine Eistorte mit Schokoladensauce und frischen Birnen gekauft. Möchtest du etwas davon haben?«

Roffe schüttelte den Kopf und gab sich keine Mühe, ein erneutes Gähnen zu unterdrücken.

»Nein danke. Ich hab nicht so viel für Eis übrig. Außerdem muss ich morgen früh aufstehen. Wir können ein anderes Mal

…«

Plötzlich fiel ihm etwas ein.

»Eines hätte ich fast vergessen. Ich muss dich bitten, morgen aufs Präsidium zu kommen, damit wir deine Fingerabdrücke nehmen können.«

PM starrte ihn ungläubig an. »Meinst du das im Ernst?«

Roffe reagierte gereizt. »Natürlich meine ich das im Ernst. Du glaubst doch wohl nicht, dass mir nach Scherzen zumute ist.

Eine reine Routinemaßnahme. Wir brauchen von allen, die 106

möglicherweise mit Marianne Wester in Verbindung standen, die Fingerabdrücke.«

»Ich weiß nicht, ob es mir möglich ist, morgen in die Stadt zu kommen«, sagte PM in leicht beleidigtem Ton. »Wir haben nur ein Auto, wie du weißt. Wenn Katharina morgen nach Hause kommt, muss ich zuerst mit ihr reden, und was dann passieren wird, daran wage ich nicht zu denken.«

Roffe stand auf.

»Also gut, es muss ja nicht gleich morgen sein, aber komm, so schnell du kannst.«

Er legte eine Hand beruhigend auf den Arm des Freundes und versuchte einen optimistischen Ton anzuschlagen: »Die Welt wird schon nicht untergehen. Vielleicht sieht in ein paar Tagen alles schon viel hoffnungsvoller aus.«

Sie traten vor das Haus und erblickten einen überwältigenden Sternenhimmel. Der Duft der Blumen war geradezu betäubend.

Schweigend blieben sie stehen und schauten in das funkelnde Dunkel. Roffe meinte in der Nähe eine einsame Grille zu hören.

Nach einer Weile sagte er leise: »Ihr habt es wirklich wunderschön hier draußen. Es ist lange her, dass ich solch einen Sternenhimmel gesehen habe.«

PM begleitete ihn zum Auto. Doch als Roffe einsteigen wollte, hielt er ihn zurück.

»Darf ich dir noch zwei Fragen stellen?«

»In Ordnung.«

»Wie denkt ihr über Nygren? Ist er nicht auch verdächtig?«

Roffe schwieg eine Weile, als müsse er über die Antwort nachdenken. Dann sagte er: »Nygren spielt in unseren Überlegungen eigentlich keine Rolle.«

»Und Marco Fermi?«

»Ihn haben wir uns genau angesehen, aber er ist erst seit knapp vier Monaten hier, und die Leiche hat aller Wahrscheinlichkeit 107

nach länger in der Grube gelegen. Nein, Marco Fermi können wir wohl ebenfalls außer Acht lassen.«

PM nickte und schlug die Autotür zu. Er hob den Arm zögerlich zum Abschied, bevor er beide Hände in den Hosentaschen vergrub und langsam zum Haus zurückging. Um die Sterne kümmerte er sich nicht.

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Dagens Nyheter, Mittwoch, 3. Mai

Neues im Jauchegrubenmord

Wie aus gut unterrichteter Quelle verlautete, liegen der Polizei Erkenntnisse vor, dass eine zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Verschwinden einer in Kunstkreisen bekannten Persönlichkeit und dem Jauchegrubenmord besteht. Die betreffende Person soll überdies private Kontakte nach Christiansholm gepflegt haben. Auch scheint diese Tat möglicherweise in Verbindung mit einem weiteren Mord in Stockholm zu stehen. Hauptkommissar Stenberg von der Kripo in Christiansholm dementiert indes, dass die Leiche bereits identifiziert werden konnte. Aus ermittlungstaktischen Gründen beschränkte er sich auf die Aussage, die Polizei gehe mehreren Spuren nach. Konkretere Aussagen lasse die gegenwärtige Situation nicht zu.

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Mittwoch, 3. Mai

PM spülte das Geschirr ab, während Katharina regungslos am Küchentisch saß und gegen den heftigen Drang ankämpfte, einen gewaltigen Streit vom Zaun zu brechen. Ermattet starrte sie seinen ihr zugekehrten Rücken an. Herrgott, wie ihr seine egozentrische Verschlossenheit zum Hals heraushing. Wie oft hatte sie nicht schon hier gesessen und sich von seiner Unnahbarkeit und Schwermut vollkommen ausgeschlossen gefühlt.

Schon seit einer Woche – seit seiner Rückkehr aus Stockholm

– war er in diesen dumpfen Grübeleien versunken. Grübeleien, die zu nichts anderem zu führen schienen, als dass er sich von seiner Umwelt und vor allem von ihr zurückzog.

Das Wochenende war entsetzlich gewesen. Es hatte damit begonnen, dass Marika aus Kalmar angerufen und ihrer Mutter unter Tränen mitgeteilt hatte, sie liege mit einer fiebrigen Erkältung im Bett und könne folglich nicht nach Hause kommen. Mit krächzender Stimme hatte sie von ihrem Streit mit Daniel berichtet, der sie nun sicher nicht mehr lieben würde.

Katharina hatte versucht, Marika etwas Tröstendes und Beruhigendes zu sagen, war sich jedoch hilflos und viel zu weit weg vorgekommen. Am Abend vor dem ersten Mai, der Walpurgisnacht, hatten sie mit Kajsa und Olle und deren Sohn Joakim eigentlich einen gemütlichen Abend verbringen wollen.

Doch Patrik war von Anfang an in düsterer Stimmung gewesen, was er zu überspielen versuchte, indem er ein Glas nach dem anderen trank. Mit dem Ergebnis, dass er schon während des Essens stockbesoffen war. Als es an der Zeit war, nach draußen zu gehen und das Feuer zu entzünden, lag er schnarchend auf dem Sofa. Nur die Rücksicht auf ihre Gäste hatte Katharina 110

davon abgehalten, ihm einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf zu schütten. Später hatte er jeden ihrer Versuche ignoriert, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Warum konnte er sich nicht wie andere Leute von seinem inneren Druck befreien, indem er über seine Probleme redete? Irgendwann musste er doch an diesen Punkt kommen.

Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Bald würde er ins Wohnzimmer gehen, um sich die Nachrichten anzusehen, und dann würde er für den Rest des Abends unbeweglich vor dem Fernseher hocken bleiben. Die Frage war, wie lange sie das noch aushielt, bevor sie wahnsinnig wurde.

Nicht einmal als er wegen Axels Betrug völlig außer sich war, hatte er sich so von ihr abgeschottet. Damals hatte er sich zumindest hin und wieder durch einen Wutanfall oder einen deprimierten Monolog über die Sinnlosigkeit der Welt etwas Luft verschafft. Er hatte menschliche Regungen gezeigt.

Ihr Blick fiel auf den Futternapf der Katzen, der direkt neben der Küchentür stand. Er war halb gefüllt mit etwas, das vertrocknet und unappetitlich aussah.

»Was ist denn das für ein ekliges Zeug im Futternapf?«, fragte sie. »Hast du ihnen heute noch nichts zu fressen gegeben?«

»Das sind die Reste von Roffes Essen«, antwortete er.

»Was war das?«

»Spaghetti Carbonara. Es scheint ihnen nicht geschmeckt zu haben. Roffe hat unheimlich viel Pfeffer reingetan.«

Katharina schnaubte entrüstet und schien endlich das passende Thema gefunden zu haben, um ihn aus der Reserve zu locken.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass sie so was fressen.

Manchmal frage ich mich wirklich, was in deinem Kopf vorgeht. Vielleicht könntest du endlich aufwachen und feststellen, dass noch eine Welt um dich herum existiert.«

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Als er nichts entgegnete, fuhr sie fort ihn zu attackieren. »Ja, was ist jetzt? Ich meine, mit den Katzen. Die haben doch Hunger.«

Sie rechnete nicht mit einer Antwort. Er schien voll und ganz damit beschäftigt zu sein, die tropfnassen Teller und Gläser auf dem Trockengestell zu verteilen.

»Den Katzen geht es gut«, sagte er lakonisch. »Zu dieser Jahreszeit wimmelt es hier von Mäusen.«

Sie wechselte das Thema. »Ist Roffe gestern lange geblieben?«

»So gegen zehn ist er gefahren.«

»Hattet ihr’s gemütlich?«

Er gab ein trockenes Lachen ohne jede Wärme von sich.

»Nicht besonders.«

»Kann ich gut verstehen, dass Roffe früh gefahren ist«, sagte sie spitz.

Er schwieg.

Sie stand auf und setzte Kaffeewasser auf.

»Warum ist er hierher gekommen?«, fragte sie.

Auch auf diese Frage erhielt sie keine Antwort. Er schien sich vollständig auf das Ablassen des Wassers und das Wischen der Arbeitsplatte zu konzentrieren.

Sie trug die Tassen ins Wohnzimmer.

»Willst du die Nachrichten sehen?«, rief sie.

»Nein, verdammt, ich dachte, wir wollen reden.«

Im nächsten Augenblick war sie zurück und starrte ihn mit großen Augen an.

»Habe ich richtig gehört? Du willst reden, mit mir? Über etwas Bestimmtes?«

»Ja.«

»Etwas Ernstes?«

112

»Ja.«

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu.

Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa. Vor ihnen auf dem Tisch standen zwei saubere Tassen und eine Kanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee. Katharina hob nervös ein paar herumliegende Zeitungen und Werbebroschüren auf, zündete eine Kerze an und stopfte sich ein Kissen in den Rücken. Sie begann sich zu fragen, ob sie wirklich mit ihm reden wollte. Der Mann an ihrer Seite strahlte eine verzweifelte Entschlossenheit aus, die nichts Gutes verhieß. Was hatte er nur vor? Dass er es beharrlich vermied, sie anzusehen, behagte ihr überhaupt nicht.

Sein gehetzter Blick irrte durch den Raum, als suche er nach Fluchtmöglichkeiten. Die Stille quälte sie. Plötzlich fand sie, dass er verschlagen und alles andere als vertrauenswürdig aussah. Ein Fremder, dessen Abgründe ihr unbekannt waren.

Von schlimmen Ahnungen erfüllt, wandte sie sich von ihm ab und stützte sich auf die Armlehne.

»Schenkst du uns Kaffee ein?«, fragte sie.

Vermutlich hatte er sie nicht verstanden, denn er stützte sich auf die andere Armlehne, schloss die Augen und begann plötzlich überhastet zu sprechen: »Du wirst schrecklich böse werden und mich verfluchen. Ich erwarte nichts anderes. Aber ich bitte dich, mir in Ruhe zuzuhören. Lauf nicht weg, ehe ich fertig bin.«

Sie schaute ihn erschrocken an und schwieg abwartend.

»Dieser Brief, der letzte Woche gekommen ist … von dem Mann, der mir helfen wollte, an mein Geld heranzukommen.

Diesen Mann gibt es nicht. Der Brief war von einer Frau.«

Ihr Körper erstarrte in Abwehrhaltung vor den Dingen, die da kommen würden, und sie verspürte ein Ziehen in der Nähe des Zwerchfells. Dann begann ihr Herz heftig zu pochen. Das hatte 113

sie nicht erwartet. Irgendetwas in ihr schrie auf: Nein, nicht schon wieder!

Er fuhr fort: »Ich bin ihr letzten Herbst nach der Vernissage begegnet. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, wie Axel mich und ein paar Geschäftskollegen hinterher noch in eine Bar eingeladen hatte. Während dieses Abends tauchten zwei Frauen auf, die er ebenfalls kannte. Sie begleiteten uns noch in zwei andere Bars. Ich hatte viel getrunken und brachte eine der Frauen nach Hause. Ich blieb über Nacht bei ihr.«

Er machte eine Pause, in der seine Worte wie etwas Ekelhaftes und Klebriges zwischen ihnen hängen blieben. Sie saß vollkommen regungslos da, wie gelähmt, vernichtet.

Er sprach weiter: »Als ich am nächsten Morgen aufwachte und wieder einigermaßen nüchtern war, fand ich mich selbst zum Kotzen. Ich zog mir meine Sachen an und rannte Hals über Kopf davon. Zu diesem Zeitpunkt war ich davon überzeugt, sie niemals wiederzusehen. Ich wollte es auch nicht. Auf der Rückfahrt im Zug beschloss ich, die ganze Geschichte aus meinem Gedächtnis zu streichen. Ich schämte mich entsetzlich.

Und sicher wäre es mir auch gelungen, alles zu vergessen, wenn Axel mich nicht übers Ohr gehauen hätte. Als ich mit einer Stinkwut im Bauch seine Freunde und Bekannten in Stockholm abklapperte, wurde mir gesagt, die einzige Chance, irgendwie an Axel heranzukommen, sei diese Frau. Sie hatten offenbar ein enges Verhältnis. Also suchte ich sie in der Hoffnung auf, dass sie mir sagen könnte, wo Axel zu finden ist.«

Katharina starrte wie gebannt auf das Titelfoto einer Zeitung, die auf dem Tisch lag. Eine junge Frau hielt einen Siegerpokal in die Höhe. Ohne den Blick von dem Bild abzuwenden, fragte sie mit frostiger Stimme: »Wie heißt sie?«

»Was?«

»Wie heißt sie?«, wiederholte sie lauter.

»Sie heißt … Marianne.«

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»Dann nenn sie auch so!«, sagte sie scharf.

Er änderte seine Haltung und stützte den Kopf in die Hände.

»Ich habe sie, also Marianne, noch mal besucht, aber nur um zu erfahren, wie ich an Axel herankommen kann. Sie wollte es mir nicht sagen. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie ihn schützen wollte. Ich habe sie beschimpft und ihr gedroht, bis sie endlich nachgab. Sie hat mir also die Adresse seines Zimmers in Christiansholm verraten. Du weißt selbst, wie oft ich fort gewesen bin und nach ihm gesucht habe.«

»Hast du noch mal mit ihr geschlafen?«, fragte Katharina.

»Nein, natürlich nicht. Es hat mich viel Überwindung gekostet, überhaupt noch mal zu ihr zu gehen. Sie gehört zu der Sorte Frauen, mit denen ich mich bei klarem Verstand niemals einlassen würde.«

Katharina riss sich von dem Zeitungsfoto los und warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Du meinst, sie gehört zu der Sorte Frauen, mit denen man nur ins Bett geht, wenn man sturzbesoffen ist«, sagte sie.

Er verzog das Gesicht, als täte ihm ihr Kommentar körperlich weh. Das verschaffte ihr eine freudlose Befriedigung.

»Ja«, sagte er. »So etwas meinte ich wohl.«

Als er nicht weitersprach, sagte sie ungeduldig und mit unverhülltem Hohn in der Stimme: »Und weiter? Ich bin ganz Ohr. Ich platze vor Neugier, was noch alles passiert ist.«

»Erst mal passierte gar nichts, bis ich letzte Woche diesen Brief bekam. Ich habe dich angelogen, was den Absender betraf, aber über seinen Inhalt habe ich dir die Wahrheit gesagt.

Marianne schrieb, dass Axel sie ebenfalls reingelegt hätte. Doch gerade hätte sie erfahren, er sei nach Stockholm zurückgekehrt.

Sie schlug vor, wir sollten ihn gemeinsam unter Druck setzen, müssten uns aber beeilen, weil er, wie sie schrieb, jederzeit wieder verschwinden könne. In meiner Naivität fand ich den 115

Ton des Briefes glaubwürdig. Ich glaubte wirklich, dass sie mir helfen wollte und konnte. Das war ein schwerwiegender Irrtum.

Wäre ich nicht nach Stockholm gefahren, sähe jetzt alles anders aus. Was ich dir von der Reise erzählt habe, stimmt, abgesehen von der Tatsache, dass ich aus Marianne einen Mann gemacht habe. Und jetzt komme ich zu dem perfiden Teil der Angelegenheit. Diese Frau hat noch einen Brief geschrieben, nämlich an die Polizei in Christiansholm. In ihm äußerte sie ihre Vermutung, bei der Leiche in der Jauchegrube könne es sich um Axel Hemberg handeln. Sie schrieb ferner, ich hätte sie im vergangenen Herbst gezwungen, mir Axels Adresse in Christiansholm zu nennen, und hätte darüber hinaus gedroht, ihn umzubringen. Seit dieser Zeit, schrieb sie, sei Axel spurlos verschwunden.«

Katharina, deren höhnischer Gesichtsausdruck verschwunden war, stand vor Verwunderung der Mund offen.

»Das ist die böswilligste Unterstellung, die ich je gehört habe.

So einen Unsinn glaubt doch wohl niemand.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Über diesen Brief wollte Roffe mit mir sprechen, als ich aus Stockholm kam. Du weißt schon, als ich ihn auf dem Präsidium besucht habe. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was er von mir wollte. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und gezwungen, ihm alles zu erzählen. Roffe versprach mir, seine Stockholmer Kollegen würden sich um Marianne kümmern. Ein paar Tage später haben sie sie tot in ihrer Wohnung gefunden. Sie war am selben Tag ermordet worden, an dem ich sie in Stockholm besuchen wollte.«

Katharina wusste nicht, ob sie ihn richtig verstanden hatte, spürte nur eine große Kühle, die sich rasch in ihrem Körper ausbreitete. Ihre Lippen fühlten sich blutleer an. Nach einer Weile flüsterte sie: »Oh, mein Gott!«

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Sie starrten sich schweigend an. PM lief der Schweiß über die Stirn. Er sah ängstlich und verwirrt aus.

»Was sagt Roffe?«, fragte sie atemlos. »Was hält er von der ganzen Sache?«

»Dasselbe wie ich. Entweder es handelt sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände, oder jemand versucht, mir zwei Morde in die Schuhe zu schieben.«

Er beugte sich vor und nahm sich eine der Zeitungen, die auf dem Tisch lagen. Es war die Dagens Nyheter. Er gab sie ihr und deutete auf einen Artikel.

»Auch die Zeitungen haben schon von der Sache Wind bekommen.«

Katharina versuchte den Artikel zu lesen, aber es gelang ihr nicht. Ihre Welt war ins Wanken geraten, und fast glaubte sie zu hören, wie es in den Fugen knarrte und ächzte. War es so, wenn man die Kontrolle über sein Leben verlor? Durch ihren Kopf rauschte eine Abfolge absurder Bilder: Axel Hemberg trieb friedvoll und mit einem satanischen Lächeln auf den Lippen in der Jauchegrube des Nachbarn. Patrik in den Armen einer jungen, blühenden Frau, die im nächsten Augenblick eine Leiche war … Patrik, wie von Sinnen, schließt seine Hände um ihren Hals … Patrik schleppt Axels Leiche – Marika!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah ihre Tochter vor sich, in Tränen aufgelöst und am Boden zerstört. Dann folgten fragmentarische Bilder von Freunden und Verwandten in wechselnden Schockzuständen. Patrik, ausgebrannt und apathisch, huschte an ihr vorbei, zuerst als Angeklagter in einem Gerichtssaal, dann hinter Gittern. Seine Frau nur mehr ein Schatten ihrer selbst, ausgezehrt von Trauer und Einsamkeit. Tränen standen ihr in den Augen, und fast hätte sie Patrik nachgegeben, als dieser die Hand ausstreckte, um ihre Wange zu streicheln. Doch plötzlich schlug ihre Verzweiflung in Raserei um.

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»Rühr mich nicht an!«, schrie sie und warf ihm die Zeitung ins Gesicht. Er zog sich rasch in seine Sofaecke zurück und wappnete sich gegen den Sturm, der über ihn hereinbrach. Sie sprang auf und stand ihm plötzlich mit geballten Fäusten gegenüber. Zwischen ihnen befand sich der Couchtisch mit den vergessenen Kaffeetassen. Für einen Augenblick war ihr danach, ihn einfach umzuwerfen, doch sie beherrschte sich. Patrik tat das, wenn seine Wut einen gewissen Punkt überschritten hatte, doch sie selbst hatte zu ihrem Zorn immer eine gewisse Distanz bewahrt. Sie hatte ihm die Zeitung ins Gesicht gepfeffert, das sollte genügen. Doch verbal würde sie nicht davor zurückschrecken, ihn auseinander zu nehmen. Gefasst, wohl wissend, dass ihn dies mehr treffen würde als wüste Beschimpfungen, sagte sie: »Du feiges Schwein.«

Er nickte stumm und starrte auf seine angezogenen Knie.

»Ich habe wirklich nicht geglaubt, dass du so unreif bist«, fuhr sie mit mühsam beherrschter Stimme fort. »Dass du dich voll laufen lassen musst, um deine verborgenen Triebe auszuleben.

Wenn du zumindest dir selbst eingestanden hättest, dass du einfach Lust hattest, mit einer anderen Frau zu schlafen, wäre es etwas weniger schlimm. Wärst du hinterher zu mir gekommen und hättest mir davon erzählt, hätte ich darunter gelitten, aber das Problem wäre nicht unüberwindlich gewesen. So etwas gibt es eben, hat es immer gegeben. Aber jetzt verabscheue ich dich.

Dein so genanntes Geständnis ist jämmerlich und peinlich, weil es keine Spur freiwillig ist. Die Umstände haben dich gezwungen, vor mir zu Kreuze zu kriechen.«

Sie sah, wie er sich duckte unter ihrer Verachtung. Aber sie war noch nicht fertig mit ihm. Ihre Wut kochte über. Sie verlor die Kontrolle über ihre Stimme, die sich zitternd überschlug, doch das war ihr jetzt egal.

»Früher warst du mutiger und ehrlicher. Da hast du mich jedenfalls mit vollem Bewusstsein betrogen. Doch jetzt, wo du alt und weise geworden bist, ist es dir offenbar unangenehm, 118

wenn du deinen Trieben nachgibst. Da ziehst du es vor, dich um den Verstand zu saufen, damit du für deine Eskapaden keine Verantwortung mehr übernehmen musst.«

Er hob den Kopf und wollte etwas sagen, aber sie ließ es nicht zu.

»Halt den Mund und lass mich ausreden!«, schrie sie. »Im Herbst, als du vor Wut über Axel und die Ungerechtigkeit der Welt völlig außer dir warst, als du überall herumgerast bist, um ihn zu finden, bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass es noch jemanden geben könnte, der leidet. Deine Egozentrik schlug alle Rekorde, so übel hatte man dir mitgespielt. Ich kann dir versichern, dass das Zusammenleben mit dir unerträglich war. Marika wollte nicht mal mehr nach Hause kommen, und in den Weihnachtsferien habe ich sie nur hierher locken können, weil ich ihr gesagt habe, dass du wieder einigermaßen menschliche Züge angenommen hast. Ich habe diese Zeit nur durchgestanden, weil ich mir stets einredete, dass alles ja irgendwann ein Ende haben müsse. Doch jetzt sehe ich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Krise im Herbst war nur ein Vorspiel auf die Katastrophe, die jetzt kommt. Aber ich kann nicht mehr!

Ich habe genug!«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte ins Schlafzimmer, dessen Tür sie demonstrativ hinter sich abschloss. Fest entschlossen, nicht zu weinen, riss sie eine alte Reisetasche aus dem Schrank und begann hektisch, wenn auch wenig effektiv ihre Kleider hineinzustopfen. Ohne nachzudenken, warf sie alles hinein, was ihr in die Finger kam: Unterwäsche, Toilettenartikel und ein paar Bücher, die zufällig auf dem Nachttisch lagen. Aus ihrem Kleiderschrank raffte sie aufs Geratewohl ein paar Kleidungsstücke zusammen, die sie in die bereits gut gefüllte Reisetasche presste. Mit Mühe schloss sie den Reißverschluss, bevor sie einen letzten Blick durch den Raum schweifen ließ, die Zähne zusammenbiss, die Tür aufschloss und auf den Flur trat.

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Er saß immer noch in unveränderter Haltung auf dem Sofa, doch als er sie erblickte, stand er auf und wollte etwas sagen.

Sie kam ihm zuvor. »Ich fahre jetzt in die Stadt und werde bei Kajsa wohnen, bis ich mir darüber im Klaren bin, wie es weitergehen soll«, teilte sie ihm mit.

Zögerlich machte er ein paar Schritte auf sie zu.

»Ich finde, du solltest bis morgen warten«, entgegnete er vorsichtig. »Du hast einen Schock erlitten und bist zu erregt, um dich jetzt hinters Steuer zu setzen. Das ist viel zu gefährlich.«

»Du hast kein Alleinrecht darauf, Risiken einzugehen«, gab sie zurück. Doch anstatt so souverän, wie sie es geplant hatte, das Haus zu verlassen, wurde sie plötzlich von Zweifeln gepackt und stellte die Tasche ab.

Er sah wirklich schrecklich deprimiert aus. Ein Blick in seine Augen versetzte ihr einen Stich ins Herz. Wenn ihre Existenz erschüttert war, dann war es seine umso mehr. Er musste sich wie in einem Albtraum vorkommen. War es nicht lieblos und unverantwortlich von ihr, ihn in dieser Situation allein zu lassen?

Wie zwei wachsame Tiere standen sie zu beiden Seiten der Tasche und fixierten einander. Es konnte ihm nicht entgehen, dass ihr Zorn langsam verebbte, dazu kannte er sie zu gut. Er stieß das trübselige Lachen aus, das für ihn so typisch war, und zuckte kaum merklich mit den Schultern. Das reichte.

Katharinas Herz verhärtete sich wieder, denn sie glaubte zu wissen, was sein Lachen bedeutete: Ja, ich weiß, dass mein Verhalten unentschuldbar ist, und niemand bereut dies mehr als ich. Aber ich weiß auch, dass du mir verzeihen wirst, wie du mir immer verziehen hast, denn wenn’s drauf ankommt, bin ich doch unwiderstehlich.

Sie spürte, dass sie dieses eine Mal seiner Anziehung nicht erliegen würde, und besaß sogar die Kraft für ein paar nüchterne Betrachtungen. Ja, er war es gewohnt, dass man ihm alles rasch 120

verzieh. Frauen hatten ihm stets alles nachgesehen, und sie selbst war in dieser Hinsicht am schlimmsten gewesen. Nun aber packte sie erstmals der heftige Wunsch, seine Erwartungen zu enttäuschen. »Ich weiß, dass du dich in einer fürchterlich schwierigen Lage befindest. Aber ich kann nichts anderes erkennen, als dass du dich selbst in diese Lage gebracht hast.

Und ich habe einfach keine Lust mehr, die Konsequenzen für deine Handlungen zu tragen. Die Leiche in der Jauchegrube …

der Mord in Stockholm … all die abstrusen Verdächtigungen.

Mit denen musst du ohne meine Hilfe fertig werden. Ich will mich mit diesen Dingen jetzt nicht beschäftigen. Aber Roffe wird mich natürlich auf dem Laufenden halten, und du selbst kannst dir seiner Freundschaft und Unterstützung ja gewiss sein.

Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Kajsa.«

Sie nahm die Tasche und ging zur Haustür, zog sich die Jacke an und suchte nach den Autoschlüsseln. Patrik kam hinter ihr her und flehte: »Warte doch bitte wenigstens bis morgen. Ich schlafe im Atelier. Du brauchst mich nicht zu sehen, wenn du nicht willst.«

Als er merkte, dass seine Worte nutzlos waren, fügte er mit Nachdruck hinzu: »Heute Abend noch in die Stadt zu fahren, ist eine Dummheit.«

Sie warf ihm einen eiskalten Blick zu.

»Versuch doch, mich daran zu hindern«, sagte sie und verließ das Haus.

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Donnerstag, 4. Mai

Hausmitteilung an alle, die in den letzten Wochen Einsicht in die Unterlagen der Kriminalinspektion hatten.

In der gestrigen Ausgabe der Dagens Nyheter war eine Notiz zu lesen, die in offensichtlichem Zusammenhang mit einem Brief steht, der unsere Abteilung vor kurzem erreichte. Es ist eine Tatsache, dass immer wieder polizeiliche Interna an die Presse weitergegeben werden. In diesem Fall ist es für den weiteren Verlauf der Ermittlung von entscheidender Bedeutung, zu wissen, ob die betreffenden Informationen von der Polizei selbst oder vom Absender des Briefes stammen. Ich bitte einen etwaigen Informanten daher dringlichst, sich mit mir in Verbindung zu setzen, gerne auch anonym. Ich versichere, dass dies keine strafrechtlichen Folgen nach sich ziehen wird.

R. Stenberg

Kriminalhauptkommissar

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Donnerstag, 4. Mai

Um neun Uhr morgens rief Katharina Rolf Stenberg an.

»Hallo, hier ist Katharina. Kann ich dich heute Vormittag besuchen kommen?«

Roffe klang etwas zerstreut.

»Hallo. Ja … äh … im Moment bin ich ziemlich beschäftigt.

Ich muss zu einer Besprechung, aber die wird schon nicht den ganzen Tag lang dauern.«

»Um vierzehn Uhr fange ich an zu arbeiten. Dann geht’s nicht mehr. Ich würde dich gern vorher kurz sprechen. Es ist ziemlich wichtig.«

Roffe lebte plötzlich auf.

»Wir könnten doch zusammen was essen gehen.«

»Gern. Wann und wo?«

»Warum gönnen wir uns nicht was und gehen ins Nan King?

Mir ist heute nach chinesischer Küche.«

»Ich werde um zwölf Uhr da sein«, sagte Katharina erleichtert.

»Du bist ein Schatz. Bis dann.«

»Ja, bis dann.«