Katharina war als Erste da und suchte sich einen Fensterplatz in dem spärlich gefüllten Lokal. Der chinesischen Bedienung erklärte sie, sie warte auf jemanden, und nahm sich viel Zeit für das Studieren der Speisekarte. Um neunzehn Minuten nach zwölf, nachdem sie die Speisekarte zum fünften Mal durchgelesen hatte und immer mehr Gäste in das Restaurant strömten, stürzte Roffe zur Tür herein.

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»Entschuldige bitte!«, sagte er kurzatmig. »Die Leute belagern mich in letzter Zeit geradezu.«

Katharina lachte. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich um zwölf schon mit dir gerechnet habe. Im Gegenteil, ich wäre enttäuscht gewesen, wenn du pünktlich gewesen wärst.«

Sie reichte ihm die Speisekarte.

»Ich habe schon gewählt. Ich nehme Huhn mit Cashewnüssen.«

Roffe studierte die Karte mit ernster Miene.

»Ich glaube, ich entscheide mich für Garnelen in Currysauce«, sagte er. »Wollen wir uns eine halbe Flasche Wein teilen?«

»Ja, gern.«

Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, blickte Katharina sich unruhig um. Fast alle Tisch waren mittlerweile besetzt. Es fiel ihr schwer, sich inmitten all der Gäste ungezwungen zu verhalten. Sie hatte in der Nacht viel geweint und musste sich sehr beherrschen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. Sie bemerkte, dass Roffe sie forschend ansah.

»Er hat dir alles erzählt?«, fragte er.

Sie nickte und starrte auf das Plastikset.

Er beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme.

»Bist du sehr wütend?«

»Ja.«

»Das verstehe ich. Aber ich enthalte mich eines moralischen Urteils. Das ändert schließlich nichts an der Sachlage.«

Sie schaute auf und sagte: »Ich wollte dich auch nicht treffen, um moralische Unterstützung zu bekommen. Ich wollte von dir hören, wie du die Verdächtigungen einschätzt, denen Patrik sich ausgesetzt sieht. Wie schwerwiegend sind sie? Ich mache mir große Sorgen.«

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Jetzt war es Roffe, der den Blick gesenkt hatte. Es fiel ihm offenbar nicht leicht, ihr in die Augen zu sehen.

»Es wäre dumm von mir, dich mit Allgemeinplätzen beruhigen zu wollen«, sagte er. »Aber natürlich kann ich dir versichern, dass ich von seiner Unschuld überzeugt bin. Ich kenne PM schon sehr lange, wie du weißt. Außerdem fügen sich die belastenden Indizien gegen ihn allzu gut zusammen. Aber das ist meine private Ansicht.«

»Ich habe auch nicht geglaubt, dass du ihn für einen Mörder hältst. Aber wer tut es dann? Die Polizei in Stockholm? Und wenn ja, worauf gründen sie ihren Verdacht?«

Um von den anderen Gästen nicht gehört zu werden, hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich im Flüsterton. Katharina war sicher, dass man sie für ein frisch verliebtes Paar hielt.

»Wie du weißt, hat Marianne Wester diesen Brief an die Polizei geschrieben«, fuhr Roffe fort. »Im Grunde war dies nur ein Hinweis von vielen, die uns erreichten. Doch Marianne Wester wurde am selben Tag ermordet, an dem Patrik sie in Stockholm aufsuchen wollte, und am selben Tag, an dem der Brief bei uns einging. Dies ist zwar kein Beweis für seine Schuld, aber doch ein ernst zu nehmender Verdacht, dem wir nachgehen müssen.«

Katharina studierte Roffes vertrautes Profil. Sie mochte es. Es machte einen genauso zuverlässigen Eindruck wie alles andere an diesem Mann.

»Wie kommt es, dass du immer noch die Ermittlungen in diesem Fall leitest?«, fragte sie. »Ich dachte, dass ihr grundsätzlich keine Fälle übernehmt, in die Verwandte oder Freunde von euch verstrickt sind.«

»Das ist richtig«, entgegnete er. »Darum habe ich auch meinen Kollegen Lasse Wagnhärad beauftragt, diese Spur zu verfolgen.

Ich selbst halte mich lieber im Hintergrund. Das ist zwar nicht 125

ganz korrekt, doch manchmal muss man Formfragen hintanstellen. Für die Ermittlungen im Ganzen bin immer noch ich verantwortlich, und ich sehe auch keinen Anlass, daran etwas zu ändern, weil ich überzeugt davon bin, dass der Verdacht gegen Patrik unbegründet ist. Wäre ich das nicht, hätte ich den Fall längst abgegeben. Auf der anderen Seite weiß niemand, wie sich die Dinge entwickeln werden. Sollte sich die Situation zuspitzen, werde ich vielleicht gezwungen sein, mich zurückzuziehen.«

Katharina musste kräftig durchatmen.

»Jetzt hast du mich aber erschreckt«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Was könnte die Situation denn weiter zuspitzen?«

»Ich habe nicht den geringsten Einfluss auf die Maßnahmen, die in Stockholm in Zusammenhang mit dem Mord an Marianne Wester ergriffen werden. Falls Patrik mir die ganze Wahrheit erzählt hat, sollten sich keine unangenehmen Überraschungen ereignen. Trotzdem muss ich auf alles eingestellt sein …«

Roffe hielt inne und lächelte der chinesischen Kellnerin, die das Essen brachte, freundlich zu. Während sie die köstlich aussehenden Speisen auf den Tisch stellte, setzte Roffe zu einer Lobeshymne auf das Essen an, dessen Duft und Erscheinung ihn bereits in Begeisterung versetzten. Katharina hingegen, die immer noch unter dem Eindruck seiner letzten Bemerkung stand, starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Als die Bedienung endlich verschwunden war, beugte sie sich über ihren Teller und fragte erregt:

»Was soll das heißen, falls Patrik die ganze Wahrheit gesagt hat? Zweifelst du etwa daran?«

Roffe sah plötzlich gequält aus. »Natürlich zweifle ich nicht daran, was den Kern betrifft. Aber es ist doch nur allzu menschlich, sich in ein günstigeres Licht zu stellen, als man eigentlich verdient. Ich behaupte nicht, dass er das getan hat. Ich habe nur meiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass er kein 126

fatales Detail verdrängt hat, das ihm später noch Probleme bereiten könnte.«

»Das ist das Gute an dir«, sagte Katharina, während sie ihm die Hand tätschelte. »Du versuchst gar nicht erst, die Dinge zu beschönigen. Das hat merkwürdigerweise etwas Beruhigendes.

Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass Patrik etwas verschwiegen oder verdrängt hat. Das passt nicht zu ihm. Er kann einem ohne mit der Wimper zu zucken ins Gesicht lügen, aber wenn er sich dazu entschlossen hat, die volle Wahrheit zu sagen, dann verfälscht er sie nicht.« Sie warf einen Blick auf Roffes Teller. »Jetzt solltest du aber was essen«, sagte sie.

Sie sprachen kein Wort, während sie aßen. Roffe grunzte behaglich, und Katharina dachte bei sich, dass seine Fixierung aufs Essen immer wieder ein Erlebnis war. Der Wein entspannte sie ein wenig. Sie schenkte ihrem Gegenüber ein warmes Lächeln. Es war schön, einen Freund zu haben, der auch angesichts einer drohenden Katastrophe die Nerven behielt und mit dem man zusammen schweigen konnte.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Roffe, als sie fertig waren.

Katharina verzog das Gesicht.

»Nein danke. Ich habe schon den ganzen Morgen Kaffee in mich reingeschüttet. Ich konnte Patriks Anblick gestern Abend nicht mehr ertragen, nachdem er sein großes Geständnis abgelegt hatte. Also bin ich in die Stadt gefahren und habe bei Kajsa übernachtet. Bis vier Uhr morgens haben wir miteinander geredet und eine halbe Flasche Kirschwein getrunken, den wir mit Schnaps versetzt hatten.«

»Was ist mit Olle? War er nicht zu Hause?«

»Er arbeitet immer noch in Malmö. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu entscheiden, wie es weitergehen soll.

Vorerst wohnt Kajsa mit Joakim allein.«

»Kennt sie die ganze Geschichte?«

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»Nein, sie weiß nicht, dass Patrik des Mordes verdächtigt wird, wenn du das meinst. Sie weiß nur, dass er ein ganz gemeiner Drecksack ist, der eine so wunderbare Frau wie mich gar nicht verdient.«

Katharina musste lachen, als sie Roffes Gesichtsausdruck sah.

»Ein Frauengespräch eben, und das war genau das, was ich brauchte.«

»Fährst du heute Abend nach Hause?«

Katharinas Züge verhärteten sich. »Ich glaube nicht.«

»Du solltest nicht zu lange damit warten.«

»Ich weiß nicht, ob du dich in meine Situation hineinversetzen kannst«, entgegnete sie irritiert. »Einerseits hoffe ich, dass es ihm richtig dreckig geht. Er soll ruhig glauben, dass ich nie wieder zu ihm zurückkehren werde. Andererseits würde ich am liebsten sofort aus der Tür stürzen und auf dem schnellsten Weg zu ihm nach Hause fahren, damit er nicht zu zweifeln braucht

…«

Plötzlich blieb ihr die Stimme weg. Sie wurde von einem Weinkrampf erfasst, hielt sich die Hände vors Gesicht und senkte den Kopf, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen.

Nach einer Weile schnäuzte sie sich diskret und sagte lächelnd:

»Entschuldige, dass ich dich in aller Öffentlichkeit kompromittiere.« Sie sah sich verstohlen um. »Glaubst du, die Leute haben etwas bemerkt?«

Roffe zuckte mit den Schultern. »Vermutlich, aber was macht das schon?«

»Die glauben sicher, dass du mein Geliebter bist und mir gerade mitgeteilt hast, dass du deine Frau und deine fünf Kinder nicht verlassen wirst.«

»Dann haben wir ihnen zumindest ein bisschen Abwechslung geboten.«

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Katharina spielte mit ihrer Papierserviette und sah ihn gespannt an. »Eigentlich gibt es so viele Dinge, die ich wissen wollte«, sagte sie. »Heute Nacht, als ich endlich ins Bett ging, wusste ich genau, was ich dich fragen wollte. Jetzt fällt mir nichts ein, und gleich muss ich gehen. Wie spät ist es?«

»Viertel nach eins.«

»Gibt es keine anderen Spuren, ich meine, keine anderen Leichenkandidaten? Haltet ihr es wirklich für möglich, dass es sich um Axel handelt? Dieser Gedanke kommt mir vollkommen absurd vor.«

»Warum?«, fragte Roffe.

Katharina machte eine unbestimmte Geste. »Wenn ich daran denke, dass ihr drei in eine Klasse gegangen seid … Du hast ihn schon damals nicht gemocht, hat Patrik mir erzählt, aber das klingt doch alles wie aus einem billigen Roman: Die drei Klassenkameraden konnten nicht ahnen, dass einer von ihnen später verdächtigt werden sollte, den anderen ermordet zu haben, während der dritte Polizist wurde und den Fall löste. Es muss doch jede Menge anderer Möglichkeiten geben. Darf ich dich fragen, wie der derzeitige Stand der Ermittlungen ist?«

Roffe kniff die Augen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. »Derzeit versuche ich herauszubekommen, was du eigentlich wissen willst.«

»Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte sie eifrig. »Dieser Sandström. Warum verdächtigt ihr nicht ihn? Nisse ist schließlich überzeugt davon, dass er den Polen in die Grube geschmissen hat. Wer sagt eigentlich, dass es sich bei der Leiche nicht um den Polen handelt?«

»Niemand. Vielleicht ist er es. Diese Möglichkeit kalkulieren wir natürlich mit ein, aber wir haben die Sandströms bisher noch nicht vernehmen können. Sie machen seit drei Wochen Urlaub auf Rhodos und kommen erst morgen nach Hause. Natürlich werden sie nach ihrer Ankunft sofort verhört werden.«

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Katharina seufzte nervös und sah ihn flehentlich an. »Ich weiß, dass ich völlig überdreht wirke«, sagte sie. »Aber es ist schließlich das erste Mal, dass mein Mann unter Mordverdacht steht.«

Roffe legte beruhigend seine Hand auf ihre, als wolle er ihr etwas von seiner eigenen Zuversicht vermitteln, doch nahm er sie rasch wieder fort. Vielleicht fürchtete er, die Geste sei zu intim.

»Wir verfolgen zurzeit zwei Ziele«, sagte er. »Zum Ersten versuchen wir die Leiche zu identifizieren.«

»Wie denn? Anhand der Zähne?«

»Ja, unter anderem. Zum Zweiten versuchen wir die Personen ausfindig zu machen, die als Leiche in Frage kommen, unter anderem Axel. Sollten wir ihn finden, ist Patrik aus dem Schneider.«

»Und Marianne?«

»Menschen, die einen Mord begehen, haben in der Regel triftige Gründe dafür. Und sollten wir beweisen können, dass Axel noch am Leben ist, dann hatte PM keinen Grund, sie zum Schweigen zu bringen.«

Katharina bemerkte, dass sie die hübsche grüne Serviette völlig zerpflückt hatte. Kleine grüne Papierbrösel lagen wie Konfetti um ihren Teller.

»Seid ihr mit den Zähnen schon weitergekommen?«, fragte sie.

»Wir wissen nicht, wer Axels Zahnarzt war. Es könnte einer in Schweden oder im Ausland sein. Axel war ja viel auf Reisen.

Bisher haben wir nur einen pensionierten Zahnarzt in Christiansholm ausfindig gemacht, zu dem er in jungen Jahren gegangen ist. Der hat niemals Röntgenbilder angefertigt, doch seine Patientenakten sind noch vorhanden. Darin finden sich ein paar Details, die mit dem Gebiss der Leiche übereinstimmen, 130

aber solange man kein Bild zum Vergleich hat, ist das nicht sehr aussagekräftig. Die Pathologen veranschlagen das Alter der Leiche, obwohl diese lange in der Grube gelegen hat, auf vierzig bis fünfundfünfzig Jahre. Das würde mit Axels Alter übereinstimmen, trifft aber auch auf viele andere Personen zu.«

»Und wenn es sich doch um Axel handelt, wer käme dann als Täter in Frage?«

»Für solche Überlegungen ist es noch zu früh. Wir suchen vorerst weiter nach seinem Zahnarzt, und wenn dieser in Schweden arbeitet und immer noch praktiziert, werden wir ihn wohl auch finden. Außerdem nehmen wir die Felder unter die Lupe, die bereits gedüngt wurden, ehe die Leiche gefunden wurde. Wir setzen Metalldetektoren ein, aber bisher haben wir nur ein paar rostige Nägel gefunden. Die waren vermutlich auch nicht in der Jauchegrube, sondern haben schon länger auf den Feldern gelegen. Ja, und dann fahnden wir natürlich nach Axel, sowohl in Schweden als auch im Ausland.«

Er schaute auf die Uhr. »Wenn du um zwei Uhr anfangen willst, sollten wir jetzt aufbrechen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ein einziges Mal kann ich doch wohl zu spät kommen. Davon geht die Welt auch nicht unter. Nur noch einen Augenblick. Ich will noch wissen, wie es kommt, dass die Zeitungen bereits von der Sache Wind bekommen haben.«

Roffes Miene verfinsterte sich.

»Das würde ich auch gern wissen«, sagte er mürrisch. »Ich habe das ungute Gefühl, dass jemand aus meiner Abteilung den Mund nicht halten konnte, und wenn ich könnte, würde ich den oder die in Stücke reißen. Heute Morgen habe ich ein Rundschreiben in Umlauf gebracht, in dem ich den Betreffenden in aller Form bitte, sich zu melden. Aber bis jetzt hat noch niemand Farbe bekannt. Wenn es niemand von uns war, dann 131

kommt natürlich auch der Absender des belastenden Briefes in Frage.«

»Der stammt doch von Marianne Wester.«

»Das ist nicht gesagt. Es liegt doch auf der Hand, dass jemand Patrik ans Messer liefern wollte.«

Roffe stellte Blickkontakt zu der chinesischen Kellnerin her und signalisierte ihr, dass er bezahlen wollte. Ehe sie an ihren Tisch kam, fragte er: »Erlaubst du, dass ich dich zu diesem betrüblichen Essen einlade?«

Katharina lächelte. »Ach, so betrüblich war es doch gar nicht.

Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass deine Genussfähigkeit durch die äußeren Umstände nicht beeinträchtigt wurde. Du darfst mich gern einladen.«

Nachdem Roffe die Rechnung beglichen hatte, begleitete er sie zur Bibliothek. Das Wetter war geradezu betäubend schön, und sie hatten keine Eile.

Katharina hakte sich bei Roffe ein und drückte leicht seinen Arm. »Im Moment überblicke ich nicht alle Einzelheiten in diesem verzwickten Fall, aber ich bin unendlich dankbar, dass du die Ermittlungen leitest, zumindest in deinem Distrikt. Ich wage gar nicht daran zu denken, was wäre, wenn ein Unbekannter gegen PM ermitteln würde.«

»Der würde sicher auch versuchen, einen guten Job zu machen«, sagte Roffe loyal.

»Natürlich, aber er hätte Patrik nicht gekannt, und von außen betrachtet kann er schon einen fragwürdigen Eindruck machen.«

Vor dem Eingang zur Bibliothek verabschiedeten sie sich.

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Am selben Tag

Kriminalkommissar Lasse Wagnhärad stand an der Kante der besagten Jauchegrube und starrte gedankenverloren auf deren betrüblichen Inhalt. Vor ein paar Wochen war sie trockengelegt worden in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das die Ermittlungen voranbrachte. Aber das Ergebnis dieser stinkenden Untersuchung war negativ gewesen. Jetzt war die Grube wieder in Gebrauch genommen worden und die Polizei einer Lösung des Falls keinen Millimeter näher gekommen. Er drehte sich um und betrachtete die lange Reihe der riesigen Schweineställe, deren rote Blechverkleidung offenbar an idyllische rote Holzhäuser erinnern sollte. Bergh und er waren gerade erst angekommen, und der einzige Mensch, den sie zu Gesicht bekommen hatten, war der mürrische Nisse Hallman gewesen, der, das Wort Fütterung murmelnd, sogleich in einer der Blechhütten verschwunden war. Nun schwankte er, was er tun sollte. Er schaute auf seine Uhr. Es war immer noch vor zwölf.

Sie mussten wohl das Risiko in Kauf nehmen, den benachbarten Maler, der auf seine Nachtruhe so viel Wert legte, erneut aus den Federn zu holen. Es war nicht gesagt, dass er ihnen die Tür öffnete, aber in diesem Fall würden sie sich auf seine Eingangstreppe setzen und warten. Irgendwann musste er schließlich aufstehen.

Plötzlich vernahm Wagnhärad einen höllischen Lärm, der aus einem der Schweineställe drang. Für seine Ohren hörte es sich so an, als sei eine Horde Schweine in Aufruhr geraten, und er ging davon aus, dass es sich um die normalen Geräusche bei der Fütterung handelte. Angesichts der würzigen Düfte die Nase rümpfend, ging er auf den Wagen zu, in dem Bergh auf ihn wartete.

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Vor wenigen Tagen hatte er ein kurzes, aber bedeutsames Gespräch mit seinem Vorgesetzten Rolf Stenberg gehabt. Dieser hatte ihn in sein Büro gerufen und ihm schweigend einen Brief überreicht. Nachdem er den Brief gelesen hatte, sagte Stenberg zu ihm: »Einen Tag, nachdem sie diesen Brief geschrieben hatte, also am selben Tag, an dem er bei uns einging, wurde sie in ihrer Stockholmer Wohnung ermordet. Genau an diesem Tag wollte Patrik Andersson ihr einen Besuch abstatten, doch er sagt, er habe sie nicht angetroffen. Wie du vielleicht weißt, sind Andersson und ich alte Freunde. Darum wirft es ein komisches Licht auf die Ermittlungen, wenn ich ihn selbst vernehme.

Besser, du kümmerst dich um die Angelegenheit.«

Viel mehr hatte er nicht gesagt.

Wagnhärad befürchtete, diese Vernehmung könne ein schwer zu meisternder Drahtseilakt werden, fühlte sich von Stenbergs Vertrauen jedoch geschmeichelt. Er mochte seinen Chef und bewunderte ihn für seine Kompetenz und seine unkonventionelle Vorgehensweise. Zwar wusste er, dass vielen Kollegen Stenbergs eigenmächtige Methoden gegen den Strich gingen, doch konnte niemand leugnen, dass sie, auf lange Sicht betrachtet, meistens erfolgreich waren. Und dass er für drei schuftete, ließ sich ebenfalls nicht abstreiten.

Bergh ließ den Motor an.

»Wohin?«, fragte er.

»Wir fangen mit Patrik Andersson an, dann sehen wir weiter«, entgegnete Wagnhärad.

Wenige Minuten später parkten sie vor dem Eingangstor.

Sie bemerkten die Abwesenheit des weißen Fiat, und Bergh äußerte: »Wahrscheinlich ist er allein zu Hause.«

»Dann hoffen wir mal, dass er nicht mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden ist«, sagte Wagnhärad und stieg aus dem Auto.

Neugierig schaute er sich um. Das gepflegte rote Bauernhaus lag eingebettet in eine üppig blühende Landschaft. Ein ziemlich 134

großer Hof im Grunde, aber dieser Eindruck hatte wohl mit der ausgebauten Scheune zu tun, die direkt an das längliche Hauptgebäude angebaut war. Wagnhärad bemerkte die großzügigen Fenster unter dem Dach, wo vermutlich das Atelier untergebracht war. Ein idealer Ort für einen Künstler.

Noch ehe Wagnhärad die Haustür erreichte – er hatte diesmal wirklich diskret anklopfen wollen –, wurde sie sperrangelweit aufgerissen. Patrik der Maler stand auf der Schwelle und starrte sie verblüfft an. Wie schon beim letzten Mal trug er einen Bademantel, der seine besten Tage bereits hinter sich hatte und PMs haarige Beine und nackten Füße preisgab. Wagnhärad fing sich rasch wieder.

»Guten Tag. Was für ein Glück wir heute haben!«, rief er eine Spur zu überschwänglich.

PMs Gesicht verfinsterte sich. »Was Sie nicht sagen. Ich glaubte, es wäre meine Frau. Was wollen Sie?«

Wagnhärad mobilisierte sein liebenswürdigstes Lächeln und sagte: »Wie Sie vielleicht wissen, hat Roffe Stenberg die Ermittlungen in Bezug auf den Brief von Marianne Wester an mich übertragen. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Sein Gegenüber gab sich keine Mühe, entgegenkommend zu sein. Schweigend und grimmig starrte er sie an, als spielte er mit dem Gedanken, den Polizisten die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Schließlich sagte er widerwillig: »Dann kommen Sie eben rein. Ich habe schlecht geschlafen und noch nicht gefrühstückt, also rechnen Sie ja nicht mit einem netten Plauderstündchen.«

Vor seinen Gästen ging er in die Küche.

Wagnhärad lächelte weiter, fest entschlossen, an seiner Freundlichkeit festzuhalten.

»Ich werde versuchen, es kurz zu machen«, sagte er, »und niemand hindert Sie daran, zu frühstücken, während wir uns unterhalten.«

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PM blickte ihn durchdringend an. »Das ist die Frage. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, wie Sie wahrscheinlich selbst wissen. Es sollte in ruhiger und harmonischer Atmosphäre zu sich genommen werden. Was Sie mit mir zu besprechen haben, dürfte meiner Verdauung kaum förderlich sein.«

»Dann lassen Sie mich zuerst meine Fragen loswerden«, schlug Wagnhärad gutmütig vor. »Danach dürfen Sie zur Belohnung in Ruhe frühstücken.«

Endlich zeigte sich auch auf PMs Gesicht der Anflug eines Lächelns, mochte es auch ironisch gemeint sein. Neugierig musterte er den Polizisten.

»Sie geben wirklich nicht auf«, sagte er anerkennend. »Ist das Veranlagung oder gibt es Kurse für so was? ›Machen Sie die Mordermittlungen zu einem positiven Erlebnis für sich und die Verdächtigen‹ oder so ähnlich.«

Wagnhärad lachte. »Nein, aber so ein Kurs wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee.«

Patrik der Maler gähnte und kratzte sich den Bart.

»Also schön, aber zuerst brauche ich einen Kaffee. Wollen Sie auch einen? Und ein paar Brote sollten wir auch essen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er Kaffeewasser auf und warf einen prüfenden Blick in den Kühlschrank. Wagnhärad stellte das Tonbandgerät auf einen Stuhl, während Bergh hilfsbereit Kaffeetassen, Brot und Käse zum Esstisch trug. Der Maler schien sich mit dem Gedanken angefreundet zu haben, gemeinsam mit zwei Polizisten zu frühstücken, und gab Bergh kurze, aber freundliche Anweisungen, was das Decken des Tisches betraf.

Nachdem der Kaffee eingeschenkt und die Brote geschmiert waren, sagte Wagnhärad: »Okay, sollen wir anfangen?«

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Der Maler zuckte die Achseln und nickte dem Tonbandgerät zu, das jetzt auf dem Tisch stand.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich esse, während ich rede.«

»Sie machen das schon.«

Wagnhärad schaltete das Tonband ein und sagte: »Verhör mit Patrik Andersson, Donnerstag, vierter Mai, sein Verhältnis zu Axel Hemberg und Marianne Wester betreffend. Zuerst Axel Hemberg. Worum ging es bei dem Streit, den Sie mit ihm hatten?«

Der andere warf einen prüfenden Blick auf das Tonbandgerät.

»Wollen Sie die ausführliche Version?«

»Je ausführlicher, desto besser.«

Er nahm einen Schluck Kaffee und dachte nach.

»Das erste Mal bin ich Axel auf der Schule in Christiansholm begegnet, das war Anfang der sechziger Jahre. Wir gingen in dieselbe Klasse. Ich mochte ihn nicht, und mit dieser Einschätzung war ich weiß Gott nicht allein. Axel war ziemlich unbeliebt bei den Mitschülern, jedenfalls am Anfang …«

Er zögerte, als wisse er nicht, wie er fortfahren solle.

»Ja?«

»Was mich und viele andere irritierte, war, dass er sich für etwas ganz Besonderes hielt. Er war ein arroganter Fatzke, aber das hielt nicht lange an. Nachdem er sich gründlich lächerlich gemacht hatte, wurde es besser. Eigentlich konnte er einem Leid tun. Seine Mutter hatte ihm all die Flausen in den Kopf gesetzt.

Axel war das einzige Kind eines wohlhabenden Fabrikbesitzers.

Es war eine Farbenfabrik, für Wandfarben und Ähnliches. Der Vater war eine Art Bonze, aber seine Mutter war noch schlimmer. Sie spielte sich als First Lady von Christiansholm auf. Korpulent und hochmütig, so habe ich Axel in Erinnerung.«

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»Sie hatten also während der Schulzeit keinen engeren Kontakt miteinander?«

»So kann man das nicht sagen. Wir sind immerhin vier Jahre in dieselbe Klasse gegangen und haben einiges zusammen erlebt. Mit der Zeit wurde er etwas erträglicher, oder vielleicht sind wir auch offener auf ihn zugegangen, schwer zu sagen. Eng befreundet waren wir jedenfalls nie, obwohl wir derselben Clique angehörten. Sein Verhalten hat mich oft auf die Palme gebracht, aber im Lauf der Jahre hat sich eine gewisse Loyalität entwickelt. Ein paarmal war ich bei ihm zu Hause. Er hatte immer unbegrenzt Taschengeld und konnte sich alle Platten kaufen, die er nur wollte. Ab und zu habe ich mir einen Stapel von ihm ausgeliehen. Aber die Eigenschaft, die ich bei keinem anderen Menschen je so ausgeprägt kennen gelernt habe wie bei ihm, war sein Schwanken zwischen extremer Intelligenz und großer Dummheit. Sie hat mich jedes Mal aufs Neue verblüfft.

Hatte man gerade erst festgestellt, dass er ein grenzenloser Idiot war, dann bewies er im nächsten Moment seinen Scharfsinn und seine schnelle Auffassungsgabe. Die meisten Menschen befinden sich doch irgendwo in der Mitte und halten sich in der Regel für klüger, als sie wirklich sind. Aber Axel war nie in der Mitte, sondern abwechselnd strohdumm oder brillant, und ich habe mich stets schwer getan mit ihm. Er machte ein glänzendes Abitur, was nicht verwunderlich ist, denn die Schule ist nun mal für intelligente Schwachköpfe gemacht. Nach der Schule habe ich zunächst den Kontakt zu ihm verloren.«

»Wann sind sie sich wieder begegnet?«

»Erst Jahre später, in Stockholm, Anfang der siebziger Jahre.

Ich besuchte die Kunstakademie, und er studierte Kunstgeschichte an der Universität. Wir hatten einige gemeinsame Bekannte und trafen uns manchmal auf irgendwelchen Partys. Er war inzwischen verheiratet, und ich habe mich gewundert, was für ein hübsches und nettes Mädchen 138

er abgekriegt hatte. Ich frage mich immer noch, was sie an ihm bloß gefunden hat.«

»Wann hat er angefangen, als Galerist zu arbeiten?«

»Das war erst viel später. Irgendwann in den Achtzigern. Ich hatte Stockholm verlassen und war hierher zurückgezogen.

Freunde hatten mir davon erzählt. Damals, ich glaube, es war

’83 oder ’84, hatte sich sein Vater das Leben genommen. Es stellte sich heraus, dass seine Firma schon seit Jahren kurz vor der Insolvenz stand. Er hatte wohl keine Kraft mehr, das länger zu verschleiern, und hinterließ einen Haufen Schulden. In Christiansholm hat das einen ziemlichen Wirbel verursacht und viel Gerede in seinem Bekanntenkreis nach sich gezogen. Nach allem, was ich gehört habe, war es für Axel ein Riesenschock, und vorübergehend muss er richtig auf den Hund gekommen sein. Außerdem hatte er sich ein fettes Erbe erwartet. Als sich das als Irrtum erwies, nahm er die verschiedensten Jobs an. Teils um sich selbst zu versorgen, teils um seiner Mutter die heimische Villa zu erhalten und ihr die weitere Demütigung eines Umzugs zu ersparen. Jedenfalls kam er erstaunlich rasch wieder auf die Beine. Er hat eine Nase für alles, was ein Geschäft verspricht, und in den achtziger Jahren versprach der Handel mit Kunstgegenständen ein großes Geschäft. Zumindest für den Händler, weniger für den Künstler. Auf Umwegen erfuhr ich, er habe eine große Galerie eröffnet, doch ich hatte zunächst keine Absicht, deswegen Kontakt mit ihm aufzunehmen.«

»Also hat er Kontakt mit Ihnen aufgenommen?«

»Ja.«

»Und wie?«

»Er besuchte mich zu Hause und wollte sich meine Bilder anschauen.«

»Wann war das?«

»Ein paar Jahre später, ich weiß nicht mehr genau, ’90 oder

’91. Er war sofort sehr angetan, und wir sprachen lose von den 139

Möglichkeiten einer späteren Ausstellung. Fürs Erste wollte er ein paar Bilder von mir mitnehmen und in seiner Galerie verkaufen, und ich habe das Angebot angenommen.«

»Hat er sie verkauft?«

»Ja, und er fragte sofort nach weiteren Bildern. Innerhalb weniger Jahre verkaufte er ungefähr zehn Bilder von mir.«

»Hat es später eine Ausstellung Ihrer Bilder in seiner Galerie gegeben?«

»Ja, das war im letzten Herbst, genauer gesagt, im September.

Bei dieser Gelegenheit hat er mich um 140000 Kronen betrogen.«

»Wie ist das passiert?«

»Der Verkauf meiner Bilder brachte 320000 Kronen ein, eine unglaublich hohe Summe. Niemals zuvor hatte ich auch nur annähernd so gut verdient. Von diesen Einnahmen sollte ich die Hälfte, also 160000 behalten. Als Anzahlung erhielt ich 20000, den Rest wollte er mir nach Beendigung der Ausstellung geben.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits aus dem Staub gemacht und war einfach nicht mehr aufzutreiben, weder für mich noch für seine anderen Gläubiger.«

»Haben Sie ihn später ausfindig gemacht?«

Ein grimmiges Lachen. »Nein, und das ist ein Glück für ihn.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, was glauben Sie denn?«

»Marianne Wester behauptet in ihrem Schreiben, Sie hätten gedroht, ihn umzubringen.«

»Da war ich sicher nicht der Einzige. Es gibt eine Reihe von Leuten, die hinter ihm her sind. Ich habe nie daran gedacht, ihn umzubringen, aber ich hätte ihm zu gern eine Tracht Prügel verpasst, die sich gewaschen hätte.«

»Haben Sie nicht gesagt, dass Sie ihn töten wollten?«

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»Kann schon sein, dass ich gesagt habe, ich wolle ihm den Hals umdrehen.«

Kurzes Schweigen.

»Dem Obduktionsbericht zufolge hatte die Leiche in der Jauchegrube ein gebrochenes Genick …«

»Aha … und was wollen Sie damit andeuten?«

»Nur das, was ich gesagt habe. Marianne Wester hat behauptet, sie hätte Ihnen Hembergs Adresse in Christiansholm verraten. Sind Sie dort gewesen?«

»Ja, mehrere Male.«

»Haben Sie ihn dort angetroffen?«

»Wie Sie bereits wüssten, wenn Sie mir vorhin richtig zugehört hätten, habe ich ihn seit seinem Verschwinden nie wiedergesehen. Ich habe mit seinen Mietern gesprochen, das können Sie gern nachprüfen. Die hatten auch keinen Schimmer, wo er abgeblieben war.«

»Warum, glauben Sie, hat Marianne Wester diesen Brief geschrieben?«

»Ich weiß es nicht. Falls Sie ihn überhaupt geschrieben hat.«

»Haben Sie irgendeine Vermutung, wo Axel Hemberg abgeblieben sein könnte?«

»Nein.«

»Sie haben doch gemeinsame Bekannte. Gibt es irgendeine andere Person, die eine konkrete Vermutung geäußert hat?«

»Seine Exfrau glaubt, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat.

Eine Ansicht, die Marianne in ihrem Brief an mich ebenfalls zum Ausdruck gebracht hat. Aber ich habe keine Ahnung, wo er wirklich ist.«

»Dann lassen Sie uns auf Marianne Wester zu sprechen kommen. Wie war Ihre Beziehung zu ihr?«

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»Ich kannte sie kaum und habe sie insgesamt nur zweimal gesehen.«

»Wann war das?«

»Zum ersten Mal am Tag meiner Ausstellungseröffnung. Axel machte uns miteinander bekannt. Sie waren alte Freunde.«

»Waren Sie bei ihr zu Hause?«

»Nein, wir haben uns in einem Lokal, der Opernbar, wenn Sie es genau wissen wollen, kennen gelernt.«

»Aber Sie waren doch bei ihr zu Hause?«

»Ja.«

»Wann war das?«

»Später am Abend habe ich sie nach Hause begleitet.«

»Sie allein?«

»Ja.«

»Was ist dort geschehen?«

»Was geschieht denn wohl, wenn man nach einem Barbesuch zu einer Frau mit nach Hause geht?«

»Wie lange sind Sie bei ihr geblieben?«

»Bis zum nächsten Vormittag um elf Uhr.«

»Das war das erste Mal. Wann haben Sie sie zum zweiten Mal getroffen?«

»Ungefähr einen Monat später, in Zusammenhang mit Axels Verschwinden. Auf diese Begegnung spielt sie in ihrem Brief an. Bei dieser zweiten Begegnung habe ich sie dazu gebracht, mir Axels Adresse in Christiansholm zu verraten.«

»Frau Wester schreibt, sie sei von Ihnen unter Druck gesetzt worden. Was können Sie dazu sagen?«

»Sie war stocksauer auf mich. Nach unserem ersten Treffen hatte sie mir geschrieben und wollte eine Fortsetzung unserer Beziehung. Ich habe ihr kühl geantwortet, dass ich daran nicht interessiert sei. Als ich sie aufsuchte, war sie nicht besonders 142

entgegenkommend. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie Axel zu schützen versuchte. Ich geriet in Wut und machte ihr weis, ich sei mit einem Anwalt befreundet, der sie wegen Mitwisserschaft drankriegen würde.«

»Und darauf ist sie hereingefallen?«

»Offensichtlich. Doch anscheinend hat sie mir einen Bären aufgebunden und mir die Adresse nur genannt, um mich loszuwerden.«

»Warum sind Sie am vierundzwanzigsten April nach Stockholm gefahren? Wollten Sie Frau Wester ein weiteres Mal treffen?«

»Ich hatte am Tag zuvor einen Brief von ihr erhalten, in dem sie mich aufforderte, sofort nach Stockholm zu kommen. Man hätte ihr einen Tipp gegeben, wo Axel zu finden sei. Außerdem behauptete sie, dass Axel ihr ebenfalls Geld schulden würde. Sie schlug vor, wir sollten gemeinsam zu Axel fahren, um ihn in die Mangel zu nehmen.«

»Haben Sie diesen Brief aufbewahrt?«

»Nein, ich habe ihn verbrannt, gleich nachdem ich ihn gelesen hatte. Dasselbe tat ich mit dem anderen Brief. Ich gebe zu, dass dies eine Dummheit war, aber schließlich wusste ich nicht, dass sie ermordet werden würde.«

»Berichten Sie uns, was Sie am fünfundzwanzigsten April in Stockholm getan haben.«

»Ich tat nichts anderes als heftig gegen ihre Tür zu hämmern und sie anzurufen. Doch niemand öffnete, und ans Telefon ging sie auch nicht. Stattdessen teilte ihr Anrufbeantworter mit, sie sei derzeit nicht zu sprechen.«

»Versuchten Sie nicht irgendwie in die Wohnung einzudringen?«

»Wie denn? Hätte ich etwa die Tür eintreten sollen? Und ein Brecheisen hatte ich auch gerade nicht zur Hand.«

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»Ist Ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen?«

»Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass hier etwas faul war.

Aber ich habe keine bewaffneten Typen um das Haus schleichen sehen, wenn Sie das meinen.«

»Wann haben Sie aufgegeben und sind wieder nach Hause gefahren?«

»Gegen neun Uhr abends. Ich habe noch was gegessen und dann den Nachtzug genommen.«

Wagnhärad hielt das Tonband an.

»Das reicht fürs Erste«, sagte er. »Sollten wir noch weitere Fragen an Sie haben, lasse ich von mir hören.«

Der Maler lächelte ihn an. »Nicht dass ich was dagegen hätte, mit Ihnen Kaffee zu trinken, aber wenn Sie wiederkommen, dann bitte zu einer späteren Uhrzeit. Eigentlich schätze ich die Ruhe, wenn ich frühstücke.«

Bergh stellte die Kaffeetassen neben die Spüle, und Wagnhärad packte das Tonbandgerät ein.

»Nächstes Mal – falls es ein nächstes Mal gibt – werde ich einen Termin mit Ihnen vereinbaren. Ist das in Ordnung?«

»Selbstverständlich. Sie finden selbst hinaus?«

Als sie wieder im Auto saßen, hatte Wagnhärad das Bedürfnis, in Ruhe nachzudenken. Auf halbem Weg nach Knigarp verbreiterte sich der kurvige Schotterweg zu einer Art Parkbucht, vermutlich um entgegenkommende Fahrzeuge passieren lassen zu können. Er bat Bergh, dort anzuhalten und den Motor abzustellen.

»Was meinst du?«, fragte er, während er das markante Profil seines Kollegen betrachtete.

»Der Kaffee war gut, aber ich habe das Gefühl, dass er uns in Bezug auf die letzte Stockholm-Reise nicht ganz die Wahrheit gesagt hat.«

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Wagnhärad nickte. »Das Gefühl habe ich auch. Ich muss eine Weile nachdenken.«

Bergh schob seinen Sitz zurück und kippte die Rückenlehne nach hinten, dann verschränkte er die Arme und schloss die Augen.

Wagnhärad lachte. »In Ordnung. Ich wecke dich auf, wenn ich fertig nachgedacht habe.«

»Nur keine Eile.«

Wagnhärad fuhr die Scheibe herunter und ließ seinen Blick über den dichten Laubwald schweifen, der zur Rechten des Weges lag. Auf der anderen Seite breiteten sich einsame Weiden aus, von Unkraut überwuchert und von einem rostigen Stacheldrahtzaun umgeben. Jenseits der Weiden befand sich, einer dunklen Wand gleich, eine Schonung mit jungen Fichten, die der Abholzung bisher entgangen waren. Ansonsten machte das gesamte Land, das zu Knigarp gehörte, einen öden und verbrauchten Eindruck. Er senkte den Blick und stieß einen tiefen Seufzer aus. Wusste nicht recht, wie er mit den Ermittlungen fortfahren sollte, und wollte dieser Unsicherheit auf den Grund gehen. Der Fall war äußerst heikel, und er wollte unter allen Umständen Fehler vermeiden.

Rolf Stenberg schien aufrichtig davon überzeugt zu sein, dass sein Freund, der Maler, eine reine Weste hatte; anderenfalls hätte er sicher den gesamten Fall abgegeben und nicht nur die Ermittlungen gegen Patrik Andersson auf ihn übertragen. Er hatte darüber kein Wort verloren, doch wenn man genau hinhörte, war es ein Leichtes, Stenbergs Dilemma zu begreifen.

Als Leiter der Ermittlungen und alter Freund von Andersson befand er sich gelinde gesagt in einer unangenehmen Lage. Als Polizist war er dazu verpflichtet, gründlich und objektiv zu ermitteln, aber natürlich scheute er alle Maßnahmen, die seinen Freund zusätzlich unter Druck setzten. Diesen schwierigen Drahtseilakt delegierte er lieber an einen seiner Kollegen.

145

Wagnhärad war sich der Schwierigkeiten, die ihm bevorstanden, wohl bewusst. Andere Personen nach ihrer Meinung zu Patrik Andersson zu befragen, konnte den Eindruck bestärken, dass dieser verdächtigt werde. Ein solches Verhalten konnte ihm als Schikane oder zumindest als Übereifer ausgelegt werden. Vor allem dann, wenn sich Anderssons Unschuld erweisen sollte.

Doch wie konnte er eine besondere Vorsicht bei den Ermittlungen rechtfertigen, falls Andersson schuldig war? Und würde er sich nicht gerade des Verdachts der nachlässigen Recherche aussetzen, wenn der Fall unaufgeklärt bliebe? In diesem Fall würde er wohl eine ganze Reihe von Vorwürfen auf sich ziehen, die seinen beruflichen Aufstieg gefährdeten.

Wenn er von Stenbergs Freundschaft mit dem Maler einmal absah und sich vorurteilsfrei die Lage vergegenwärtigte, wie würde er diesen Andersson dann einschätzen? Es war nicht zu leugnen, dass er ihn für äußerst dubios und verdächtig halten würde.

Bei der Leiche konnte es sich um Hemberg oder um eine andere Person handeln. Als Mörder kam Andersson ebenso in Frage wie viele andere. Es gab also nicht zwei, sondern vier Möglichkeiten. Er kam zu dem Schluss, dass er die Leute auf Knigarp sowohl zu Axel Hemberg als auch zu Patrik Andersson und in diesem Zusammenhang wohl auch zu Marianne Wester befragen sollte. Er durfte einfach nicht riskieren, dass ihm wichtige Informationen durch die Lappen gingen, nur weil er einen Verdächtigen mit Samthandschuhen anfasste. Da nahm er schon lieber eine Rüge wegen unnötiger Ermittlungen in Kauf.

Er drehte den Kopf und stellte fest, dass Bergh wirklich eingeschlafen war. Dieser Mann war in vieler Hinsicht bemerkenswert. Nicht zuletzt aufgrund seiner Fähigkeit, in jeder Situation ein Nickerchen machen zu können, hatte er bei der Polizei in Christiansholm Berühmtheit erlangt. Wagnhärad schüttelte ihn leicht an der Schulter, worauf Bergh sofort zu sich 146

kam und schon nach wenigen Sekunden bereit war, den Zündschlüssel herumzudrehen.

»Wir fangen mit Nygren an. Fahr am besten bis zum Wohngebäude, das sehen wir uns zuerst an.«

Als sie am Ende der Lindenallee anhielten, entdeckten sie in einiger Entfernung Nygren, der einen wild kläffenden Dobermann zu einem Zwinger zerrte, der sich an der Giebelseite des Hauses befand. Sein blauer Volvo stand vor dem Eingang.

Der Kofferraum sowie die Vordertüren waren geöffnet, was darauf hindeutete, dass er soeben nach Hause gekommen war.

Der Hund hatte ihren Wagen natürlich gesehen und kommen gehört, doch sein Bellen übertönte alle anderen Geräusche, sodass Nygren ihre Ankunft noch nicht bemerkt hatte. Er schrie den Hund wütend an, während er ihn durch ein starkes Eisengitter manövrierte.

Wagnhärad gab Bergh ein Zeichen, worauf sie beide ausstiegen, gemächlich den großen, runden Hofplatz überquerten und sich diskret umsahen. Das erste Gespräch mit Nygren hatten sie in dem Verwaltungsgebäude geführt, das sich hinter den Schweineställen befand. Hier waren sie nie zuvor gewesen.

Der Vorplatz vor dem Wohngebäude zeugte von ehemaliger Pracht und Größe. Die hohen, altersschwachen Linden, die auch die Allee säumten, umgaben den gesamten Platz, in dessen Mitte, sicher vor langer Zeit, ein leicht erhöhtes, kreisrundes Blumenbeet angelegt worden war. Dem ein oder anderen robusten Rosenbusch hatte der Zahn der Zeit nichts anhaben können, doch wucherten im Blumenbeet vor allem Löwenzahn, Brennnesseln und anderes Unkraut. In der Mitte des Beets erhob sich eine ramponierte Fahnenstange, die schon lange keine Farbe mehr gesehen hatte. Desgleichen das Haus, das majestätisch den großen Vorplatz dominierte. Die Backsteinfassade war in Würde gealtert, doch die Farbe um Türen und Fenster blätterte bedenklich. Es juckte einen Ästheten 147

wie Wagnhärad in den Fingern, wenn er daran dachte, was ein bisschen Farbe hier ausrichten könnte. Er stellte sich vor, dass der ursprüngliche Gutsbesitzer, der das großartige Gebäude zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erbauen ließ, nicht nur intakte Beziehungen zu seiner Bank unterhalten, sondern auch manch gute Ernte eingefahren haben musste. An Platz, Material und Qualität schien kein Mangel geherrscht zu haben. Alles sah nach solidem Handwerk aus, das mittlerweile allerdings dem Verfall preisgegeben war.

»Schöne Anlage, nicht wahr?«, murmelte er, bekam jedoch keine Antwort, weil Bergh all seine Aufmerksamkeit auf Nygrens Kampf mit dem Dobermann richtete.

Er wandte dem Wohngebäude den Rücken zu und ließ sich erneut von der atemberaubenden Aussicht gefangen nehmen.

Zumindest diese hatte nichts von ihrer ursprünglichen Faszination eingebüßt, sondern war genauso großartig wie in jedem Frühjahr.

Sie postierten sich zwischen Eingang und Volvo und erwarteten Nygren, der ihnen ohne das geringste Zeichen eines Wiedererkennens entgegenkam. Erst nachdem er die Wagentüren zugeschlagen hatte, fragte er kurz angebunden:

»Sie kommen wegen der Leiche?«

»Ja«, antwortete Wagnhärad. »Wir würden Ihnen gern ein paar weitere Fragen stellen.«

Nygren sah demonstrativ auf die Uhr.

»Ich habe nicht viel Zeit. Also vielleicht können Sie’s kurz machen.«

»Das dürfte kein Problem sein«, erwiderte Wagnhärad entgegenkommend. Nygren öffnete die Tür, und sie betraten die im Halbdunkel liegende, geräumige Eingangshalle. Das Erste, was Wagnhärad ins Auge fiel, war eine interessante Treppe auf der gegenüberliegenden Seite, die sich elegant zum düsteren Obergeschoss emporschwang. Doch ihm blieb keine Zeit, sie 148

eingehender zu betrachten, da ihr Gastgeber mit raschen Schritten auf eine halb offene Tür zur Linken zusteuerte, hinter der sich eine Art Büro befand.

Wie man schon hatte vermuten können, machte das Haus auch von innen einen gediegenen Eindruck. Die Türen waren aus Eiche, ebenso wie die fest eingebauten Bücherregale in dem Raum, in dem sie sich nun befanden. Das abgenutzte Parkett war größtenteils von halb ausgepackten Umzugskartons bedeckt, zwischen denen sich Dokumenten- und Bücherstapel türmten.

Die Regale hingegen waren leer, und die einzigen Möbel in diesem Raum waren ein überladener Schreibtisch sowie ein paar Stühle. Das Ganze machte einen ziemlich provisorischen Eindruck, so als hätte sich der derzeitige Besitzer noch nicht entschieden, ob er bleiben oder weiterziehen wollte. Doch er dachte offenbar nicht daran, den Zustand des Raumes zu erklären oder zu entschuldigen. Wortlos nahm er hinter dem Schreibtisch Platz und wies lustlos auf die beiden anderen Stühle. In diesem Moment klingelte das Telefon. Verärgert riss er den Hörer an sich. Während er in aller Eile ein paar Details besprach, die offenbar mit der Lieferung neuer Schweine zu tun hatten, wurde er verstohlen von Wagnhärad beobachtet, der den Eindruck hatte, dass an diesen Nygren nur schwer heranzukommen war. Kein Zweifel, dachte er, dass der Kerl über Autorität verfügte und streng darauf achtete, zu anderen Menschen Distanz zu wahren. Er schien durch und durch Arbeitgeber und Geschäftsmann zu sein. Merkwürdig nur, dass es ihn ausgerechnet auf eine Schweinefarm mit bloß zwei Angestellten verschlagen hatte. Im Grunde hätte man ihn sich besser als Geschäftsführer eines internationalen Wirtschaftskonzerns vorstellen können. Aber vielleicht verfügte er ja auch über andere, weniger offensichtliche Seiten, und schließlich durfte man wohl erwarten, dass er wusste, was er tat, als er sich für die Schweinezucht entschied. Er sah ziemlich gut aus. Durchtrainiert, könnte man sagen. Sein Haar fast schwarz, 149

an den Schläfen grau meliert. Dunkle Bartstoppeln, markantes Kinn. Obwohl sein Gesicht etwas Distanziertes und Verschlossenes hatte. Er durfte kaum älter als fünfzig sein.

Nygren beendete das Telefongespräch und sah die beiden Polizisten aufmerksam an. Bergh hatte seinen Notizblock gezückt, und Wagnhärad, der die gehetzte Atmosphäre wahrnahm, beeilte sich zu sagen: »Seit unserem letzten Gespräch haben wir einige neue Informationen erhalten. Ich hätte gern von Ihnen gewusst, was Sie mir über Ihren Nachbarn Patrik Andersson, genannt Patrik der Maler, sagen können.«

Nygren hob die Brauen. Die Frage schien ihn zu überraschen.

»Da kann ich Ihnen nicht viel erzählen«, sagte er. »Ich weiß, dass er eine Art Künstler ist. Aber was für ein Mensch er ist und womit er sich im Einzelnen beschäftigt, entzieht sich meiner Kenntnis.«

»Haben Sie mal mit ihm gesprochen?«

»Wir sind uns hin und wieder über den Weg gelaufen und haben ein paar Worte gewechselt. So etwas ist wohl unvermeidlich. Aber an einem näheren Kontakt scheint er kein Interesse zu haben, und mir ist das recht. Ich glaube nicht, dass wir viele gemeinsame Interessen hätten.«

»Ich verstehe«, sagte Wagnhärad. »Aber möglicherweise haben Sie eine Beobachtung gemacht, die Ihnen verdächtig vorkam?«

»Verdächtigen Sie etwa ihn?«

Wagnhärad zögerte eine Sekunde, ehe er sagte: »Bezüglich der Leiche in der Jauchegrube haben wir zahlreiche Hinweise erhalten. Einer dieser Hinweise könnte in Verbindung mit ihm stehen.«

Nygren nickte. »Aha, ich verstehe. Leider kann ich Ihnen in Bezug auf Herrn Andersson von keiner verdächtigen Beobachtung berichten, so gern ich Ihnen auch helfen würde.

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Über seine Lebensverhältnisse weiß ich nichts. Das heißt, ich habe von jemandem gehört, dass er einen ungewöhnlichen Tagesrhythmus hat, nachts arbeitet und tagsüber schläft. Aber das dürfte wohl kaum von Interesse sein.«

»Haben Sie einmal mit seiner Frau gesprochen?«

»Ja, das habe ich. Zu ihr habe ich mehr Kontakt als zu ihm.«

»Was halten Sie von ihr?«

»Eine sympathische Frau. Offen und geradeheraus.«

»Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?«

Nygren runzelte mürrisch die Stirn. Offenbar fand er die Frage allzu aufdringlich.

»Daran kann ich mich nun wirklich nicht erinnern«, antwortete er bedächtig, schien sich dann jedoch eines anderen zu besinnen:

»Worüber man mit Nachbarn eben spricht. Über das Wetter, den Wechsel der Jahreszeiten. Ich erinnere mich, dass sie sehr interessiert war, als ich auf Freilauf umgestellt habe. Das schien ihr zu gefallen.«

»Sprach sie von ihrem Mann?«

»Nein, warum hätte sie das tun sollen?«

Wagnhärad machte eine kleine Pause, ehe er das Thema anschnitt, dem er selbst die größte Bedeutung beimaß. Er beobachtete aufmerksam Nygrens Gesicht und fragte: »Was können Sie mir über Axel Hemberg sagen?«

Die Reaktion, die folgte, war bemerkenswert. Nygrens strenge und kontrollierte Gesichtszüge verwandelten sich für eine halbe Sekunde in etwas, das Bestürzung oder zumindest starker Verwunderung glich, bevor sie wieder in ihren alten Zustand zurückglitten.

»Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden«, sagte er ruhig. »Wie lautete der Name?«

Wagnhärad empfand einen Anflug von Enttäuschung.

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»Axel Hemberg«, sagte er.

Der andere schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Für einen Augenblick dachte ich, Sie meinen jemand anderen, aber ich habe mich verhört. Einen Axel Hemberg kenne ich nicht und kann Ihnen folglich auch nichts über ihn sagen.«

Wagnhärad war nicht ganz überzeugt. »Was für einen Namen haben Sie denn verstanden?«

»Ich habe Axel Hellberg verstanden, eine Person, die ich sehr gut kenne. Warum sind Sie der Meinung, ich könnte Ihnen etwas über diesen Axel … wie hieß er noch gleich?«

»Hemberg. Axel Hemberg. Ein Galerist aus Stockholm.

Geboren und aufgewachsen in Christiansholm. Es gibt Hinweise, bei der Leiche in der Jauchegrube könnte es sich um ihn gehandelt haben.«

Nygren schwieg eine Weile. Dann fuhr er in einem Ton fort, der um mehrere Grade abgekühlt war.

»Warum nehmen Sie an, ich könnte Ihnen irgendwas über diese Leiche sagen?«

»Wir nehmen gar nichts an«, sagte Wagnhärad. »Doch bei solchen Ermittlungen müssen eben verschiedenste Fragen gestellt werden. Man weiß nie, welche Puzzleteile am Ende zusammenpassen.«

Diese Erläuterung schien Nygren nicht zu beruhigen. Er hatte begonnen, an einem Lineal herumzufummeln, das er nun, ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, mehrmals hart gegen seine Handfläche schlug.

Wagnhärad warf die nächste Frage aufs Geratewohl in den Raum. »Sagt Ihnen der Name Marianne Wester etwas?«

»Nein«, war die prompte Antwort.

»Sie gab uns den Tipp, bei der Leiche könne es sich um Axel Hemberg handeln.«

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Nygren stand ruckartig auf und ging mit langen Schritten zum Fenster, wo er mit dem Rücken zu ihnen stehen blieb. Er hatte immer noch das Lineal in der Hand, das er mit seinen Händen krampfhaft umschloss. Er sah aus wie ein entnervter Lehrer, dessen Schüler ständig die falschen Antworten gaben.

»Bei allem Respekt für die Recherchen der Polizei oder wie man das nennen soll«, sagte er in einem Ton, der an Unhöflichkeit grenzte, »aber ich kann nicht verstehen, warum Sie mir mit offenkundig sinnlosen Fragen meine wertvolle Zeit stehlen. Die Tatsache, dass in der Jauchegrube meines Hofes eine Leiche gefunden wurde, die vermutlich schon vor meiner Zeit dort gelegen hat, berechtigt Sie keineswegs, mich mit idiotischen Fragen zu belästigen. Ich denke, Sie sollten solche Verhöre mit Personen führen, die direkt involviert sind.«

»Das tun wir, soweit es uns möglich ist«, sagte Wagnhärad ein wenig irritiert. »Wir kommen gerade von einem eingehenden Gespräch mit Patrik Andersson. An Axel Hemberg kommen wir leider nicht heran, und mit Marianne Wester können wir nicht mehr sprechen. Sie wurde vor wenigen Tagen ermordet.«

Auf diese Mitteilung reagierte Nygren nicht, sondern starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Wagnhärad hatte das Gefühl, die Audienz sei beendet. Er stand auf und sagte: »Das wäre alles für heute. Wir hätten gern noch ein paar Worte mit Ihrem Vorarbeiter gewechselt. Er befindet sich doch auf dem Hof?«

Nygren drehte sich um und fragte schroff: »Wozu soll das gut sein? Er ist erst seit vier Monaten hier. Was sollte er Ihnen schon erzählen können?«

»Vermutlich nicht viel, aber davon wollen wir uns selbst überzeugen.«

»Einen Augenblick!«, rief Nygren, als sie bereits auf dem Weg zur Tür waren.

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»Dieser Maler«, begann er und machte eine seitliche Kopfbewegung. »Meinen Sie wirklich, er könnte etwas mit den Verbrechen zu tun haben? Ich meine, gibt es eine Verbindung zwischen ihm und den Personen, die Sie mir genannt haben?«

»Unbestreitbar«, entgegnete Wagnhärad.

Nygren ließ diese Erklärung ein paar Sekunden auf sich beruhen. Dann sagte er sehr viel freundlicher, als wolle er den rüden Eindruck, den er hinterlassen hatte, korrigieren: »Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte. Eigentlich sollte ich Ihnen für Ihre gründliche Arbeit sehr dankbar ein.

Niemand wäre glücklicher als ich, wenn diese schreckliche Geschichte aufgeklärt würde. Aber Sie wissen ja, dass ich erst seit kurzem hier lebe und die Leute in der Gegend noch nicht besonders gut kenne. Außerdem ist es äußerst beschwerlich, wie Sie sicher verstehen werden, solch einen Hof wieder auf Vordermann zu bringen. Marco Fermi ist ja noch kürzer da als ich selbst, aber natürlich können Sie gern mit ihm sprechen. Sie sagten ja selbst, man weiß am Anfang nie, wie sich das Puzzle zusammensetzt. Sie finden ihn in der Verwaltung.«

Er rang sich sogar ein verkniffenes Lächeln ab, als er ihnen höflich die Tür aufhielt.

Ein weiteres Mal überquerten sie den kiesbedeckten Vorplatz, worauf der Hund in seinem Zwinger erneut ein wildes Spektakel veranstaltete. Wagnhärad, der abgerichtete Wachhunde nicht ausstehen konnte, war so leichtsinnig, ihm eine lange Nase zu drehen.

Nach der kühlen Reserviertheit Nygrens empfanden sie Marco Fermi wie eine wohltuende frische Brise an einem warmen Sommertag. Als er sie bemerkte, leuchtete sein Gesicht auf, als wäre ein nettes Plauderstündchen mit den beiden Polizisten der Höhepunkt des Tages.

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»Hallo!«, rief er ihnen zu. »Nehmen Sie Platz. Ich wollte gerade Kaffee machen. Möchten Sie auch eine Tasse?«

Wagnhärad zögerte. Dieses ständige Kaffeetrinken gehörte seiner Meinung nach zu den wirklichen Berufsrisiken eines Polizisten, doch er gab sich aufgrund von Fermis Warmherzigkeit und Berghs offenkundiger Begeisterung geschlagen.

»Danke, das wäre sehr schön«, log er ohne Schwierigkeiten.

Auch er begann nach dem plötzlichen Klimawechsel aufzutauen. Dieser Fermi war ihm von Anfang an sympathisch.

Ein offener und unkomplizierter Kerl, ein wenig unreif vielleicht, aber fraglos intelligent. Er hätte sich nicht gewundert, würde sich Fermi als passionierter Schürzenjäger erweisen.

Gegenüber diesem Aussehen und diesem Charme musste eine gewisse Sorte von Frauen einfach verloren sein. Er fragte sich, wie viele Tränen seine stille und scheue Frau deswegen schon vergossen haben mochte.

Fermi stellte einige Plundertaschen zwischen die Rechnungen und Futterlisten, die auf dem Tisch lagen.

»Die hat meine Frau gebacken«, sagte er stolz und biss genüsslich in eine hinein. »Plundertaschen sind ihre Spezialität.«

Aus einer Thermoskanne goss er Kaffee in drei Plastikbecher und lehnte sich mit zufriedener Miene zurück.

»Viel zu tun?«, fragte Bergh mit Blick auf die Papiere, die auf dem Tisch lagen.

Fermi rümpfte seine hübsche Nase, schnaubte verächtlich und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das ist wirklich ein öder Job«, entgegnete er. »Den erledige ich im Schlaf. Eigentlich bin ich eine abwechslungsreichere Arbeit gewohnt. Früher habe ich jede Menge Leute getroffen.

Aber hier gibt es nur Schweine.«

Er warf den Kopf nach hinten und lachte fröhlich auf.

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»Aber ich mag Schweine«, fügte er hinzu, während er sich eine weitere Plundertasche in den Mund stopfte.

»Sie sind früher Lastwagen gefahren?«

Fermi nickte vehement. »Super Job. Wenn man das mag. Aber nicht gut für die Gesundheit. Schlechte Luft und immer viel Stress. Das hat mir am Ende so zugesetzt, dass ich aufs Land gezogen bin. Dieser Job macht zwar keinen Spaß, ist aber gut für die Gesundheit. Die Luft ist gut. Ich liebe die schwedische Natur.«

»Die Natur in der Schweiz ist doch auch nicht zu verachten«, entgegnete Wagnhärad höflich.

Marco Fermi wurde ernst. »Ich liebe meine Heimat«, sagte er mit Pathos. »Manchmal macht mich die Sehnsucht nach den Bergen ganz krank.«

Wagnhärad wusste seit ihrem ersten Gespräch, dass Fermi die schweizerische Staatsangehörigkeit besaß, sich im Grunde seines Herzens jedoch als Italiener fühlte. Er war in einer schweizerischen Stadt unmittelbar an der italienischen Grenze zur Welt gekommen, und seine Familie wohnte in Italien.

»Fahren Sie manchmal zu Ihrer Familie nach Hause?«, fragte er.

»Ja, sehr oft. Wenn ich mir Urlaub nehme, fahre ich immer nach Hause, um Freunde und Verwandte zu besuchen.« Er lachte erneut.

»Danach kehre ich wieder in den kalten Norden zurück, um mich abzurackern. Zu Hause finde ich keine Arbeit.« Er schlug sich mit der Faust dramatisch gegen die Brust: »Schweden ist ein gutes Land, aber das Herz bleibt kalt.«

Wagnhärad bemerkte, dass Fermi immer nur von sich sprach, und fragte sich, ob ihn seine Frau jemals in sein sonniges Heimatland begleiten durfte und warum es ihr nicht gelang, sein Herz im kalten Norden zu wärmen.

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»Wir möchten Sie um Ihre Mithilfe bei unseren Ermittlungen bitten«, sagte er.

Fermi setzte eine feierliche Miene auf. »Ah, ich weiß. Diese schreckliche Geschichte. Ich würde Ihnen sehr gern behilflich sein.«

Wagnhärad wartete, damit Bergh seinen Notizblock zücken konnte.

»Wir hätten gern alles gewusst, was Sie uns über Ihren Nachbarn Patrik Andersson sagen können.«

Marco Fermi schien verblüfft. »Hat er etwas angestellt?«, rief er aus.

»Das wissen wir nicht, aber es besteht eine Verbindung zwischen ihm und einer Person, bei der es sich möglicherweise um die Leiche in der Jauchegrube handeln könnte. Wie gut kennen Sie ihn? Ich meine, reden Sie öfter miteinander?«

Fermi machte große Augen. »Wir reden sehr oft miteinander.

Vielleicht nicht jeden Tag, jedoch immer, wenn wir uns sehen.

Er benutzt den Briefkasten, der hier bei uns angebracht ist. Ich mag ihn. Er ist ein netter Kerl. Manchmal machen wir uns ein bisschen über Nisse lustig, Sie wissen schon, den alten Mann, der meistens schlecht gelaunt ist und Angst vor Frauen hat.«

»Was wissen Sie von Herrn Andersson?«

»Dass er ein Künstler ist. Er malt große Bilder. Ich habe sie einmal gesehen. Sie haben mir gut gefallen. Er malt in der Nacht, deswegen muss er tagsüber schlafen.« Er lachte amüsiert.

»Andersson mag es nicht, wenn ich vor zwölf Uhr mittags mit dem Traktor an seinem Haus vorbeifahre. Seine Frau ist sehr hübsch. Hat ja auch italienisches Blut in den Adern. Sie ist, wie sagt man doch gleich … eine Vollblutfrau.« In Fermis Augen trat ein lüsterner Glanz. Beinahe hätte er sich die Mundwinkel geleckt.

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»Kennen Sie die Menschen, mit denen die Anderssons Umgang haben?«

Fermi dachte eine Weile nach, ehe er den Kopf schüttelte.

»Seinen Freunden bin ich nie begegnet. Natürlich sehe ich manchmal, wenn sie Besuch bekommen. Alle müssen ja schließlich an dem Verwaltungsgebäude vorbei, um zu ihrem Haus zu gelangen.«

»Sie haben nichts bemerkt, das Ihnen besonders auffällig oder sonderbar vorkam?«

»Nein.«

»Können Sie mir etwas zu Axel Hemberg sagen?«

»Wer ist das?«

»Möglicherweise der Mann, den wir aus der Jauchegrube gezogen haben.«

Fermi pfiff durch die Zähne. »Und Sie glauben, Patrik der Maler könnte ihn dort hineingeworfen haben?«

Wagnhärad schüttelte den Kopf. »Für konkrete Vermutungen ist es noch zu früh, aber er kannte Axel Hemberg, der als Leiche in Betracht kommt. Eine letzte Frage: Ist Ihnen eine Frau namens Marianne Wester bekannt?«

Marco Fermis Augen weiteten sich für einen Moment. Dann senkte er den Blick. Die Frage schien ihm nahe zu gehen.

»Wenn sie behauptet, dass sie mich kennt, ist das vielleicht richtig«, sagte er kleinlaut. »Ich habe viele Frauen kennen gelernt; kann schon sein, dass einige Marianne hießen. Ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis. Wie eine Frau aussieht oder küsst, das vergesse ich nie, nur mit den Namen habe ich ein Problem.«

Wagnhärad hatte Mühe, sein Lachen durch einen gespielten Hustenanfall zu verbergen, vor allem als er sah, wie sich Bergh mit todernster Miene weiter seinen Notizen widmete.

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»Nein, sie hat nichts dergleichen behauptet«, sagte er. »Aber sie war es, die uns den Tipp gegeben hat, dass die Leiche ein gewisser Axel Hemberg sein könnte.«

Fermi blieb der Mund offen stehen, als sei diese letzte Information eine Sensation.

»Warum glaubt sie das?«, rief er aus. »Haben Sie sie das gefragt?«

»Nein, sie hatte der Polizei einen Brief geschrieben.

Bedauerlicherweise wurde sie an demselben Tag ermordet, an dem uns ihr Brief erreichte.«

»Ermordet?«, schrie Fermi beinahe.

Jetzt machte Wagnhärad ein erstauntes Gesicht. »Kennen Sie sie doch?«

Fermi reckte hilflos die Hände.

»Ich habe noch nie etwas von ihr gehört«, sagte er. »Aber ich werde so … so ungeheuer wütend, wenn ich höre, dass eine Frau ermordet wurde.«

Wagnhärad fand Fermis Reaktion etwas befremdlich.

»Nun ja, wenn ein Mann ermordet wird, ist das ja streng genommen genauso schlimm …«

»Nein!«, entgegnete Fermi mit Nachdruck. »Männer können sich verteidigen, während Frauen schwach sind. Sie müssen geschützt werden.«

»So kann man das natürlich auch sehen«, sagte Wagnhärad und schaute zu Bergh hinüber, der Fermi sprachlos anstarrte, anstatt seine Aufzeichnungen fortzusetzen.

»Diese Frau, wo hat sie gewohnt? Hier in Christiansholm?«, wollte Fermi wissen.

»Nein, sie wohnte in Stockholm.«

»Ach so, in Stockholm«, sagte Fermi gleichgültig, als habe er damit all sein Interesse an der Angelegenheit verloren. Doch 159

plötzlich erstarrte er und fixierte Wagnhärad mit brennendem Blick. Er deutete mit dem Daumen in Richtung des Nachbarhofes und senkte die Stimme: »Kannte Herr Andersson diese Frau?«

»Ja.«

»Hat er es getan?«

Wagnhärad, der das Gefühl hatte, dass eine größere Diskretion angebracht sei, schüttelte den Kopf und antwortete diplomatisch:

»Ich ermittle nur im Fall der Leiche, die in der Jauchegrube lag. Über den Mord in Stockholm weiß ich so gut wie nichts. Es ist nicht gesagt, dass diese beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben. Außerdem lebt Andersson schließlich hier und nicht in Stockholm.«

»Er fährt ab und zu nach Stockholm«, teilte Fermi mit.

»Das tue ich auch«, sagte Wagnhärad lachend.

Fermi warf ihm einen raschen Blick zu, dann entblößte er durch ein breites Lächeln seine weißen Zähne und schüttelte den Kopf.

»Also Polizist würde ich niemals werden«, sagte er.

»Nein, warum nicht?«, fragte Wagnhärad mit gespielter Verwunderung.

»Nichts als Mord und Verbrechen und jede Menge Leute, die einen anlügen. Mich würde das sehr traurig machen.«

»Es lügen ja nicht alle. Ich glaube sogar, dass die meisten die Wahrheit sagen. Außerdem ist es wirklich eine abwechslungsreiche Arbeit. Wir gehen schließlich nicht nur auf Verbrecherjagd, sondern lernen auch viele nette und interessante Menschen kennen.«

Fermi lächelte geschmeichelt und schien diese Äußerung auf sich selbst zu beziehen.

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Wagnhärad streckte seine Hand nach einer weiteren Plundertasche aus und sagte: »Ich hätte gern auch mit Ihrer Frau gesprochen, aber sie ist wohl nicht zu Hause.«

»Sie arbeitet bei Domus in der Stadt.«

»Ich weiß. Ich habe sie dort gesehen. Glauben Sie, sie könnte uns weiterhelfen?«

Fermi schüttelte energisch den Kopf. »Sie ist sehr schüchtern, müssen Sie wissen. Sie spricht nicht mit anderen Leuten.

Manchmal werde ich richtig böse auf sie, weil ich denke, sie hat mal wieder schlechte Laune. Dabei weiß sie nur nicht, was sie sagen soll. Sie redet mit mir, viel sogar, aber nicht mit anderen.«

Wagnhärad nickte. »Bleibt noch Nisse Hallman«, sagte er.

»Wissen Sie, wo er zu finden ist?«

Fermi erhob sich zur Hälfte und schaute durch die schmutzige Fensterscheibe.

»Er ist draußen bei den Maschinen. Ich werde ihn rufen.«

Ehe Wagnhärad protestieren konnte, war Fermi aus der Tür und brüllte aus vollem Hals Hallmans Namen. Dieser schlenderte gemächlich dem Büro entgegen.

»Eigentlich möchten wir unter vier Augen mit ihm sprechen«, sagte Wagnhärad.

»Selbstverständlich«, entgegnete Fermi bereitwillig. »Ich werde woandershin gehen.« Dennoch wartete er auf Hallman und rief ihm, als dieser in Hörweite war, mit gespielter Strenge zu: »Die Polizei will dich sprechen!«

Hallman sah nicht sonderlich beunruhigt aus.

»Ist der immer noch da?«, fragte er mürrisch. »Ich habe doch erst heute Vormittag mit ihm geredet.«

Fermi schaute Wagnhärad fragend an.

»Da hatte er eigentlich keine Zeit mit mir zu reden, weil er die Schweine füttern musste.«

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Fermi schüttelte verständnislos den Kopf.

»Damit hätte er auch warten können.« An Hallman gewandt, kommandierte er: »Komm hier rein und antworte auf die Fragen!«

Nisse Hallman trat ein und warf Fermi im Vorbeigehen einen feindseligen Blick zu.

»Worum geht’s?«, fragte er.

»Nur ein paar Kleinigkeiten«, sagte Wagnhärad etwas verlegen.

»Es wird nicht lange dauern.«

Fermi machte hinter Hallmans Rücken eine wenig schmeichelhafte Geste, als wolle er dessen Zurechnungsfähigkeit in Zweifel ziehen. Er lächelte den beiden Polizisten freundlich zu, spazierte pfeifend hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Hallman sah ihm geringschätzig nach und war drauf und dran auszuspucken, schien sich jedoch zu besinnen, dass er sich drinnen befand. Er machte eine seitliche Kopfbewegung und knurrte mit unverhohlener Verachtung: »Diesem Kerl darf man kein Wort glauben.«

Wagnhärad betrachtete fasziniert den gereizten Mann, der klein und schmächtig war, jedoch einen zähen und resoluten Eindruck machte. Er durfte kaum älter als sechzig Jahre alt sein, sah jedoch aus wie ein vitaler Achtzigjähriger. Sein Gesicht war tief zerfurcht und vom Wetter gegerbt, die Augen wässrig und rot umrandet. Doch was in überhygienischen Zeiten wie diesen am stärksten ins Auge stach, war der unglaubliche Schmutz, der an ihm klebte. Als lebte er mit den Schweinen zusammen.

Seinen Gestank einmal außer Acht gelassen, erkannte man mit bloßem Auge den eingewachsenen Dreck in jeder einzelnen Hautfalte. Seine wirren grauen Haare standen wie Stahlwolle um seinen Kopf, und Wagnhärad fragte sich, ob er, einer alten Tradition folgend, zumindest an Weihnachten in die Wanne 162

stieg. Seiner eigenen Vorgehensweise ein bisschen überdrüssig, stellte er die Fragen in einer anderen Reihenfolge.

»Kennen Sie einen Mann namens Axel Hemberg?«, fragte er unvermittelt.

Der Alte legte den Kopf auf die Seite und blinzelte nachdenklich.

»Nein, ich glaube nicht. Wenn Sie mich fragen, sollten sie Sandström in die Mangel nehmen, diesen heimtückischen Kerl.

Der hat den Polen auf dem Gewissen. Da könnt ich drauf wetten.«

»Wir werden ihn verhören, sobald er nach Hause kommt«, sagte Wagnhärad. »Er macht gerade Urlaub. Aber der Pole dürfte ein bisschen zu jung sein, verglichen mit der Leiche, die wir gefunden haben.«

Nisse Hallman schnaubte empört. »Ich habe gesagt, was ich weiß. Das in der Grube war der Pole. Ich habe ihn wiedererkannt.«

Wagnhärad hob die Brauen. Er hatte Schwierigkeiten, ernst zu bleiben.

»Davon haben Sie beim letzten Verhör nichts gesagt«, entgegnete er streng. »Außerdem wissen Sie doch genauso gut wie ich, dass sich die Leiche in einem Zustand befand, der eine Identifikation unmöglich machte.«

Hallman hatte einen verkniffenen Zug um den Mund bekommen. »Ich habe noch mal darüber nachgedacht. Es kann kein anderer gewesen sein«, sagte er griesgrämig.

»Ich verstehe«, sagte Wagnhärad, der einsah, dass eine Fortsetzung des Gesprächs sinnlos war. »Wir lassen diese Theorie natürlich nicht außer Acht und werden Sandström vernehmen, sobald er nach Hause kommt. Was halten Sie eigentlich von Patrik dem Maler?«

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Hallman sah misstrauisch aus, als erlaube man sich einen unpassenden Scherz mit ihm.

»Was ich von ihm halte?« Er kratzte sich am Kopf und schien ernsthaft über eine Antwort nachzudenken. »Ist schon ein netter Mann, nur ein bisschen merkwürdig manchmal.«

»Was meinen Sie mit merkwürdig?«

»Er redet viel, und manchmal ist es schwierig, ihn zu verstehen. Er benutzt so komische Wörter.«

»Tut er auch komische Dinge?«

»Ja, das tut er.«

»Was zum Beispiel?«

»Er hat einmal für die Schweine gespielt.«

»Für die Schweine gespielt? Wann?«

»Er ist hierher gekommen, das war zu Sandströms Zeit, und er hatte natürlich getrunken und hatte diese Bassgeige dabei, und mit dem hat er sich da drüben hingesetzt, wo die alten Säue waren, und hat für sie gespielt. Er meinte, es würde ihnen gut tun.«

Wagnhärad lachte. »Was hat Sandström dazu gesagt? Und was haben die Schweine gesagt?«

»Sandström war nicht zu Hause, und den Schweinen hat’s gefallen. Jedenfalls haben sie nicht gequiekt.«

»Hat er noch andere komische Sachen gemacht?«

»Ja, aber irgendwie gehört das bei ihm dazu. Man denkt gar nicht viel darüber nach.«

»Ist er schon einmal gewalttätig geworden? Ich meine, wird er schnell böse?«

Hallman sah völlig verständnislos aus. »Nein, also bösartig ist er wohl nicht.«

164

Wagnhärad und Bergh einigten sich durch einen kurzen Blickkontakt darauf, das Gespräch zu beenden. Wagnhärad stand auf und streckte die Hand aus.

»Jetzt wollen wir Sie nicht länger aufhalten. Sie haben sicher viel zu tun.«

Hallman schien die ausgestreckte Hand nicht zu sehen und zog die Mundwinkel nach unten.

»Ja, das hab ich wohl«, sagte er. »Wenn’s auf diesem Hof irgendwas zu tun gibt, bleibt es immer an mir hängen. Sonst macht hier jedenfalls keiner einen Finger krumm.«

Wagnhärad goss versuchsweise ein bisschen Öl ins Feuer.

»Aber Sie werden doch sicher von Marco Fermi unterstützt?«

Hallman, dessen wässrige Augen aufloderten, konnte sich nicht länger beherrschen, sondern spuckte voller Abscheu auf den Boden.

»Der taugt zu gar nichts!«, knurrte er, während er die Tür aufriss. »Das sind doch alles nur Schwätzer.«

Vor sich hin brummend, trottete er davon. Wagnhärad und Bergh gingen zu ihrem Auto, um in die Stadt zurückzufahren.

165

15

Von Donnerstag, 4. auf Freitag, 5. Mai Nachdem Katharina Feierabend gemacht hatte, ging sie mit Kajsa nach Hause. Sie war fest entschlossen, eine weitere Nacht in der Stadt zu verbringen. Sie waren beide völlig erschöpft von den Folgen der durchzechten Nacht, in der sie mit der Dummheit der Männer im Allgemeinen und Patriks Niedertracht im Besonderen abgerechnet hatten.

Gegen zweiundzwanzig Uhr, nachdem sie Kajsas Thunfischsalat gegessen und eine Weile teilnahmslos vor dem Fernseher gehockt hatten, teilten sie sich eine Schlaftablette, in der Hoffnung, den verpassten Schlaf gründlich nachholen zu können. Katharina schlief auf dem schmalen Gästebett zunächst wie eine Tote und war zwischen halb elf und zwei Uhr aller Sorgen ledig. Danach lag sie wach und starrte grübelnd ins Dunkel. Und zum Grübeln hatte sie Anlass genug, denn mit Kajsa hatte sie nur über die eine Hälfte ihres Elends diskutiert.

Sie zweifelte nicht daran, dass sie sich am Rand eines Abgrunds bewegte. Da ihr aber nichts anderes übrig blieb, als sich ein ums andere Mal die Katastrophe zu vergegenwärtigen, die über sie hereingebrochen war, wurde sie nur immer wacher und unglücklicher.

Um halb vier hatte sie den Punkt erreicht, an dem sie sich fragte, was sie eigentlich auf Kajsas Schlafsofa zu suchen hatte.

Sie stand auf und zog sich an, suchte ihre Sachen zusammen und machte das Bett, so gut sie es vermochte, ohne Kajsa und Joakim zu wecken. Sie setzte sich an den Couchtisch und schrieb einen kurzen Brief:

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Liebe Kajsa, ich habe ein paar Stunden wach gelegen und nachgedacht.

Es hilft nichts, ich muss nach Hause. Jetzt! Ich kann heute nicht arbeiten. Würdest du mich bitte krankmelden? Eine starke Erkältung reicht als Begründung. Danke für all deine Unterstützung. Ohne dich hätte ich diese Situation nicht überstanden.

Umarmung Katharina

PS: Ich wollte das Schlafsofa nicht zusammenklappen, damit ihr nicht aufwacht.

Sie schlich auf den Flur hinaus und lauschte gespannt, ob sie aus Kajsas Schlafzimmer irgendwelche Geräusche hörte. Sie wollte auf keinen Fall auf frischer Tat ertappt werden und sich überreden lassen, doch Vernunft anzunehmen und wieder ins Bett zu gehen. So lautlos wie nur irgend möglich ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Draußen war es kühl und immer noch ziemlich dunkel. Im dichten Nieselregen eilte sie zum Auto.

Als sie aus der Stadt herausfuhr, empfand sie eine große Erleichterung. Warum, konnte sie selbst nicht sagen. Vielleicht, weil sie sich endlich eingestanden hatte, dass sie trotz allem bei ihm sein wollte. Sie kam sich vor, als sei sie in zwei Hälften geteilt. Länger als vierundzwanzig Stunden hatte sie der verletzten und benachteiligten Hälfte von sich alle Aufmerksamkeit gewidmet. Diese war keinesfalls besänftigt, bloß vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Die andere Hälfte lechzte danach, sich auf seine Seite zu schlagen und mit ihm gemeinsam gegen alle erdenklichen Bedrohungen von außen zu kämpfen. Natürlich war er ein Schuft, aber er hatte niemanden 167

ermordet, und sie dachte nicht daran, ihr Leben von einer Laune des Schicksals in Scherben schlagen zu lassen. Es tat unendlich gut, den Grübeleien der Nacht zu entkommen und wieder aktiv zu werden. Zusammen würden sie auch diesen Sturm überstehen.

Sie fühlte sich souverän aller kleinlichen Anschauungen über Betrug, Schuld und Vergebung enthoben. Sie befand sich in einer höheren Sphäre, in der solche Dinge nur von untergeordneter Bedeutung waren. Leicht würde es nicht werden, das bildete sie sich keinesfalls ein. Sie würden lange gegen ihre wechselseitigen Zweifel ankämpfen müssen, und sie musste sorgsam und geduldig ihr verlorenes Vertrauen zu ihm wieder aufbauen. Aber dies war ihr schon früher gelungen, und letztlich gab es für sie auch keine Alternative, denn ein Leben ohne ihn war schlichtweg unvorstellbar. Wie oft hatte sie sich nicht schon heulend und zähneklappernd mit seinen unerträglichen Seiten abgefunden, weil sie auf seine anziehenden nicht verzichten konnte?

Es war herrlich, durch die Nacht zu fahren. Keine Fahrzeuge weit und breit. Der Motor schnurrte sanft und gleichmäßig. Sie fühlte sich hellwach und energiegeladen. Einsam und frei flog sie in ihrem weißen Fiat über die regennasse Fahrbahn, umgeben von einer unendlichen, stillen Landschaft. Sie warf einen Blick auf den Tacho. Hundertzwanzig! Sie ging vom Gas.

Besser, sich in Acht zu nehmen. Ihre Euphorie hatte womöglich dieselbe Wirkung wie eine Flasche Wein. Ein überraschend auftauchender Elch konnte ihr jederzeit zum Verhängnis werden. Zu dieser Tageszeit waren sie am aktivsten. Sie drosselte die Geschwindigkeit weiter.

Was tat er gerade? Schlief er? Oder warf er sich ruhelos hin und her? Wie hatte sie ihn nur so herzlos im Stich lassen können, nachdem sie eben erst erfahren hatte, was für einer Bedrohung er ausgesetzt war? Wenn er nur nicht glaubte, dass sie ihn für immer verlassen hatte. Natürlich wollte sie sich ihm 168

nicht gleich in die Arme werfen und großmütig alles verzeihen.

Er hatte sich abscheulich benommen, an dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Doch wie sehr sie ihn vermisste! Natürlich würden sie die Vorfälle wieder einholen und sie schrecklich belasten. Aber dies sollte ihr nicht mehr zu schaffen machen als eine schwere Erkältung, die nach und nach ausheilte.

Die Landschaft hatte kaum merklich die Farbe gewechselt.

Alles, was eben noch in tiefem Schwarz gelegen hatte, war jetzt mit einem grauen Schleier überzogen. Es nieselte immer noch leicht.

Sie hatte bereits Traninge erreicht. Die Hälfte der Strecke lag noch vor ihr. Auf dem Verkehrsschild stand eine große 50. Sie fuhr noch langsamer und rollte mit sechzig Stundenkilometern durch die schlafende Ortschaft. Mehrere Kilometer würde die Straße jetzt schnurgerade verlaufen. In weiter Entfernung nahm sie einen beweglichen Punkt am Straßenrand wahr, bedeutend kleiner als ein Elch. Vielleicht ein Reh? Nein, es war ein Mensch. Ein ziemlich kleiner Mensch. Sie fuhr an ihm vorbei und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Es war eine junge Frau.

Unwillkürlich trat sie auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen brachte sie das Auto zum Stehen und drehte sich um. Die einsame Frau setzte ihren Weg in die entgegengesetzte Richtung unverdrossen fort. Für einen Moment saß Katharina unschlüssig da, dann schlug sie das Lenkrad ein und wendete den Wagen.

Sie hätte darauf schwören können, dass sie die Frau schon einmal gesehen hatte. Als sie auf gleicher Höhe mit ihr war, rollte sie auf die andere Fahrbahn und hielt ein Stück weiter vorn am Straßenrand. Sie beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte die Scheibe hinunter.

»Annika?«

Die junge Frau blieb stehen und starrte sie abweisend an. Dann entspannten sich ihre Züge. Sie hatte Katharina erkannt.

169

»Hallo«, sagte sie mit dünner Stimme.

»Ist etwas passiert? Soll ich dich mitnehmen?«

Katharina fand die gesamte Situation ziemlich merkwürdig, während sie Annika forschend ansah. Was in aller Welt machte Marco Fermis Ehefrau zu dieser Zeit auf der Straße? Warum ging sie im Regen spazieren? Und warum sah sie so sonderbar aus? Sie war völlig durchnässt. Die Haare klebten ihr an der Stirn und hingen wirr über den Ohren. Auch ihr Mund schien in Mitleidenschaft geraten. War sie hingefallen und hatte sich verletzt? Ihre Augen waren weit aufgerissen, als habe sie Angst.

Sie schüttelte den Kopf und wollte ihren Weg offenbar fortsetzen.

»Kann ich dir irgendwie helfen? Wo willst du hin?«, fragte Katharina.

»In die Stadt«, antwortete Annika kurz angebunden.

Katharina hatte ein ungutes Gefühl.

»In die Stadt? Zu dieser Tageszeit? Warum fährst du nicht mit dem Auto?«

Annika deutete auf die kleine Ortschaft, die Katharina gerade durchfahren hatte.

»Da vorn nehme ich den Bus«, sagte sie.

Katharina warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor fünf.

»Vor halb sieben kommt kein Bus, und du bist doch schon völlig durchnässt.«

Annika Fermi blickte hilflos an sich hinunter, als bemerke sie erst jetzt, dass ihre Kleider durchnässt waren. Ihre Lippen begannen zu zittern, und plötzlich brach sie in Tränen aus.

Mit einem Sprung hatte Katharina den Wagen verlassen. Mit entschlossenem Griff packte sie Annikas Arm und öffnete die Beifahrertür. Mit sanfter Gewalt manövrierte sie die störrische Frau ins Auto. Sie entdeckte eine Handtasche auf der Straße und 170

einen aufgeweichten Schal, der am Straßenrand im Dreck lag.

Beides warf sie auf den Rücksitz. Nachdem sie wieder hinter dem Steuer Platz genommen hatte, sagte sie: »Hier kannst du zumindest eine Weile im Trockenen sitzen und dich aufwärmen, bis der Bus kommt. Bist du wirklich den ganzen Weg zu Fuß gegangen?«

Annika Fermi nickte.

»Aber warum? Weiß Marco, dass du … aus dem Haus gegangen bist?«

Annika, die lautlos zitternd vor sich hin weinte, war nicht in der Lage zu antworten. Katharina griff nach der Decke, die auf dem Rücksitz lag, und legte sie Annika um die Schultern. Im Handschuhfach fand sie ein paar Papiertaschentücher und reichte sie ihr. Dann wartete sie darauf, dass Annika sich ausgeweint hatte.

Ein merkwürdiger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Hier, auf einsamer Landstraße in trüber Dämmerung, saßen zwei Ehefrauen beieinander, die Reißaus genommen hatten. Die eine auf dem Weg nach Hause, die andere auf der Flucht. Der Gedanke an Patrik gab ihr einen Stich. Nun saß sie hier fest und konnte nicht weiter. Verdammt! Dabei hatte sie es so eilig gehabt, nach Hause zu kommen.

Annikas Schluchzen verebbte. Katharina betrachtete ihren Mund. »Hast du dich verletzt? Deine Lippen sind geschwollen.«

Das Schluchzen wurde wieder stärker, und schließlich sagte Marcos Ehefrau mit brüchiger, tränenerstickter Stimme: »Er hat mich geschlagen … er schlägt mich immer wieder … er ist nicht normal. Ich bin abgehauen. Ich muss zurück nach Stockholm.«

»Abgehauen?«, wiederholte Katharina ungläubig. »Er weiß also nicht, dass du ihn verlassen hast?«

»Nein … ich … halte das nicht länger aus, und ich hasse diesen ekelhaften Schweinehof. Er kümmert sich einen Dreck um mich. Das hat er noch nie getan. Als wir noch in Stockholm 171

lebten, hat er mir versprochen, dass alles gut wird, wenn wir aufs Land ziehen. Er sagte, dann würde er viel mehr Zeit für mich haben. Aber ich kriege ihn fast nie zu Gesicht. Auch jetzt ist er fast nie zu Hause.«

Katharina begriff resigniert, dass dieses Gespräch längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Wie gern auch immer sie nach Hause wollte, jetzt musste sie die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt hatte. Sie hatte selbst Schuld. Die junge Frau, die neben ihr saß, war klein und schmächtig und hatte eine Auseinandersetzung mit ihrem Mann gehabt, der gewalttätig geworden war. Dieser Mistkerl. Dem würde sie die Leviten lesen, wenn er ihr das nächste Mal über den Weg lief. Sie drehte sich um, warf einen Blick auf Annikas dürftige Tasche und nahm dann ihren gesamten Aufzug in Augenschein. Sie sah aus, als sei sie direkt aus dem Bett gestiegen und habe das Erstbeste angezogen, das ihr in die Hände gekommen war.

»Meinst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, nach Stockholm zu fahren?«, fragte sie vorsichtig.

Annika schnäuzte heftig in ein Papiertaschentuch.

»Ich muss nach Stockholm! Ich kann nicht länger hier bleiben«, erklärte sie verzweifelt.

Katharina lächelte sanft und war sich bewusst, dass sie der jungen Frau gegenüber eine mütterliche Attitüde annahm. Hätte sie nicht gewusst, dass sie vierundzwanzig ist, hätte sie Annika für achtzehn halten können. Und Marika, die tatsächlich achtzehn war, wirkte im Vergleich zu ihr wesentlich reifer.

»Dir hat es auf dem Land wahrscheinlich von Anfang an nicht gefallen, oder?«, fragte sie teilnahmsvoll.

Annika schlug die Hände vors Gesicht. Katharina beugte sich ihr entgegen, um zu hören, was sie sagte.

»Ich dachte ja auch, hier würde sich alles zum Guten wenden.

In Stockholm war er nie zu Hause. Er hatte so viele Freunde, die er immerzu treffen wollte, und mich hat er nie mitgenommen.

172

Ich weiß, dass er auch andere Frauen getroffen hat, aber wenn ich ihn darauf ansprach, hat er mich geschlagen. Doch hier ist es noch viel schlimmer, weil ich nirgendwohin gehen kann und niemanden zum Reden habe. Ich bin immer allein.«

Erneut begann sie zu weinen.

Katharina hatte ein schlechtes Gewissen. Während der vier Monate, in denen das Ehepaar Fermi nun schon auf dem Hof wohnte, hatte sie vor allem Kontakt zu dem offenen und charmanten Marco gehabt. Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, seine junge Frau könnte eine Bekanntschaft wert sein. Abgesehen von belanglosem Geschwätz unter Nachbarn, hatten sie niemals eingehend miteinander geredet. Katharina hatte sie nicht für die Hellste gehalten und war davon ausgegangen, dass sie Freunde in der Stadt hatte. Sie arbeitete ja schließlich bei Domus. Hin und wieder war ihr durch den Kopf gegangen, dass es sich bei den Fermis um ein ziemlich ungleiches Paar handelte. Marco machte einen intelligenten und energischen Eindruck, während seine Frau schwerfällig und unpraktisch wirkte.

»Hast du jemanden in Stockholm, an den du dich wenden kannst?«, fragte sie.

Annika trocknete sich mit dem Jackenärmel das Gesicht.

»Ja, meine Eltern«, antwortete sie. »Aber bei ihnen kann ich nicht lange bleiben. Er könnte mich dort erwischen. Ich muss irgendwohin, wo er mich nicht findet.«

»Glaubst du denn wirklich, dass er dich verfolgen wird?

Vielleicht findet er sich damit ab, dass du genug hast.«

Annika warf ihr einen langen Blick zu, als wolle sie sagen, dass diese Vermutung mehr als naiv war.

»Wenn er mich erwischt, schlägt er mich tot«, sagte sie emotionslos. »Das hat er oft zu mir gesagt. Wenn ich abhaue, bringt er mich um.«

173

Katharina schaute sie entsetzt an. »Warum zeigst du ihn nicht bei der Polizei an?«

Über Annikas schmales Gesicht huschte ein Anflug von Verachtung.

»Bei der Polizei?«, stieß sie höhnisch aus. »Was sollte die schon ausrichten? Marco hat viele Freunde. Ich könnte mich nie mehr sicher fühlen.«

Katharina fühlte sich der Situation nicht gewachsen.

Angenommen, Marco war tatsächlich ein cholerischer Macho, der seine Launen an seiner Frau ausließ. Sie vergegenwärtigte sich seine freundlichen Züge und konnte sich allenfalls vorstellen, dass er in seinen eigenen vier Wänden ein anderes Gesicht zeigte. Doch dass er ein Psychopath war, konnte sie nicht so recht glauben. Darum versuchte sie weiter auf Annika einzuwirken: »Glaubst du wirklich nicht, dass man mit ihm reden kann? Ich meine, wenn er dich schlägt, dann muss er doch verstehen, dass du …«

Sie verlor den Faden und starrte die Frau neben sich verwundert an.

Wild entschlossen begann Annika ihre Jacke aufzuknöpfen.

Sie riss sie sich vom Leib, zog sich den Pullover über den Kopf und entblößte ihren Oberkörper. Im diesigen Morgenlicht sah Katharina, dass er von zahlreichen Blutergüssen blauschwarz verfärbt war.

»Er schlägt mir nicht ins Gesicht, weil er nicht will, dass jemand etwas merkt. Aber er tritt mir in die Rippen, in den Bauch und in den Rücken«, sagte sie und drehte sich um, damit Katharina die dunklen Schatten zwischen ihren Schulterblättern sehen konnte. Ihre Stimme klang jetzt sachlich und kühl, als erklärte sie die anatomischen Besonderheiten eines fremden Körpers.

Katharina spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Für einen Moment fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Sie wandte 174

den Kopf ab und biss sich fest auf die Lippen. Ihre Handflächen waren schweißnass, und während Annika ihren Pullover wieder überstreifte und sich mühselig die Jacke anzog, unterdrückte sie den Impuls, Marco Fermi lauthals zu beschimpfen. Stattdessen verfluchte sie sich für ihre Gutgläubigkeit. Herrgott, was für ein Monster! Und ihn hatte sie sympathisch gefunden. So viel zu ihrer Intuition.

Schließlich sagte sie mit unsicherer Stimme: »Wie hältst du das nur aus? Du musst doch fürchterliche Schmerzen haben? Du brauchst dringend einen Arzt.«

»Ach, das bin ich gewohnt«, sagte Annika mit einer Gleichmütigkeit, die Katharina schaudern ließ. »Außerdem würde es nur weiteren Ärger geben, wenn ich zum Arzt ginge.

Nein, ich muss nach Stockholm und mich verstecken.«

Katharina wusste nicht, was sie mehr erschreckte, die sadistische Misshandlung selbst oder die sonderbare Gleichgültigkeit des Opfers seinem geschundenen Körper gegenüber. Sie kämpfte mit sich, wollte wirklich nach Hause, sofort, konnte aber Annika unmöglich hier am Straßenrand stehen lassen.

»Ich fahre dich in die Stadt«, sagte sie und ließ den Motor an.

Es war jetzt fast ganz hell, der Regen hatte aufgehört. Nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren, fragte Katharina:

»Wie lange seid ihr schon verheiratet?«

»Seit fünf Jahren.«

»Hat er dich … die ganze Zeit misshandelt?«

Annika schüttelte den Kopf. »Nein, am Anfang nicht, als wir noch in Farsta wohnten. Damals war er die meiste Zeit als Fernfahrer in ganz Europa unterwegs. Wenn er nach Hause kam, war er meistens recht gut gelaunt. Aber dann bekam er so viel zu tun, und wir sind in eine größere Wohnung umgezogen. Er hat alle möglichen Jobs gehabt und musste ständig irgendwelche Leute treffen. Er war immer im Stress. Damals fing er an, mich 175

zu schlagen. Ich sah ihn so selten, und wenn ich mich darüber beschwerte, wurde er böse und hat mir eine verpasst. Meistens hat er mich dann noch einmal geschlagen, damit ich den Mund halte. Später, als er diesen Job bei Nygren bekam, hat er sich darauf gefreut, nicht mehr ständig mit seinem Lastwagen unterwegs sein zu müssen. Er sagte, auf dem Land hätten wir es besser. Ich war glücklich, weil ich dachte, jetzt würde er sich endlich wieder entspannen und brauchte nicht mehr so viel unterwegs zu sein. Aber es wurde nichts besser. Im Gegenteil.

Seit wir hierher gezogen sind, scheint er mir ständig aus dem Weg zu gehen. Nicht einmal abends hält er es zu Hause aus.

Entweder hockt er bei Bengt oder er fährt in die Stadt. Und wenn er mich dann mal zu Gesicht bekommt, findet er sofort einen Grund, mich wieder zu schlagen. Egal, was ich tue, ich kann es ihm einfach nicht recht machen.«

Ihre Tränen begannen wieder zu fließen, und Katharina gab ihr weitere Papiertaschentücher.

»Meinst du, dass Bengt Nygren zu Marcos Freunden gehört?«, fragte sie verwundert.

»Nein, sicher nicht. Er ist wirklich sehr nett. Ich meine, natürlich behandelt er Marco wie einen Freund. Er war uns beiden gegenüber von Anfang an sehr freundlich, obwohl ich ihn nicht kannte, ehe wir nach Knigarp kamen. Aber Marco kennt ihn schon lange. Er sagt, Bengt habe ihm seinen ersten Job in Schweden verschafft.«

»Er weiß also nicht, dass Marco dich misshandelt?«

Annika drehte sich erschrocken zu Katharina um.

»Natürlich weiß er das nicht.« Sie schien über eine solche Vermutung empört zu sein. »Er würde furchtbar wütend werden, wenn er es wüsste. Marco hat großen Respekt vor Bengt.«

Katharina kam die Angelegenheit immer ungereimter vor.

176

»Aber wenn Bengt so nett ist und Marco solch einen Respekt vor ihm hat, wäre es da nicht nahe liegend, Bengt um Hilfe zu bitten?«

Annika seufzte unwillkürlich über Katharinas mangelnde Logik. »Das würde ich nie wagen«, sagte sie. »Stell dir vor, er würde Marco rausschmeißen. Und es wäre meine Schuld. Marco würde mich auf der Stelle umbringen.«

Katharina verspürte eine ohnmächtige Wut.

»Ja, aber …«, beharrte sie, »glaubst du nicht, dass Bengt sich fragt, warum Marco abends in die Stadt fährt oder bei ihm hockt, anstatt die Zeit mit seiner Frau zu verbringen?«

Darüber schien sich Annika noch keine Gedanken gemacht zu haben. Eine Weile dachte sie schweigend nach. Dann sagte sie resigniert: »Er denkt sicher, dass ich ihn langweile.«

»Hat euch Bengt schon mal gemeinsam zu sich eingeladen?«

»Ja, einmal, ganz am Anfang. Da hat er uns zum Essen eingeladen. Er ist ein guter Koch. Aber ich weiß, dass Marco sich schämt wegen mir. Auch in Stockholm wollte er mich nie dabeihaben. Und bestimmt will er auch nicht, dass ich so viel Kontakt zu Bengt habe.«

»Warum sollte er das tun? Ich meine, sich wegen dir schämen?«

»Er sagt, dass ich langweilig und dumm bin und die Leute abschrecke. Als wir noch in Stockholm waren, hat er immer gesagt, wir könnten es uns nicht leisten, dass ich all seine Verbindungen kaputtmache.«

Katharina hätte am liebsten laut aufgeschrien, beherrschte sich jedoch und sagte mit Nachdruck: »Ich finde, dass du heute eine sehr, sehr gute Entscheidung getroffen hast, Annika. Eine Entscheidung, die von Selbstbehauptung und Intelligenz zeugt.

Pass auf, dass er dich nicht findet. Verändere dein Aussehen, wenn du kannst. Zieh in eine andere Stadt. In Anbetracht von 177

Marcos Freunden wäre es am besten, wenn du nicht in Stockholm bliebst. Können deine Eltern dir irgendwie helfen?«

Sie näherten sich Christiansholm. Katharina fuhr durch einen Vorort.

»Mein Vater kann mir bestimmt Geld leihen«, sagte Annika.

»Gut. Aber schau vor allen Dingen, dass du Stockholm so schnell wie möglich wieder verlässt.«

Annika sagte zögerlich: »Vielleicht kommt Marco ins Gefängnis. Dann kann ich mich endlich sicher fühlen. Jetzt ist er etwas zu weit gegangen.«

Katharina warf ihr einen raschen Blick zu. »Wie meinst du das?«

»Deswegen bin ich doch abgehauen. Ich glaube, er ist total verrückt geworden.«

»Das ist er zweifellos. Du meinst, noch verrückter, als ich glaube?«

Annika wand sich in ihrem Sitz und schaute Katharina flehentlich an. »Du darfst niemand etwas verraten, aber ich glaube, er hat jemanden umgebracht.«

Katharina hätte fast das Steuer losgelassen.

»Was sagst du da?«, schrie sie und machte eine Vollbremsung, ehe sie den Wagen an der Bürgersteigkante zum Stehen brachte.

Sie stellte den Motor aus und starrte Annika entgeistert an, die erneut in Tränen ausgebrochen war.

»Ich wollte nichts sagen, ich … hab mich nicht getraut. Aber du bist so gut zu mir gewesen. Versprich mir, dass du niemandem davon erzählst. Du darfst auf keinen Fall zur Polizei gehen, weil dann rauskommt, dass ich geplappert habe.«

Katharina war sprachlos. Ihre Fähigkeit, auch außergewöhnliche Mitteilungen gefasst zur Kenntnis zu nehmen, schien sie im Stich zu lassen. Sie musterte die schluchzende Frau neben sich. War sie eine notorische 178

Lügnerin? Sollte sie Annika lieber in die Psychiatrie als zum Bahnhof bringen? Doch dann erinnerte sie sich daran, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Den geschundenen Körper.

»Warum hast du nicht früher davon erzählt?«, fragte sie matt.

»Weil ich mich nicht getraut habe. Ich wage nicht einmal daran zu denken.«

»Was ist geschehen? Wen hat er getötet? Erzähl es mir jetzt!«

Katharina hörte den gereizten und fordernden Ton ihrer Stimme, doch sie konnte sich nicht länger beherrschen.

»Ich glaube, er hat jemanden in der Stadt getötet. Jemanden, den er hin und wieder besucht hat.«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Heute Nacht.«

»Heute Nacht? Woher willst du das wissen?«, fragte Katharina skeptisch.

»Versprichst du, nicht zur Polizei zu gehen?«

»Versprochen.«

»Er ist gestern Abend in die Stadt gefahren, und ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen. Als ich spät aufwachte, hörte ich, dass er nach Hause gekommen war. Er ging direkt ins Badezimmer und blieb dort eine ganze Weile. Die Tür war nicht geschlossen, also bin ich schließlich hin, um nachzusehen, was er tut. Er hatte sich ganz ausgezogen und die Kleider auf den Boden geworfen. Sie waren blutverschmiert, genauso wie seine Haare und sein Gesicht. Sogar die Arme waren bis weit nach oben voller Blut. Ich habe mich fürchterlich erschrocken und schrie und schrie und schrie … Da hat er mich auf den Mund geschlagen, um mich zum Schweigen zu bringen. Dann hat er gebrüllt, dass er mich umbringt, wenn ich etwas sage. Er ist wie wild herumgesprungen und hat mir seine blutigen Hände vors Gesicht gehalten. Er sah aus, als hätte er den Verstand verloren.

Dann ging er unter die Dusche und befahl mir, die blutigen 179

Kleider in die Waschmaschine zu stopfen und die Blutflecken auf dem Boden aufzuwischen. Es war ein Albtraum. Ich war wie betäubt und tat, was er mir sagte. Nachdem er geduscht hatte, ging er sofort ins Bett und schlief ein. Er kann das jederzeit, einfach so einschlafen. Ich habe mich nicht getraut, mich auch hinzulegen, also bin ich zurück ins Wohnzimmer gegangen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe, ich glaube, mehrere Stunden lang. Mir war schrecklich kalt, und ich konnte nicht aufhören zu zittern, obwohl ich mich in eine Decke gewickelt hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Nie zuvor hab ich solche Angst gehabt und mich so einsam gefühlt. Ich konnte nicht mal weinen. Dann hatte ich das Gefühl, etwas in mir sei zerbrochen. Nicht in meinem Körper, sondern in meiner Seele. Erst tat es fürchterlich weh, dann wurde ich ruhig und hörte auf zu zittern. Ich packte meine Sachen zusammen, mein Geld und ein paar Kleider. Dann bin ich gegangen. Ich wollte nur noch weg von Marco und ihn nie mehr wiedersehen. Das war es, was so wehgetan hat. Ich hatte aufgehört, ihn zu lieben.

Jetzt habe ich nur noch Angst vor ihm. Deswegen habe ich auch nicht das Auto genommen. Das Motorengeräusch hätte ihn wecken können.«

Katharina hatte das Gefühl, etwas schnüre ihr den Brustkorb zusammen. Sie musste tief durchatmen, damit der Druck ein wenig nachließ. Ihr Herz schlug schwer und unregelmäßig. Was war ihr eigener Albtraum gegen dieses Grauen? Die Unwirklichkeit der Situation betäubte sie. Was sollte sie tun?

Tief Luft holen und nachdenken. Herrgott, Verbrechen geschahen doch jederzeit. Warum sollte das bei ihr anders sein?

Ein anderes, »normales« Leben, was immer das sein mochte, schien ihr zurzeit wie ein unerreichbares Ideal.

Ein ältere Frau, die Zeitungen austrug, ging quer über die Straße. Sie sah wohltuend durchschnittlich und normal aus. In Gedanken versunken, warf sie den beiden Frauen im Auto einen zerstreuten Blick zu. Katharina verspürte den unsinnigen Drang, 180

ihr hinterherzurufen und sie um Rat zu fragen, doch sie war nicht in der Lage, sich zu rühren. War man nicht verpflichtet, die Polizei zu verständigen, wenn man erfuhr, was sie erfahren hatte? Aber was hatte sie eigentlich zu erzählen? Die verworrene Geschichte einer verängstigten Frau, die, zum Äußersten getrieben, gerade vor ihrem Mann weggelaufen war. Konnte sie ihrem haarsträubenden Bericht wirklich Glauben schenken? Sie blickte verstohlen zu Annika Fermi hinüber, die heulend und schniefend einen unbeholfenen Versuch unternahm, mit Hilfe eines Kamms und eines Taschenspiegels ihr Äußeres wieder in Ordnung zu bringen. Sie machte, gelinde gesagt, einen überspannten Eindruck, und sollte ihre Geschichte der Wahrheit entsprechen, dann grenzte es an ein Wunder, dass sie sich nicht in einem noch bedenklicheren Zustand befand. Aber gab es irgendeinen Grund, alles zu glauben, was sie erzählt hatte? Dass er sie misshandelt hatte, stand wohl außer Frage. Aber die anderen Einzelheiten klangen wie Szenen aus einem Thriller.

Und warum hatte sie ihr nicht gleich davon erzählt? Vielleicht litt sie an Wahnvorstellungen und konnte es nicht bleiben lassen, sich furchtbare Geschichten auszudenken. Vielleicht wurde sie dafür von ihrem Mann geschlagen. Katharina fühlte sich der Situation einfach nicht gewachsen. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Sie hatten begonnen, als sie sich auf den Weg in die Stadt begeben hatte, und waren seitdem nur schlimmer geworden. Die Frage war, ob sie Annika guten Gewissens am Bahnhof absetzen konnte. War sie in der Verfassung, sich selbst zu helfen?

Als könnte Annika ihre Gedanken lesen, fragte sie: »Glaubst du mir etwa nicht?«

Als Katharina schwieg, sagte sie leise: »Könntest du mich jetzt bitte zum Bahnhof bringen? Ich will nicht mehr länger im Auto sein.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Katharina aufrichtig. »Sagte er, dass er jemanden getötet hat?«

181

Annika hatte sich einen Lippenstift aus ihrer Jackentasche geangelt und fing zu Katharinas Bestürzung an, ihre geschwollenen Lippen blutrot nachzuziehen. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, sagte sie: »Nein, das sagte er nicht, aber er verrät mir nie, was er tut.«

Katharina fand diese Bemerkung so seltsam, dass sie ein nervöses Auflachen nicht verhindern konnte, doch als sie Annikas erstaunten Blick wahrnahm, strich sie ihr hastig über die Haare und sagte: »Entschuldige, aber ich bin so schockiert, dass ich weder ein noch aus weiß.«

Sie fasste einen plötzlichen Beschluss. Sie würde Annika nicht im Stich lassen, ganz gleich, ob deren blutrünstige Geschichte der Wahrheit entsprach oder nicht. Sie hatte versprochen, sie zum Bahnhof zu bringen, und sie hatte versprochen, nicht zur Polizei zu gehen. Sie ließ den Motor an und sagte: »Ich bringe dich jetzt zum Zug.«

Als sie am Bahnhof ankamen, war es kurz nach halb sieben.

Katharina begleitete Annika zum Schalter und gab Acht, dass sie die richtige Fahrkarte löste. Sie stellten fest, dass der nächste Zug nach Stockholm in einer halben Stunde abfahren sollte.

Gemeinsam gingen sie zu einem Kiosk und kauften Obst, Schokolade und ein paar Zeitungen. Dann setzten sie sich auf den Bahnsteig, aßen schweigend die Schokolade und warteten.

Als Annika in den Zug stieg, drehte sie sich in der Tür noch einmal um. Sie suchte in ihren tiefen Jackentaschen und zog aus der einen mehrere ineinander verfangene Schmuckstücke: ein paar Armbänder und einige Halsketten. Mit Mühe gelang es ihr, ein schmales Armband mit einem Anhänger in Form eines vierblättrigen Kleeblatts loszubekommen. Sie lächelte verlegen und gab es Katharina.

»Ich habe meinen Schmuck einfach zusammengerafft«, sagte sie. »Das Armband soll dich an mich erinnern.«

182

Katharina versicherte ihr, dass sie das nicht annehmen könne, doch als sie den kindlichen Ausdruck der Enttäuschung in Annikas Gesicht sah, streckte sie rasch die Hand aus und nahm das Armband entgegen. Nachdem der Zug außer Sichtweite war, betrachtete sie das Schmuckstück eingehender. Es war ein schlichtes, schmales goldenes Armband, in dessen Anhänger

»Viel Glück« eingraviert war.

Sie steckte es in die Tasche und ging zum Auto.

Auf dem Heimweg geriet sie mitten in den morgendlichen Berufsverkehr. Ihr Kopfweh war stärker geworden, und sie musste ihre ganze Konzentration aufbringen, um die Müdigkeit zu unterdrücken. Nachdem sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatte, brach plötzlich die Sonne hervor. Die Wolkendecke war immer dünner geworden, vermutlich würde es ein sonniger, warmer Tag werden. Aber das interessierte sie jetzt nicht. Sie wollte nur nach Hause, die Vorhänge zuziehen und ausschlafen. Wäre dies ein normaler Tag gewesen, hätte sie sich über das Wetter gefreut. An solch einem Tag konnte nichts sie davon abbringen, sich lustvoll im Garten zu schaffen zu machen. Und normalerweise hätte sie Patrik zu einem vorgezogenen Lunch in der Gartenlaube überredet, ehe sie zur Arbeit gefahren wäre. Doch leider war nichts mehr normal. Eine Leiche in der Jauchegrube des Nachbarn. Patriks furchtbares Geständnis. Der Mordverdacht gegen ihn. Marco entlarvt als sadistischer Schläger und womöglich wahnsinniger Mörder. Ihre Idylle lag in Scherben. Falls es jemals eine Idylle gewesen war.

Würde jemals wieder alles so werden wie früher? Sie hatte nicht genug Energie, um sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen.

Sie wollte nur schlafen. Im grellen Morgenlicht fragte sie sich, warum sie es in der vergangenen Nacht nicht hatte erwarten können, nach Hause zu kommen. Patrik hatte schließlich nicht in unmittelbarer Gefahr geschwebt. Ihr überwältigendes Verlangen, mit ihm zu reden, war verflogen. Sie hoffte wirklich, dass er so vernünftig war, zu schlafen, wenn sie nach Hause 183

kam. Sie wollte ihn nicht sehen, ehe sie nicht selbst einigermaßen ausgeschlafen hatte. Dann konnten sie immer noch reden, Sie gähnte aus vollem Hals und fröstelte ein wenig.

Sie fühlte sich reizbar, ihr Körper war steif nach der langen Autofahrt.

Als sie endlich die hohen Linden bei Knigarp erblickte, verspürte sie dennoch Freude, bald zu Hause zu sein. Das Rot der Schweineställe leuchtete in der grünen Landschaft. Sie drosselte die Geschwindigkeit und bog auf den kleinen Weg ab.

Zwei Männer standen neben den Futtersilos, deren größeres nahe am Weg lag. Nygren und Marco. Nygren verschwand im Stall, während Marco ihr entgegenlief. Katharina fluchte, während ihr kalter Schweiß über den Rücken lief. Was sollte sie jetzt tun? Marcos Gestik war unmissverständlich. Er wollte, dass sie anhielt. Er erreichte den Weg und winkte sie freundlich zu sich heran. Das war zu viel für sie. Was sollte sie ihm sagen?

Vielleicht: »Hallo, ich habe gerade deine misshandelte Frau zum Bahnhof gebracht. Apropos, wen hast du heute Nacht eigentlich umgebracht? Kannte ich das Opfer?« Sie hielt an und kurbelte die Scheibe hinunter. Er beugte sich zu ihr in den Wagen und lächelte sie strahlend an.

»Hallo, Katharina. Kommst du aus der Stadt?«

Sein Akzent war kaum hörbar. Sie starrte auf seine gleichmäßigen weißen Zähne und nickte.

»Hast du Annika gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf, wusste jedoch, dass sie auf der Hut sein musste, und sagte mit gespielter Neugier: »Ist sie nicht zu Hause?«

Durch Marcos Augen huschte ein Ausdruck der Verwunderung. Er zögerte.

»Ich dachte, sie wäre vielleicht mir dir in die Stadt gefahren.«

Katharina bemühte sich um eine verständnislose Miene.

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»Warum hätte sie das tun sollen?«, fragte sie und fügte rasch hinzu: »Ich war heute Nacht nicht zu Hause.«

Nun blickte er sie durchdringend, geradezu misstrauisch an.

»Ach so … als ich dich kommen sah, dachte ich, du wärst vielleicht in aller Frühe schon in die Stadt gefahren. Wie merkwürdig, das Auto hat sie nicht genommen.«

Sie suchte hilflos nach einem Satz, mit dem sie sich verabschieden konnte.

»Vielleicht … ist sie … mit jemand anderem in die Stadt gefahren. Oder sie geht nur spazieren.« Sie hörte, wie aufgesetzt ihre Stimme klang.

Er schien weder überzeugt noch beruhigt zu sein, trat jedoch einen Schritt zurück und sagte zögerlich: »Nun, sie wird schon zurechtkommen.«

Katharina rang sich zu einem halbherzigen Winken durch und ließ die Kupplung kommen. Die Kurve auf den kleinen Weg nahm sie mit zu hohem Tempo. Fast hätte sie die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.

Sie fuhr durch das Tor, parkte direkt vor dem Haus und stellte den Motor ab. Die Begegnung mit Marco hatte alle Müdigkeit vertrieben. Sie war aufgewühlt und den Tränen nahe. Vorsichtig schloss sie die Autotür, wohl wissend, dass eine schlagende Autotür besser zu hören war als ein Motor. Sie schaute sich um.

Das offene Tor sah irgendwie anders aus als sonst. Als sie es eingehender betrachtete, sah sie, dass beide Flügel säuberlich und gerade in ihren Scharnieren hingen. Er hatte es in all seinem Kummer tatsächlich über sich gebracht, die alten, rostigen Scharniere auszutauschen. Der Hof machte nach dem Regen der Nacht einen sauberen und frischen Eindruck. Es tropfte immer noch von den Bäumen. Zu beiden Seiten der Gartentreppe blühten in verschwenderischer Pracht Herzblumen und Clematis, deren Blätter von winzigen Regentropfen bedeckt waren.

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Sie sog die klare Luft tief ein und lauschte der Stille. Lady Pamela tippelte mit ihren Jungen im Schlepptau um die Ecke.

Während sie anschmiegsam um Katharinas Beine strich, purzelten ihre Nachkommen auf der Wiese in spielerischem Gerangel übereinander. Erschöpft sank Katharina auf die Treppe. Welch ein Glück, dass es diesen Platz gab, und was für eine Ehre, so willkommen geheißen zu werden. Tränen liefen ihr über die Wange, und Lady Pamela, die auf ihren Schoß gehüpft war, musste ein paar verheulte Betrachtungen zu den Wechselfällen des Lebens über sich ergehen lassen.

Als sie nach einer Weile die Haustür hinter sich geschlossen und verriegelt hatte, schlich sie auf Strümpfen ins Schlafzimmer. Es war leer. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Verwirrt starrte sie auf das einsame Bett, bis ihr ein Gedanke kam. Sie huschte zum Atelier, dessen Tür angelehnt war. Dort lag er auf der Couch, angezogen. Sie horchte gespannt. Doch, er atmete ruhig und friedlich.

Der Geruch frischer Ölfarbe war unverkennbar. Sie warf einen Blick auf die Staffelei. Ein neues Bild. Sie erinnerte sich, dass er von einer neuen Idee gesprochen hatte. Mit leisem Unbehagen stellte sie fest, dass er nicht gerade das Opfer einer lähmenden Verzweiflung geworden war, seit sie ihn verlassen hatte. Er hatte das Tor repariert und ein neues Bild begonnen. War aktiv gewesen.

Und warum auch nicht? Auch sie hatte schließlich gehandelt.

Aber das Bild war sonderbar. Anders. Bis jetzt war es nur eine Skizze, aber das Motiv war deutlich zu erkennen. Zwei in einem Kreis gefangene Gesichter waren zu einer Art Januskopf verschmolzen. Das eine Profil war dunkel auf hellem Grund, während das andere einen hellen Kontrast auf dunkler Fläche bot. Sie musste an ein Mandala denken. Hastig wandte sie dem Bild den Rücken zu. Dachte daran, dass er sich scheute, anderen seine Arbeiten im Entwicklungsstadium zu zeigen. Dann verließ sie das Atelier und trottete zum Schlafzimmer zurück. Auf dem 186

Weg fand sie ein Stück Papier und schrieb: Patrik!

Ich bin immer noch wütend auf dich, also ziehe keine falschen Schlüsse. Aber ich habe es nicht ertragen, länger von zu Hause fort zu sein. Du ahnst nicht, was ich heute Morgen erlebt habe.

Es kommt mir vor, als sei ich wochenlang fort gewesen. Ich bin sehr müde und furchtbar traurig. Ich werde heute nicht arbeiten.

Weck mich nicht vor drei Uhr. Dann möchte ich das Frühstück ans Bett haben.

Sie las den Brief noch einmal durch und fand ihn allzu distanziert, wenn sie an ihre Empfindungen von vergangener Nacht dachte. Sie fügte einen weiteren Satz hinzu: Ich habe gründlich nachgedacht und bin zu der Einsicht gelangt, dass ich dich leider immer noch liebe, obwohl du ein hoffnungsloser Fall bist.

Deine gespaltene Ehefrau

Sie bohrte mit dem Finger ein Loch in den Zettel und befestigte ihn an der Türklinke zum Schlafzimmer. Dann schloss sie die Tür hinter sich, zog sich rasch aus und kroch in das kalte Bett.

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16

Freitag, 5. Mai

Nachdem sie eine Weile durch die nordöstlichen Außenbezirke Christiansholms geirrt waren, bog Lasse Wagnhärad schließlich in den Uttervägen, hielt nach den Briefkästen Ausschau und parkte vor der Hausnummer 5. Er stellte den Motor ab und wandte sich Bergh zufrieden zu.

»Endlich geschafft!«, sagte er. »Und zu Hause scheinen sie auch zu sein. Jedenfalls steht der Wagen vor der Garage.«

Bergh nickte und wollte aussteigen.

»Warte«, sagte Wagnhärad. »Ich muss erst meine Gedanken ordnen.«

Missbilligend betrachtete er den aus weißen Sandsteinziegeln bestehenden Bungalow. Aus unerfindlichen Gründen hegte er eine eingefleischte Aversion gegen Sandsteinziegel. Der Bungalow mit seinen großen Drehkippfenstern und der Haustür aus Teakholz, die von geschmacklosen Glasmosaiken eingerahmt wurde, stammte sicherlich aus den sechziger Jahren.

Der Vorgarten, der offensichtlich mit Hilfe von Zollstock und Wasserwaage angelegt worden war, stimmte ihn nicht milder.

Eine exakt zugeschnittene Thujenhecke umzäunte das fantasielose Rasenrechteck mit den schnurgeraden Beeten, in denen sich aufgereihte Tulpen mit Zuchtrosen abwechselten, die sich immer noch im Knospenstadium befanden.

Wagnhärad fand den Anblick beklemmend.

»Wie findest du das Haus?«, fragte er.

Bergh warf einen kurzen Blick auf das Gebäude. »Schön, warum?«

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»Weil es nicht schön, sondern schrecklich ist«, sagte Wagnhärad mit Überzeugung.

»Aha«, murmelte Bergh und schaute noch einmal hin, um zu entdecken, was ihm möglicherweise entgangen war.

Wagnhärad streckte die Hand nach seiner Aktentasche aus.

»Komm, bringen wir’s hinter uns.«

Bergh drückte beherzt auf den Klingelknopf. Sie hörten im Inneren des Hauses ein trockenes Läuten. Eine groß gewachsene knochige Frau um die sechzig öffnete die Tür, musterte sie mit eisigem Blick und wollte sie vermutlich auf der Stelle abwimmeln.

Wagnhärad zückte seinen Dienstausweis, lächelte ihr freundlich zu und sagte: »Guten Tag, wir sind von der Polizei.

Wir hätten Herrn Ragnar Sandström gern ein paar Fragen gestellt. Sind Sie Frau Sandström?«

Die Frage erübrigte sich, braun gebrannt, wie sie war und wie man es nach einem dreiwöchigen Urlaub auf Rhodos auch erwarten konnte. Ihre grauen Augen weiteten sich erschrocken, ehe sie nickte und einen Schritt zur Seite trat, um sie ins Haus zu lassen. Den Dienstausweis schaute sie sich nicht an. Die beiden Polizisten blieben im Eingangsbereich stehen, während sie mit einer gemurmelten Entschuldigung verschwand, um ihren Mann zu holen. Ein überfütterter Dackel mit melancholischem Blick ließ sie nicht aus den Augen.

Auch Ragnar Sandström war braun gebrannt und ebenso schwergewichtig wie sein Dackel. Er war bedeutend kleiner als seine Frau, hatte einen imposanten Stiernacken, recht lange Arme und einen extrem niedrigen Haaransatz, was bei Wagnhärad gewisse Assoziationen auslöste. Doch am meisten stach ihm Sandströms aggressive Physiognomie ins Auge.

Sandström ersparte sich eine Begrüßung, blickte seine Besucher streitlustig an und blaffte: »Es passt mir ganz und gar nicht, dass Sie hier in der Gegend rumlaufen und meine 189

Nachbarn ausfragen. Ist wirklich kein Vergnügen, nach Hause zu kommen und zu hören, dass man von der Polizei gesucht wird. Mit der Leiche, die da gefunden wurde, habe ich nicht das Geringste zu tun. Ich habe den Hof vor über einem halben Jahr verkauft und meinen Fuß seitdem nicht mehr auf das Grundstück gesetzt.«

Frau Sandström versuchte zu vermitteln. »Der Polizei ist sicherlich klar, dass du nichts mit der Leiche zu tun hast«, sagte sie begütigend. »Das ist bestimmt eine reine Routinemaßnahme.

Bitte, kommen Sie doch ins Wohnzimmer. Wir brauchen doch nicht hier im Flur stehen zu bleiben.«

Das Wohnzimmer bestätigte Wagnhärads Befürchtungen. Die Sitzgruppe, auf der sie Platz nahmen, bestand aus reiner Synthetik. Auf dem Couchtisch thronte eine Schale mit vertrockneten, staubigen Orangen. Der traurige Dackel machte es sich zu Füßen seines Frauchens bequem.

Bergh legte seinen Notizblock auf die Knie, während seine Augen diesen vollkommen leeren, nach innen gekehrten Ausdruck annahmen, der nie aufhörte seine Kollegen zu faszinieren. Wagnhärad wandte sich an Ragnar Sandström: »Ein Kollege von mir hat bereits am neunzehnten April, dem Tag, an dem die Leiche gefunden wurde, versucht, Sie zu erreichen.

Nachdem wir uns eine Woche lang vergeblich bemüht hatten, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, haben wir uns an Ihre Nachbarn gewandt. Als diese uns erklärten, Sie seien im Urlaub, waren wir gewissermaßen beruhigt und wussten, dass wir in Ruhe abwarten konnten, bis Sie zurückkommen.«

Märta Sandström, die einen erschrockenen Laut von sich gegeben hatte, schlug sich die Hand vor den Mund. Mit großen Augen starrte sie die beiden Polizisten an.

»Sie haben doch wohl nicht geglaubt, dass es mein Mann war, den sie dort gefunden haben …«

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»Wir glauben gar nichts, müssen aber immer alle Möglichkeiten in Betracht ziehen«, sagte Wagnhärad, der spürte, dass sie psychologisch im Vorteil waren.

»Hat man die Leiche denn schon identifizieren können?«, fragte sie interessiert.

Wagnhärad antwortete nicht, sondern wandte sich wieder ihrem Mann zu.

»Von Juli bis September letzten Jahres hat bei Ihnen auf dem Hof ein Pole gearbeitet. Ich möchte wissen, wann genau er aufgehört hat und was er danach machte.«

Das Gesicht Sandströms, der seit seinem ersten Zornausbruch eine schmollend-abwartende Haltung eingenommen hatte, färbte sich unter der Sonnenbräune dunkelrot. Schwerfällig rutschte er auf dem Sofa hin und her.

»Woher soll ich das wissen?«, maulte er. »Mir hat er nicht gesagt, wo er hin wollte.«

»Aber wann er aufgehört hat, werden Sie mir doch sagen können.«

»Darauf kann ich auch antworten«, schaltete sich Frau Sandström beflissen ein. »Ich kann mich genau daran erinnern, dass er am dreiundzwanzigsten September aufgehört hat, das war ein Freitag. Wir hatten das von Anfang an so verabredet, weil wir ja wussten, dass wir den Hof am Ende des Monats abgeben würden. Ich weiß, dass es ein Freitag war, weil Ragnar an diesem Tag Geburtstag hatte und sein Bruder mit seiner Familie bei uns zu Besuch war. Sie wollten uns auch beim Umzug helfen, und ich fand es schön, dass die Kinderhütte mal wieder benutzt wurde.« Sie lachte affektiert. »Die haben wir aus Spaß so genannt. Es ist eine hübsche kleine Hütte, die zwischen dem Wohngebäude und den Schweineställen liegt. Ragnars Bruder hat vier Kinder im Teenageralter, und sie wollten zwar nur für zwei Nächte bleiben, denn die Kinder mussten ja wieder zur Schule, aber für uns Erwachsene war es doch sehr 191

entspannend, sie nicht die ganze Zeit im Wohngebäude zu haben, in dem sich bereits die Kisten stapelten.«

Wagnhärad schaute auf seinen Notizblock und sagte: »Ich habe hier andere Angaben. Zwei Personen haben ausgesagt, dass der Pole seit dem zwanzigsten September nicht mehr gesehen wurde. Das war der Dienstag.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Wer behauptet das?«

»Nils Hallman und Ihr ehemaliger Nachbar Karl Svanberg.«

Märta Sandström sah rasch zu ihrem Mann hinüber, der sich immer noch in Schweigen hüllte und offenbar alle Unannehmlichkeiten seiner Frau überlassen wollte. Sie lächelte tapfer, sah jedoch gequält aus.

»Was Nils Hallman sagt, darf man nicht unbedingt für bare Münze nehmen«, sagte sie. »Er ist schon ziemlich alt und ein bisschen versponnen, und Kalle Svanberg kann gar nicht wissen, wann genau der Pole aufgehört hat. Er wohnt schließlich ein ganzes Stück entfernt.«

»Svanberg hat ausgesagt, er und seine Frau hätten den Polen am zwanzigsten September zum Abendessen eingeladen gehabt, doch sei er nicht gekommen, was sie sehr merkwürdig fanden, weil er eigentlich ein zuverlässiger Mensch sei, der sie sicher benachrichtigt hätte, wenn er verhindert gewesen wäre. Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört.«

»Was Sie nicht sagen?«, entgegnete sie indigniert. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie Umgang mit diesem Kerl pflegten, und es fällt mir auch schwer, das zu glauben.«

»Wir sollten ihn vielleicht beim Namen nennen«, schlug Wagnhärad vor und wandte sich an Ragnar Sandström. »Wie hieß er?«

»Diese polnischen Namen kann ich nicht aussprechen«, sagte er mürrisch.

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»Mein Mann hat ihn Kalle genannt«, schaltete sich Frau Sandström nervös ein. »Eigentlich hieß er Karel mit Vornamen, aber den Nachnamen weiß ich nicht mehr, der war so lang und kompliziert.«

Wagnhärad bekam Lust, sie ein wenig zu piesacken, und sagte betont beiläufig: »Wir können uns ja bei der Einwanderungsbehörde erkundigen, oder, noch besser, beim Finanzamt. Sie haben ja schließlich Sozialabgaben für ihn geleistet.«

Nach betretenem Schweigen rief Märta Sandström, ganz wie er erwartet hatte, plötzlich aus: »Jetzt fällt es mir wieder ein!

Wir haben doch später noch diesen Brief an ihn bekommen.

Sicherheitshalber habe ich ihn aufgehoben, aber wo nur?«

Energisch stand sie auf und eilte in das angrenzende Zimmer.

Der Dackel wackelte hinter ihr her, während ihr Mann wie angewurzelt sitzen blieb und die Wand anglotzte.

»Hier ist er.« Triumphierend wedelte sie mit einem weißen Umschlag und gab ihn Wagnhärad.

»Karel Kwiatkowski«, las er laut.

»Wer soll sich schon an solch einen Namen erinnern!«, maulte Sandström.

Seine Frau lachte gekünstelt. »Ragnar hat schon immer Schwierigkeiten mit Namen gehabt, selbst schwedische bereiten ihm manchmal Probleme. Ach, wie gut, dass mir dieser Brief wieder eingefallen ist.«

»Und Sie bleiben dabei, dass er am dreiundzwanzigsten aufgehört hat?«, fragte Wagnhärad mit Blick auf Herrn Sandström, der wiederum seine Frau auffordernd anschaute.

»Ja«, sagte sie, wirkte jedoch zunehmend verunsichert. »Da bin ich ganz sicher.«

»Wissen Sie, was er vorhatte?«

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»Ich hatte den Eindruck, dass er zurück nach Polen wollte«, sagte sie vage. »Ist das denn wichtig?«

»Ja, da ein Hinweis existiert, bei der Leiche in der Jauchegrube könnte es sich um Herrn Kwiatkowski handeln, würde es unsere Recherchen sehr erleichtern, wenn wir wüssten, wo er hin ist.«

Märta Sandström gab einen gequälten Laut von sich, während ihr Mann sich mit einem lauten Räuspern begnügte.

»Aber das ist doch unmöglich«, sagte sie leise.

Da erhob auch Herr Sandström seine unverkennbare Stimme.

»Wenn Hallman, der alte Dieb, das behauptet hat, können Sie sicher sein, dass es nicht stimmt. Der ist nicht ganz richtig im Kopf. Das Einzige, wovon der was versteht, sind Schweine.«

Wagnhärad zitierte aus seinen Aufzeichnungen: »Herr Hallman hat ausgesagt, er sei Zeuge eines heftigen Streits zwischen seinem Arbeitgeber und dem Polen gewesen. Der Streit hätte sich am Dienstag, dem zwanzigsten September zugetragen, und zwar sei es dabei um Geld gegangen, genauer gesagt um seinen Lohn, den der Pole einforderte. Er hätte auf eine mündliche Vereinbarung mit Ihnen, Herr Sandström, verwiesen, von der Sie angeblich nichts mehr wissen wollten.

Dem Streit folgte ein Handgemenge, und Herr Hallman hatte den Eindruck, dass Herr Kwiatkowski von Herrn Sandström angegriffen worden sei und sich kaum habe wehren können. Sie hätten ihm auch mit der Polizei gedroht, hat Herr Hallman ausgesagt. Das sei am Nachmittag geschehen, nachdem der Pole aufgehört hatte. Das letzte Mal sah Herr Hallman den Polen mit blutiger Nase, nachdem er einen Schlag ins Gesicht bekommen habe. Herr Kwiatkowski habe zu ihm gesagt, er werde keinesfalls klein beigeben, sondern beharre auf seiner Forderung. Am nächsten Tag sei er verschwunden gewesen. Als Herr Hallman sich bei seinem Arbeitgeber nach Herrn 194

Kwiatkowski erkundigte, habe ihm dieser mitgeteilt, der Pole sei einfach abgehauen.«

Wagnhärad hob den Kopf und sah Ragnar Sandström an, dessen Gesichtsfarbe eine bedrohliche Intensität erreicht hatte.

»Alles ausgemachte Lügen!«, sagte er ein wenig matt.

»Sein Geld hat er bekommen, das kann ich bezeugen«, sprang ihm seine Frau zur Seite. »Er war so anmaßend und rechthaberisch, dass wir am Ende auf seine überhöhten Forderungen eingegangen sind, nur um ihn loszuwerden. Sobald er das Geld in der Tasche hatte, hat er sich aus dem Staub gemacht.«

»Nun gut, aber an welchem Tag ist das jetzt geschehen? Am zwanzigsten oder am dreiundzwanzigsten?«

Märta Sandström warf ihrem Mann einen ratlosen Blick zu.

»Vielleicht … habe ich mich ja doch geirrt«, sagte sie unsicher.

»Wir waren ja mitten im Umzug, und da kann man vor lauter Hektik schon einiges durcheinander kriegen. Meinem Mann ging es damals auch nicht gut. Er hat Herzbeschwerden. Darum haben wir den großen Hof auch wieder verkauft. Das wurde mit der Zeit einfach zu anstrengend für ihn.«

Sie machte eine hilflose Geste und schaute verstohlen zu Bergh hinüber, der unverdrossen seine Notizen machte.

»Wie alt war Kwiatkowski?«, fragte Wagnhärad.

Frau Sandström schien es offenbar leid zu sein, auf alle Fragen allein antworten zu müssen. Sie drehte sich zu ihrem Mann um und fragte mit einer gewissen Schärfe: »Was meinst du, wie alt er war, Ragnar?«

»Woher soll ich das wissen!«, antwortete er gereizt.

Seine Frau seufzte resigniert und meinte: »Das ist schwer zu sagen. Er sah so alterslos aus. Ich vermute, irgendwas zwischen dreißig und fünfundvierzig.«

195

Wagnhärad nickte.

»Lassen wir Kwiatkowski beiseite«, sagte er. »Ich hätte gern Ihre Meinung über Ihre ehemaligen Nachbarn erfahren. Fangen wir mit Karl und Signe Svanberg an.«

Er wandte sich direkt an Märta Sandström, weil er einsah, dass die Kommunikation mit ihrem Ehemann zu nichts führte. Ihr Mund verzog sich, als habe sie plötzlich in eine Zitrone gebissen.

»Wir kamen nicht besonders gut miteinander aus«, sagte sie steif.

»Aha?«

Sie wand sich. »Es ging um private Dinge. Ansonsten hatten wir nicht viel Kontakt.«

»Sie hatten Svanberg doch einen Teil ihres Grundstücks verpachtet.«

»Das ist richtig, und damit hat es auch nie Probleme gegeben.«

»Halten Sie ihn für zuverlässig?«

»Ich vermute, dass er ein solider Geschäftsmann ist.«

Wagnhärad spürte, dass dies ein heikles Thema war, und blickte zu Ragnar Sandström hinüber, dessen gehässige Miene von vergangenen Auseinandersetzungen zeugen mochte.

»Ja, und dann haben wir da noch die Nachbarn auf der anderen Seite«, fuhr er unbeirrt fort, »Katharina Ekman und Patrik Andersson. Was halten Sie von ihnen?«

Plötzlich lebte Ragnar Sandström auf.

»Diesen Hungerkünstler konnte ich noch nie ausstehen«, sagte er entschieden. »Man kann Leuten nicht vertrauen, die keiner ordentlichen Arbeit nachgehen und alles auf die leichte Schulter nehmen. Die glauben, sie könnten die ganze Zeit auf der faulen Haut liegen. Viel gefeiert haben sie immer. Manchmal war er am helllichten Tage betrunken. Und dieses Biest, mit dem er verheiratet ist, das ist auch nicht besser. Hat sich in Sachen 196

eingemischt, die sie nichts angingen. Die glaubte wohl, sie könnte den Hof besser bewirtschaften als ich. Schnippisch war sie. Ah, es ist wirklich eine Wohltat, mit diesen Leuten nichts mehr zu tun zu haben.«

Wagnhärad wandte sich mit liebenswürdigem Lächeln Sandströms Frau zu.

»Sind Sie derselben Meinung?«

Sie starrte unverwandt auf die staubigen Orangen.

»Mein Mann nimmt es mit dem Verhalten anderer Menschen sehr genau«, entgegnete sie loyal. »Und er schätzt es überhaupt nicht, wenn man ihm respektlos gegenübertritt. Das waren einfach unangenehme Leute. Gott sei Dank hatten wir ja nicht viel mit ihnen zu schaffen.«

»Ich verstehe«, sagte Wagnhärad.

»Sagt Ihnen der Name Axel Hemberg etwas?«, fragte er unvermittelt.

Märta Sandström blickte rasch auf.

»Das ist doch der Sohn von Gerd Hemberg«, sagte sie verwundert.

»Woher kennen Sie ihn?«

»Eigentlich kenne ich seine Mutter, Gerd Hemberg. Sie ist ja immer noch am Leben, die Arme, obwohl sie ein Pflegefall ist.

Ich habe gehört, dass sie sehr senil geworden sein soll. Wie tragisch! Sie war eine bezaubernde Frau, sehr gebildet und kultiviert. Ihr Mann hatte eine Fabrik außerhalb der Stadt, aber das ist schon lange her. Er lebt nicht mehr. Herzinfarkt, glaube ich. Auch er war ein sehr netter Mensch und gar nicht eingebildet, obwohl er doch zu den wirklich wichtigen Leuten hier in der Stadt zählte. Er saß im Stadtrat, und sie war Mitglied des Kirchenrats, außerdem Vorsitzende des Handarbeitskreises, dem auch ich angehört habe. Als ich noch nicht verheiratet war, 197

wohnte ich in Christiansholm. Die gemeinsame Arbeit mit ihr hat viel Spaß gemacht, sie war unglaublich …«

Wagnhärad hob die Hand.

»Eigentlich hatte ich nach Axel Hemberg gefragt«, sagte er.

»Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Manchmal half er seiner Mutter. Vor allem, wenn wir Basare und Weihnachtsfeste organisiert haben. Er war ein netter Junge mit guten Manieren, und tüchtig in der Schule war er auch. Später ist er dann nach Stockholm gezogen. Hat dort sicher seinen Weg gemacht, so intelligent, wie er war. Ich glaube, er war dann im Kunstgeschäft tätig, das soll ja sehr lohnend sein, habe ich gehört.«

Sie hielt inne und sah Wagnhärad aufmerksam an.

»Warum erkundigen Sie sich nach ihm?«, fragte sie neugierig.

»Ist er in irgendwas verwickelt?«

»Das wissen wir nicht«, antwortete er ausweichend und wandte sich an Ragnar Sandström. »Kennen auch Sie Axel Hemberg?«

»Hab diesen Namen noch nie gehört«, brummte er gleichgültig.

»Nein, Ragnar kann ihn nicht kennen«, warf seine Frau ein.

»Mein Mann hatte damals einen Hof in Halland. Ich hatte Kontakt zu den Hembergs, bevor wir uns kennen lernten.«

»Wann haben Sie Axel Hemberg das letzte Mal gesehen?«, fragte Wagnhärad.

Sie dachte eine Weile nach, bevor ihr Gesicht sich aufhellte.

»Das ist noch gar nicht so lange her. Das muss vorigen Sommer gewesen sein. Er war bei Patrik Andersson zu Besuch, die beiden sind alte Schulkameraden. Sie gingen zu dritt spazieren, Axel, Patrik und Katharina. Ich glaube, es war ungefähr Mittsommer. Ich hatte mich so gefreut, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Anfangs hat er mich gar nicht wiedererkannt, aber als ich den Handarbeitskreis erwähnte, 198

erinnerte er sich doch. Damals habe ich nach seiner Mutter gefragt und von ihrem bedauernswerten Zustand erfahren. Ich hatte den Eindruck, dass er ein bisschen gerührt war, jemanden aus der guten alten Zeit, als seine Mutter noch gesund war, wiederzutreffen. Wir konnten leider nicht viel miteinander reden, weil Patrik und Katharina so gehetzt wirkten. Zumindest habe ich erfahren, dass es Axel in jeder Hinsicht gut ging.«

Wagnhärad sah sie eindringlich an und sagte: »Und seitdem haben Sie von ihm nichts mehr gesehen oder gehört?«

»Nein«, sagte sie verwundert über sein hartnäckiges Interesse.

»Es ist ihm doch nichts passiert?«

»Das wollen wir hoffen«, entgegnete er rätselhaft. Er blickte von ihr zu ihrem Mann. »Sagt Ihnen der Name Marianne Wester etwas?«

Beide blickten ihn fragend an, und etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Er tauschte einen Blick mit Bergh und stand auf.

»Dann bedanken wir uns für dieses Mal«, sagte er. »Sollten wir weitere Fragen haben, werden wir von uns hören lassen.«

Märta Sandström stand ebenfalls auf, während ihr Mann regungslos auf dem Sofa verharrte.

»Ich glaube, wir haben Ihnen alles gesagt, was wir wissen«, sagte sie unruhig und begleitete sie zur Tür. Als sie außer Hörweite ihres Mannes waren, senkte sie die Stimme: »Sie müssen meinen Mann entschuldigen, aber er ist nicht ganz auf der Höhe. Im Grunde sollte alles vermieden werden, was ihn aufregen könnte. Und an die grauenhafte Zeit auf Knigarp will er schon gar nicht erinnert werden. Vor allem braucht mein Mann Ruhe.« Sie öffnete die Tür, blieb jedoch selbst im Türrahmen stehen, als habe sie noch etwas auf dem Herzen.

»Wäre es nicht möglich, dass Nisse Hallman …« Sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Ich meine, wenn man so bösartig veranlagt ist … oder ein Unfall … Ich habe schon 199

immer gedacht, dass diese Jauchegrube eine richtige Gefahr für die Leute ist. Sie ist zwar eingezäunt, aber es ist schon öfter vorgekommen, dass Hallman vergessen hat, das Tor zu schließen. Seine Zuverlässigkeit lässt nämlich manchmal zu wünschen übrig. Jemand könnte doch einfach hineingegangen und ausgerutscht sein.«

»Das halten wir für ziemlich ausgeschlossen«, entgegnete Wagnhärad trocken. »Auf Wiedersehen, Frau Sandström.«

Er trat energisch auf die Haustür zu, sodass sie gezwungen war, sie freizugeben.

Als sie wieder im Auto saßen, seufzte Wagnhärad demonstrativ auf.

»Puh, was für ein Paar«, sagte er. »Wenn man die als Nachbarn bekäme, bliebe nur eine Wahl.«

»Welche?«

»Verkaufen und wegziehen. Was hältst du von Sandström?

Könnte er den Polen auf dem Gewissen haben?«

Bergh runzelte die Stirn und kratzte sich im Nacken. »Schon möglich. Dem würde ich jedenfalls nicht den Rücken zukehren, falls er mir Geld schuldete.«

Wagnhärad sah ihn zustimmend an. »So kann man’s auch sagen. Ziemlich unangenehm, die beiden. Und ganz gleich, ob er’s war oder nicht, hat seine Frau einen ziemlich nervösen Eindruck gemacht. Die weiß doch genau, mit was für einem Ekel sie verheiratet ist, und bestimmt hält sie es auch für möglich, dass er diesen Kwiatkowski im Zorn oder aus Geiz erschlagen und in die Grube geworfen hat. Ihr ganzes Geschwätz, dass der Pole erst am Freitag gegangen ist, war doch sicher nur ein ungeschickter Versuch, ihrem Mann ein Alibi zu verschaffen, falls es für ihn eng werden sollte.«

»Ist er nicht ein bisschen zu jung?«

»Wer, Sandström?«

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»Nein, der Pole.«

»Doch, vermutlich schon. Sie sagte zwar, er sei so zwischen dreißig und fünfundvierzig gewesen, aber ich glaube mehr an die Angabe von Svanberg und Patrik Andersson. Die meinen beide, er sei um die dreißig gewesen, und das würde nicht unbedingt mit den Befunden der Pathologie übereinstimmen.

Jedenfalls wissen wir jetzt auch seinen Namen. Du solltest mal bei der Einwanderungsbehörde nachfragen. Ist ja immerhin möglich, dass er sich hier legal aufgehalten hat. Wenn nicht, können wir es immer noch auf anderen Wegen versuchen. Ich habe trotzdem das Gefühl, wir sollten uns nicht weiter mit Herrn Kwiatkowski beschäftigen, sondern uns wieder Axel Hemberg zuwenden. Das ist vielversprechender. Aber erst mal sollten wir was essen, das haben wir uns verdient.«

Wagnhärad startete den Wagen und fuhr in Richtung Zentrum.

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17

Am selben Tag

Es war halb vier Uhr nachmittags. Katharina saß im Bett, auf ihren Beinen ruhte ein Tablett. Nachdem sie die Augen aufgeschlagen und Patrik mit dem Tablett erblickt hatte, hatte sie ihm einen Waffenstillstand angeboten, bis alle äußeren Bedrohungen abgewendet sein würden. Schweigend hatte er akzeptiert.

Danach sprachen sie über Marika, die zu Hause angerufen und ihren leidlich beherrschten, doch tief erschütterten Vater an den Apparat bekommen hatte. Dank ihrer Fähigkeit, auch Unter- und Nebentöne herauszuhören, war ihr natürlich nicht entgangen, dass es um die Beziehung ihrer Eltern schlecht bestellt war.

Katharina und Patrik waren überein gekommen, sie in ihre private Situation einzuweihen, den Mordverdacht gegen Patrik jedoch zu verschweigen. Katharina übernahm die heikle Aufgabe, mit ihr zu reden.

Sie hatte einen Bärenhunger und im Nu vier Butterbrote verschlungen. Während sie aß, stand Patrik am Fenster und betrachtete sie. Das weiche Nachmittagslicht stand wie ein Glorienschein über seinen dunkelblonden Haaren. Sein Gesicht lag im Schatten, während seine intensiven Augen von innen zu leuchten schienen. Katharina fand ihn verstörend attraktiv und begehrenswert, war hin und her gerissen und litt unter dieser Gespaltenheit. Sie hatten nur wenig miteinander gesprochen.

Die Atmosphäre war beklemmend. Sie nahm das Tablett von ihren Beinen und fragte provozierend: »Stehst du mit Absicht da, oder weißt du gar nicht, dass über deinem Kopf ein Glorienschein schwebt?«

Er verließ sofort seinen Platz und setzte sich auf die Kante seiner Betthälfte.

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»Ich hatte nicht die Absicht, mich in ein besseres Licht zu rücken«, sagte er schmunzelnd.

Sie warf ihm einen raschen Blick zu und entgegnete, noch ehe sie richtig nachdachte: »Das ist ja was ganz Neues.« Am liebsten hätte sie sich in die Zunge gebissen und sagte versöhnlich: »Entschuldige, ich habe den Waffenstillstand vergessen.«

»Das ist menschlich«, entgegnete er leichthin.

Als sie den gequälten Ausdruck in seinen Augen sah, begriff sie, dass die Angelegenheit sehr viel schwerer werden würde, als sie geahnt hatte. Wie ein Häuflein Elend kauerte er auf der Bettkante. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihm den Fuß auf die Brust zu setzen.

Nur die Mobilisierung all ihrer Selbstbeherrschung konnte sie davon abhalten, den Arm auszustrecken und seinen Nacken zu berühren. Stattdessen verschränkte sie die Arme und sagte:

»Heute Nacht beziehungsweise heute Morgen habe ich etwas sehr Seltsames erlebt.«

Er legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Nacken.

»Ja, das habe ich deinem Brief entnommen«, sagte er.

Sie zögerte, wusste nicht, wie sie beginnen sollte.

»Marco, du weißt schon, unser freundlicher, sympathischer Schweizer, ist in Wahrheit ein brutaler Schläger, der seine Frau misshandelt. Vielleicht sogar ein Psychopath, der ein Menschenleben auf dem Gewissen hat.«

Sie blickte verstohlen zu ihm hinüber, um zu prüfen, ob diese radikale Einleitung irgendeine Reaktion bei ihm hervorrief.

Doch er sah weder schockiert noch misstrauisch aus, sondern starrte ausdruckslos an die Decke, als könne ihn nichts mehr verwundern.

»Annika, seine Frau …«

203

»Ja?«

»Ach, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«

»Beginn einfach mit dem Anfang«, sagte er freundlich.

»Vielleicht sollte ich zuerst erzählen, dass ich mich gestern mit Roffe getroffen habe. Wir haben zusammen zu Mittag gegessen, und ich habe versucht, ihm so viel wie möglich über deine Situation zu entlocken. Wollte wissen, wie er die Lage sieht. Im Grunde konnte er mir nicht viel erzählen, trotzdem ist es ihm gelungen, mich etwas zu beruhigen.«

»Das ist gut, dann kennst du jetzt die prekäre Situation, in der ich mich befinde.«

»In der du dich befindest?«, fragte sie irritiert. »Für mich ist die Situation nicht minder prekär.«

Er drehte den Kopf und begegnete ihrem Blick. »Ja, du hast Recht. Aber erzähl mir, was du heute Morgen erlebt hast.«

»Ich bin mitten in der Nacht aufgestanden, um nach Hause zu fahren. Kajsa schlief noch, also habe ich ihr einen Brief hinterlassen. Als ich gerade durch Traninge gefahren war, sah ich eine Person am Straßenrand. Es war noch nicht mal fünf Uhr und es regnete. Es war Annika Fermi.«

Katharina erzählte die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende, ohne unterbrochen zu werden. Mit einer gewissen Zufriedenheit registrierte sie Patriks uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Als sie fertig war, rief er erregt aus: »Was für eine scheußliche Geschichte! Kein Wunder, dass du mitgenommen aussiehst.«

»Sehe ich mitgenommen aus?« Sie betastete mit den Händen ihr Gesicht, als könne sie sich auf diese Art davon überzeugen.

»Inwiefern?«

»Du siehst ganz einfach müde und blass aus. Das wird sich geben, wenn du noch mehr geschlafen hast.«

»Meinst du? Aber was sagst du zu der ganzen Geschichte?«

204

»Dass sie vermutlich wahr ist, allerdings mit der Einschränkung, dass das ganze Blut höchstwahrscheinlich von einem Schwein stammte.«

»Einem Schwein?«

Er drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf die Hand.

Sein Lächeln kam ihr rätselhaft vor.

»Ich habe nämlich auch eine merkwürdige Geschichte zu erzählen«, sagte er.

Katharina fröstelte. Sie ließ sich nach unten gleiten und zog sich die Decke bis ans Kinn.

»Erzähl«, sagte sie.

»Ich bin heute Nacht ziemlich früh auf der Couch im Atelier eingeschlafen«, sagte er. »Also war ich ausnahmsweise um zehn wieder wach. Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, war ich so energiegeladen, dass ich einfach raus und mich bewegen musste. Um die Wahrheit zu sagen, war ich wie trunken vor Freude, dass du nach Hause gekommen bist. Als Erstes wollte ich die Post holen, und wem, glaubst du, bin ich unten am Briefkasten begegnet? Nisse, und zwar so wütend, wie ich ihn selten erlebt habe. Er fluchte, dass er endgültig die Schnauze voll habe und kündigen werde und dass sie schon sehen würden, wie sie ohne ihn zurechtkämen und so weiter.

Eigentlich hatte ich keine Lust, mir sein ganzes Gezeter anzuhören, doch plötzlich begann er davon zu reden, dass Nygren einen Mörder versteckt halte. Da habe ich ihn eingeladen, zu mir in den Garten zu kommen und ein paar Bier mit mir zu trinken. Es war ja schon ziemlich warm, und er ist darauf eingegangen. Wir saßen in der Laube, und nach kurzer Zeit wusste ich, was ihn so aufgeregt hatte. Einer der beiden Eber des Hofs ist heute Nacht getötet worden. Jemand hat ihm den Hals durchgeschnitten.«

Katharina stützte sich auf die Ellbogen und rief: »Hat Marco das getan?«

205

»Nisse sagt ja.«

»Aber warum? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Was sagt Nisse dazu?«

»Wenn man ihm glauben kann, dann will Nygren nicht, dass jemand davon erfährt.«

Katharina ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen. »Ich glaube, die da drüben sind allesamt übergeschnappt. Erzähl mir, was Nisse noch gesagt hat.«

»Er hat den toten Eber heute Morgen gefunden, als er auf den Hof kam. Natürlich ist er sofort zu Nygren gelaufen, um ihm von dem schrecklichen Fund zu berichten. Nygren hat ihn zum Stall begleitet und sich mit eigenen Augen davon überzeugt, dass jemand dem Eber den Hals durchgeschnitten hat. Es war das reinste Blutbad. Sogar die Wände waren voll gespritzt.

Natürlich war Nygren erzürnt, doch anstatt die Polizei zu verständigen oder zumindest seinen Vorarbeiter zu rufen, hat er Nisse angewiesen, den Eber sofort zu begraben. Als Nisse Einwände erhob und sagte, man müsse die Polizei verständigen, ist Nygren richtig aus der Haut gefahren. Er meinte, die Polizei habe schon lange genug auf seinem Hof herumgeschnüffelt. Er wollte nicht, dass irgendjemand von dem Vorfall erfährt. Nisse hat lange weiter auf ihn einzureden versucht. Ich glaube, er fühlte sich persönlich betroffen. Die Eber haben ihm doch immer besonders am Herz gelegen, und voller Stolz hat er mir öfter gesagt, es seien wirklich prächtige Tiere, noch dazu in den besten Jahren. Schließlich hat er Nygrens Anweisung befolgt und auf dem schmalen Waldstreifen hinter den Schweineställen ein tiefes Loch ausgehoben. Später ist dann Marco aufgetaucht, und gemeinsam haben sie den Eber in die Grube geworfen.«

»Aber hat Nisse nicht zu Nygren gesagt, dass er Marco für den Täter hält?«

»Ich glaube, er hat sich nicht getraut, Marco offen anzuklagen.

Wenn’s drauf ankommt, zieht Nisse ja meistens den Schwanz 206

ein. Aber er ist davon überzeugt, dass auch Nygren Marco für den Täter hält.«

Katharina starrte Patrik unverwandt an. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte sie. »Natürlich ist es Marco gewesen, das erklärt auch Annikas Bericht von den blutigen Kleidern. Aber warum nur?«

»Nisse glaubt, dass der Angriff ihm selbst galt. Du weißt doch, dass die beiden sich nicht ausstehen können. Er behauptet, Marco habe ihn schon mehrfach bedroht.«

»Dieser Mann ist unberechenbar. Ich werde keine ruhige Minute mehr haben, solange der hier frei herumläuft. Und Nygren traue ich alles zu. Annika hat erzählt, dass Marco abends meist mit Nygren zusammensitzt, bevor er nach Hause kommt und sie schlägt. Es kann doch nicht sein, dass Nygren davon nichts weiß. Dieser Kerl ist mir nicht geheuer. Wenn er weiß, dass Marco den Eber getötet hat, und die Tat trotzdem verschweigen will, dann versucht er offensichtlich, Marco zu schützen. Vielleicht ist Marco sein Liebhaber.«

Eine Hypothese, die PM zum Lachen brachte.

»Du scheinst wirklich verliebt in die Idee zu sein, dass die beiden ein Verhältnis haben«, sagte er.

»Ich weiß nicht, ob sie ein Verhältnis haben, aber irgendwie stecken sie unter einer Decke. Sie kennen sich doch schon lange.«

PM schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf? Sie kennen sich erst seit vier Monaten. Du hast doch sicher gehört, dass Nygren annonciert hatte und Marco sich um Weihnachten herum um den Job beworben hat.«

»Ja, ich habe gehört, wie Marco das gesagt hat. Aber da glaube ich eher Annika, die behauptet, dass Nygren Marco schon vor Jahren seinen ersten Job in Schweden beschafft hat.«

207

PM schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Er nahm das Tablett und ging zur Tür.

»Ich rufe Roffe an«, sagte er.

»Warum?«, rief Katharina ihm nach.

Er drehte sich im Türrahmen um.

»Weil mich interessiert, was für Informationen die Polizei über Marcos Anstellung bei Nygren besitzt.«

Katharina warf die Decke zur Seite und war im Nu ebenfalls auf den Beinen.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte sie. »Verrate ihm noch nichts am Telefon, sondern bitte ihn, hierher zu kommen. Sag ihm einfach, wir hätten einige interessante Neuigkeiten zu berichten.«

»Vielleicht hat er anderes zu tun, als uns hier draußen zu besuchen.«

Katharina schien plötzlich in Gedanken versunken, als versuche sie, ein Problem zu lösen. Dann leuchtete ihr Gesicht auf.

»Lammkoteletts! Ich habe wunderbare Lammkoteletts in der Tiefkühltruhe, und frischen Thymian gibt es auch schon. Haben wir noch einen guten Wein?«

»Ein paar Flaschen Ruffino.«

»Sag ihm, dass er ein wunderbares Abendessen serviert bekommt. Ich werde eine Zitronentorte zum Kaffee backen. Er liebt meine Zitronentorte. Er muss nur Kartoffeln mitbringen, weil wir keine mehr haben. Außerdem wär’s gut, wenn er hier übernachtet, dann können wir jedenfalls richtig Wein trinken.

Erinnere ihn, eine Zahnbürste mitzunehmen.«

PM trug das Tablett hinaus und hörte Katharina rufen: »Ich dusche jetzt. Würdest du ihn bitten, auch einen Eisbergsalat zu kaufen?«

208

Roffe erschien gegen halb acht und brachte Kartoffeln, zwei Sorten Salat, eine Landgurke und Sauerrahm für die Sauce mit.

PM hatte auf Katharinas Anweisung hin ein weiteres Mal bei Roffe angerufen und die Bestellung komplettiert.

Katharina hatte sich selbst übertroffen. Als Roffe geduckt durch die niedrige Küchentür trat, legte sie gerade letzte Hand an die Zitronentorte. Die Lammkoteletts tauten bereits seit ein paar Stunden auf. Sie hatte die wichtigsten Bereiche des Hauses in aller Eile geputzt und PM mit niederen Tätigkeiten wie Abwaschen und Feuermachen betraut. Sie hatte sogar noch Zeit gehabt, die exquisite Abendtafel mit einem Strauß Frühlingsblumen zu dekorieren. Auf dem großen Klapptisch stand ein Keramikkrug mit Akeleien, Vergissmeinnicht, Herzblumen und zarten Farnen.

Sie nahm ihrem Gast die Plastiktüte ab und setzte sofort die Kartoffeln auf.

Roffe ließ den Blick durch den Raum schweifen und sagte nachdenklich: »Als lebte man in einer anderen Zeit. Dieser Raum hat wirklich seinen ursprünglichen, bäuerlichen Charme bewahrt, obwohl der Erbauer des Hofes ihn wahrscheinlich nicht wiedererkennen würde.«

»Glaubst du wirklich, er würde ihn nicht wiedererkennen?«, fragte Katharina.

»Na ja, die Deckenbalken vielleicht schon, denn die hat er selbst eingezogen.«

Katharina stellte sich neben ihn und sah sich um. »Also etwas mehr würde er schon wiedererkennen«, sagte sie. »Die niedrigen, breiten Türen stammen noch aus seiner Zeit. Und auch der Fußboden ist absolut original. Bei den Fenstern sind aber schon Zweifel angebracht. So viele wie heute gab es damals wahrscheinlich nicht. Der offene Kamin existierte von Anfang an, vermutlich in anderer Gestalt als heute. Glaubst du, ihm würde gefallen, was er sieht?«

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»Schwer zu sagen. Er würde sich wohl über die Mischung wundern. Und wahrscheinlich denken, dass hier verarmte Adelige ihre letzte Bleibe gefunden hätten.«

Katharina betrachtete ihr Mobiliar.

»Ja, gut möglich«, sagte sie nachdenklich. »Die verarmte Gräfin hat sich alle Mühe gegeben, das Beste aus dem einfachen Wohnzimmer zu machen. Nur ein bisschen Porzellan, ein paar Bilder und Einrichtungsgegenstände hat sie aus ihrem zwangsversteigerten Gut retten können. Die einfachen Möbel hätten wohl selbst ihre Kammermädchen abgelehnt. Und was würden sie zu unserem Sofa, den Sesseln, zu Fernseher und CD-Player sagen, ganz zu schweigen von Patriks Bildern, die sie sicher verwirren würden?«

Roffe nickte. »Da sie von solchen Dingen keine Vorstellung haben können, lassen wir den Erbauer dieses Hofs nun in Frieden ruhen. Was macht PM eigentlich?«

»Der ist im Atelier. Er wollte ein paar Lasuren auftragen. Gibt es eigentlich was Neues, was den Verdacht gegen ihn betrifft?«

»Nichts Wesentliches. Aber lass uns später darüber reden.

Jetzt essen wir erst mal.«

Katharina ging in die Küche zurück.

»Hilfst du mir bei den Lammkoteletts?«

»Wenn du erlaubst, übernehme ich das Kommando. Wenn du dich um die Kartoffeln kümmerst und ein bisschen Thymian aus dem Garten holst, dann brate ich die Lammkoteletts und mache die Sauce. Das Salatdressing kann ich auch zubereiten. PM darf den Wein aufmachen.«

Katharina lachte befreit. »Wie wunderbar, Menschen um sich zu haben, die einem die Verantwortung abnehmen.«

»Bekomme ich jetzt eure Neuigkeiten zu hören?«, fragte Roffe nach dem Essen. Sie saßen immer noch am Tisch und nippten an 210

ihren Weingläsern. Das lodernde Kaminfeuer und mehrere Kerzenleuchter tauchten den Raum in warmes Licht. Aus den Lautsprechern drang gedämpft Mozarts 20. Klavierkonzert in d-Moll.

Sie hatten über Musik und gemeinsame Erinnerungen gesprochen. Katharina hatte meist geschwiegen und eine tiefe Zuneigung gegenüber beiden Männern empfunden. Sie sahen das Leben so unterschiedlich und stritten über vieles, waren jedoch von gegenseitigem Respekt füreinander erfüllt, was Katharina in ihrem weinseligen Zustand rührte.

Roffes Frage kam unerwartet und holte sie brutal in die Wirklichkeit zurück.

»Wer fängt an?«, fragte sie mit Blick auf Roffe.

»Ladys first«, entgegnete er.

Beide Männer schauten sie auffordernd an. Sie wandte sich Roffe zu: »Du weißt doch, dass Marco Fermi Vorarbeiter auf Knigarp ist. Es geht um seine Frau, Annika …«

Roffe nickte. »Ja, diese junge, blonde Frau, die aussieht, als wäre sie höchstens neunzehn, dabei ist sie fünfundzwanzig. Sie arbeitet bei Domus

»Kennst du sie?«, fragte Katharina erstaunt.

»Kennen ist übertrieben. Lasse Wagnhärad hat kurz mit ihr gesprochen. Als wir bei Domus einkaufen waren und sie hinter der Kasse stand, hat er mir gezeigt, wer sie ist.«

»Spielt sie irgendeine Rolle für eure Ermittlungen?«

»Überhaupt nicht. Anfangs haben wir uns mehr für ihren Mann interessiert, sind dann aber davon abgekommen.«

Katharina holte tief Luft. »Ich denke, euer Interesse wird sofort wieder erwachen, wenn du hörst, was ich zu erzählen habe.«

Sie erzählte die Geschichte zum zweiten Mal, hin und wieder unterbrochen von Patriks Einwürfen, der ein paar Lücken in 211

ihrer Darstellung bemerkte. Nachdem sie ihren Bericht beendet hatte, schwiegen alle für eine Weile. Dann sagte Roffe bedächtig: »Bei uns ist kein Gewaltverbrechen angezeigt worden. Die Frage ist, wie sehr man Annikas Erzählung Glauben schenken darf. Es steht aber wohl außer Frage, dass sie physisch und psychisch misshandelt wurde. Sie muss unter enormem Druck gestanden haben, als du ihr begegnet bist. Wie schätzt du ihre Glaubwürdigkeit ein?«

Katharina dachte nach.

»Ehrlich gesagt hatte ich große Zweifel an der Geschichte mit der blutigen Kleidung. Die erschien mir doch etwas zu weit hergeholt, wenn du weißt, was ich meine. Sie war wirklich vollkommen außer sich, am Rande der Hysterie, und ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass sie zu dem Zeitpunkt unter Realitätsverlust gelitten hat. Doch nachdem Patrik mir von dem getöteten Schwein erzählt hat, passt das ja wieder mit ihrer Schilderung zusammen.«

Roffe fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und streckte ihr sein Glas entgegen. »Gibst du mir noch etwas Wein?«

Katharina schenkte allen nach.

PM sagte: »Ich bin heute Morgen Nisse Hallman begegnet. Du weißt schon, der Alte auf Knigarp, der behauptet, bei der Leiche in der Jauchegrabe handelt es sich um den ehemaligen polnischen Arbeiter. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hat er mir anvertraut, dass er heute Morgen einen ihrer Eber tot im Stall gefunden hat. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.

Er sagte, der ganze Stall sei voller Blut gewesen, was wiederum Annikas Darstellung Glaubwürdigkeit verleiht. Außerdem ist sich Nisse vollkommen sicher, dass Marco das Schwein getötet hat.«

Roffe schaute von PM zu Katharina und wieder zurück.

»Auf diesem Hof ist ja wirklich einiges los«, sagte er nachdenklich. »Was habt ihr noch erfahren?«

212

»Nygren hat von Nisse verlangt, er solle keinem von dem toten Eber erzählen, aber nach ein paar Bieren in der Gartenlaube hat er seinem Herzen dann richtig Luft gemacht.

Ich will nicht, dass er deswegen Schwierigkeiten kriegt.

Vielleicht könntet ihr bei euren Ermittlungen behutsam vorgehen.«

Roffe starrte konzentriert vor sich hin und sagte leise, als spräche er mit sich selbst: »Die Wahrscheinlichkeit, dass solch eine Wahnsinnstat von einem Außenstehenden verübt wird, ist sehr gering. Hallman und Nygren kommen wohl nicht in Betracht. Bleibt Marco Fermi. Aber warum? Er muss doch irgendein Motiv gehabt haben.«

»Vielleicht ist er einfach krank«, sagte Katharina.

Roffe schüttelte langsam den Kopf. »Jeder Wahnsinn folgt irgendeinem Muster.«

»Nisse meint, das sei Marcos Art, ihn zu terrorisieren«, sagte PM.

Katharina schaute Roffe gespannt an. »Findest du es nicht merkwürdig, dass Nygren die Sache unter Verschluss halten will?«, fragte sie.

»Nein, das kommt mir ganz verständlich vor. Von der Polizei dürfte er wirklich die Nase voll haben, und sein Schwein würde durch die Ermittlungen auch nicht wieder lebendig.«

»Aber wie kann er sicher sein, dass sich die Sache mit dem Schwein nicht wiederholt?«

Roffe lächelte. »Natürlich kann er sich da nicht sicher sein, aber wenn man unbedingt seine Ruhe haben will, nimmt man schon ein gewisses Risiko in Kauf.«

»Es kann ja auch sein, dass Nygren sehr wohl die Gründe für die Tötung des Ebers kennt und nicht will, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen«, sagte Katharina.

213

Roffe runzelte die Stirn. »Das kann ich mir nicht vorstellen.

Marco Fermi sollten wir noch mal genauer unter die Lupe nehmen, aber Nygren trägt doch wohl keine Verantwortung für die Handlungen seiner Angestellten.«

Katharina verlor die Geduld. »Aber er muss doch wohl irgendwie reagieren, wenn eines seiner Schweine getötet wird!«

»Was er vielleicht auch getan hat, ohne Einmischung von außen.«

»Und was hältst du von Annikas Aussage, dass sich Marco und Nygren schon seit Jahren kennen?«

»Das berührt wieder die Frage von Annikas Glaubwürdigkeit, was die Details betrifft. Lasst uns nachdenken. Fermi ist vor ungefähr fünf Jahren nach Schweden gekommen und hat ziemlich rasch geheiratet. Wenn Nygren ihm seinen ersten Job verschafft hat, dann kennen sie sich also ebenfalls seit fünf Jahren. In Anbetracht der Tatsache, dass sowohl Nygren als auch Fermi angegeben haben, Fermi habe den Job durch eine Zeitungsanzeige bekommen, ist das sehr unwahrscheinlich. Die Existenz der Anzeige lässt sich sicherlich überprüfen. Nein, ich vermute, Annika hat da einiges durcheinander gebracht. Sie hat ja selbst gesagt, dass er sie überhaupt nicht in seine beruflichen Angelegenheiten mit einbezieht.«

Katharina schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, was sie da hörte.

»Ich verstehe nicht, warum dir Nygren so egal ist«, sagte sie aufgebracht. »Man hat eine Leiche in seiner Jauchegrube gefunden. Er stellt einen Kerl an, der seine Umgebung terrorisiert. Auch wenn Annika manches falsch verstanden haben mag und er Marco nicht von früher her kennt, ja, selbst wenn er von den sadistischen Neigungen seines Vorarbeiters wirklich keine Ahnung haben sollte, bleibt doch ihre Aussage bedenkenswert, dass er die meisten Abende bei Nygren verbringt. Warum tut er das? Um in seiner Freizeit über die 214

Finessen der Schweinezucht zu diskutieren? Dann wird einem Schwein die Kehle durchgeschnitten, und Nygren will davon nichts wissen. Geschehen im Umfeld dieses Mannes nicht allzu viele Merkwürdigkeiten?«

Roffe schwieg und starrte grübelnd in sein Weinglas.

PM sagte lachend: »Katharina hat einen gefürchteten Spürsinn und lässt nicht locker, wenn sie erst mal Witterung aufgenommen hat.« Er wandte sich seiner Frau zu: »Um deine Skepsis gegenüber Nygren verständlich zu machen, solltest du Roffe eigentlich auch in deine anderen Theorien über seine Identität einweihen.«

Katharina zuckte mit den Schultern. »Das kannst du auch machen.«

Roffe schaute sie fragend an. »Was für Theorien?«

PM beugte sich über den Tisch und flüsterte wie ein professioneller Souffleur: »Katharina hat nie geglaubt, dass Nygren ein waschechter Schweinebauer ist. Sie hat immer das Gefühl, er hat sich nur verkleidet. Sie glaubt sogar, dass er unter seiner Arbeitskleidung einen perfekt sitzenden Smoking trägt.«

Roffe brach in Gelächter aus. »Du bist großartig, Katharina«, sagte er. »Großartiger, als du glaubst.«

»Sei dir da nicht so sicher«, entgegnete PM. »Sie weiß, wie großartig sie ist.«

Roffe wurde ernst. Er stützte die Ellbogen auf die Tischkante und legte das Kinn in seine Hände.

»Da gibt es etwas, worüber ich eigentlich kein Wort verlieren sollte«, begann er. »Aber sei’s drum. Ihr habt mich ohnehin schon in eine ganz bestimmte Ecke gedrängt. Ich bitte um eure absolute Diskretion.«

»Ist er ein Vampir?«, fragte PM.

»Das kann ich nicht bestätigen, aber nach dem Fund der Leiche war er natürlich der Erste, um den wir uns gekümmert 215

haben. Wir fragten beim Einwohnermeldeamt nach, um zu erfahren, wo er früher gewohnt hat, doch sie konnten uns keine Auskunft geben. Es lag überhaupt kein Eintrag vor. Ich dachte, dass mit der Datenerfassung bei der Meldebehörde was nicht in Ordnung sei, hatte aber keine Möglichkeit, das nachprüfen zu lassen. Also bat ich das Reichspolizeiamt um Auskunft und erhielt schon wenige Stunden später eine Antwort per Fax. Sie lautete ungefähr so: Die Datenerfassung der Meldebehörde ist in Ordnung. Die betreffende Person ist uns bekannt und kann in den vorliegenden Fall nicht verwickelt sein.«

PM und Katharina waren stumm vor Erstaunen.

PM fand als Erster die Sprache wieder. »Schlagen die immer so einen arroganten Ton an? Und was soll denn das heißen?

›Kann nicht verwickelt sein.‹ Sind wir etwa Nachbarn von Carl Hamilton?«

»Ich zerbreche mir lieber nicht zu sehr den Kopf, was das bedeuten kann«, sagte Roffe. »Doch offenbar handelt es sich um eine Art Identitätswechsel. Und da die Antwort so kategorisch ausfiel, ist Nygren wohl außerhalb jeder Diskussion. Ich hätte euch das nicht sagen sollen. Aber Katharina war ja bereits auf der richtigen Spur.«

PM blickte zu Katharina hinüber, die immer noch sprachlos war.

»Warum sagst du nichts?«, fragte er. »Du hattest doch Recht.

Er ist gar kein Bauer. Du hast ihn durchschaut.«

Katharina starrte abwesend vor sich hin, während sie ihr Weinglas langsam zwischen den Fingern drehte.

»Eigentlich sollte mich gar nichts mehr wundern«, sagte sie.

»Seit sie auf Knigarp die Leiche gefunden haben, ist alles um mich in Auflösung begriffen. Heutzutage scheint wirklich alles möglich …«

216

»Aber das ist doch der Gipfel«, sagte PM munter. »Erst laden wir Roffe zu uns ein, um ihn mit sadistischen Frauenschändern und nächtlichen Bluttaten zu beeindrucken, und dann überrumpelt er uns mit der Nachricht, dass unser Nachbar ein Geheimagent oder so was ist.«

Roffe streckte sich und sah PM streng an. »Nur keine Spekulationen«, sagte er. »Wir haben keine Ahnung, wer er wirklich ist. Und vor allem kein Wort! Zu niemandem!«

PM verdrehte seufzend die Augen. »Schon gut, natürlich werden wir dichthalten, aber uns kannst du die Freude am Spekulieren nicht nehmen. Was ist denn deine Meinung?

Könnte er nicht ein ehemaliger Spion sein? Natürlich ein ehrenhafter schwedischer Spion, der seine Pflicht gegenüber seinem Vaterland getan hat und nun belohnt … nein, Knigarp als Belohnung? Vielleicht als Strafe für einen Spion, der versagt hat …«

»Er muss doch kein Spion sein«, widersprach Katharina, die den ersten Schock überwunden hatte und sich von Patriks Begeisterung anstecken ließ. »Er könnte auch ein verdeckter Ermittler sein, der von einem internationalen Verbrechersyndikat gejagt wird. In diesem Fall hätte er sich bestimmt einer Gesichtsoperation unterzogen, was mich keinesfalls wundern würde. Er sieht ja nicht übel aus, aber seine Gesichtszüge machen so einen starren Eindruck.«

»Nicht nur das Gesicht«, sagte PM. »Der ganze Kerl wirkt doch völlig steif, was mich übrigens an Astrid Enoksson aus Äsperöd erinnert. Ich habe kürzlich mit ihr gesprochen, und sie war vor Begeisterung über Nygren schier aus dem Häuschen.

Sie fand ihn überhaupt nicht merkwürdig, im Gegenteil. Einen netteren und sympathischeren Menschen, sagte sie, hätte sie seit Pers Tod nicht kennen gelernt. Sie fand sogar, dass er große Ähnlichkeit mit Per hat.«

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Katharina schaute ihn ungläubig an. »Das hat sie gesagt? Die haben doch nicht die geringste Ähnlichkeit, zumindest nicht, so wie ich Per in Erinnerung habe.«

»Nein, aber wir haben Per ja nicht gekannt, als er noch jünger und gesund war. Vielleicht sah er da anders aus.«

»Schon möglich«, gab Katharina zu. »Außerdem kann ich mir vorstellen, dass Nygren bei älteren Damen ganz gut ankommt.

Er ist ja sehr höflich und strahlt etwas Weltgewandtes aus.«

»Von Höflichkeit habe ich bei dem Kerl noch nichts gemerkt«, protestierte PM. »Nur von Arroganz. Ich könnte wetten, dass er eine militärische Vergangenheit hat. Deshalb werde ich auch immer nervös, wenn ich ihm begegne.«

Katharina schaute ihren Mann erstaunt an. »Wirst du? Das hast du mir noch nie erzählt. Ich hatte immer den Eindruck, dass du ihn für ganz normal hältst.«

»Genau«, entgegnete PM mit unerschütterlichem Ernst. »Du weißt doch, wie nervös mich so stinknormale Menschen machen. Ich bleibe dabei: Der Typ ist ein pensionierter Spion.«

Katharina schien ein neuer Gedanke durch den Kopf zu schießen. Sie wandte sich an Roffe. »Und wenn er nun ein Agent ist, der von seinem Feind aufgespürt wurde? Dann wäre es doch nur verständlich, dass er ihn aus dem Weg räumt und die Leiche verschwinden lässt, zum Beispiel in der Jauchegrube.«

»Also in diesem Fall wäre es ja wohl eine ganz schöne Sauerei vom Geheimdienst, die Schnauze zu halten und mir den Mord in die Schuhe zu schieben«, sagte PM.

Katharina und PM schauten zu Roffe hinüber.

»Was erwartet ihr von mir?«, fragte er. »Was soll ich dazu sagen? So geht das eben, wenn man erst mal mit dem Spekulieren anfängt.«

»Und wenn er nun ein Forscher wäre?«, schlug Katharina vor.

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»Jemand, der sich, warum auch immer, den Unmut ausländischer Agenten zugezogen hat und geschützt werden muss.«

PM schaute sie mit funkelnden Augen an. »Gute Idee, bei der bleiben wir, bis uns etwas Besseres einfällt. Was meinst du, Roffe?«

Ihr Freund sah aus, als würde er lieber eine Weile ungestört nachdenken, und kehrte nur widerwillig zu ihrem Diskussionsthema zurück.

»Aus dem Stand fallen mir nur drei Möglichkeiten ein«, sagte er zögerlich. »Zum einen Agenten, die einen gefährlichen Auftrag ausgeführt haben und danach in Deckung gehen müssen. Darauf seid ihr ja selbst schon gekommen. Zum anderen Leute, die in Lebensgefahr schweben, weil sie zum Beispiel einer kriminellen Organisation in die Quere gekommen sind. Was nicht ausschließt, dass sie selbst an Verbrechen beteiligt sind. Und zum Dritten Verbrecher, deren allgemeiner Bekanntheitsgrad so hoch ist, dass sie nach verbüßter Strafe eine neue Identität brauchen, um überhaupt eine Chance zu haben, sich wieder in die Gesellschaft integrieren zu können. Was hier nicht der Fall zu sein scheint, da das Reichspolizeiamt ja definitiv die Beteiligung an einem Verbrechen ausschließt.«

»Was hältst du von Katharinas Idee, dass er ein Wissenschaftler auf der Flucht sein könnte?«, wollte PM wissen.

»Theoretisch gäbe es so viele Möglichkeiten«, sagte Roffe gähnend. »Lasst euch nicht von meiner begrenzten Erfahrung beirren. Vielleicht kommt er auch aus dem Weltraum. Was weiß ich?«

PM runzelte die Brauen. »Aus dem Weltraum? Also von einem Kriminalhauptkommissar darf man wohl ein bisschen mehr Realitätssinn erwarten. Du hast zu viele Fernsehkrimis gesehen, mein Lieber.«

Roffe wandte sich an Katharina.

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»Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr beide nichts weitererzählt?«

»Da kannst du ganz beruhigt sein«, antwortete sie. »Für dich ist das hier vielleicht Routine, aber du musst verstehen, dass solche Neuigkeiten für uns ziemlich aufregend sind. Es ist eine Sache, seinem Nachbarn gegenüber misstrauisch zu sein, aber eine ganz andere, von der Polizei bestätigt zu bekommen, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Und vor allem eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf: Wie kann das Reichspolizeiamt sich denn so absolut sicher sein, dass er in kein Verbrechen verstrickt ist?

Haben sie sich nicht so ausgedrückt? Es steht schließlich fest, dass in seinem Umkreis die sonderbarsten Dinge geschehen.

Und wenn er geschützt werden muss, dann sollten sie sich zumindest für die Vorfälle interessieren, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken und kategorisch zu behaupten, er könne in nichts verwickelt sein. Also mir kommt das zumindest grob fahrlässig vor.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Roffe. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, noch mal Kontakt zur Reichspolizei aufzunehmen und um nähere Informationen zu ersuchen. Hinsichtlich des Verhaltens von Marco Fermi scheint mir das gerechtfertigt. Mal sehen, ob ich am Montag so viel Mumm aufbringe.«

»Warum denn nicht?«, fragte PM. »So leicht lässt du dich von deiner Obrigkeit doch wohl nicht ins Bockshorn jagen. Denk dran, dass du ein streitbarer Mann bist, der schon manche Bürokraten das Fürchten gelehrt hat.«

Katharina stand auf.

»Jetzt gibt’s Kaffee und Zitronentorte«, verkündete sie, während sie begann, den Tisch abzudecken. »Danach sollten wir uns einen Drink genehmigen. Hast du nur deinen alten Whisky anzubieten, Patrik?«

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PM sah beleidigt aus. »Alt ist er, aber einen besseren wirst du kaum finden. Was hältst du von Macallan, Roffe? Ich habe zu Weihnachten eine große Flasche von meinem Bruder bekommen.«

Roffe betrachtete neugierig das Etikett, das PM ihm vor die Nase hielt.

»Hm, hab ich noch nie probiert … Ich nehme gern ein Glas, aber erst nach dem Kaffee«, sagte er.

Sie setzten sich vor den Kamin aufs Sofa. PM legte eine neue CD ein, Prokofjews Ballettmusik Romeo und Julia.

Als sie eine ganze Weile später vor der leuchtenden Glut des verbrannten Holzes saßen und ansehnliche Mengen des Weihnachtswhiskys hinuntergespült hatten, kam PM ein Gedanke, den er Roffe sofort mitteilte.

»Du solltest Nisse kennen lernen«, sagte er. »Da du bei uns übernachtest, könnten wir morgen früh bei ihm vorbeischauen.

Dann mache ich euch miteinander bekannt.«

Roffe nickte zustimmend. »Keine dumme Idee. Wäre gut, wenn ich mit ihm allein sprechen könnte. Aber dann musst du zusehen, dass du zeitig aus den Federn kommst. Ich habe nämlich keine Lust, den halben Tag hier herumzusitzen und zu warten, bis du aufwachst. Außerdem habe ich morgen Nachmittag eine Verabredung, die ich unter keinen Umständen verpassen will.«

Katharinas aufmerksamer Blick registrierte den flüchtigen Schimmer in seinen Augen.

»Geht es um diese rätselhafte Frau, die du kennen gelernt hast?«, fragte sie.

»Was?«, fragte PM. »Er hat eine rätselhafte Frau kennen gelernt?«

Roffe hob abwehrend die Hände und lachte verlegen.

221

»Okay, sie kommt mich morgen besuchen. Wir sehen uns erst zum dritten Mal. Ich hab mich zwar schon ziemlich in sie verguckt, aber ich weiß nicht, ob sie … Ich meine, sie ist wirklich etwas rätselhaft … Eigentlich verstehe ich gar nicht, was sie an mir findet.«

»Weiß sie, dass du Bulle bist?«, fragte PM.

»Natürlich weiß sie das.«

»Dann kann nicht mehr viel schief gehen. Wenn sie das geschluckt hat, wird sie sich auch mit allem anderen abfinden.

Was macht sie denn selbst?«

Roffes Blick irrte an der Decke entlang, als wüsste er nicht, was er antworten sollte. Schließlich begann er: »So Verschiedenes … sie ist Textilkünstlerin, unter anderem. Sie macht sehr schöne, wie sagt man dazu … Wandbehänge und so was.«

PM blickte Roffe forschend an. »Als Polizist müsstest du wissen, dass solch vage Aussagen verdächtig sind. Was meinst du mit ›Verschiedenes‹? Raubt sie auch Banken aus oder arbeitet sie für die Polizei?«

Roffe sah etwas verlegen aus. »Nein, sie schreibt. Sie besitzt ein Haus auf dem Land, genau wie ihr, und jede Menge Tiere …

Katzen und Hunde, ja sogar Hühner.«

»Was schreibt sie denn?«

»Ich weiß es nicht genau. Wir kennen uns ja noch nicht so lange, aber ich glaube, es hat mit Psychotherapie zu tun. Ein weiteres Beschäftigungsfeld von ihr.«

PM gab beeindruckt einen langen Pfiff von sich.

»Wie vielseitig. Wandbehänge, Psychotherapie und Tiere, und jetzt angelt sie sich auch noch einen Polizisten. Wie schafft sie das nur alles?«

»Warum sollte sie das nicht schaffen«, sagte Katharina spitz.

222

»Also ich finde, das hört sich alles sehr interessant an. Du musst uns unbedingt erzählen, wie du sie kennen gelernt hast.«

Roffe warf PM einen skeptischen Blick zu.

»Ich verbitte mir alle albernen Kommentare, aber sie ist die Mutter meiner künftigen Schwiegertochter. Wir haben uns auf der Einweihungsparty von Martin und Lisa in Lund kennen gelernt.«

PM beugte sich vor und versuchte Roffe einen kumpelhaften Klaps auf den Rücken zu geben, doch er schätzte den Abstand sowie sein eigenes Balancevermögen falsch ein und wäre fast kopfüber in den Resten der Zitronentorte gelandet, hätte Katharina nicht beherzt eingegriffen.

»Gut gemacht, Roffe!«, lallte er. »War auch höchste Zeit, dass du dir endlich eine Frau angelst. Darauf trinken wir! Und dir zuliebe breche ich sogar mit meinen Prinzipien und stehe morgen mitten in der Nacht auf, mach dir also keine Sorgen.« Er schenkte allen großzügig nach.

Katharina gähnte, was sie in Anbetracht der letzten beiden Nächte nicht verwunderlich fand. Sie hatten im Lauf des Abends alle nur erdenklichen Ideen gedreht und gewendet, und zumindest sie hatte versucht, Roffe eine Aussage zum inoffiziellen Stand der Ermittlungen zu entlocken. Und sie war noch nicht bereit, ins Bett zu gehen. Eine nagende Unruhe hielt sie an ihrem Platz und ließ sie weiter auf ermutigende Informationen hoffen.

Sie wusste selbst nicht recht, was sie sich erwartete, doch bei objektiver Betrachtung dessen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden auf Knigarp geschehen war – so unglaublich und suspekt es auch erscheinen mochte –, musste sie sich eingestehen, dass dies an ihrer persönlichen Situation nichts geändert hatte. Patriks unglückselige Beziehung zu Marianne Wester machte ihn in den Augen der Polizei immer noch verdächtig, und Axel Hemberg, der vom rachedürstenden 223

Patrik nachweisbar verfolgt worden war, konnte von irgendjemandem ermordet worden sein, der Patrik die Schuld in die Schuhe schieben wollte. Ganz gleich, wie vielen Schweinen Marco Fermi den Hals durchgeschnitten haben mochte, so änderte dies nichts an der Tatsache, dass Patrik am selben Tag in Stockholm gewesen war, an dem diese Frau getötet wurde. Hatte sie sich etwas anderes eingebildet, so war dies auf ihr Wunschdenken und den guten Wein zurückzuführen. Sie konnte nicht fassen, wie sorglos sich Patrik gab. Begriff er denn nicht, wie es um ihn stand? Er war den ganzen Abend über bester Laune gewesen, als hätte er keine Sorgen auf dieser Welt. Auch sie hatte sich unbeschwert gegeben, in der vagen Hoffnung, ihre prekäre Lage würde durch die rätselhaften Vorgänge auf Knigarp in den Hintergrund treten. Was hielt Roffe eigentlich von der ganzen Situation? Sie hatte das Gefühl, dass er hinter seiner unerschütterlichen Fassade zutiefst besorgt war.

Als sie bemerkte, dass sie kurz eingenickt war, stand sie widerwillig auf und verabschiedete sich.

Bevor sie einschlief, hörte sie die Stimmen der beiden Männer durch die geschlossene Tür. Sie schienen ein leises und intensives Gespräch zu führen.

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18

Samstag, 6. Mai

Katharina erwachte vom Geräusch des Regens, der gegen die Fensterscheibe prasselte. Sie hörte Patrik schwer atmen und drehte den Kopf. Sein Bart kitzelte an ihrem Oberarm, sein Atem stank nach abgestandenem Whisky. Die einsetzende Erinnerung bereitete ihr körperliches Unbehagen. Sie rückte von ihm ab und ekelte sich beinahe vor seiner unwissentlichen Zudringlichkeit. Roffe schlief bestimmt im Atelier, und natürlich konnte sie nicht erwarten, dass Patrik auf dem Sofa im Wohnzimmer übernachtete. Eigentlich aber wollte sie ihr Schlafzimmer so lange für sich allein beanspruchen, bis sie seine Nähe wieder einigermaßen ertragen konnte.

Derart schlecht gelaunt kam sie aus dem Bett und zog fröstelnd einen dicken Frotteebademantel über ihr dünnes Nachthemd. Als sie den Vorhang einen Spaltbreit öffnete, musste sie feststellen, dass der Frühling eine Ruhepause einlegte und einem launischen, böigen Wind das Feld überlassen hatte, der an den empfindlichen Gewächsen zerrte. Doch der Regen hatte auch sein Gutes; so brauchte sie wenigstens den Garten nicht zu wässern.

Ohne den schlafenden Mann in ihrem Bett noch eines Blickes zu würdigen, verließ sie den Raum mit dem festen Vorsatz, das Bestmögliche aus diesem trüben Tag zu machen. Doch ihre Energie verließ sie sofort, als sie sah, in welchem Zustand sich die Küche befand. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie frühstückte allein, kümmerte sich nicht um die schmutzigen Kochtöpfe und die benutzten Teller mit den eingetrockneten Saucenresten und zog sich dann mit einem Buch zurück, um Patrik die Beseitigung dieses ganzen Elends zu überlassen. Oder sie wusch jetzt ab, um die beiden Schlafenden zum Duft frisch 225

gekochten Kaffees und gerösteten Brots zu wecken. Dass sie sich für Letzteres entschied, lag daran, dass sie sich an Roffes Wunsch erinnerte, heute mit Nisse zusammenzutreffen. Wenn sie nach Äsperöd wollten, würde sich vor dem späten Nachmittag niemand um den Abwasch kümmern, und so lange hielt sie dessen Anblick nicht aus. Mit angewidertem Gesicht begann sie, Teller und Gläser einzusammeln.

Sie hatte die Küche gerade wieder in einen erträglichen Zustand versetzt, als Roffe im Türrahmen erschien und um eine Kopfschmerztablette bat. Sie warf einen skeptischen Blick auf seine geschwollenen Lider.

»Wie lange wart ihr eigentlich auf heute Nacht?«

»Bis vier«, sagte er mit matter Stimme. »Eigentlich hatte ich mich um halb drei hingelegt, aber PM saß auf der Bettkante und quatschte mir so lange die Ohren voll, bis ich gedroht habe, nach Hause zu gehen, wenn er mich nicht schlafen lässt. Wir haben die ganze Flasche Whisky leer gemacht, das heißt, er hat sie leer gemacht, und ich habe ihm ein bisschen dabei geholfen. Aber es ist nicht nur der Kater. Ich bin es einfach nicht gewohnt, so wenig zu schlafen.« Katharina gab ihm das Glas Wasser mit der aufgelösten Kopfschmerztablette. »Danke«, sagte er, »damit werde ich gleich wieder ein anderer Mensch sein.«

Dann gelang es ihnen mit Mühe, PM zu wecken, der anfangs nicht aus dem Bett kommen wollte. Erst als er sich an das gestrige Versprechen erinnerte, Roffe mit Nisse bekannt zu machen, stakste er in die Küche und stürzte eine Tasse Kaffee auf nüchternen Magen hinunter. Die Atmosphäre am Frühstückstisch war gedämpft, und hätte sich Roffe nicht zusammengerissen, hätte sich wohl eine bedrückende Stille über den Raum gelegt.

Schließlich boxte Roffe PM in die Seite und sagte: »So, jetzt bin ich für die Ermittlungen des heutigen Tages gerüstet. Sieh zu, dass du in die Klamotten kommst, dann fahren wir rüber zu 226

Nisse. Bin schon gespannt, was dieser ehrenwerte Mann zu sagen hat.«

Es war beinahe zwölf Uhr, als sie endlich aufbrachen. PM

wollte sich hinters Steuer setzen, aber Roffe weigerte sich mit jemanden zu fahren, der in der vorigen Nacht so viel getrunken hatte. Sich selbst betrachtete Roffe als vollkommen nüchtern, und nach einer hitzigen Diskussion ließen sie den Fiat stehen und machten sich in Roffes Saab auf den Weg.

Katharina atmete erleichtert auf, als sie die beiden auf dem Weg verschwinden sah. Nach einem Moment der Unschlüssigkeit widerstand sie der Versuchung, wieder ins Bett zu gehen und sich in ein Buch zu vertiefen. Stattdessen ging sie unter die Dusche.

Sie kam gerade aus dem Badezimmer, als das Telefon in der Küche klingelte. Im Bademantel, um die nassen Haare ein Frotteehandtuch gewickelt, eilte sie dem unnachgiebig klingelnden Apparat entgegen. Sie ahnte, wer es war, und nahm mit leichtem Zittern den Hörer ab.

»Ja?«

»Ach? Bist du zu Hause? Heißt das, ihr habt euch wieder versöhnt?«

Marikas helle, melodiöse Stimme löste bei Katharina stets große Freude aus, doch an diesem Tag konnte sie noch nicht einmal das ungetrübt genießen.

»Hallo, mein Schatz«, sagte sie. »Ich habe gehört, dir geht es besser. Ja, wir haben uns so einigermaßen wieder vertragen.«

Katharina wurde bewusst, wie angespannt sie klang.

»So einigermaßen? Was war denn eigentlich los? Papa wirkte total deprimiert.«

Marikas Stimme hatte jetzt diesen inquisitorischen Ton, der bedeutete, dass sie nicht locker lassen würde, ehe sie Klarheit gewonnen hatte.

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»Hat er dir denn nichts gesagt?«, fragte Katharina.

»Nein. Er sagte nur, du wärst stocksauer auf ihn und würdest eine Weile bei Kajsa wohnen.«

Katharina holte tief Luft, ehe sie ohne Umschweife sagte: »Er ist mir wieder untreu gewesen.«

Eine Weile war es still in der Leitung, dann sagte Marika:

»Mein Gott, ist er kindisch. Hat er diese Phase nicht inzwischen hinter sich?«

Katharina lächelte. »Offenbar nicht. Aber vielleicht ist er ja auf gutem Weg.«

»Mit wem war er jetzt wieder zusammen? Jemand, den wir kennen?«

»Nein, niemand, den wir kennen. Außerdem ist die Affäre beendet. Es ist vor einem halben Jahr passiert.«

»Warum hat er jetzt erst davon erzählt?«

»Er fühlte sich dazu gezwungen.«

Marika seufzte resigniert auf. »Also ist die Sache doch noch nicht richtig ausgestanden. Aber trennen willst du dich trotzdem nicht von ihm, oder?«

»Nein, aber ich arbeite daran.«

»Dann passt es wohl nicht besonders gut, wenn ich nach Hause komme«, sagte Marika enttäuscht.

Katharinas Herz zog sich erschrocken zusammen.

»Was sagst du da? Aber natürlich kannst du nach Hause kommen. Wir hatten doch gerade erst verabredet, dass du an Christi Himmelfahrt kommst und übers Wochenende bleibst.

Wir streiten uns nicht den ganzen Tag, falls du das befürchten solltest. Das Schlimmste ist sicherlich vorüber, bis …«

Marika unterbrach sie. »Ich meinte heute.«

»Heute? Wie sollte das gehen?«

»Es sollte eigentlich eine Überraschung werden.« Marika 228

klang ein bisschen beleidigt. »Aber jetzt kann ich’s ja auch gleich erzählen. Daniel hat am Mittwoch seinen Führerschein gemacht.«

Sie machte eine absichtsvolle Pause, um ihrer Mutter Gelegenheit für einen Freudenausbruch zu geben.

»Ist das wahr?«, reagierte Katharina erwartungsgemäß. »Wie schön. Also das ging ja wirklich schnell. Er hatte doch erst vor kurzem angefangen. Grüß ihn bitte und gratuliere ihm von mir.«

Marika sagte: »Daniel kann sich übers Wochenende das Auto seines Vaters ausleihen, und eigentlich wollten wir euch besuchen, aber wenn ihr euch streitet, dann macht es keinen Spaß. Ich will nicht, dass Daniel einen komischen Eindruck von meinen Eltern bekommt.«

Katharina entgegnete gereizt: »Er hat uns doch schon mehrmals getroffen, und bis jetzt haben wir uns in seiner Gegenwart weder gezankt noch geschlagen, und das werden wir diesmal auch nicht tun. Glaubst du etwa, dass er nicht in der Lage ist, sich mit ganz normalen Konflikten auseinander zu setzen?«

»Das sind doch wohl keine normalen Konflikte«, entgegnete Marika vorwurfsvoll. »Außerdem streiten sich seine Eltern nie.

Er ist so was nicht gewohnt.«

Katharina platzte der Kragen. »Ach nein?«, sagte sie spitz.

»Armer Daniel, ich hoffe, er nimmt keinen allzu großen Schaden.«

Sie bereute ihre Worte auf der Stelle, kämpfte jedoch mit widerstreitenden Gefühlen. Der vorwurfsvolle Ton ihrer Tochter kränkte sie zutiefst, doch einem gemeinsamen Besuch von Marika und Daniel fühlte sie sich momentan kaum gewachsen.

Andererseits war sie schrecklich enttäuscht, auf diese Weise um die Freude eines Überraschungsbesuchs gebracht zu werden. Sie hätte so viel darum gegeben, ihre Tochter eine Weile in die Arme schließen zu können. Sie spürte einen Kloß im Hals.

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»Entschuldige«, sagte sie. »Wir haben im Moment fürchterlich viel um die Ohren. Mehr als du dir vorstellen kannst. Du hast sicherlich Recht. Es ist wohl das Beste, euren Besuch ein wenig aufzuschieben. Die Atmosphäre hier im Haus ist für Überraschungsbesuche nicht geeignet. Unter anderen Umständen hätte ich mich so sehr darüber gefreut. Du kommst doch in jedem Fall an Christi Himmelfahrt, oder?«

Katharina glaubte das Schlagen der Haustür gehört zu haben und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Waren sie schon zurück? Das war unmöglich. Sie mussten etwas vergessen haben.

Marika war unschlüssig. Auch ihr war anzuhören, dass sie verletzt war. Katharina versuchte ihren Schnitzer wieder gutzumachen: »Daniel ist natürlich auch willkommen, und ich verspreche dir, dass wir uns ganz normal verhalten werden.«

Von plötzlicher Unruhe erfüllt, drehte sie sich um. Sie hörte Schritte in der Diele. Zögerliche Schritte. Nicht die von Patrik oder Roffe. Sie lauschte gespannt.

Plötzlich füllte Marco Fermis Gestalt den Türrahmen.

Katharina starrte in seine schönen, sanften Augen und hätte vor Schreck fast laut aufgeschrien, beherrschte sich aber und ließ nur einen schwachen Laut des Erstaunens hören. Als sie in der Ferne Marikas Stimme hörte, wurde ihr bewusst, dass sie Fermi den Hörer wie eine Waffe entgegenstreckte.

Marco Fermi lächelte verlegen und machte eine entschuldigende Geste in Richtung Haustür, als wolle er darauf hindeuten, dass sie nicht verschlossen gewesen war. Katharina nahm sich zusammen und sprach in den Hörer: »Ich muss jetzt Schluss machen, Marika. Ich … äh … wir haben Besuch bekommen. Ich rufe dich nachher noch mal an.«

»Ich gehe gleich aus dem Haus«, sagte Marika.

»Ich rufe später an«, wiederholte Katharina hastig und legte auf.

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Nisse Hallman wohnte am Stadtrand, in einem Holzhaus, das noch Reste seiner einstigen gelben Farbe erkennen ließ. Sie parkten an einem außergewöhnlich schönen alten Eisenzaun.

»Das ist sein Elternhaus«, sagte PM. »Er war der Jüngste einer großen Geschwisterschar und der Einzige von ihnen, der noch am Leben ist. Ich glaube, er ist ziemlich einsam. Aber daran ist er selbst schuld. Sein ewiges Gemecker schreckt die Leute eben ab.« Er deutete auf den Zaun. »Sein Vater war Schmied. Da drüben, schräg hinter dem Haus, kannst du die Schmiede sehen.

Sie ist ziemlich verfallen. Aber der Zaun ist erstklassiges Handwerk. Das Haus verfällt ebenfalls. Ich glaube, außer seinen Schweinen ist ihm alles egal.«

»War er nie verheiratet?«, fragte Roffe.

»Nein, er hat eine Heidenangst vor Frauen. Katharina, die es mag, wenn er von seiner Kindheit und den alten Zeiten hier in der Gegend erzählt, hat ihn nach Jahren immerhin so weit gebracht, dass er sich traut, allein mit ihr in unserer Küche zu sitzen und Kaffee und Schnaps zu trinken.«

Als sie das imponierende Eisentor durchschritten, ließ Roffe den Blick über den vernachlässigten Garten schweifen. Das Gras war mit der Sense gemäht worden, und in den einstigen Blumenbeeten vor dem Haus wuchsen nur noch Löwenzahn und ein paar dürre rote Tulpen. Auf dem Weg, der zum Treppenaufgang führte, stand ein Moped. PM klopfte an die Haustür und flüsterte Roffe rasch zu: »Mach dich auf einen bestialischen Gestank gefasst. Er wäscht sich nie.«

Langsam wurde die Tür geöffnet. Nisse Hallman starrte sie mürrisch an, doch sein Gesicht hellte sich auf, als er PM

erkannte.

»Ach du bist’s«, sagte er mit sichtlicher Verwunderung und blickte misstrauisch zu Roffe hinüber.

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PM klopfte ihm herzlich auf die Schulter und sagte: »Hallo, Nisse. Das hier ist mein Freund Roffe Stenberg.« Er blickte sich verstohlen um und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Er ist Polizist. Ich habe ihm von dem Eber erzählt.«

Als Nisse den Polizisten erschrocken anstarrte, fügte PM rasch hinzu: »Nygren wird nichts erfahren, wenn du es nicht willst.

Du kannst dich auf Roffe verlassen. Er will dich nur ein paar Dinge zu Marco fragen. Du weißt doch schließlich einiges über ihn.«

Die bloße Erwähnung Fermis ließ Nisses Augen dunkel vor Hass werden.

»Und ob ich diesen Mörder kenne!«, sagte er voller Abscheu.

PM schaute über die Schulter.

»Können wir nicht lieber drinnen miteinander reden? Es braucht ja nicht das ganze Dorf zuzuhören.«

Nisse trat unwirsch einen Schritt zur Seite und ließ sie in einen dunklen, muffigen Vorraum voller Gerümpel eintreten, an dessen Wänden Jacken und Mäntel hingen. Das einzige Licht drang aus der Küche, die sie ansteuerten. Obwohl PM schon vor dem Geruch gewarnt hatte, traf er Roffe wie ein Schlag in die Magengrube. Es stank ganz einfach nach Dreck und Essensresten.

Roffe sah sich unauffällig um und erahnte ein unbeschreibliches Durcheinander menschlicher Abfälle auf Tischen und Bänken. Das gnädige Zwielicht verhinderte ein allzu gründliches Studium derselben. Das Fenster war von einem grauen Schleier überzogen, der vermutlich auf das Konto jahrlanger Bratdämpfe ging und es so gut wie unmöglich machte, hinauszusehen. Hohe Zeitungsstapel auf dem Boden bildeten schmale Passagen zwischen Tür, Arbeitsplatte und Esstisch.

Auf dem Herd dampfte ein verbeulter Aluminiumkochtopf.

Aus den fetten Schwaden, die ihm entstiegen, konnte man 232

schließen, dass er unter anderem mit Speck gefüllt war. Nisse zog den Topf zur Seite und stellte die Platte ab. Er fuhr sich unschlüssig durch die Haare und fragte: »Soll ich Kaffee machen?«

PM und Roffe antworteten wie aus einem Mund, das sei nicht nötig. Nisse wirkte erleichtert und zog zwei Stühle unter der Tischplatte hervor. Er wischte mit der Hand über die Sitzflächen und bat seine Gäste, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf einen dreibeinigen Schemel, der neben dem Herd stand. Er zeigte auf Roffe und fragte PM: »Kommt er hier aus der Gegend?«

»Ja, natürlich«, sagte PM. »Er ist der Vorgesetzte der Polizisten, die bei euch auf dem Hof waren und mit dir gesprochen haben.«

Ein triumphierendes Lächeln huschte über das runzlige Gesicht.

»Dann bitte ich sagen zu dürfen, was ich auch zu den anderen gesagt habe. Wenn ihr den Mörder des Polen schnappen wollt, dann müsst ihr Sandström festnehmen, denn er war es.«

Roffe schien ein wenig überrumpelt, entgegnete jedoch diplomatisch: »Sandström haben wir gerade vernommen, und natürlich haben wir auch alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Polen zu finden. Aber was ich fragen wollte …«

»Wieso finden?«, fragte Nisse gereizt. »Sie haben ihn doch schon gefunden. Ich habe ihn aus der Grube gefischt.«

»Um beweisen zu können, dass es der Pole ist, müssen wir uns zunächst davon überzeugen, dass er auch wirklich verschwunden ist«, sagte Roffe.

»Eigentlich wollten wir doch über Marco sprechen«, erinnerte PM.

»Stimmt«, sagte Roffe. »Sie glauben also, dass er den Eber letzte Nacht getötet hat?«

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»Das glaube ich nicht, das weiß ich!«, sagte Nisse erregt. »Er hat es selbst zugegeben.«

»Selbst zugegeben?«, wiederholte Roffe erstaunt. »Wann?«

»Er hat es zugegeben, als wir unter uns waren.«

»Was genau hat er gesagt?«

Nisse dachte nach. »Er sagte, es hat ihm Spaß gemacht.«

»Es hat ihm Spaß gemacht, den Eber zu töten?«

Nisse nickte.

»Sagte er auch, warum er es getan hat? Ich meine, hatte er noch andere Gründe, außer dass es ihm Spaß gemacht hat?«

»Er hat es gemacht, um mir eins auszuwischen. Er weiß, dass ich die Eber gern hab.«

»Sagte er, dass er Ihnen eins auswischen wollte?«

»Ja, und er hat gesagt, wenn ich mich nicht vorsehe und nicht tue, was er sagt, dann bringt er den anderen vielleicht auch noch um.«

Roffe und PM tauschten kurze Blicke.

»Was ist mit Nygren?«, fragte Roffe. »Der kann doch nicht zulassen, dass sein Vorarbeiter einem der Eber den Hals durchschneidet. Was sagt er dazu?«

»Der interessiert sich nicht für die Schweine«, antwortete Nisse düster.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, entgegnete Roffe skeptisch.

»Davon lebt er doch.«

Nisse kniff schweigend die Lippen zusammen. Roffe schaute ihn forschend an, bevor er fragte: »Wie erledigt Marco Fermi eigentlich seinen Job? Ist Nygren mit ihm zufrieden?«

Nisses Gesicht verzerrte sich vor Wut, während seine farblosen Augen aufblitzten. Er schaukelte auf seinem Schemel 234

hin und her und fuhr sich unablässig durch sein struppiges graues Haar.

»Ich arbeite seit vierzig Jahren mit Schweinen, aber hören tun die beiden trotzdem nicht auf mich«, sagte er erregt. »Die glauben, das mit den Schweinen geht von allein, aber das stimmt nicht. Man muss sich viel um sie kümmern und an tausend Dinge denken. Über Nygren will ich nichts sagen, der ist schon in Ordnung, obwohl er keine Ahnung hat. Im Gegensatz zu diesem Dreckskerl, den er als Vorarbeiter hat. Bösartig ist der, und nichts, was er sagt, kann man glauben. Wenn Nygren nicht aufpasst, kriegt er eines Tages selbst den Hals durchgeschnitten.«

Roffe nickte nachdenklich. »Sie meinen also, dass Fermi seine Arbeit nicht zufrieden stellend erledigt?«

Nisse, der sich mehr und mehr auf heimischem Terrain fühlte, glotzte Roffe verständnislos an und knurrte: »Wie soll man seine Arbeit erledigen, wenn man nichts kann? Außerdem ist er fast nie da.«

Roffe beugte sich vor und sah Nisse durchdringend an.

»Glauben Sie, Nygren weiß, dass Marco den Eber getötet hat?«

»Natürlich weiß er das.«

»Aber wenn er das weiß, warum wird er dann nicht fuchsteufelswild und zeigt seinen Vorarbeiter bei der Polizei an?

Und wenn er die Polizei nicht einschalten will, warum schmeißt er ihn nicht hochkant raus?«

Nisse sah ängstlich aus. Sein Blick irrte durch die Küche, er rutschte unruhig hin und her.

»Nygren wollte nicht, dass ich was von dem Eber erzähle«, sagte er und wirkte plötzlich reserviert. »Ich will keinen Ärger haben.«

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PM schaltete sich beruhigend ein: »Wir haben dir doch versprochen, dass Nygren nichts von unserem Gespräch erfährt.

Wir wollen nur wissen, was Marco für ein Typ ist.«

Nisse lachte nervös auf. »Den könnt ihr gern ins Gefängnis sperren. Da gehört er auch hin.«

»Was hältst du von Annika, Marcos Frau?«, fragte PM.

Nisse kratzte sich sein stoppeliges Kinn und blickte zur Decke.

»Ich weiß nicht … um sie ist es schade.«

»Warum?«

»Er ist böse zu ihr, schimpft und schreit.«

»Das kann ich mir denken«, sagte PM.

»Noch eine Frage«, sagte Roffe, »dann werden wir Sie nicht länger belästigen. Glauben Sie, dass Nygren Marco Fermi schon kannte, als er ihn als Vorarbeiter auf seinem Hof anstellte?«

Nisse schien das für eine merkwürdige Frage zu halten.

»Woher soll ich das wissen?«, sagte er. »Aber ich kann es mir nicht vorstellen, sonst hätte sich Nygren sicher in Acht genommen.«

Roffe stand auf und streckte ihm zum Abschied die Hand entgegen. Nisse streifte unbeholfen seine Finger und starrte auf den Fußboden. PM gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und sagte mit Wärme: »Du bist ein guter Kerl, Nisse. Die Schweine können sich glücklich schätzen, dass es dich gibt. Wollen wir hoffen, dass Nygren genug Grips hat, sich einen neuen Vorarbeiter zu suchen. Wenn du’s nicht mehr aushältst da drüben, dann komm einfach rüber zu mir auf ein Bier. Du weißt, dass du immer bei uns willkommen bist. Nein, bleib nur hier. Wir finden allein raus.«

Auf dem Weg zum Auto atmete Roffe tief durch. PM lachte.

»Hast du die ganze Zeit die Luft angehalten?«

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Roffe sah ihn erschöpft an. »Nein. Aber ich musste aufpassen, dass mir das Frühstück nicht wieder hochkommt. Dieser Speckgeruch und der übrige Gestank in der Küche …«

Sie stiegen ins Auto.

»Wie empfindlich du bist«, sagte PM. »Also ich finde den verdreckten, biestigen Nisse eigentlich ganz erfrischend. So wunderbar weit weg vom schwedischen Durchschnittsbürger.

Weißt du, was er nach Feierabend macht?«

»Deinem Ton kann ich entnehmen, dass er sich nicht vor den Fernseher setzt.«

»Stimmt, er hat gar keinen Fernseher. Aber im Zimmer hinter der Küche, in das er eigentlich niemanden reinlässt, außer mich einmal, steht ein altes Harmonium, das er von seinem Vater geerbt hat. Auf dem spielt er, bis es an der Zeit ist, ins Bett zu gehen. Und er besitzt wirklich ein unerschöpfliches Repertoire.«

»Was spielt er denn?«

»Jede Menge Gesangsstücke, die er von seinem Vater gelernt hat. Dann haufenweise Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren, Operettenthemen und Music-Hall-Melodien, und Samstagabend, wenn er einen im Tee hat, sogar ein paar Jazz-Standards. Vor ein paar Jahren hat er mich mal zu sich nach Hause eingeladen und ein kleines Konzert gegeben. Ich kann dir sagen, das war ein Erlebnis! Nisse war wie ausgewechselt. Wenn er spielt, ist er glücklich; sein Verdruss fließt wie Wasser von ihm ab, und er beginnt zu strahlen. Er spielt wirklich gut.«

Roffe ließ den Motor an. Langsam rollten sie durch die menschenleeren Straßen.

»Verdammter Mist!«, fluchte Roffe. »Hier stinkt’s.

Wahrscheinlich hängt der Gestank immer noch in unseren Klamotten. Warum wäscht er sich eigentlich nie. Ist er wasserscheu?«

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»Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum er das tun sollte«, entgegnete PM. »Er hat doch nur mit Schweinen zu tun, und die werden sich nicht beklagen. Jetzt hör auf, so empfindlich zu sein, und sag mir lieber, wie du ihn findest.

Hältst du ihn für glaubwürdig?«

»Schwer zu sagen. Ich glaube, er ist ein grundehrlicher Kerl.

Andererseits werden seine Aussagen stark von seiner Voreingenommenheit beeinflusst. Was natürlich nicht bedeutet, dass er nicht auch Recht haben kann.«

Sie hatten das Dorf kaum hinter sich gelassen, da legte PM die Hand auf Roffes Arm.

»Halt mal an«, sagte er und zeigte auf ein Gebäude. »Das ist der Hof von Kalle Svanberg. Wenn wir schon meine Freunde besuchen, dann dürfen wir Kalle nicht auslassen.«

Roffe hielt am Straßenrand und sah PM missmutig an. »Wozu soll das gut sein?«, fragte er. »Irgendwann will ich auch nach Hause.«

»Ach komm schon, jetzt hast du Gelegenheit, noch eine andere Sicht der Dinge kennen zu lernen. Kalle ist wirklich das, was du als redlichen Menschen bezeichnen würdest. Ich kenne ihn seit fast zwanzig Jahren. Er ist einer der nettesten und vernünftigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Wagnhärad ist natürlich schon bei ihm gewesen. Er dürfte also nicht ganz unvorbereitet sein. Sein Hof liegt dem von Nygren am nächsten, außerdem hat er einen Teil der Felder von Knigarp gepachtet. Er hat also mit Nygren und mit Fermi zu tun.«

Roffe nickte und schwenkte in die kurze, breite Auffahrt ein, die bereits nach zehn Metern auf den Vorplatz vor dem roten Wohngebäude mündete.

»Übrigens bin ich ihm schon mal begegnet«, sagte Roffe. »An deinem vierzigsten Geburtstag. Er machte wirklich einen sympathischen Eindruck. Über den toten Eber dürfen wir aber kein Wort verlieren.«

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»Natürlich nicht«, sagte PM. »Lass mich nur machen.«

Katharina bemerkte, wie Marcos Blick über ihren Körper glitt, und zog den Bademantel enger um sich zusammen. Doch ehe sie etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor.

»Entschuldige die Störung«, sagte er. »Aber ich muss mit dir über Annika sprechen.«

Sie war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, und suchte fieberhaft nach einer passenden Entgegnung.

»Patrik ist im Atelier. Soll ich ihn rufen?«, fragte sie mit erzwungener Leichtigkeit.

Marco lachte. »Warum willst du mich an der Nase herumführen?«, fragte er. »Dein Mann ist vorhin mit seinem Freund weggefahren. Ich sehe doch jeden, der bei mir vorbeikommt. Ich wollte mit dir reden, nicht mit ihm. Darum bin ich auch gleich gekommen.«

»Warum willst du mit mir über Annika reden?«, fragte sie und verfluchte im Stillen ihre Unfähigkeit, natürlich zu klingen.

»Ich glaube, sie hat Sachen zu dir gesagt, die nicht der Wahrheit entsprechen. Du musst wissen, dass sie viel lügt. Sie kann nichts dagegen tun, das ist krankhaft.«

Sie spürte, dass ihr Gesicht zu einer ungläubigen Grimasse erstarrte, doch sie hielt verzweifelt an ihrer vorgeblichen Unwissenheit fest.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich habe seit Wochen nicht mit ihr geredet.«

Marco sah sie mit mildem Tadel an und schüttelte sachte den Kopf.