*

 

Am nächsten Tag treffen wir Clara im Eispalast. Wir gehen mit der Prinzessin zu der Fast Food Kette mit M, zu der man früher nicht gehen durfte, wenn man einigermaßen politisch korrekt sein wollte, aber wo ich immer mal mit einer Freundin hin bin, was aber keiner im Stadtteil wissen durfte. Wir essen alle einen Burger und Pommes und noch ein Eis hinterher, mit Soße drüber und Nüssen drauf, und sind danach pappsatt und machen uns auch nicht vor, dass das jetzt gesund war oder irgendwas, aber lecker war´s. Die Prinzessin findet im Pack von ihrem Essen einen grünen Plastikdrachen. Wenn man auf den Rücken drückt, fährt er eine rote Zunge raus und speit sozusagen Feuer.

Dann darf die Prinzessin Schlittschuhlaufen und Clara und ich trinken unseren Galão. Der kleine grüne Drache steht vor uns auf dem Tisch und guckt ganz friedlich.

„Was machst du mit ihr den ganzen Tag?“, fragt Clara.

„Ich weiß noch nicht“, sage ich. „Was macht man denn mit Kindern in dem Alter den ganzen Tag?“

„Keine Ahnung“, sagt Clara.

Wir sehen zu, wie Lena ihre Kreise auf der Schlittschuhbahn zieht. Wir sehen uns um, vielleicht sind hier ja andere Mütter mit Mädchen in dem Alter. Aber wir sehen keine. Wo sind die alle? Und vor allen Dingen: Was machen sie?

„Hat deine Schwester nicht Kinder?“, frage ich.

„Ja“, sagt Clara. „Zwei. Aber die sind schon groß. Und heute ist sowieso alles anders.“

Lena fährt weiter ihre Bahnen und dreht sogar Pirouetten. Clara und ich sehen weiter zu. Sieht ganz so aus, als ob das lange zwei Wochen werden.

„Sie liest gerade Liebe mit Hindernissen“, sage ich.

„Ach herrje“, sagt Clara. „Und dann bin ich nachher noch schuld, wenn wieder eine Prinzessin auf ihren Ritter wartet.“

„Yep“, sage ich. „Genauso ist es.“

„Dann sollten wir mit ihr auch den Lehrfilm sehen“, sagt Clara. „Als Ausgleich.“

„Nein“, sage ich. „Ich finde, dafür ist es noch zu früh. Noch soll sie ein bisschen träumen dürfen. Schließlich ist sie erst dreizehn.“

Lena ist mit ihren Bahnen fertig und kommt an den Tisch. Und weil wir nicht wissen, was wir sonst mit ihr machen sollen, essen wir noch ein Eis. Wieder mit Soße und Extras. Aber jetzt nimmt jede eine andere Sorte als beim letzten Mal. Abwechslung muss sein beim Essen, das liest man immer wieder, das ist wichtig, gerade für Kinder.

„Ich lese gerade dein Buch“, sagt Lena zu Clara.

„Und gefällt´s dir?“, fragt Clara.

„Ist cool“, sagt Lena.

„Danke“, sagt Clara.

„Hast du auch normale Sachen zum Anziehen?“, fragt Lena jetzt.

Sie sieht auf Claras mehr als bunte Jacke. Mit einem üppigen roten Kussmund auf dem Kragen und lauter verschiedenen Knöpfen. Ich grinse.

„Früher“, sagt Clara. „Früher als ich älter war, da hatte ich auch normale Sachen.“

„Cool“, sagt Lena.

„Kennst du auch noch andere Vokabeln der Anerkennung und des Lobes?“, fragt Clara.

Die Prinzessin guckt sie verständnislos an.

„Was sagst du, wenn dir was gefällt?“, frage ich.

Die Prinzessin guckt weiter verständnislos. Sie fragt sich vermutlich, was wir von ihr wollen und ob das vielleicht eine Fangfrage ist.

„Cool?“, sagt die Prinzessin.

„Ja, aber du könntest doch auch noch was anderes sagen“, sage ich.

„Und wieso?“, sagt Lena. „Entweder etwas ist cool oder es ist nicht cool.“

Irgendwie hat sie recht. Ist im Grunde ja auch genau das Prinzip von Agathe. Kopfschütteln oder Kopfnicken, ja oder nein, cool oder uncool.

 

*

 

Als wir nach Hause kommen, steht da wieder Hans-Dieters roter Golf auf dem Hof. Mist. Ich parke und wir steigen aus. Hans-Dieter hat es sich am Kacheltisch bequem gemacht und knackt Walnüsse. Allerdings nicht mit einem Nussknacker, sondern indem er die Nüsse auf den Kacheltisch legt und dann mit der Faust draufschlägt. Ist mir ja egal, was mit seiner Hand passiert, aber ich möchte nicht, dass er meine Kacheln ruiniert. Ich liebe diesen Kacheltisch. Es sind zwar keine handgemalten Kacheln, aber sie sind wunderschön.

„Hallo Hans-Dieter“, sage ich. „Lass das.“

Immerhin, er hört auf damit. Die Prinzessin steht ganz dicht neben mir und flüstert: Wer ist das?

„Lena“, sage ich. „Das ist Hans-Dieter. Hans-Dieter, das ist Lena.“

Die beiden sagen nichts.

„Sag mal Anna“, sagt Hans-Dieter. „Hast du einen Moment Zeit für mich?“

„Eigentlich nicht“, sage ich.

„Ich würde dich gerne was fragen“, sagt Hans-Dieter.

„Lieber nicht“, sage ich.

„Ich wollte dich fragen, ob du noch mal über mein Angebot nachgedacht hast“, sagt Hans-Dieter.

„Welches Angebot?“, sage ich.

„Du weißt schon“, sagt Hans-Dieter. „Das Angebot, dass wir uns doch noch zusammentun. Du und ich, als Mann und Frau.“

Ich seufze. Die Prinzessin sieht mich von der Seite an.

„Meine Mutter steht nicht auf Männer“, sagt Lena.

„Du bist wohl noch nicht aufgeklärt“, sagt Hans-Dieter. „Wenn sie deine Mutter ist, muss sie mal auf einen Mann gestanden haben.“

Du bist wohl noch nicht aufgeklärt“, sagt die Prinzessin jetzt. „Da gibt es heute ganz andere Methoden.“

Hans-Dieter sieht einen Moment etwas verwirrt aus, aber dann fällt der Groschen. Er sieht verunsichert von mir zur Prinzessin. Wir sind beide blond, wir haben beide blaue Augen, es könnte hinkommen.

„Und wieso habe ich dich hier sonst noch nie gesehen?“, fragt Hans-Dieter.

„Ich lebe bei meinem Vater“, sagt die Prinzessin.

„Aha“, sagt Hans-Dieter. „Also doch ein Mann im Leben deiner Mutter.“

„Aber jetzt steht sie auf Frauen“, sagt die Prinzessin. „Deswegen hat sich mein Vater ja scheiden lassen.“

„Stimmt das?“, fragt Hans-Dieter jetzt mich.

„Jedes Wort“, sage ich. „Oder willst du meiner Tochter etwa unterstellen, dass sie lügt.“

„Ich denke, du bist Witwe“, sagt Hans-Dieter nach einer kleinen Denkpause zu mir.

„Das war eine Scheinehe“, sage ich. „Für die Aufenthaltsgenehmigung.“

Ein Schatten geht über Hans-Dieters Gesicht. Okay – das war gemein von mir. Aber ich habe es gar nicht so gemeint. Wirklich nicht. Ich hatte die Russin einfach glatt vergessen.

„Fehlt dir deine Mutter denn nicht, wenn du immer bei deinem Vater bist?“, fragt Hans-Dieter.

„Nö“, sagt die Prinzessin. „Wir skypen jeden Tag.“

„Skypen?“, fragt Hans-Dieter.

Vermutlich denkt er jetzt, das Kind hat sich das Wort ausgedacht.

„Wir reden über Videocall am Computer“, sagt die Prinzessin und versucht geduldig auszusehen. „Wir reden. Am Computer. Und wir sehen uns dabei. Auf dem Bildschirm.“

„Ich lese ihr jeden Abend per Skype eine Gutenacht-Geschichte vor“, sage ich.

„Ach ja, wenn man Strom hat, ist das schon schön“, sagt Hans-Dieter. „Aber bei mir sind die Leitungen so weit weg, da lohnt ein Anschluss gar nicht.“

Die Prinzessin giggelt und ich muss auch lachen. Wir sehen uns an und können uns jetzt kaum halten vor Lachen. Ja, wo er recht hat, hat er recht, der Hans-Dieter.

„Was gibt´s denn da zu lachen?“, fragt Hans-Dieter. „Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt.“

Dann fährt Hans-Dieter endlich und die Prinzessin und ich sind uns einig. Unser Urteil steht fest. Uncool. Aber sowas von uncool. Aber uncool hoch zwei.

 

*

 

Die Tage mit Lena laufen besser als erwartet. Paul schickt ihr E-Mails aus irgendwo in China, und ihre Mutter schickt ihr E-Mails aus Cancún. Dona Ermelinda kommt immer mal gucken, ob´s uns auch gut geht, und bringt Obst und Gemüse vorbei, damit das Kind und ich auch richtig essen. Ich übersetze und die Prinzessin sitzt viel vorm Fernseher, weil sie das zu Hause nicht darf. Sie kann kein Portugiesisch, also sieht sie deutsche Programme. Manchmal höre ich mit, was sie so sieht. Und ich denke: Da wird sie mir einen schönen Eindruck von Deutschland kriegen.

Am Freitagabend ist ein Zauberer im Abendprogramm in den Thermen und ich frage Lena, ob sie Lust hat hinzugehen. Hat sie. Gut so. In den Thermen gibt es jeden Abend ein Programm für die Kurgäste. Bei gutem Wetter draußen auf dem großen Platz vor dem Bad Dona Amélia. Bei schlechtem Wetter oben im Veranstaltungsraum. Oft zeigen sie einen Film, manchmal spielt eine Band. Meistens ist die Musik doof, also doof im Sinne von nicht meine Musik. Und ab und zu gibt es etwas Besonderes, so wie jetzt den Zauberer. Der Zauberer ist klasse und selbst Lena ist begeistert.

Danach gehen wir in mein Lieblingscafé, ins Bon d`Jau. Ich trinke einen Kaffee und die Prinzessin kriegt eine schöne dunkle Schokolade mit Sahnehäubchen. Wir sehen auf den Fluss und die Prinzessin erzählt mir von ihrer Freundin Kyra und von der Schule und von der doofen Frau Bloom, die immer so ungerecht ist. Und ich werde in Gedanken noch mal jung und denke an meine eigene Schulzeit und höre ihr einfach zu.

Und erst als wir gehen und schon in der Tür sind, sehe ich, dass Miguel im Café ist. Mit einem Mann und zwei Frauen. Die eine Frau ist Helena, den Mann und die andere Frau kenne ich nicht. Ich habe Miguel seit meiner missglückten Autobahnfahrt mit Folge-Fast-Lungenentzündung nicht mehr gesehen. Miguel skypt nicht, Miguel schickt nur selten E-Mails. Miguel hält nichts von diesem neumodischen Kram. Und telefoniert haben wir auch nicht, weil ja keiner den anderen angerufen hat, nicht wahr.

Jetzt sieht er zu uns rüber. Er nickt. Ich nicke zurück. Er sieht etwas verwundert auf die Prinzessin. Die Prinzessin nickt und lächelt. Miguel steht auf, er sagt etwas zu den anderen am Tisch und kommt zu uns.

Er ist etwas angetrunken. Er trägt Jeans und ein weißes T-Shirt und hat einen dunkelblauen Pulli um die Schultern geschlungen. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass seine Schläfen grau werden. Und er hat jetzt einen Drei-Tage-Bart. Und beides steht ihm sehr gut.

„Hallo Anna“, sagt Miguel.

„Hallo Miguel“, sage ich.

Ich stelle ihm Lena vor, aber ohne zu sagen, dass sie Pauls Tochter ist, denn irgendwie, ehe ich das hier erkläre, also lieber nicht.

„Darf ich euch zum Auto bringen?“, sagt Miguel.

Ich sehe die Prinzessin an, die Prinzessin nickt.

Wir gehen zu dritt zum Parkplatz. Es sind viele Leute auf der Straße unterwegs, sie lachen und reden. Wir auch. Wir wirken wie eine Kleinfamilie. Es ist ein warme Sommernacht, die Vouga rauscht und ein paar Blüten fliegen durch die Luft. Die Platanen drüben auf der anderen Seite vom Fluss rascheln leise im Wind und sehen riesig aus.

„Und du?“, sagt Miguel zu Lena. „Wo kommst du so plötzlich her?“

„Aus Vancouver“, sagt Lena. Miguel nickt. Den Rest wird er sich jetzt denken.

„Weiter Weg“, sagt Miguel. „Gefällt´s dir hier?“

„Ist cool hier“, sagt Lena. „Ich darf jeden Tag fernsehen.“

Miguel sieht mich erst strafend an und grinst dann, und ich zucke mit den Schultern. Das bisschen Fernsehen wird das Kind schon vertragen. Wie heißt es doch so schön? Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Also bitte.

„Bist du Annas Freund?“, fragt Lena.

Ich kann´s nicht verhindern, denn als ich sie in die Rippen stoße, ist der Satz schon raus.

„Frag mich was Einfacheres“, sagt Miguel.

„Bist du in sie verliebt?“, fragt Lena.

„Noch einfacher“, sagt Miguel. „Was ganz Einfaches.“

„Hast du Kinder“, fragt Lena.

„Nein“, sagt Miguel. „Habe ich nicht. Weiß auch gar nicht, ob ich das überlebt hätte, bei den vielen Fragen.“

Die Prinzessin giggelt jetzt und wir stehen vor dem Auto.

„Steig du schon mal ein“, sagt Miguel zur Prinzessin.

Und die Prinzessin gehorcht in der Tat und setzt sich hinten ins Auto.

„Jetzt zu dir“, sagt Miguel.

Ich frage mich, was jetzt kommt. Was kann jetzt kommen?

„Nur dass du´s weißt“, sagt Miguel. „Ich habe in Vancouver mit keiner Frau namens Nicki geschlafen. Ganz wie versprochen.“

Ja, aber was ist mit Frauen namens Helena, die nicht mal weit weg in Vancouver sind, sondern hier in den Thermen im Café sitzen? Noch dazu bei Miguel am Tisch.

„Danke“, sage ich.

„Gern geschehen“, sagt Miguel.

Miguel sieht mich noch einen kleinen Moment an und beugt sich dann leicht nach vorne, ich kann seinen Drei-Tage-Bart an meinem Gesicht spüren. Und dann küsst er mich. Aber nicht auf die Wange wie sonst und zum Abschied üblich. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, küsst er mich richtig. Oh Mann. Und he – es fühlt sich gut an. Sehr gut sogar. Genauso plötzlich, wie er mir nahe war, ist er wieder weg. Ich mache die Autotür auf und steige ein. Miguel hält die Autotür noch einen Moment auf und guckt nach hinten ins Auto.

„Tschüß Prinzessin“, sagt er zu Lena.

„Ciao-ey“, sagt Lena.

„Tschüß Prinzessin“, sagt Miguel dann zu mir und macht die Autotür zu. Ich starte und fahre nach Hause.

„Ist Miguel dein Freund?“, fragt Lena.

„Frag mich was Einfacheres“, sage ich.

„Bist du in ihn verliebt?“, fragt Lena.

„Frag mich was Einfacheres“, sage ich.

„Gehen wir morgen wieder Eis essen?“, fragt sie.

„Aber hallo“, sage ich. „Natürlich gehen wir morgen Eis essen. Es ist schließlich Sommer. Wozu ist der Sommer da, wenn nicht zum Eisessen?“

„Cool“, sagt Lena. „Echt cool.“

 

*

 

Ich merke gleich, dass zu Hause irgendwas nicht stimmt. Ich bin mir sicher, wir hatten das Tor zugemacht. Jetzt ist das Tor weit auf. Ich fahre auf den Hof. Es ist Vollmond. Man kann deutlich die Umrisse der Gebäude erkennen. Ich sehe mich um. Ich kann nichts Ungewöhnliches erkennen. Ich parke und stelle den Motor ab. Ich sehe nach hinten, Lena ist auf der Rückbank eingeschlafen. Ich mache die Tür auf und steige aus. Plötzlich steht jemand hinter mir. Er hält mich von hinten fest und nimmt mir den Schlüssel weg. Es ist ein Mann.

„Ganz ruhig“, sagt der Mann. „Ich will Ihnen nicht weh tun.“

„Hören Sie mal“, sage ich. „Was soll das?“

„Steigen Sie wieder ein“, sagt der Mann und schubst mich wieder ins Auto. Dann geht er auf die andere Seite und macht die Beifahrertür auf. Er setzt sich ins Auto und nimmt meine Handtasche.

„Nicht dass Sie mir auf dumme Gedanken kommen“, sagt der Mann, zieht mein Handy aus der Handtasche und schaltet es ab.

„Was ist hier eigentlich los?“, sage ich. „Was wollen Sie?“

„Ich brauche einen Dolmetscher“, sagt der Mann.

„Warum haben Sie mich nicht angerufen?“, sage ich.

„Ich hatte Ihre Telefonnummer nicht“, sagt der Mann.

„Aber Sie kennen meine Adresse?“, sage ich.

„Ja“, sagt der Mann. „Sonst wäre ich ja nicht hier.“

„Okay“, sage ich. „Ich gebe Ihnen jetzt meine Telefonnummer und morgen rufen Sie mich an und wir machen einen Termin aus. So wie es sich gehört.“

„Nein“, sagt der Mann. „Ich brauche den Dolmetscher sofort.“

„Und wieso?“, sage ich. „Es ist mitten in der Nacht. Das hat doch bestimmt Zeit bis morgen.“

„Nein, hat es nicht“, sagt der Mann.

„Und warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?“, frage ich. „Warum ich?“

Die schöne Frage des kleinen Jungen auf You Tube, Recht hat er der Junge, diese Frage stellt man sich doch wirklich immer wieder. Why me?

„Weil Sie schuld sind“, sagt der Mann. „Mit Ihren Übersetzungen. Und deswegen müssen Sie es wieder in Ordnung bringen.“

In Ordnung bringen? Kann man so viel falsch machen in einer Gebrauchsanleitung für Leisehäcksler oder Wasserkocher, dass es so einen Überfall rechtfertigt? Wohl kaum. Aber dann dämmert es mir. Die Liebesbriefe. Der Mann aus Mangualde, der seine Frau mit Michaela aus München betrogen hat.

„Sie sind Francisco“, sage ich.

„Francisco Sousa“, sagt Francisco. „Angenehm.”

Na angenehm hält sich in Grenzen, finde ich, jedenfalls für mich.

“Der Kardiologe“, sage ich. „Aus Mangualde.“

Ich fühle mich jetzt ein bisschen besser, die Angst ist kleiner, aber ich frage mich natürlich immer noch, was das hier werden soll.

„Die Liebesbriefe von Michaela“, sage ich.

„Hören Sie“, sagt Francisco. „Das Ganze ist ein Missverständnis. Irgendwie. Und ich möchte, dass Sie das meiner Frau erklären.“

„Und warum so plötzlich?“, frage ich. „Warum jetzt mitten in der Nacht?“

„Weil das Missverständnis bei uns zu Hause in der Küche sitzt“, sagt Francisco. „Und mit meiner Frau reden möchte. Und dafür brauchen wir einen Dolmetscher.“

„Ich muss mal pinkeln“, sagt jetzt Lena.

„Gott, hat die Göre mich erschreckt“, sagt Francisco und sieht nach hinten.

„Warum dolmetschen Sie nicht selber“, sage ich. „Sie sprechen doch beide Sprachen.“

„Ich?“, sagt Francisco. „Das geht nicht. Mir glaubt meine Frau doch kein Wort mehr.“

Verständlich, irgendwie.

„Ich muss Pipi“, sagt Lena.

„Hören Sie“, sage ich. „Also gut. Sie lassen die Kleine Pipi machen, und dann fahren wir zu Ihnen nach Hause und ich sehe, was ich tun kann, okay?“

„Danke“, sagt Francisco. „Danke.“

Die Prinzessin geht pinkeln und ich sitze weiter ohne Schlüssel vorm Steuer.

„Das ist wirklich nett von Ihnen“, sagt Francisco. „Ich werde auch versuchen, es irgendwann wieder gut zu machen. Ein EKG zum Beispiel oder Ultraschall, auf meine Kosten. Oder wenn Sie mal was mit dem Herzen haben ...“

Ach ja, das ist ein nettes Angebot und auf jeden Fall habe ich was mit dem Herzen. Aber nichts so recht, was ein Kardiologe richten könnte. Lena steigt wieder ein und Francisco gibt mir den Autoschlüssel und dann fahren wir alle nach Mangualde. Ich frage mich, wie er eigentlich hierher gekommen ist, denn ich kann kein Auto sehen. Francisco stellt das Radio an, die CD läuft an, weil sie immer im Player ist und Rosanne Cash singt: Take these chains from my heart and set me free ....

Francisco seufzt.

„Ich kann nichts dafür“, sagt er. „Es ist ein Missverständnis.“

„Erklären Sie das nicht mir“, sage ich. „Erklären Sie das lieber Ihrer Frau.“

„Sie haben ja recht“, sagt Francisco Sousa. „Sie haben ja so recht.“

Und dann fahren wir, ohne weiter zu reden. Und hören dafür lieber Rosanne Cash zu.

 

In Mangualde sitzen Michaela und Franciscos Frau in der Küche und sind dabei eine weitere Flasche Wein aufzumachen. Franciscos Frau gießt die Gläser voll. Als sie uns sieht, holt sie noch drei Gläser und macht auch gleich noch eine weitere Flasche auf. Dann holt sie eine Cola aus dem Kühlschrank und stellt sie vor die Prinzessin.

„Cola“, sagt die Prinzessin. „Cool.“

Für die Prinzessin wird das hier langsam zum Traumurlaub. Coca-Cola, Fast Food, Eis, Fernsehen.

„Aber nicht bei Paul petzen“, sage ich zur Prinzessin. „Abgemacht?“

„Abgemacht“, sagt die Prinzessin.

Franciscos Frau ist eine ganz Hübsche mit langen schwarzen Haaren und heißt Maria. Michaela aus München ist auch eine ganz Hübsche, aber in Blond. Sie sind beide etwa gleich alt. Und sie sehen beide unglücklich aus. Und was bitte schön soll ich da jetzt tun?

„Und jetzt?“, frage ich in die Runde.

Keiner sagt was.

„Im Fernsehen“, sagt da die Prinzessin. „Im Fernsehen, da gibt´s so eine Sendung mit also da kommen welche, wenn sie sich gestritten haben und dann darf der eine reden, also der andere hört das nicht, der ist nämlich draußen und dann sagt der eine, was er denkt und dann der andere.“

Na das ist doch die Idee. Da sieht man mal, dass Fernsehen eben doch bildet.

„Gute Idee“, sage ich zu Lena. „So machen wir´s.“

Ich schlage vor, dass wir erstmal mit Maria und Michaela einzeln reden, nacheinander, also die Prinzessin und ich. Dazu müssen die anderen natürlich raus. Was jetzt nicht ganz so einfach ist, weil Maria nicht möchte, dass ihr Mann und Michaela da irgendwo zusammen in einem Zimmer in der Wohnung sind. Alleine. Aus völlig verständlichen Gründen. Wir einigen uns so. Als Erste darf Maria uns alles aus ihrer Sicht erzählen. Michaela wartet im Wohnzimmer. Und Francisco geht so lange raus, nach draußen vor die Tür. Ist vielleicht etwas ungemütlich, aber das hat er sich ja nun selber zuzuschreiben, nicht wahr.

Maria schenkt sich noch ein Glas Wein ein. Ich nehme lieber keinen Wein. Erstens möchte ich hier einen klaren Kopf bewahren und zweitens muss ich noch Auto fahren. Lena trinkt ihre Cola und Maria fängt an zu erzählen. Und ich übersetze, damit die Lena auch mitkriegt, worum es hier geht.

Es ist eine ganz normale Geschichte. Ein Klassiker sozusagen. Geheiratet mit Mitte zwanzig. Das erste Kind mit Ende zwanzig, das zweite mit Anfang dreißig. Der Mann Arzt, die Frau Lehrerin. Alles läuft in normalen Bahnen. Eines Tages fährt der Mann zum Kardiologen-Kongress nach München und lehnt sich aus Einsamkeit oder Langeweile oder Sehnsucht an eine fremde Schulter an. Und die Besitzerin der fremden Schulter verliebt sich in den Mann. Und möchte ihn nicht aufgeben. Und jetzt sitzt sie hier in dieser Wohnung in Mangualde, um ihn sich zu holen. Und Maria möchte ihn lieber selber behalten.

„Ist Francisco dein Freund?“, fragt Lena am Ende der Geschichte.

„Nein, er ist mein Mann“, sagt Maria.

„Kann er nicht beides sein?“, fragt Lena.

„Ich weiß nicht“, sagt Maria. „Die Frage habe ich mir noch nie so gestellt.“

„Bist du in ihn verliebt?“, sagt Lena.

„Nein“, sagt Maria. „Ich bin nicht in ihn verliebt.“

„Nicht?“, sage ich.

„Nein“, sagt Maria. „Ich liebe ihn.“

„Das ist doch das Gleiche, oder?“, fragt Lena und sieht mich an.

„Nein Prinzessin, das ist nicht das Gleiche“, sage ich.

„Und was ist der Unterschied?“, sagt die Prinzessin.

„Tja ...“, sage ich.

„Also ...“, sagt Maria.

„Verliebt ist viel aufregender“, sage ich.

„Liebe geht viel tiefer“, sagt Maria.

„Und was ist schöner?“, fragt Lena.

„Beides ist schön“, sage ich.

„Jedes auf seine Weise“, sagt Maria.

„Ja, aber was ist schöner?“, fragt Lena.

 

Dann geht Maria ins Wohnzimmer und Michaela kommt zu uns. Wir sitzen wieder zu dritt am Küchentisch. Und nun erzählt uns Michaela ihre Geschichte. Auch ein Klassiker. Nach der Schule Ausbildung als Sekretärin. Heiratet ihren Chef. Ehe scheitert nach ein paar Jahren. Mann sucht sich Jüngere und heiratet wieder. Sekretärin fängt in anderer Firma an, aber kein Chef zum Heiraten da. München voller Singles, aber keiner der Richtige. Und dann eines Tages, abends in einer Kneipe in München, wo ein paar Kardiologen das Münchner Nachtleben studieren und badischen Wein testen, trifft sie diesen wunderbaren Mann. Der auch noch so was Exotisches hat, weil er aus dem Ausland kommt. Und aus exotisch wird erotisch und zack ist es passiert. Und weil es eine wunderschöne Nacht war, möchte Michaela noch ein paar weitere wunderschöne Nächte. Und als Francisco nach ein paar wunderschönen Nächten wieder abfährt, ist sie voll verliebt. Und nun möchte sie diesen Mann für immer in ihrem Leben haben. Michaela findet: Sie hat jetzt auch mal ein bisschen Glück verdient. Nicht immer nur die anderen.

Die Prinzessin und ich sehen uns an.

„Ist Francisco dein Freund?“, fragt Lena.

„Ja“, sagt Michaela.

„Aber er ist verheiratet“, sage ich. „Was wollen Sie mit einem verheirateten Mann?“

„Er könnte sich scheiden lassen“, sagt die Prinzessin zu mir. „Dann ist er nicht mehr verheiratet und kann die Michaela heiraten.“

„Ja“, sagt Michaela. „Genau.“

„Bist du in ihn verliebt?“, fragt Lena.

„Ja“, sagt Michaela. „Und wie.“

„Ihr könntet alle drei zusammenleben“, sagt Lena. „Ihr müsst euch nur auf eine Stadt einigen.“

„Wieso bist du um diese Zeit eigentlich noch auf und nicht im Bett?“, fragt Michaela.

„Man hat mich gekidnappt“, sagt die Prinzessin. „Und außerdem habe ich Ferien.“

„Vielleicht sollten wir jetzt doch mal alle zusammen reden“, sage ich. Ganz die Moderatorin mit vorgetäuschtem Überblick.

Lena holt Maria und ich hole Francisco. Wir sitzen jetzt zu fünft um den Küchentisch. Die Prinzessin kriegt eine zweite Coca Cola und dann sehen mich alle erwartungsvoll an. Und ich habe ehrlich gesagt nicht den blassesten Schimmer, was ich machen oder sagen soll.

Alle sehen mich weiter erwartungsvoll an. Ich sehe erwartungsvoll zurück.

„Nun sag schon was“, sagt Lena. „Im Fernsehen sagt die Fernsehfrau immer was.“

Ich räusper mich.

„Francisco“, sage ich. „Gibt es irgendwas, was du Maria und Michaela mitteilen möchtest?“

„Es tut mir alles furchtbar leid“, sagt Francisco. „Ich habe mich in Michaela verliebt, aber ich liebe immer noch meine Frau.“

Siehst du Prinzessin, es ist ein Unterschied.

„Und es tut mir wirklich leid“, sagt Francisco nochmal.

Keiner sagt was.

„Wärt ihr bereit, euch auf eine Dreier-Beziehung einzulassen?“, frage ich. Ich meine, vielleicht war Lenas Vorschlag ja gar nicht so doof, wer weiß. Und wie heißt es doch so schön? Kindermund tut Wahrheit kund. Und eine Lösung wäre es ja schon, irgendwie. Und schließlich: Alles, was vorstellbar ist, ist auch möglich, nicht wahr.

„Nein“, sagen alle drei gleichzeitig.

Immerhin, da sind sie sich ja einig. Damit scheidet diese Variante aus.

„Wir könnten eine Münze werfen“, sagt die Prinzessin. „Kopf für Michaela, Zahl für Maria.“

„Nein“, sagen jetzt alle drei, und zwar schon ziemlich heftig.

„Verarschen kann ich mich alleine“, sagt Michaela.

„Wissen Sie überhaupt, was es heißt eine Ehe zu führen?“, fragt Maria mich. „Sie können leicht hier sitzen und klug reden. Was Sie ja nicht mal tun, wenn man es so recht bedenkt, den besonders klug reden Sie hier nicht. Aber wissen Sie überhaupt, was es bedeutet so lange verheiratet zu sein?“

„Ja, das weiß ich“, sage ich. „Ich war dreißig Jahre lang verheiratet.“

„Und“, sagt Michaela. „Was ist passiert? Hat er Sie verlassen?“

„Ja und nein“, sage ich. „Er ist gestorben.“

„Tut mir leid“, sagen die Drei beinahe gleichzeitig.

„Vor gut über einem Jahr“, sage ich. „Und niemand kann sich den Schmerz vorstellen.“

Jetzt gucken sie alle drei etwas bedröppelt.

„Und das ist vermutlich auch gut so“, sage ich.

Die anderen sagen nichts.

„Kann ich noch eine Cola kriegen?“, fragt die Prinzessin.

Maria steht auf und geht zum Kühlschrank. Sie gibt Lena eine Cola.

„Es gibt vermutlich keine wirklich gute Lösung“, sagt Maria schließlich.

„Lassen Sie ihn mir noch eine Nacht“, sagt Michaela zu Maria. „Eine einzige Nacht. Und dann verschwinde ich aus eurem Leben und ihr seht mich nie wieder.“

Ich dolmetsche. Maria zögert ein bisschen. Sie schenkt allen noch Wein nach. Sie sieht erst Michaela an und dann Francisco.

„Gut“, sagt sie. „Eine Nacht. Und morgen bekomme ich ihn zurück und Sie verschwinden aus meinem Leben.“

„Hallo?“, sagt Francisco. „Was ist mit mir? Werde ich überhaupt nicht gefragt? Was ich will?“

„Du fragst ja auch nicht bei allem, was ich will, oder?“, sagt Maria.

„Ich bin müde“, sagt Lena. „Ich will nach Hause.“

„Ich bin auch müde“, sagt Michaela. „Ich will auch nach Hause.“

 

Und damit ist es irgendwie entschieden. Michaela steigt zu uns ins Auto und wir bringen sie zum Bahnhof von Mangualde. Ein verschlafener Beamter öffnet den Schalter und packt seine Kasse aus und wir warten geduldig, bis er alles einsortiert hat, erst die Münzen und dann die Scheine, und dann kauft sich Michaela eine Fahrkarte für den Morgenzug nach Lissabon. Wir gehen in das Café auf dem Bahnsteig und sind die ersten Gäste.

Lena und ich steigen ins Auto. Es ist noch dunkel. Es ist ein frischer Morgen, es wird ein heißer Tag werden.

„Ich muss pinkeln“, sagt die Prinzessin.

Das kommt bestimmt von der ganzen Cola. Und während die Prinzessin pinkelt, suche ich mein Handy und stelle es wieder an, denn das hat dieser Francisco doch einfach abgestellt. Sofort piept es mehrmals. Fünf verpasste Anrufe und drei Nachrichten. Alle von der derselben Nummer. Einer neuen Nummer. Wer kann das sein? Ich lese die Nachrichten.

Nachricht eins: Clara ist verschwunden bitte um Rückruf dringend Rui

Nachricht zwei: Anna bitte rufen Sie mich an Clara verschwunden mache mir Sorgen Rui

Nachricht drei: jederzeit egal wie spät bitte Rui

Ich seufze und wähle Ruis Nummer. Ich kenne Rui nur aus Claras Erzählungen. Ich weiß, dass er derjenige welcher ist. Der Mann, wegen dem Clara nach Viseu gezogen ist. Der Mann, der sich nicht scheiden lässt. Der Mann, der sie immer wieder versetzt, weil irgendwas dazwischen kommt. Und meistens hat es mit seiner Frau zu tun.

 

Rui erwartet uns vor Claras Wohnung. Er ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Ist ja eigentlich ja auch merkwürdig, dass ich ihn bis heute noch nie getroffen habe, obwohl ich Clara nun schon fünf Jahre kenne. Ich weiß von ihm, dass er Musiklehrer ist und in seiner Freizeit Jazz spielt. Tenor-Saxophon. Und dass er verheiratet ist, natürlich. Dass er einen Sohn hat, der in Coimbra im vierten Semester Jura studiert und eine Tochter, die Krankenschwester ist und in Viseu im Krankenhaus arbeitet. Im Hospital São Teotónio. Und dass er sich eigentlich von seiner Frau trennen will, es aber nicht auf die Reihe kriegt. Rui sieht sehr nett aus, er wirkt viel jünger und sportlicher als ich ihn mir vorgestellt habe. Er hat graue Haare, etwas gelockt, und er trägt eine Kette aus kleinen Holzperlen um den Hals, fast so etwas wie ein Amulett. Er ist ganz leger, in Jeans und kurzärmeligem Hemd, keine Krawatte oder so was. Er steht vor Claras Wohnblock und sieht immer wieder auf die Uhr. Und er wirkt sehr erleichtert, als wir kommen. Ich parke das Auto und die Prinzessin und ich steigen aus.

„Rui?“, frage ich.

„Anna?“, sagt Rui.

Ich stelle ihm Lena vor und frage ihn, was eigentlich los ist. Clara ist weg, sagt Rui. Sie waren zum Abendessen verabredet, um die Trennung von seiner Frau zu feiern. Und sie wollten alle Einzelheiten zu besprechen. Wie es denn jetzt werden soll und wo sie hinziehen wollen, wie es ablaufen soll. Ob sie in Claras Wohnung zusammenleben wollen. Oder ob sie sich eine neue Wohnung mieten sollen. Vielleicht eine größere Wohnung. Vielleicht ein Haus am Stadtrand. Einfach die Logistik, die so ein Umschwung in der Beziehung eben mit sich bringt. Das wollten sie bei einem guten Essen besprechen. Und deswegen war er mit ihr im Restaurante O Pátio verabredet. Aber Clara ist nicht gekommen.

„Sie wollen sich also in der Tat von Ihrer Frau trennen?“, sage ich.

„Ich habe mich schon von meiner Frau getrennt“, sagt Rui. „Und zwar vor einer Woche. Wundert mich, dass Clara Ihnen nichts erzählt hat.“

Wundert mich auch. Ehrlich gesagt.

Langsam kriege ich ein schlechtes Gewissen, dass ich die Prinzessin zu all dem hier mitschleppe, was wird sie da für einen Eindruck vom Erwachsenen-Sein bekommen. Aber auf der anderen Seite, mit einer Mutter auf Liebesurlaub in Cancún und Paul in Nickis Wohnung und mit dem, was sie so im Fernsehen sieht, weiß sie vermutlich eh, wie das Leben so läuft.

„Wir sollten uns duzen“, sagt Rui. „Ist ja praktisch so, als ob wir uns schon lange kennen. Hab so viel von dir gehört.“

„Und ich so viel von dir“, sage ich.

„Hast du versucht sie anzurufen?“, frage ich.

Was eine doofe Frage ist, denn bestimmt hat er das.

„Am Telefon ist der Anrufbeantworter“, sagt Rui. „Am Handy ist die Mailbox.“

„Und sie macht auch die Tür nicht auf?“, sage ich.

„Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand in der Wohnung ist“, sagt Rui. „Ich bin seit Stunden hier, da war kein Licht.“

„Clara hat mir gar nicht erzählt, dass ihr zusammenziehen wollt“, sage ich.

„Clara ist überhaupt sehr merkwürdig, seit ich mich von meiner Frau getrennt habe“, sagt Rui.

Wir sehen hoch zu Claras Appartment. Die Fenster sind dunkel. Aber das sind sie in allen Wohnungen. Langsam wird es hell, bald wird die Sonne aufgehen.

„Hast du dein Saxophon dabei?“, frage ich.

„Ich habe immer mein Saxophon bei mir“, sagt Rui.

„Dann spiel doch einfach was“, sage ich. „Und dann gucken wir mal, was passiert.“

Rui sieht mich erst etwas ungläubig an und einen Moment denke ich, gleich sagt er zu mir: Verarschen kann ich mich alleine. So wie Michaela vorhin. Aber dann nickt er.

„Vielleicht hast du recht“, sagt er.

 

Er geht zu seinem Auto und holt sein Tenor-Saxophon. Er packt das Saxophon aus und fängt an zu spielen. Orfeu Negro. Es ist ein stiller Samstagmorgen. Und jetzt schwebt Manhã de Carnaval über allem. Die Melodie aus diesem alten Film, diese wunderbare Melodie, die auf einem Tenorsaxophon so richtig gut kommt. Auch bekannt unter dem Titel: A day in the life of a fool. Tja.

Nach einer Weile gehen in den ersten Fenstern die Lichter an. Gesichter erscheinen in den Fenstern. Fenster werden aufgemacht. Ein Mann droht uns mit der Faust. Klar – es ist Samstag. Es ist früh. Und er wollte vermutlich ausschlafen. Eine Frau wiegt ihr Baby im Arm und hört uns verträumt zu.

Plötzlich steht Clara neben uns. Wir haben sie überhaupt nicht kommen gehört. Sie trägt einen ganz schlichten dunkelblauen Bademantel. Ich habe sie noch nie so einfarbig gesehen.

„Also gut“, sagt Clara. „Alle mit nach oben.“

Rui setzt das Saxophon ab. Ein paar Leute klatschen. Der Mann, der uns erst mit der Faust gedroht hat, zeigt uns jetzt einen Vogel. Die Frau mit dem Baby macht das Fenster zu. Die anderen Fenster werden auch geschlossen und hinten über der Serra de Estrela kommt langsam die Sonne hoch.

Wir fahren mit Clara im Fahrstuhl hoch. Keiner sagt was. Das Prinzesschen sieht müde aus. Ich vermutlich auch. Rui auch. Nur Clara, die sieht verschlafen aus.

Clara setzt die Kaffeemaschine in Gang und wärmt Milch auf, für die Prinzessin.

„Also gut“, sagt Clara. „Was verschafft mir die Ehre?“

Na also wirklich Clara. Ich muss schon sagen.

„Du bist gestern Abend nicht zu unserer Verabredung gekommen“, sagt Rui.

„Weißt du, wie oft du nicht zu unseren Verabredungen gekommen bist?“, fragt Clara.

„Das ist was anderes“, sagt Rui.

„Ach ja?“, sagt Clara.

„Ja“, sagt Rui.

Clara schenkt uns allen Kaffee ein und stellt eine Packung Bolacha Maria auf den Tisch, diese schlichten aber leckeren portugiesischen Kekse, die einfach immer wieder gut sind. Lena bekommt eine warme Milch. Ich stippe einen Keks in meinen Kaffee.

„Ich musste nachdenken“, sagt Clara.

„Aber über was denn“, fragt Rui. „Was ist denn los? Ich dachte, jetzt ist alles in Ordnung. Ich habe meine Frau verlassen, die Scheidung ist eingereicht.“

„Genau das ist es ja“, sagt Clara. „Du bist dabei, unser ganzes Leben zu verändern.“

„Ja, weil du es so wolltest“, sagt Rui.

„Ja schon“, sagt Clara. „Einerseits schon.“

„Und andererseits?“, fragt Rui.

„Andererseits weiß ich nicht“, sagt Clara.

„Versteh einer die Frauen“, sagt Rui.

„Spielst du noch mal das Lied?“, fragt die Prinzessin.

Rui nimmt sein Saxophon und spielt noch mal diese wunderbare Melodie. Vielleicht eine der schönsten der Welt. Clara, die Prinzessin und ich hören einfach nur zu. Da klingelt es an der Tür. Ich gehe hin und mache auf.

„Jetzt ist aber mal Schluss“, sagt der Mann, der uns erst mit der Faust gedroht und dann einen Vogel gezeigt hat. „Es ist Samstag. Ich will schlafen.“

Und ganz ehrlich, das möchte ich jetzt auch. Und die Prinzessin gehört auch ins Bett. Schon längst. Eigentlich. Ich gebe der Prinzessin ein Zeichen und wir verabschieden uns von Clara.

„Kann ich noch bleiben?“, fragt Rui.

„Nein lieber nicht“, sagt Clara. „Ich muss nachdenken.“

 

*

 

Zu Hause fallen wir einfach nur noch ins Bett. Ich schlafe wie ein Stein. Als ich aufwache, wird es draußen gerade wieder dunkel. Ich gehe nach vorne in die Küche. Da ist eine schokoladenverschmierte Prinzessin mit Schürze und denkt den Tisch.

„Ich habe gekocht“, sagt die Prinzessin.

„Und was gibt´s?“, frage ich.

„Schoko-Pommes“, sagt die Prinzessin. „Wollte ich schon immer mal ausprobieren. Die Nachbarin hat Kartoffeln gebracht. Und die Schokolade habe ich im Schrank gefunden.“

Sie hat sogar den Tisch gedeckt, und die Schokoladen-Fondue in Gang gesetzt. Ich setze mich hin und die Prinzessin serviert. Wir stippen die Pommes in die Schokosoße, aber so ganz das Richtige ist es nicht, das gibt auch die Prinzessin zu. Und es wird auch nicht besser, wenn man es noch mit Zimt oder Zucker oder Pfeffer bestreut.

„Ich bin trotzdem froh, dass wir es mal ausprobiert haben“, sage ich zur Prinzessin.

„Ich auch“, sagt Lena.

 

Am Montag fliegt Lena wieder nach Hause und ich bin richtig traurig. Clara bringt uns in aller Frühe zum Flughafen nach Porto, da müssen wir nicht mit dem Bus fahren.

„Wirst du mit Rui zusammenziehen?“, fragt Lena.

„Ich weiß nicht“, sagt Clara. „Das kam jetzt irgendwie so überraschend.“

„Nach sechs Jahren?“, sage ich. „Was ist denn da überraschend?“

„Hast du gedacht, dass Rui je seine Frau verlässt?“, fragt Clara.

„Na ja“, sage ich. „Eher nicht.“

„Siehste“, sagt Clara.

„Sehe ich was?“, frage ich.

„Dass er sich trennt“, sagt Clara. „Dass er sich überhaupt trennt. Ich hatte irgendwie nicht mehr damit gerechnet.“

„Er spielt richtig cool Saxophon“, sagt die Prinzessin.

„Oja, das tut er“, sagt Clara. „In jeder Beziehung.“

Und ich hoffe, dass sie das jetzt nicht weiter ausführt, denn schließlich haben wir die Prinzessin im Auto und die ist erst dreizehn.

 

Lena wird eingecheckt und abgegeben. Sie ist in guten Händen, ich weiß das, Kinder gehen nicht verloren auf Flügen, da passen die Stewardessen auf, die Flugbegleiterinnen, wie sie ja jetzt heißen. Aber ich mache mir doch Sorgen, es ist ein weiter Weg, ich hoffe, dass alles gut geht. Ich hoffe, das Kind kommt gut an. Ich bin mir sicher, sie wird auf dem Flug eine Cola nach der anderen trinken.

„Und dass du dich sofort meldest, wenn du zurück bist“, ermahne ich die Prinzessin. Und dann ist sie weg aus meinem Leben.

 

*

 

Da ist ja jetzt schon einiges an Arbeit liegen geblieben über die letzten Tage und ich stürze mich in meine Übersetzungen. Ich kann mich nicht so recht entscheiden zwischen Elektro-Bodenhacke und Elektrischem Fondue. Oder vielleicht zuerst das Bad-Radio. Was ist bloß ein Bad-Radio? Ich werfe einen Blick in die Gebrauchsanleitung und verstehe: Ein Bad-Radio ist dazu da, dass man in der Dusche Radio hören kann. Und zwar während man duscht. Ich frage mich: Muss das sein? Und kann man eigentlich überhaupt was hören, wenn doch das Wasser um einen herumrauscht? Da macht eine Bodenhacke schon mehr Sinn. Mit einer Elektro-Bodenhacke lockert man den Boden in seinem Garten auf. Das Teil sieht aus, als ob man sehr kräftige Arme braucht, um damit zu hacken. So ein Gerät werde ich vermutlich nie benutzen. Ich meine, hoffentlich werde ich so ein Gerät nie benutzen. Nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann, jedenfalls. Ich bin nämlich nicht so der Gartentyp, jetzt mal ganz ehrlich. Und mit einem elektrischen Fondue kann man Schokolade schmelzen und Schoko-Pommes machen. Ach Prinzessin, ich vermisse dich jetzt schon.

Ich drücke auf Agathes Knöpfchen am Po und sehe die Puppe an.

„Geht alles gut?“, frage ich. „Kommt die Lena gut an?“

Agathe nickt zweimal kräftig mit dem Kopf und ich bin etwas beruhigter.

„Sehen Sie“, sagt Dona Ermelinda, die plötzlich hier bei mir im Arbeitszimmer steht. „Kaum ist das Kind weg, reden Sie wieder mit der Puppe.“

Ich sage nichts.

„Ist nicht gut dieses Alleinsein“, sagt Dona Ermelinda. „Ist nicht gut.“

Sie erzählt noch ein bisschen von ihrer Tante aus Águeda, die jetzt in Porto wohnt, fragt, ob ich mal wieder in Porto gewesen bin, obwohl sie ja weiß, dass ich das nicht war, nicht wahr, es ist nämlich mehr sowas wie eine Miguel-Moreira-Erinnerungsfrage, und geht dann.

Und ich fange mit meinen Übersetzungen an. Endlich. Wurde jetzt aber auch Zeit. Vielleicht sollte ich mit dem elektrischen Fonduegerät anfangen. Ich überfliege die Anleitung. Da sind sogar Rezepte drin. Und zwar ziemlich leckere Rezepte. Und schon lese ich mich in diesen Rezepten fest, statt zu übersetzen. Fondue Bourguignonne ist so richtig was für die Fleischesser. Besteht aus Fleisch und Pickles. Na ja Pickles sind natürlich auch eine Art Gemüse, irgendwie, wenn man´s ganz genau nimmt. Ein Rezept für eine Käsefondue mit zwei Sorten Käse, Weißwein und Kirschwasser. Ein Rezept, das lecker klingt, aber schon schwer im Magen liegt, wenn man nur die Zutatenliste liest. Obwohl andererseits natürlich das Kirschwasser den Käse ja wieder auflöst, und das Rezept im Grunde ausgewogener ist als es auf den ersten Blick aussieht. Und ein chinesisches Fondue. Zuerst gart man Gemüse in einer Brühe und verfeinert das Ganze mit Sherry. Dann schneidet man Hähnchenbrustfilet, Schweinefilet und Kalbsfilet in hauchdünne Scheibchen. Dann werden die Fleischstückchen in der Brühe gegart und mit Sojasoße gegessen.

Das klingt so richtig gut, das würde ich ja gerne mal essen. Das hätte ich schön mit der Prinzessin machen können. Den Sherry hätten wir dann natürlich weggelassen.

 

Und plötzlich ein Videocall. Ich nehme ab. Da lacht die Prinzessin aus meinem Bildschirm, sie ist also glücklich gelandet, na Gott sei Dank. Morgen fährt sie zu ihrer Mutter, aber heute ist sie noch bei Paul. Die Prinzessin wirft mir einen Kuss zu und schneidet Faxen. Hinter ihr steht Paul. Es ist Wochen her, seit ich Paul gesehen habe, wir haben meist nur gechattet, fast immer ohne Kamera. Er sieht ganz fremd aus. Er hat die Haare jetzt ganz kurz, also so richtig millimeterkurz. Er schiebt die Prinzessin zur Seite und sagt: jetzt lass mich mal.

„Vielen Dank, dass du so toll auf Lena aufgepasst hast“, sagt Paul.

„Ja“, sage ich.

„Es hat ihr richtig gut gefallen“, sagt Paul.

„Mir auch“, sage ich.

„Sie sagt, bei dir ist es viel schöner als bei der Oma“, sagt Paul.

Na das will ich aber auch hoffen.

„Danke“, sage ich.

„Sie ist ganz begeistert von deiner Freundin, dieser Clara, die die Bücher schreibt“, sagt Paul.

„Ja“, sage ich.

„Und ihr habt ja richtig viel erlebt“, sagt Paul.

„Ja“, sage ich.

„Ist was?“, sagt Paul.

„Nein“, sage ich. Was soll sein?

„Du bist so einsilbig“, sagt Paul.

„Nein“, sage ich.

Aber bin ich irgendwie doch. Ich glaube, es ist der Schreck plötzlich Paul wieder zu sehen, nachdem ich ihn so lange nicht gesehen habe, das hat mir irgendwie die Sprache verschlagen.

„Doch“, sagt Paul. „Du bist einsilbig. Ist alles in Ordnung?“

„Alles in Ordnung“, sage ich. Das sind ja immerhin schon drei Worte.

„Jetzt komm“, sagt die Prinzessin zu Paul. „Ich hab Hunger.“

„Ich muss“, sagt Paul. „Ich muss mich um die Prinzessin kümmern. Wir skypen, okay?“

„Okay“, sage ich.

Wir verabschieden uns und Paul und die Prinzessin sind weg. War ja auch komisch, ihn da jetzt wiederzusehen. So fremd. Mit diesen ganz kurzen Haaren. Ich hatte ihm eigentlich sagen wollen, dass seine Tochter ein ganz wunderbares Kind ist. Aber das kann ich ja noch tun. Ich werde ihm eine Nachricht schicken. In seine Facebook-Fangbox. Ich mache Facebook auf und schreibe.

Lieber Paul. Die Prinzessin ist ein ganz wunderbares Kind. Das hast du wirklich gut hingekriegt. Beijinhos Anna

Und weg ist Paul aus meinem Leben. Er skypt nicht, obwohl er das versprochen hat, aber das kenne ich ja schon. Er schickt keine Nachricht auf Facebook. Er ist nicht mal mehr online. Ich stürze mich in meine Übersetzungen.