März

 

Plötzlich wird mir klar: Ich bin eine wandelnde Telenovela, und zwar für meine Nachbarin Dona Ermelinda. Eine Telenovela mit einer täglichen Fortsetzung und deswegen kommt sie jeden Tag zwischen elf und zwölf vorbei, um mal zu hören, wie es mir so geht mit meinem Leben. Ist ja nicht weit, sie wohnt gleich die Straße runter, im nächsten Haus. Das Thema der Telenovela ist Anna und ihr neues Leben als Witwe. Gegeben werden die Überwindung der Trauer und die täglichen Verwicklungen. Nebendarsteller sind der schmierige Witwer und der perfekte Single. Da kann ich noch froh sein, dass sie nichts von Paul weiß.

Paul ist in meinen Gedanken und in meinem Herzen und vielleicht auch in meiner Seele, irgendwie, aber er ist für Dona Ermelinda nicht sichtbar, denn er wohnt weit weg. Und zwar richtig weit weg. In Vancouver. Das sind gute achttausend Kilometer, denn soweit sind Monsanto und Vancouver voneinander entfernt, jedenfalls ungefähr. Paul ist blond und hat blaue Augen, Paul ist total nett und hat Humor. Paul ist Übersetzer, genau wie ich, aber er übersetzt nicht nur, er arbeitet auch als Tourguide und als Statist in Filmen, denn Paul sieht auch noch gut aus und in Vancouver wird ja andauernd gefilmt.

So einen Mann sollte ich mir sofort aus dem Kopf schlagen, es sind ja nicht nur die achttausend Kilometer, die uns trennen, es sind auch noch die elf Jahre. Nach unten. Wenn man es von mir aus betrachtet. Und das ist wirklich peinlich. Ich meine richtig peinlich. Und deshalb bin ich ja so froh, dass Dona Ermelinda nichts davon weiß. Ich erzähle ihr viel, aber eben doch nicht alles. Und von Paul habe ich ihr lieber nichts erzählt.

Paul ist ein Souvenir meiner Reise, sozusagen. Und die Reise habe ich gemacht, um auf andere Gedanken zu kommen. Alle haben gesagt: Häng nicht nur zu Hause rum, mach was, gehe auf Reisen, lerne neue Leute kennen, das bringt dich auf andere Gedanken. Und das hat es in der Tat getan. In meinem Kopf sind jetzt andere Gedanken. Gedanken an Paul.

Paul hat gesagt, wir bleiben in Kontakt und wir können ja mal skypen, denn so bleibt man heute in Kontakt, per skype. Und nun warte ich darauf, dass wir skypen, aber es wird immer nichts.

Er schickt mir einen Kaffeebecher und fragt: in einer Stunde?

Ich schicke einen Smiley und ein Ja.

Aber dann ist er plötzlich weg und nicht mehr online. Zwei Tage später ist Paul dann wieder online.

Er skypt: heute um fünf?

Ich skype zurück: heute um fünf!

Aber es wird fünf und sechs und sieben und Paul skypt nicht. Und irgendwann ist Mitternacht und er hat sich nicht gemeldet. Ich mache den Computer aus und gehe ins Bett. Ich kann nicht schlafen. Ich stehe wieder auf. Ich mache den Computer wieder an. Ich schicke Paul eine Nachricht auf Facebook, die kriegt er dann einfach irgendwann.

Nanu, nun hat es irgendwie doch nicht geklappt, obwohl ich doch online war – na dann eben ein andermal, du meldest dich einfach, wenn du Zeit und Lust hast. Wer hätte gedacht, dass skypen so kompliziert sein kann!!! Meinst du, wir kriegen das nochmal hin? Beijinhos, Anna

 

*

 

Am nächsten Morgen sehe ich als Erstes nach, ob eine Nachricht auf Facebook da ist, ich weiß nicht, wie viele das morgens so machen, bestimmt ziemlich viele, das ist doch krank, das ist doch richtig krank, und es ist keine Nachricht da, natürlich nicht, kann ja gar nicht, ist ja klar, schon wegen dem Zeitunterschied. Da – ein skype – jemand ruft mich an. Mein Herz macht einen Sprung. Ich klicke skype an – es ist meine Mutter und mein Herz springt zurück. Sie will nur wissen, wie´s mir geht. Gut. Sie will wissen, wie´s Dona Ermelinda geht. Auch gut. Und Dona Ermelindas Mutter und Sr. José? Auch gut. Dann drückt sie irgendwelche Knöpfe und ist einen Moment weg und dann ist sie wieder da und dafür, dass sie schon über achtzig ist und im Altenheim wohnt, skypt sie ganz gut. Im Grunde besser als Paul. Weil der sich ja nicht meldet.

 

Dabei fand Paul mich auch nett. Ich habe ihn auf dem Treffen der Deutschen in Vancouver kennengelernt, zu dem mich Nicki mitgeschleppt hat. Damit ich andere Leute kennenlerne und auf andere Gedanken komme. Wir haben uns in der Backstage Lounge getroffen, auf Granville Island. Nicki wohnt in der achtzehnten Straße in Dunbar und wir sind den ganzen Weg zu Fuß gegangen, das ist ein ganzes Stück. Aber schön, weil man so viel sieht. Läden und Leute und überhaupt. Wir sind den ganzen West Broadway runter und haben Läden geguckt. Nicki ist schon seit sieben Jahren hier. Sie unterrichtet Deutsch an einer Sprachenschule und sie will für immer hier bleiben. Ich kenne Nicki noch aus Hamburg, jetzt wohnt sie in Vancouver, Kanada, und ich wohne in Monsanto, Portugal, und wer hätte gedacht, dass wir uns je wiedertreffen. Ist schon wirklich reichlich lange her, dass wir auf der Alster Kanu gefahren sind. Nicki ist auch zehn Jahre jünger als ich, aber bei ihr macht es nichts, da ist das irgendwie anders. Das Treffen war ganz nett, zehn Deutsche, die seit Jahren in Vancouver leben und arbeiten. Und der Netteste von allen war Paul.

Paul hat mich gleich am nächsten Tag angerufen und gefragt, ob ich mit ihm auf den Grouse Mountain fahren will. Er ist ja Tourguide, also kann er da umsonst rein und er kann einen Gast mitnehmen und wir sind los. Man fährt mit der Seilbahn hoch, und oben lag gut Schnee, obwohl es unten in der Stadt eigentlich warm war. Und weil Dezember war, haben wir das Rentier bewundert und den Weihnachtsmann angesehen. Wir haben kein Foto mit dem Weihnachtsmann gemacht, weil wir ja erwachsen sind, nicht wahr. Aber ich bereue das jetzt, denn wenn wir Fotos gemacht hätten, hätte ich jetzt ein Foto von Paul und mir. Und dem Weihnachtsmann, aber das hätte ich in Kauf genommen, dafür, dass ich ein Foto mit Paul habe. Wir haben uns in der Cafeteria Kaffee geholt und Blueberry Muffins und uns auf die Terrasse gesetzt und die Muffins gegessen und den Kaffee getrunken. Von der Terrasse hat man einen fantastischen Blick, ganz Vancouver liegt einem zu Füßen, und ich habe Fotos von der Aussicht gemacht, und Paul hat gesagt: Ich wusste, dass dir das gefällt, meine Mutter ist auch immer ganz begeistert.

Und da wusste ich: egal, wie nett Paul ist, und egal, wie jung ich vielleicht aussehe, und egal, wie gut wir uns verstehen, da werden immer diese elf Jahre sein. Und da gibt es nichts, was man machen kann.

Es klopft. Das ist Dona Ermelinda. Und alles, was ich ihr erzählen kann, ist, dass ich mit meiner Mutter geskypt habe. Dona Ermelinda hält ein Dutzend Eier in der Hand und sieht mich prüfend an.

„Irgendwas nicht in Ordnung?“, sagt Dona Ermelinda. „Sie sind so still?“

„Ach nö, alles okay,“ lüge ich leichthin.

So weit gehen selbst Dona Ermelindas Kontakte nicht, als dass sie was von Paul wissen könnte. Aber ihre Kontakte sind vielfältig und weitgestreut. Sie hat ein gutes Informationsnetz, und ihre Informanten sind ihre Verwandten. Eine Schwester in der Algarve, die in eine große Familie in Faro eingeheiratet hat. Ein Cousin in Lissabon, eine Cousine an der spanischen Grenze. Und der Sohn arbeitet schon seit vielen Jahren in Paris. Es gibt eine Theorie, dass jeder Mensch jeden anderen Menschen auf dieser Welt über sechs Kontakte kennt. Bei Dona Ermelinda dürfte das Verhältnis eher eins zu drei sein, jedenfalls, was die Iberische Halbinsel (die ganze portugiesische Verwandtschaft und eine Tante in Madrid) und Frankreich (der Sohn, die Schwiegertochter, die Enkelkinder) betrifft. Ich denke, sie wartet noch auf irgendwas, irgendeine kleine Information. Ich überlege und dann fällt mir ein: Ich gehe heute Abend mit Miguel Moreira essen. Das ist eine Information. Viel mehr passiert in diesen Telenovelas doch auch nicht, nicht wahr.

„Miguel Moreira kommt heute Abend und wir gehen in Viseu essen“, sage ich. „Er lädt mich ein, ins Restaurante Congalesa“.

Dona Ermelinda strahlt.

„Ja, der Miguel ist ein netter Mann“, sagt sie.

„Ja“, sage ich.

„Und er macht einen so zuverlässigen Eindruck“, sagt Dona Ermelinda.

„Ja“, sage ich.

„Ist schon schön, wenn man selber über sein Leben bestimmen kann und tun und lassen kann, was man will“, sagt Dona Ermelinda. „Und Sie haben ja das Auto und können rumfahren und überhaupt ... Aber irgendwann sehnt man sich dann doch auch wieder nach einer Schulter zum Anlehnen.“

Sie drückt mir das Dutzend Eier in die Hand und geht rüber zu ihrem Garten.

Klar hätte ich auch gerne wieder mal eine Schulter zum Anlehnen. Das schon. Aber es soll eben nicht irgendeine Schulter sein. Und schon gar nicht die vom schmierigen Witwer, das sagt auch Dona Ermelinda. Der perfekte Single wäre perfekt. Der perfekte Single ist der Favorit von Dona Ermelinda. Der perfekte Single ist Miguel Moreira. Er ist in meinem Alter, wohnt in Porto, ist finanziell unabhängig, ist auch noch Architekt und außerdem ein total netter Mann. Er lädt mich zum Essen ein, er geht mit mir ins Kino und er bringt mir Billardspielen bei. Und ich frage mich, warum nicht der? Warum kann ich mich nicht einfach in Miguel Moreira verlieben?

 

Und am Nachmittag ist dann plötzlich eine Antwort von Paul da. Auf Facebook. Als Antwort auf meine Nachricht. Paul schreibt:

Ich musste gestern zum Casting. Dann war ich noch am Jericho Beach. Zum Skypen braucht man etwas Geduld. Besonders mit den Zeitverschiebungen ... Viele Grüße und nicht gleich aufgeben ...

Ich lese das und mir fällt sofort eine Antwort ein und schon fange ich an zu tippen und zu tippen und zu tippen und kann überhaupt nicht mehr aufhören.

 

Lieber Paul, du schreibst zum Skypen braucht man Geduld. Ach Paul, was weißt du schon von Geduld. Geduld ist genau das, was ich nicht mehr habe. Ich habe keine Geduld mehr, ich habe alle meine Geduld aufgebraucht in den letzten zwei Jahren. Und nun ist nichts mehr übrig. Meine Geduld ist aufgebraucht in Wartezimmern von Arztpraxen und Krankenhäusern. Meine Geduld ist zerfressen worden von Ungewissheit und Angst. Geduld, Paul – du benutzt das Wort, wie man es eben so benutzt, und wie ich es bestimmt auch benutzt habe, vorher. Vor Jans Krankheit. So wie wir es alle benutzen, ohne nachzudenken. Nun habe doch ein bisschen Geduld. Geduld nur Geduld ...

Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man auf das Ergebnis einer Biopsie wartet? Wenn jede Minute sich streckt und zieht und nicht enden will? Wenn du die Uhr in die Hand nimmst, weil du denkst, die Batterie ist kaputt? Aber es ist nicht die Batterie, die Batterie ist gut, die Zeiger bewegen sich, du bist kaputt, dein Zeitgefühl, du möchtest wissen, was die Zukunft bringt und möchtest es doch nicht wissen, das heißt, du möchtest wissen, dass die Zukunft Gutes bringt und genau das wird sie nicht tun. Und dann nach all dem geduldigen Warten kommt der Anruf des Arztes und er hat kein Ergebnis, weil irgendwas ist schief gelaufen mit dieser Biopsie und sie müssen sie wiederholen und du fragst den Arzt: Wie kann denn das angehen und er sagt nur, wir haben einen Termin für Montag.

Und das bedeutet dann wieder ein ganzes Wochenende Geduld. Es bedeutet, wieder die Tasche fürs Krankenhaus packen. Dieses Mal muss Jan drei Tage bleiben, sie wollen es dieses Mal sehr gründlich machen, es soll nicht noch mal was schiefgehen. Und bis sie dann das Ergebnis haben, wird wieder Zeit vergehen und im Grunde wird es eine ganze Woche dauern, bis sie bestätigen, was du in deinem Inneren längst ahnst, aber nicht wissen möchtest. Es wird kein gutes Ergebnis sein. Und wenn deine Geduld bis dahin gereicht hat, und du hast das schlechte Ergebnis, und ihr versucht damit zu leben, dann kommt die Behandlung.

Ach Paul, du weißt vermutlich nicht, wie lange so eine Chemo dauert. Ich wusste es ja auch nicht. Jan wusste es auch nicht. So eine Chemo dauert den ganzen Tag. Da braucht es viel Geduld. Erst die ganzen Untersuchungen, dann die ganzen Vorbereitungen. Sie versuchen, es noch ganz nett zu gestalten, die Schwestern scherzen mit den Patienten und wir Begleitpersonen bekommen einen Essensbon für die Ärztekantine. Das Krankenhaus hat einen großen Park und es ist Frühjahr. Es ist das alte Kolonialkrankenhaus in Coimbra. Es wirkt wie ein Museum. Es hat verschachtelte Gänge und einen komplizierten Aufbau und es braucht eine ganze Zeit, bis man sich dort zurechtfindet. Von nun an werden wir einmal in der Woche einen ganzen Tag dort verbringen. Jan in einem Liegesessel am Tropf, und langsam tropft das schwere Gift in seinen Körper und man hofft, dass es die bösen Zellen tötet und die guten leben lässt. Das Gift muss langsam einlaufen, sehr langsam einlaufen, es dauert Stunden, den ganzen Tag, da braucht es Geduld. Eine Geduld, die man aufbringt, weil man Hoffnung hat.

Ich gehe derweilen draußen im Park spazieren, wo die Gärtner den Sommer vorbereiten und kann mich nicht am Frühling freuen. Was soll das für ein Frühling sein, der einem so viel Geduld abverlangt? Ich trinke meinen Kaffee an dem kleinen Kiosk. Der Besitzer begrüßt mich mit Handschlag und macht mir meinen Kaffee so, wie ich ihn am liebsten trinke – einen extra-dunklen Galão mit frischem Kaffee – ohne dass ich es sagen muss. Das ist kein gutes Zeichen. Es zeigt, wie oft ich hier in diesem Kiosk Kaffee bestellt habe. Wie oft ich in diesem Krankenhaus gewesen bin. Beim Mittagessen dürfen wir rein und den Angehörigen beim Essen helfen. Das Fleisch klein schneiden und die Apfelsine schälen. Das Essen ist sogar ganz gut. Ich sage, iss doch was. Aber Jan sagt: Mir ist nicht nach Essen. Aber du musst was essen, sage ich, und es sieht doch lecker aus. Dann iss du´s doch, sagt Jan. Ich habe schon in der Ärztekantine gegessen, sage ich. Das hier ist für dich.

Nach der Chemo dann noch der Besuch beim Arzt. Zurück durch all die Gänge und wieder Warten. So viele Leute, die so geduldig warten. Es ist eine nette Ärztin, sie ist auch wirklich gut, sie nimmt sich für jeden Zeit, das erfordert Geduld. Von uns allen. Von ihr, von den Patienten, von den Begleitpersonen.

Ach Paul – und da kommst du mir mit Geduld beim Skypen. Nein. Ich habe keine Geduld mehr. Alle meine Geduld ist aufgebraucht in Warten und Hoffnung. Weißt du, wie viel Geduld nötig ist, um auf den Tod zu warten? Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn du weißt, dass der andere nicht mehr lange da sein wird? Jetzt plötzlich möchtest du, dass die Minuten sich ziehen, nicht wahr? Noch ein bisschen länger soll jetzt alles sein. Die Zeit verliert jede Kontur, sie existiert nicht mehr, du bist einfach da, an seiner Seite, und es gibt nicht mehr viel zu reden, weil alles was besprochen werden musste, besprochen worden ist, immerhin, das haben wir richtig gemacht. Und du weißt, was bis jetzt nicht gesagt worden ist, das muss vielleicht nicht mehr gesagt werden. Und es ist auch gut, denn man kann gar nicht mehr viel reden, Jan nicht, weil er keine Luft bekommt und jede Bewegung mühsam ist, und ich nicht, weil mir die Tränen den Hals zudrücken. Solange wir zu Hause sind, liege ich einfach viel auf dem Bett neben ihm. Es gibt nichts mehr anderes zu tun. Einfach in Geduld da sein. Später im Krankenhaus sitze ich neben dem Bett. Ich halte seine Hand. Unsere Vergangenheit umgibt uns, die Gegenwart verschwimmt und eine Zukunft wird es nicht mehr geben. Und da kommst du mir und verlangst von mir Geduld.

 

Oha - ich sehe ein, da habe ich mich jetzt hereingesteigert, das kann ich Paul nicht schicken, das hat er ja auch nicht so gemeint, das kann er natürlich nicht wissen, und natürlich schicke ich das nicht ab. Auf keinen Fall schicke ich das ab. Das geht überhaupt nicht. Ich schreibe eine neue Nachricht, eine kleine, neue, harmlose Nachricht, eine, die man abschicken kann.

Hi Paul – kein Problem – ab Oktober bin ich wieder in deiner Zeitzone, dann können wir ja skypen – beijinhos Anna

Pauls Antwort kommt praktisch postwendend.

Hi Anna – so war das nicht gemeint – big hugs Paul

Und dann sogar noch eine zweite Nachricht, ein Foto, zwei Enten im Hafen, am Boot. Das sind die Enten von Granville Island, ich fand sie so süß damals, aber ich konnte kein Foto machen, weil die Batterie der Kamera leer war.

Mit anderen Worten, jetzt ist eine Antwort da, und der Scheißball ist wieder bei mir in meinem Feld, und ich muss mir jetzt was Nettes anziehen, weil ja gleich Miguel kommt und wir essen gehen.

 

*

 

Am nächsten Morgen sehe ich mir doch glatt das blöde Entenfoto zum fünften Mal auf Facebook an, statt die Übersetzung zu machen, die meinen Kühlschrank füllt. Indirekt. Das Wörterbuch liegt aufgeschlagen neben mir, ich bastel an Vokabeln wie Schnittstelle, Verkabelung, Erdung und Elektrozubehör. Von außen sieht es so aus, als ob ich arbeite, aber die Wahrheit ist: Auf dem Bildschirm ist schon wieder das Entenfoto. Ehrlich gesagt, jetzt beim genauen Hingucken finde ich, es ist gar kein richtiges Foto, es ist eher ein Drudel. Eine von diesen Zeichnungen, die glaube ich aus der Mode gekommen sind, und wo man einen ungewöhnlichen Ausschnitt von irgendwas sieht und raten muss, was es denn um Gottes Willen sein soll.

Der Entendrudel zeigt eine Ecke von einem Boot und zwei Enten. Oder besser: anderthalb Enten, denn die eine hat keinen Kopf. Und beim noch genaueren Hinsehen stelle ich fest: Das Weibchen hat keinen Kopf.

Mit anderen Worten, Paul schickt mir ein Entenfoto – weiß er, was Enten für mich bedeuten? Sie bedeuten Paare und Treue, ich denke, hoffe und flehe, er weiß es nicht – wo das Weibchen kopflos ist. Und in der Tat, das hat er gut getroffen. Denn das bin ich doch gewissermaßen und allemal Paul gegenüber. Kopflos. Ich beschließe den Entendrudel zu ignorieren, aber kann nicht verhindern, dass meine Finger eine Antwort in die Facebook-Seite tippen.

Hi Paul, nettes Foto, süße Enten. Allerdings die eine hat keinen Kopf ... mmhh ...

Und wutsch ist die Nachricht losgeschickt und ich habe keine Ahnung, wie man sowas wieder ungeschehen machen kann, wo zum Teufel kann man solche aus Versehen abgeschickten Facebook-Nachrichten wieder löschen, ich weiß es nicht, und ehe ich mich versehe, habe ich die Nachricht gleich nochmal geschickt.

Jetzt steht es da gleich zweimal, das ist die Strafe, wenn man etwas benutzt, ohne es richtig zu beherrschen. Ich hoffe auch, dass man nicht sehen kann, wie oft ich diese Seite aufgerufen habe. Ist das möglich? Kann man das sehen, wie oft der andere die Nachrichten liest? Und wenn ja, hoffe ich doch, Paul hat zu sowas gar keine Zeit. Und außerdem hat er an sowas überhaupt kein Interesse. Männer sind da schließlich anders. Und das müsste ich doch eigentlich wissen. Erstens, weil ich das in meinem Alter nun wirklich gelernt haben sollte, und zweitens, weil sie auf dem Rückflug von Vancouver womöglich extra für mich – und natürlich auch gleich für alle anderen Frauen an Bord – noch mal den grundlegenden Lehrfilm gezeigt haben, den man sich als Frau in jedem Alter mindestens einmal jährlich ansehen sollte, einfach um es sich immer wieder in Erinnerung zu rufen: He Is Just Not That Into You.

Aus Ende. Das ist es. In klaren Worten. Und da gibt es nichts dran zu deuteln und zu deuten. Und im Grunde braucht man den Film gar nicht zu sehen, die Botschaft steckt im Titel, aber vermutlich ist es besser, wenn man den Film sieht, damit die Botschaft sich auch einprägt.

Und die Botschaft lautet: Wenn ein Mann nicht anruft, dann nicht, weil er nicht wählen kann oder die Nummer nicht findet oder auf eine bessere Gelegenheit wartet, sondern weil er einfach nicht anrufen will. Das Gleiche trifft natürlich auch auf Skypen zu. Und in meinem Alter sollte ich das alles längst wissen. Aber – Alter schützt vor Torheit nicht, tja, leider trifft auch das zu.

Und da ist auch schon Dona Ermelinda und winkt vom Eingang. Ich werfe noch einen bedeutsamen Blick in das Wörterbuch, tue so, als ob ich tief aus Schnittstellen und Verkabelungen und anderen Elektro-Wörtern auftauchen würde und gehe zur Tür.

„Sie hatten gestern Besuch“, sagt Dona Ermelinda.

„Ich weiß“, sage ich. „Miguel war hier.“

„Nein, nein“, sagt Dona Ermelinda. „Der andere war wieder hier.“

„Gut, dass ich nicht da war“, sage ich.

„Ich soll Ihnen das hier geben“, sagt sie und drückt mir einen Zettel in die Hand. Da stehen sein Name und eine Telefonnummer. Der Witwer vom Deutschentreff hier in Viseu. Er heißt Hans-Dieter, das wusste ich schon. Jetzt habe ich auch seine Telefonnummer, die habe ich schon mal weggeworfen, das werde ich mit dieser hier auch tun.

„Er sagt“, sagt Dona Ermelinda. „Sie sind Witwe und er ist Witwer und Sie wären ja ganz hübsch und nett, und das würde doch gut passen.“

Ich seufze. Der sucht schon lange eine Frau, die für ihn kocht und putzt und da ist. Das könnte dem so passen, dass ich mich da an seinen Herd stelle.

„Mein José hat auch gleich gesagt: das wäre doch jemand für Dona Anna“, fährt Dona Ermelinda fort.

Ich schüttel meinen Kopf. Dann lieber alleine. Für den Rest des Lebens, wenn´s sein muss. Ist das ungerecht gegenüber diesem Hans-Dieter? Aber hallo.

„Aber ich habe meinem José gleich gesagt: Der ist nichts für unsere Dona Anna.“

Ich nicke.

„Aber der Nette aus Porto, der wäre was“, sagt Dona Ermelinda.

Ich nicke nicht.

„Und er ist den ganzen Weg nach Porto zurückgefahren? Mitten in der Nacht? Bei dem Wetter?“

Ich nicke wieder. Dona Ermelinda sagt nichts weiter, aber ich kann mir denken, was sie denkt. Und es sieht nicht so aus, als ob meine Züchtigkeit als Witwe hier irgendwelche Pluspunkte sammeln würde. Ganz im Gegenteil.

Wer hätte gedacht, dass Männer nochmal so eine Bedeutung in meinem Leben bekommen. Ich dachte in der Tat, damit wäre ich durch. Dreißig friedliche Ehejahre, in denen andere Männer keine Rolle spielten. Und jetzt das hier. Kein Wunder, dass Paul mir Fotos von kopflosen Entenweibchen schickt, die sich halb hinter Booten verstecken. Hinter halben Drudel-Booten, um genau zu sein.

 

*

 

Am nächsten Morgen stehe ich auf und beginne den Tag mit guten Vorsätzen. Ich werde fleißig übersetzen, dann muss ich aufs Gericht, dolmetschen, und danach könnte ich mich mit Clara auf einen Kaffee treffen. Clara ist in meinem Alter, Single wie ich und überlebt materiell und seelisch, indem sie Kitschromane schreibt. Jeden Monat einen.

Für mich liegt an: Anleitung für einen Wasserkocher, für einen Häcksler, drei Führerscheine, eine Scheidung und ein Stapel handgeschriebene Briefe. Diese Briefe hat eine Deutsche aus München an einen Portugiesen in Mangualde geschrieben. Auf Deutsch. Und nun hat seine Frau die Briefe im Schrank entdeckt und möchte natürlich wissen, was da drin steht. Und deswegen ist sie damit zur Sprachenschule und die haben sie mir gegeben. Um sie ins Portugiesische zu übersetzen. Ob das legal ist? Keine Ahnung. Die Frau möchte jetzt wissen, ob ihr Mann eine Affäre mit dieser Deutschen hat. Ein kurzer Blick in die Briefe und ich weiß: Ja, sie hat. Und sie weiß das plastisch zu schildern. Bin mir gar nicht sicher, ob ich da so richtig Passendes im Wörterbuch finde. Bin fast dabei mich festzulesen, die Frau in München hat´s wirklich richtig erwischt und sie ist sich nicht zu schade, das noch gründlich schriftlich auszuführen. Wenn hier eine Frau ein kopfloses Entenweibchen-Foto verdient hat, dann doch diese Frau.

Ich nehme mich zusammen und komme zu meinem Tagesplan zurück. Der Tagesplan heißt: übersetzen und mit Paul abschließen. Damit fange ich an.

Ich glaube, ich weiß, was das mit Paul ist. Meine Seele übt. Nach dreißig Jahren Ehe und fast einem Jahr Trauer hätte ich irgendwie gerne wieder eine Beziehung einerseits und andererseits vielleicht auch lieber nicht, und was liegt da näher als sich ein Objekt der Begierde in weiter Ferne zu suchen, einen Mann, den man nie und nimmer kriegen kann. Einen, der viel zu jung ist. Einen, der viel zu weit weg wohnt, und einen, der nicht mal einfach so reisen kann, weil er noch das Prinzesschen am Hals hat, das 13-jährige Souvenir aus seiner geschiedenen Ehe.

Und deswegen gönne ich mir noch ein kurzes Schwelgen in Erinnerungen mit Paul und dann ist aber wirklich Schluss damit.

 

Nach dem Ausflug auf den Grouse Mountain bin ich ins Haus auf Vancouver Island gefahren. Das Haus haben wir gekauft, weil Jan so gerne in Kanada war, als Basis für seine Angeltouren. Und jetzt gibt es das Haus und ich fahre hin, weil alle sagen, ich soll reisen und auf andere Gedanken kommen. Und übersetzen kann ich schließlich überall, weil es egal ist, wo man online ist und übersetzt. Vancouver Island klingt nach Nähe Vancouver, aber das ist nicht wirklich Nähe Vancouver, das Haus ist eine gute Tagesreise von Vancouver entfernt. Und auf dem Rückweg bin ich dann noch mal eine Woche in der Stadt geblieben und habe wieder bei Nicki gewohnt.

Und plötzlich war ich drei Tage mit Paul unterwegs, ohne es so recht zu merken. Wir sind im Wald an der Uni spazieren gegangen, ein riesiger Wald wie ein Dschungel und das mitten in der Stadt, wir sind durch Downtown gelaufen, wir haben bei Chapters Bücher geguckt und im Corner Café Kaffee getrunken. Wir passen erstaunlich gut zusammen. Er ist ein jüngerer Bruder, ich bin eine ältere Schwester, das ist gut, da ist ein eingespieltes Muster da. Wir hören beide Bob Dylan und sind beide Fans von Kiki Lima. Und wir lieben beide Boris Vians Herbst in Peking.

Zusammensein mit Paul ist easy und fühlt sich gut an. Wir können gut zusammen reden, aber wir müssen nicht andauernd reden. Klar gibt es auch Unterschiede. Filme zum Beispiel. Paul würde nie einen Film sehen, in dem nicht ein paar Tote und eine anständige Autojagd vorkommen. Ich dagegen bin mit den anspruchslosen Rosamunde-Pilcher-Filmen am Sonntagabend im Zweiten supergut bedient. Aber trotzdem – da war was. Ich habe es gefühlt. Am meinem letzten Tag gehen wir morgens bei White Spot frühstücken, damit ich noch mal Eggs Florentine essen kann und von Kanada Abschied nehmen, und nachmittags muss ich auf dem Flughafen sein. Nicki wird mich hinfahren. Paul und ich verabschieden uns vor dem White Spot. Ich versuche, ihn vorsichtig nach Portugal einzuladen, nur so als Andeutung. Paul sagt, mit dem Reisen ist es schwierig, er hat ja jedes zweite Wochenende die Prinzessin und deswegen kann er praktisch nicht weg aus Vancouver. Und ich weiß: Das war´s.

Wir verabschieden uns. Wir sagen, wir skypen. Ich versuch´s, aber Paul versagt. Und deswegen ist jetzt Schluss damit. Das waren meine letzten Gedanken an Paul. Paul ist aus meinem Leben ab jetzt gestrichen. Ich sehe noch schnell in meine Facebook-Seite, ehe ich mit der Arbeit anfange. Da ist eine Nachricht von Paul wegen dem kopflosen Entenweibchen. Er schreibt: Da war nix zu machen. Die kam schon so ...

Da hat er völlig recht. Genauso war´s. Ich sortiere die Papiere auf dem Schreibtisch und fange aus pädagogischen Gründen mit der Scheidung an. Um mir noch mal so richtig klarzumachen, was passiert, wenn so eine Beziehung schief geht.

 

*

 

Clara ist klasse. Clara ist in meinem Alter, wohnt in Viseu, schreibt Heftchenromane für einen deutschen Heftchenverlag und kann ganz gut davon leben, dass sie die Herzen von hübschen Frauen in den Armen von starken Männern schmelzen lässt. Clara kleidet sich wie eine späte Pippi Langstrumpf. Mir macht das nichts aus, ich zeige mich gerne mit Clara in der Öffentlichkeit, auch wenn sie eine Pünktchenhose und einen roten Hut trägt, so wie heute. Aber ich bezweifel, dass die Männer, die sich im Datingcafé als junggeblieben beschreiben und daher eine jüngere Partnerin suchen, was mit Claras Stil anfangen könnten. Bin gespannt, was passieren würde, wenn man bei so einem Date, wo der Mann ja extra gesagt hat: Jung ist wichtig, seine Buntstifte auspackt und anfängt die Papiertischdecke zu bemalen. Ich glaube, diese Männer meinen eher das Baywatch-jung und nicht Buntstifte und Pünktchenhosen. Ich glaube, das mit den Buntstiften werde ich mal ausprobieren, da hätte ich richtig Lust drauf. Sollte ich je auf ein Date gehen.

Und plötzlich wird mir klar: Ich war noch nie in meinem Leben auf einem Date. Wie haben wir das früher gemacht? Da war das irgendwie anders. Und dann war ich ja jahrelang gut untergebracht in meiner Ehe. Und nun ist da eine völlig neue Welt entstanden in der Zwischenzeit, mit Speed Dating und Datingcafé, mit chatten und skypen und Dates. Und nun weiß ich überhaupt nicht mehr, wie das geht. Ich packe es auf meine mentale Liste, die Liste der Dinge, die ich noch erleben möchte, ehe ich auch sterbe. Ich möchte ein Date. Das mit den Buntstiften, da bin ich mir noch nicht so sicher, ob das dann eine gute Idee ist, wenn ich denn dann mal überhaupt ein Date haben sollte. Das lasse ich dann vielleicht doch lieber sein.

Ich liebe auch Claras Wohnung. Sie ist im vierten Stock und man hat einen tollen Blick auf Viseu. Die Wohnung ist nicht groß, aber sehr gemütlich eingerichtet. Clara hat Mobiles in allen Zimmern und Windspiele auf dem Balkon. An normalen Tagen hört man die Melodie der Windspiele, aber an Tagen mit starkem Wind muss Clara sie zusammenbinden, sonst beschweren sich die Nachbarn und Clara liegt an guter Nachbarschaft. Clara wohnt mitten in der Stadt, direkt am Eispalast. Der Eispalast ist nicht die Wohnung der Schneekönigin, wie man vielleicht denken könnte, sondern ein Einkaufszentrum mit einer Schlittschuhbahn, wo man das ganze Jahr lang Schlittschuhlaufen kann. Drinnen und überdacht und im Warmen. Der Eispalast ist mein Lieblings-Einkaufszentrum, und da meine alternative Phase vorbei ist, kann ich das auch zugeben.

Clara geht es genauso. Manchmal denken wir gemeinsam an die Zeiten zurück, als wir in selbst eingefärbten lila Latzhosen Büchertische für die Frauenwoche organisiert haben. Wir haben uns nicht gekannt, wir haben sogar in verschiedenen Städten gewohnt, Clara in Bremen und ich in Hamburg, und wir haben doch das Gleiche gemacht. Jetzt sind die anspruchsvollen Zeiten vorbei und wir können durch den Eispalast bummeln, ohne gleich Kapitalismus-Kritik zu üben. Das ist das Schöne am Älterwerden. Man wird gelassener, so wie es in dem Zen-Beispiel beschrieben wird. In dem Beispiel mit den Flusskieseln. Am Anfang des Flusses sind die Kiesel spitz und kantig, wenig abgeschliffen. Und am Ende des Flusses sind die Kiesel rund und glatt, abgeschliffen vom ewigen Wasser, das über sie fließt. Das sind Clara und ich. Zwei Flusskiesel, abgeschliffen vom Leben.

Wir sitzen im Eispalast und trinken Kaffee. Und weil es in letzter Zeit so viel geregnet hat und nachts so kalt war, liegt auf den Gipfeln der Serra de Estrela Schnee, das ist ein klasse Panoramablick, da macht der Eispalast seinem Namen alle Ehre.

Wir haben beide einen schönen dunklen Galão vor uns stehen und eins von diesen Puddingtörtchen, die es hier in Portugal schon immer gibt und in Deutschland jetzt auch. Pastel de nata. Außen Blätterteig, innen Pudding. Wunderbar cremig und süß und kalorienmäßig nicht gerade ein Diät-Tipp.

„Nun erzähl schon“, sagt Clara. „Wie war´s denn so da drüben?“

Ich erzähle Clara also von Vancouver. Von meinem Besuch im anthropologischen Museum und von Bill Reids Skulptur von der Entstehung der Welt. Bill Reid ist halb Indianer, halb Weißer. Er ist ein wunderbarer Künstler und diese Skulptur ein echtes Meisterstück. Ich erzähle Clara von den Farben in der indianischen Kunst, Kunst in Primärfarben und prägnanten Formen. Ich beschreibe ihr bemalte Paddel und geflochtene Körbe. Ich schwärme von den Starbuck Cafés in der ganzen Stadt und von meiner Lieblingsbuchhandlung Chapters Downtown, mit der schrägen Fassade und Büchern auf drei Stockwerken. Ich erzähle ihr von dem neuen Bewusstsein, das man spürt, von Leuten, die lokale Produkte kaufen und Bio essen. Ich erzähle ihr von meiner Fahrt mit dem Wassertaxi und von Granville Island. Granville Island würde Clara auch gefallen. So viele Ateliers und Künstler. Ich erzähle ihr von dem Laden, wo man Perlen in allen Formen und Farben kaufen kann. Und von der Markthalle, wo es unglaublich gut riecht und wo Obst und Gemüse wie Stillleben arrangiert werden. Von dem Blick aufs Wasser, wenn man draußen isst. Und wie die Möwe mir ein Stück von meinem Sandwich im Flug aus der Hand gestohlen hat. Auf dem Weg zum Mund. Und dass ich auf einem Deutschentreff war.

„Und?“, fragt Clara.

„Was und?“, frage ich zurück.

„Was macht das neue Leben?“, fragt Clara.

Na, Clara hat gut reden, sie mit ihrem verheirateten Mann, der nie seine Frau verlassen wird, und das, obwohl Clara extra für ihn hier nach Viseu gezogen ist. Weil er gesagt hat, dass er sie verlassen wird. Und dann war Clara da und er hat es nicht getan. Jetzt sagt er es nicht mal mehr. Und Clara bleibt trotzdem hier. Und alles, was sie bekommt, ist vielleicht ein- oder zweimal im Monat ein Essen in einem abgelegenen Restaurant irgendwo. Und vielleicht eine Schulter zum Anlehnen, ab und zu für eine Nacht.

„Was macht denn dein neues Leben?“, frage ich zurück, weil Angriff ist ja oft die beste Verteidigung.

Clara seufzt. Clara nimmt ihren Hut ab und streicht sich durch die Haare. Clara hat lange Haare, wunderschöne lange Haare, aber sie trägt sie meistens hochgesteckt. Sie streicht sich nochmal durch die Haare und setzt den Hut wieder auf. Wir blicken beide auf die Serra de Estrela und die schneebedeckten Gipfel. Jetzt kommt die Sonne durch und taucht die ganze Serra in ein ganz besonderes Licht. Man kann die einzelnen Städte am Fuß der Serra erkennen. Seia und Gouveia. Und ein paar weitere kleine Orte.

„Ich liebe ihn eben“, sagt Clara. „Ich kann einfach nichts dagegen tun.“

 

Und da erzähle ich ihr von Paul. Ich meine, es ist ja zu Ende mit Paul. Das heißt, es ist nicht zu Ende im Sinne von zu Ende, denn da war ja nichts mit Paul, nicht wirklich und wie kann etwas zu Ende sein, das gar nicht existiert hat, nicht wahr. Und so erzähle ich ihr, was nicht war. Und wie sehr ich mir wünsche, dass da was gewesen wäre.

Cuando el amor no es locura, no es amor” sagt Clara. “Wenn die Liebe keine Verrücktheit ist, dann ist es keine Liebe. Calderón de la Barca.”

Jetzt seufzen wir beide. Ja, in der Tat, ich fühle mich besser, und geteiltes Leid ist ja halbes Leid. Und geteilte Freude ist doppelte Freude, aber da ist im Moment wenig Freude zu teilen. Wir holen uns noch einen Galão und noch eins von diesen köstlichen Pastéis de Nata. Natürlich jede eins. Kalorien hin oder her.

„Ich habe mir letzte Woche noch mal ein paar Filme von Nancy Meyers angesehen“, sagt Clara jetzt, das läuft bei ihr unter Fortbildung, sie muss einfach wissen, was heutzutage so an Zuckerguss läuft, weil sie ja selber Zuckerguss produziert. Deswegen reicht sie Jahr für Jahr Kinokarten in ihrer Steuererklärung ein und das Finanzamt lehnt es Jahr für Jahr ab. „Zum Beispiel dieser Film mit Jack Nicholson, der alte Playboy mit den jungen Häschen, und dazu Diane Keaton, die beiden als kompliziertes Paar, du weißt schon, oder dieser andere, wo die Frau eine Affäre mit ihrem Ex-Mann hat, Jahre nach der Scheidung. Und weißt du, was mir aufgefallen ist?“

Ich schüttel den Kopf. Es ist eine rhetorische Frage und Clara möchte sie sowieso selber beantworten.

„Für Frauen über fünfzig ist Sex anscheinend die totale Ausnahme.“

„Meinst du?“, sage ich.

„Ja klar“, sagt Clara. „Sieh dir ihre Filme an. Wirste sehen. Die totale Ausnahme.“

Ich sehe weiter auf die Serra de Estrela. Dort hängen jetzt dunkle Wolken, und die Sonne ist fast weg.

„Sieh doch mich an“, sagt Clara. „Oder dich.“

Tja, wo sie recht hat, hat sie recht.

„Meinst du, ich werde jetzt die nächsten dreißig Jahre alleine bleiben?“, frage ich Clara.

Clara zuckt mit den Schultern.

„Wir können ja Agathe fragen“, sagt sie und öffnet ihre Handtasche.

Sie wühlt eine ganze Weile drin rum, denn Claras Handtaschen sind wie Claras Kleider, unübersichtlich und voller Überraschungen. Und dann zieht sie eine kleine Puppe aus der Tasche und stellt sie zwischen unsere jetzt leeren Galão-Gläser. Die Puppe ist so groß wie ein kleiner Zierkürbis, hat auch ungefähr die Form, aber völlig andere Farben.

„Darf ich vorstellen“, sagt Clara. „Das ist Agathe.“

Agathe hat einen weißen Bauch, kleine aufgemalte rosa Füße, und der Rest ist irgendwie hellblau mit Blümchen. In der Mitte der Figur eingebettet ist der Kopf, rund und grinsend, mit Auge, Nase, Mund. Das Ganze erinnert an eine russische Puppe.

„Und?“, ich sehe Clara an.

„Wart´s ab“, sagt Clara. „Agathe ist eine Orakelpuppe, wir werden sie befragen.“

Sie drückt auf ein kleines Knöpfchen hinten an Agathes, tja äh – Po, und Agathe nickt einmal mit dem Kopf.

„Ich habe doch noch gar nichts gefragt“, sage ich.

„Das ist nur die Begrüßung“, sagt Clara. „Sie zeigt damit, dass sie bei uns ist“.

Vom Nebentisch starrt ein Mann zu uns herüber. Er schüttelt den Kopf. Wir lassen uns nicht irritieren, denn wir haben Besseres zu tun, wir wollen Agathe nach unserer Zukunft fragen.

„Agathe ist ein bischen stur“, sagt Clara. „Du musst ziemlich laut und deutlich sprechen, sonst antwortet sie nicht.“

Das ist mir jetzt aber doch ein bisschen peinlich. Soll ich hier im Einkaufszentrum, hier oben im Restaurantteil unter all den Leuten, laut und deutlich Agathe fragen, ob ich die nächsten dreißig Jahre alleine bin? Ich weiß nicht.

„Ich weiß nicht“, sage ich zu Clara.

„Na, nu stell dich nicht so an“, sagt Clara. „Außerdem sprechen hier die meisten kein Deutsch, sie können uns nicht verstehen.“

Der Mann vom Nebentisch grinst jetzt. Womöglich hat er in Deutschland gearbeitet. Bei Mercedes in Sindelfingen oder was weiß ich wo, und er versteht jedes Wort und wir bieten ihm hier ein wunderbares Schauspiel, deswegen sitzt er hier so lange, damit er das Stück bis zu Ende genießen kann. Das Stück: Zwei verzweifelte Frauen in mittlerem Alter befragen ein Stück Plastik über ihre Zukunft. Eine der Frauen trägt eine Pünktchenhose.

„Nu mach schon“, sagt Clara. „Ein bisschen Mut zum Risiko muss sein.“

Ich hole tief Luft und sehe Agathe an.

„Werde ich die nächsten dreißig Jahre alleine bleiben?“, frage ich Agathe und komme mir schon ein bisschen bescheuert vor. Agathe rührt sich nicht. Clara zuckt mit den Schultern.

„Manchmal ist sie stur“, sagt Clara. „Vielleicht müssen wir auch das Knöpfchen noch mal drücken.“

Am Nebentisch wird jetzt der Mann von seiner Frau abgeholt. Sieht jedenfalls aus wie seine Frau. Die Frau hat eine gepflegte Dauerwelle und trägt drei Tüten von Punt Roma am Arm. Die beiden reden. Der Mann erzählt ihr irgendwas. Jetzt grinsen beide. Dann steht er auf und sie gehen.

„Also gut“, sage ich. „Los geht´s.“

Clara drückt noch mal das Knöpfchen, ich hole tief Luft, Agathe nickt und ich stelle meine Frage. Laut und deutlich. Agathe rührt sich nicht. Wir starren beide die Orakelpuppe an. Und plötzlich schüttelt Agathe vehement den Kopf. Mann, da bin ich aber froh. Was, wenn sie mit dem Kopf genickt hätte? Womöglich hätte ich ihr geglaubt.

„Meinst du wirklich, dass die Puppe orakeln kann?“, frage ich Clara.

„Alles was vorstellbar ist, ist auch möglich“, sagt Clara.

„Und nicht mal alles, was möglich ist, ist auch vorstellbar“, sage ich.

Mann, was haben wir für schlaue Sprüche drauf. Aber Sprüche sind das Eine und das Leben das Andere. Ziemlich wenig ist doch wirklich vorstellbar, nicht wahr, wenn man mal ehrlich ist, und noch nicht mal davon ist alles möglich. So sieht es doch aus.

„Du kannst die Puppe behalten“, sagt Clara.

„Nein nein, muss nicht sein“, sage ich.

„Doch“, sagt Clara. „Nimm sie. Ich wollte sie sowieso wegwerfen, deswegen hatte ich sie ja in der Handtasche. Aber dann hatte ich Skrupel. Aber jetzt hast du sie ja. Da ist sie in guten Händen.“

„Das hat mir gerade noch gefehlt“, sage ich.

In diesem Moment nickt Agathe, und zwar richtig heftig.

 

*

 

Als ich nach Hause komme, ist Hans-Dieter da und wartet auf mich. Sein Auto steht in meinem Hof, ein roter Golf mit deutschem Kennzeichen, obwohl er doch schon seit Jahren hier in Portugal wohnt. Mitten in der Pampa, auf seinem kleinem Hof ohne Strom und fließend Wasser. Ich setze ein neutrales Gesicht auf, kann Hans-Dieter ja nichts für, dass ich ihn so doof finde, nicht wahr. Und ich vertrete die Wie-man-in-den-Wald-hereinruft-so-schallt-es-heraus-Theorie und versuche mich daran zu halten, jedenfalls meistens. Hans-Dieter hält mir eine Tüte hin, einen Leinenbeutel.

„Hier“, sagt er. „Für dich.“

Ich sehe in die Tüte – voll mit Walnüssen. Ich denke: Hallo der Hans-Dieter, der ist ja richtig großzügig, wer hätte das gedacht.

„Sind die kleinen“, sagt Hans-Dieter. „Die großen verkaufe ich auf dem Markt. Aber die kleinen will ja keiner haben.“

„Äh, danke“, sage ich.

„Die Tüte brauche ich natürlich wieder“, sagt Hans-Dieter.

„Klar“, sage ich. „Aber klar.“

Ich schließe die Tür auf und weiß nicht, wie ich verhindern soll, dass dieser Hans-Dieter mit mir ins Haus kommt, und weil ich nicht weiß, wie ich es verhindern kann, kommt er natürlich mit rein. Direkt hinter mir. Ich ringe mit mir. Dann ringe ich mir ein Lächeln ab.

„Setz dich doch“, sage ich und zeige auf einen Stuhl.

„Nett hast du´s hier“, sagt Hans-Dieter und setzt sich.

Ich suche einen Behälter und finde keinen, und dann suche ich eine Plastiktüte und finde eine, und schütte die Walnüsse in die Plastiktüte und gebe Hans-Dieter seinen blöden Leinenbeutel zurück. Und der Höflichkeit halber setze ich mich auch hin, Hans-Dieter gegenüber. Er greift in seine Jackentasche und zieht einen Teebeutel raus und hält ihn mir hin.

„Vielleicht hast du ja ein bisschen heißes Wasser“, sagt er.

Und ich bin so platt, dass mir nichts einfällt, als doch in der Tat wieder aufzustehen und Wasser aufzusetzen. Ich nehme zwei Tassen und tue mir einen Beutel English Breakfast in meinen Becher und Hans-Dieters Teebeutel in einen zweiten Becher. Ich gieße den Tee auf, trage die Becher zum Tisch und setze mich wieder hin. Wir sitzen uns schweigend gegenüber und spielen ein bisschen mit unseren Teebeuteln.

„English Breakfast ist Abfall“, sagt Hans-Dieter. „Da kannst du gleich die Blätter vom Boden zusammenfegen und trinken.“

„Ich weiß“, sage ich.

Jetzt sieht er mich etwas erstaunt an.

„Hör mal, Anna“, sagt er jetzt. „Weswegen ich eigentlich hier bin ... „

Er macht eine Pause und sagt nichts und ich mache es ihm nicht leicht und sage auch nichts. Kann mir schon denken, warum er hier ist.

„Ich war neulich schon mal hier“, sagt er. „Aber da warst du nicht da.“

Er macht wieder eine Pause. Ich sage weiterhin nichts. Und ich spiele wieder mit dem Teebeutel.

„Ist doch so“, sagt er. „Was soll ich lange um den heißen Brei herumreden. Ist doch so. Du bist Witwe. Tut mir übrigens leid mit deinem Mann. Ich bin Witwer. Das passt doch. Ich suche eine Frau. Du willst doch bestimmt auch mal wieder einen Mann. Na, da können wir uns doch zusammentun.“

Ich lasse meinen Teebeutel in Ruhe und sehe Hans-Dieter an. Ich sehe: Das hat der jetzt wirklich ganz ernst gemeint. Der ist hier wirklich und versucht, mich mit fünf Kilo unverkäuflichen Walnüssen als Brautgeschenk zu einer Art Bauernehe zu überreden.

„Ich dachte, du willst die Russin heiraten“, sage ich.

Das erzählt er nämlich immer, auf den Deutschentreffen – dass er eine Russin in Moskau kennt, und die will er heiraten.

„Ja schon“, sagt Hans-Dieter. „Und die will mich ja auch heiraten. Aber ich würde lieber dich haben.“

Ich frage mich, was ich in diesen Wald hereingerufen habe, dass es so herausschallt, da kann was nicht stimmen, das kann nicht sein. Ich hole Luft und versuche nicht auszurasten, weil Ausrasten widerspricht meinem Prinzip.

„Ach nö lass mal du“, sage ich. „Heirate ruhig die Russin. Vielleicht mag sie ja Walnüsse.“

„Weiß gar nicht, was das jetzt soll“, sagt Hans-Dieter. „Was ist denn mit den Walnüssen nicht in Ordnung?“

„Mit den Walnüssen ist alles in Ordnung“, sage ich.

Dann sagen wir wieder eine ganze Weile nichts. Ich spiele mit meinem Teebeutel und Hans-Dieter schlürft seinen Tee. Dann steht er auf.

„Tja, dann will ich mal wieder“, sagt er. „Das Land ruft, ich muss an die Arbeit.“

„Tja dann“, sage ich und halte Hans-Dieter die Tür auf und er geht.

 

Bei mir ruft nicht das Land, sondern der Schreibtisch. Da lauert haufenweise Arbeit auf mich. Und ich bin Paul eine Antwort schuldig. Das heißt, eigentlich bin ich das nicht, soll Paul ruhig das letzte Wort haben. Das Allerletzte sogar, denn ich habe ja beschlossen, dass Paul in meinem Leben keine Rolle mehr spielt. Ich suche mein Handy in der Handtasche und finde Agathe. Ich stelle Agathe vor mich auf die Fensterbank. Da steht sie gut. Agathe sieht mich friedlich an. Ich komme in Versuchung auf das kleine Knöpfchen an ihrem Popo zu drücken und zu fragen, ob Paul in meinem zukünftigen Leben eine Rolle spielen wird. Aber ich traue mich nicht, ich bin ein Feigling, ein Feigling. Ein Feigling. Ich hole Luft und drücke auf das kleine Knöpfchen. Agathe nickt einmal. Ich hole tief Luft und mache den Mund für meine Frage auf.

„Heiratet der Hans-Dieter wirklich diese Russin?“, frage ich statt der Frage, auf die ich eigentlich eine Antwort will.

Agathe nickt zweimal kräftig. Da haben wir´s. Der Hans-Dieter, der ist kein Feigling, der heiratet eine wildfremde Russin, nur damit er jemanden hat, der mit ihm Walnüsse erntet und sich an seiner Schulter anlehnt. Ich dagegen traue mich nicht mal, eine einfache Frage an ein Stück Plastik zu stellen. Tschuldigung Agathe, ist doch so, du bist doch ein Stück Plastik, oder nicht? Agathe schüttelt den Kopf. Heftig. Alles, was vorstellbar ist, ist auch möglich, sagt Clara. Womöglich hat sie sogar recht. Ich fange mit meinen Übersetzungen an. Ich öffne den Computer. Ich gehe nicht auf Facebook. Ich sehe nicht das Entenfoto an. Ich stürze mich sofort in die Anleitung für den Wasserkocher.

 

*

 

Herzlichen Glückwunsch zu dem Kauf Ihres neuen Heißwasserbereiters. Damit Sie lange Freude an ihrem Gerät haben, bitten wir Sie, sorgfältig die vorliegende Gebrauchsanweisung zu lesen, ehe Sie ...

Ich glaube, ehe ich hier irgendwas mit dieser angefangenen Wasserkocher-Übersetzung mache und schreibe, brauche ich erstmal einen Tee. Ich mache mir das Wasser heiß ohne Gebrauchsanweisung, ist ja schließlich nicht das erste Mal nicht wahr, und da fällt mir doch glatt der Hans-Dieter mit seinem mitgebrachten Teebeutel ein. Bringt einen einzigen Teebeutel mit und lässt sich Wasser heißmachen. Da sieht man mal wieder: Nicht alles, was möglich ist, ist auch vorstellbar, denn darauf wäre ich doch nie und nimmer gekommen. Ich gieße mir meinen English Breakfast auf, gleich eine ganze Kanne, damit es auch ein bisschen reicht, und tue einen Esslöffel Honig rein. Ich warte sechs Minuten, räume dabei aber schnell die Küche auf. Gieße den Tee in die Thermoskanne und setze mich wieder an den Schreibtisch.

Herzlichen Glückwunsch zu dem Kauf Ihres neuen Heißwasserbereiters. Damit Sie lange Freude an ihrem Gerät haben, bitten wir Sie, sorgfältig die vorliegende Gebrauchsanweisung zu lesen, ehe Sie das Gerät ...

Es klopft. Dona Ermelinda. Will wissen, wie´s mir geht. Geht mir ganz gut, finde ich. Ich präsentiere ihr die Folge: Anna und Clara im Eispalast. Ich führe ihr sogar Agathe vor. Jetzt sehe ich Dona Ermelinda zum ersten Mal sprachlos.

„Und diese Puppe weiß Antworten auf Fragen?“, fragt sie völlig zu Recht völlig ungläubig.

Agathe nickt mit dem Kopf und Dona Ermelinda schüttelt den Kopf.

Ai meu Deus“, sagt sie schließlich. „Ai meu Deus.“

„Sehen Sie“, sagt sie dann. „Ist vielleicht doch nicht gut, wenn eine Frau so alleine wohnt. Manchmal ist ein Mann im Haus doch ganz schön.“

Sie macht eine Pause und wirft noch einen misstrauischen Blick auf Agathe.

„Es ist ja nicht nur die Arbeit, die ein Mann tut“, sagt sie schließlich. „Er leistet einem auch Gesellschaft.“

Agathe nickt, dabei habe ich nicht mal auf das Knöpfchen am Po gedrückt. Das soll einer verstehen. Wenn man eine Antwort möchte, gibt sie keine, und wenn man keine möchte, bekommt man eine.

„Bei meiner Cousine in Faro“, sagt Dona Ermelinda. „Also, bei meiner Cousine in Faro, bei der, wo die Mutter gestorben ist, und sie hatten der Mutter versprochen die Asche im Garten auszustreuen, aber das Enkelkind wollte das nicht, die kleine Isabel, die Jüngste von den Dreien, weil sie so an der Oma hing, die Kleine, sie hat immer gesagt: Ich möchte, dass Oma bei uns bleibt.“

Ich bleibe geduldig weiter stehen, weil ich denke, die Geschichte ist noch nicht zu Ende, und ist sie auch nicht. Heute ist ein schöner Tag, nach all dem Regen scheint endlich mal die Sonne und die Landschaft sieht gleich viel freundlicher aus. Die Fische blasen von unten Ringe in die spiegelglatte Oberfläche des Wassers und warten auf ihr Futter. Ich nehme das Fischfutter in die Hand, mache die Dose auf und streue ein paar Körner ins Wasser. Dona Ermelinda steht weiterhin neben mir. Ihr kleiner Hund steht auf dem Rand des Fischbeckens und schaut interessiert auf die fressenden Fische.

„Und plötzlich waren da diese merkwürdigen Dinge in der Wohnung“, fährt Dona Ermelinda fort. „Omas Kaffeetasse auf dem Tisch, obwohl sie keiner aus dem Schrank genommen hatte. Ein Zeichen auf dem Spiegel. Ein Summen in der Luft.“

Ich nicke. Alles, was vorstellbar, ist auch möglich, nicht wahr. Ich werfe noch eine Handvoll Granulat in das Wasser und die Fische schwimmen geschickt das Futter an.

„Also hat meine Cousine eines Morgens die Urne genommen und die Asche endlich im Garten ausgestreut. Und wissen Sie was? Von da an war Ruhe in der Wohnung.“

„Tja“, sage ich.

„Man soll die Urnen nicht länger als sieben oder acht Monate in der Wohnung haben“, sagt Dona Ermelinda. „Sieben, acht Monate, das ist das Maximum.“

Und ich frage mich mal wieder: Woher weiß sie sowas? Von ihr weiß ich auch, dass eine Seele den Körper in zweieinhalb Stunden verlässt, nach dem Eintritt das Todes. Aber woher weiß sie das? Das ist mir ein Rätsel.

„Und gestern sagte mein José zu mir: Ist es nicht bald ein Jahr her, dass der Mann von Dona Anna gestorben ist?“, sagt sie jetzt.

„Nächste Woche ein Jahr“, sage ich.

„Aber Sie haben die Urne doch noch, oder?“, fragt sie.

„Ja schon“, sage ich.

„Und Sie haben ihm doch versprochen, die Asche ins Meer zu streuen, oder?“, sagt Dona Ermelinda.

Ich schließe die Dose mit dem Fischfutter. Ich habe schon verstanden, was sie mir sagen will. Und ich werde da wohl irgendwann drüber nachdenken müssen. Und vermutlich bald.

„Na, dann will ich mal wieder“, sagt Dona Ermelinda und geht.

 

Herzlichen Glückwunsch zu dem Kauf ihres neuen Heißwasserbereiters. Damit Sie lange Freude an ihrem Gerät haben, bitten wir Sie, sorgfältig die vorliegende Gebrauchsanweisung zu lesen, ehe Sie das Gerät zum ersten Mal in Betrieb nehmen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit ist dieses Gerät nur mit einer kurzen Anschlussschnur ausgestattet. Sollten Sie eine Verlängerung benötigen, denken Sie bitte daran, dass auf dem Boden liegende Kabel zu Stürzen und Unfällen führen können ...

Gerade fühle ich mich so richtig wohl in dieser Anleitung, geradezu umsorgt von diesen vorausschauenden Technikern – da blinkt mein Skype. Ich klicke skype an, eine kurze Pause kann nicht schaden, zwischen all diesen Führerscheinen und Wasserkochern, Scheidungsurteilen und Liebesbriefen. Es ist Paul. Paul, mit dem ich ja eigentlich nichts mehr zu tun habe.

Paul schickt mir ganz plötzlich und unerwartet ein Hi und einen Smiley.

Und jetzt? Einfach nicht antworten? Aber nicht antworten ist auch nicht meine Art. Ich schicke die winkende Hand (mein Lieblings-Skype-Zeichen) und ein Hi.

Ich warte. Ich sehe den Bleistift kraxeln. Das ist Pauls virtuelle Hand.

Paul: wie gehts dir?

Ich: gr8

Paul: wo warst du?

Ich: im eispalast

Paul: bei der schneekoenigin?

Ich: yep

Paul: und die zwerge?

Ich: das war dornröschen

Paul: oder schneewittchen

Ich: die mit dem apfel?

Paul: dem apfel aus dem paradies

Ich: und du?

Paul: kein eispalast

Ich: und kein schneewittchen?

(Ups - das streiche ich schnell wieder, das klingt ja als wollte ich wissen, ob Paul ein Schneewittchen hat, und das will ich natürlich nur zu gerne wissen, denn ich möchte nicht, dass Paul ein Schneewittchen oder ein Dornröschen hat, aber ich will nicht, dass Paul weiß, dass ich wissen will, also weg damit.)

Ich: wo dann?

Paul: zuhause muss arbeiten

Ich: du armer plus Symbol fieses Grinsen

Jetzt tippt keiner was. Es entsteht einer Pause.

Ich: was macht die Prinzessin?

Paul: gr8

Ich: was übersetzt du?

Paul: ein gutachzen

Paul: gutachten

Paul: und du

Ich: anleitung wasserkocher

Paul: yep da kommt freude auf

Ich: !!!

Paul: Symbol Daumen nach oben

Ich: soll ich dir ein rätsel schicken

Paul: ok

Ich: Symbol Regen plus Symbol Sonne plus Symbol Kaffeetasse

(Keine Ahnung, was ich darauf antworten würde, mal sehen, was Paul dazu einfällt)

Paul: gib mir ne minute

Ich: ok

Paul: dein Raetsel ist eindeutig: ob regen ob sonne der kaffee ist ne wonne

Ich: gute Antwort

Ich: Symbol handshake

Paul: muss wieder arbeiten - machs gut

Ich: u 2

Ich: Symbol Smiley plus winkende Hand

Paul: Symbol Sonne und ein Teddy

Ein Teddy? Was soll das? Ich sehe in den kleinen Zeichen nach, ein Teddy bedeutet eine Umarmung, Paul schickt mir eine Umarmung. Ach Paul. Ich denke an das Vorstellbare und das Mögliche. Aber mir fällt nur Unvorstellbares und Unmögliches ein. Ich lese mir diese Unterhaltung, wenn man sie denn überhaupt so nennen kann, noch dreimal durch und komme zu dem Schluss: Vielleicht ist es doch an der Zeit erwachsen zu werden. Nicht, dass ich gleich mit Hans-Dieter Walnüsse ernten möchte, aber vielleicht ist doch Miguel Moreira der Richtige, vielleicht hat Dona Ermelinda recht und dieses Alleinsein hier macht einen auf Dauer verrückt.

Ich beschließe folgende Maßnahmen, muss mich ja nicht gleich auf eine Reihenfolge festlegen:

Werde Clara fragen, ob sie mal abends mit mir ins Irish Pub geht, das Pub oben an der Kathedrale – und selbst wenn wir keine netten Typen kennenlernen, haben wir vermutlich wenigstens einen netten Abend.

Werde die Asche ins Meer kippen. Schon aus wohnungs-feng-shui-mäßigen Gründen. Und außerdem, weil Dona Ermelinda sagt, man darf die Seelen nicht einklemmen, und versprochen ist versprochen, das muss man halten. Und das mit dem Meer, das habe ich Jan versprochen

Werde mich im Datingcafé anmelden, nur mal so, ganz unverbindlich, sehen was passiert

Werde meinen ganzen Mut zusammennehmen und werde mich mit dem Auto auf die Autobahn begeben und Miguel Moreira in Porto besuchen. Denn eingeladen hat er mich schon so oft. Und hingefahren bin ich nie. Und vermutlich ist es an der Zeit.

Werde „He Is Just Not That Into You“ bestellen und einmal im Monat ansehen. Bei Bedarf auch öfter. Werde Clara dazu einladen, die kann´s nämlich auch brauchen.