Unter zwei Augen

Aus Anlaß eines besonderen Geburtstages hat mich mein Verleger aufgefordert, ein Interview mit mir selbst zu machen. Zuerst wollte ich das Angebot nicht annehmen. »Das Verhältnis zwischen mir und mir ist momentan nicht gerade das beste«, erklärte ich. »Ich fürchte, es käme keine fruchtbare Zusammenarbeit mit Kishon zustande.« Nach langem Zureden gab ich schließlich nach und besuchte mich zu Hause. Das Gespräch verlief zunächst reserviert, aber ohne nennenswerte Zwischenfälle. Der Jubilar konnte seine Enttäuschung nur schlecht verbergen:

Kishon: Hätte die Redaktion nicht einen jüngeren Journalisten schicken können?

Ephraim: Entschuldigen Sie, ich fühle mich durchaus imstande, ein überflüssiges Interview mit Ihnen zu machen.

Kishon: Nehmen Sie es bitte nicht persönlich. Ich schätze, wir haben den gleichen Jahrgang, nicht wahr? Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß die Reaktionen in unserem Alter ein wenig nachlassen. Die grauen Zellen entfliehen scharenweise dem Gehirn, und das Erinnerungsvermögen läßt gefährlich nach.

Ephraim: Seit wann leiden Sie daran?

Kishon: Woran?

Ephraim: An der Vergeßlichkeit?

Kishon: Welcher Vergeßlichkeit?

Der alte Schreiberling macht äußerlich einen hervorragenden Eindruck. Man würde ihm nicht mehr als 58 oder 59 geben. Besonders die Wimpern wirken jugendlich.

Ephraim: Sie sehen blendend aus, lieber Meister. Ich schwöre Ihnen, als Mädchen würde ich . . .

Kishon: Was sollte ich denn mit einem 60jährigen Mädchen?

Ephraim: Je nach dem.

Kishon: Hören Sie, mein Freund, ich fühle mich nicht alt, weil ich so viele Jahre hinter mir habe, sondern weil nur noch so wenige vor mir liegen.

Ephraim: Sie erinnern sich doch an . . .

Kishon: Ja, ich weiß, Adenauer.

Ephraim: Genau. Er war über 90 und Herr all seiner Sinne.

Kishon: Eben. In meinem Alter kann ich noch Kanzler werden. Für einen Grundschullehrer allerdings wäre es zu spät.

Ephraim: Verehrter Meister, jeder ist so alt, wie er sich fühlt.

Kishon: Diesen Blödsinn können nur junge Esel glauben. Um sein wahres Alter zu kennen, braucht der Mensch nichts zu fühlen, ein Blick in den Reisepaß genügt. Natürlich bleibt jeder in einem bestimmten Alter stehen. Ich zum Beispiel bin seit 14 Jahren 46.

Ephraim: Ich für meinen Teil bin 4 seit 56 Jahren.

Kishon: Das merkt man. Aber die Ernüchterung bleibt nicht aus. Man nimmt nach 40 Jahren an einem Klassentreffen teil und hat den Eindruck, jeder habe seinen Großvater geschickt. Man fixiert einander und sagt zu sich selbst: um Himmels willen, sehe ich etwa auch schon so aus? Man gerät in allerhöchste Panik, und genau dann kommt ein verschrumpelter Greis und sagt: »Mensch, du hast dich überhaupt nicht verändert . . .«

Ephraim: Ist Ihnen das tatsächlich passiert?

Kishon: Was passiert?

Ephraim: Klassentreffen . . .

Kishon: Was für ein Treffen?

Ephraim: Greis . . .

Kishon: Wovon reden Sie eigentlich? Also ehrlich, einen jüngeren Journalisten hätte ich wirklich vorgezogen ... Er trägt eine randlose Brille, sieht sonst aber phantastisch aus. Hat gutfrisierte, weiße Haare, wenn auch nicht in ausreichender Menge. Er raucht nicht, was man sofort an seiner fiebernden Nervosität merkt.

Kishon: Sagen Sie, müssen wir immer nur über mein Alter sprechen? Gibt es keine anderen Themen?

Ephraim: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft, Herr Kishon?

Kishon: Welche Pläne kann man in meinem Alter schon haben? Ich werde 60. Ich stehe vor dem Torschluß.

Ephraim: Sie übertreiben. Im Fußball zum Beispiel sind gerade die letzten Minuten die aufregendsten.

Kishon: Gewiß. Aber das Leben ist kein Fußballspiel, es ist ein unvergeßlicher, kurzer Urlaub. Und die letzten Tage sind bekanntlich recht traurig.

Ephraim: Es gibt Ausnahmen . . .

Kishon: Ja, Adenauer.

Ephraim: Richtig.

Kishon: Mißverstehen Sie mich bitte nicht, ich fühle mich im großen und ganzen ausgezeichnet. Was mich stört, sind nur die kleinen Nebenerscheinungen des Alters. Plötzlich gibt es überall zu viele Treppen, und die Polizisten werden von Jahr zu Jahr jünger. Auch die Rangfolge der ernsthaften Dinge ändert sich schlagartig. Krampfadern werden wichtiger als Atombomben. Man durchläuft auch eine hormoneile Umwandlung. Seit einiger Zeit ertappe ich mich zum Beispiel dabei, daß ich die Zahnpastatube in der Mitte zusammendrücke. Eine rein feminine Reaktion. Und hier darf ich meinen Opa zitieren. Er hat eine unfehlbare Definition auf die Frage gefunden, wann der Mensch wirklich alt wird.

Ephraim: Wann denn?

Kishon: Wenn er beim Pipimachen Zeitung liest.

Ephraim: Sind Sie schon so weit?

Kishon: O ja. Ich löse Kreuzworträtsel. Wenn ich meine Brille finde.

Ephraim: Aber Maestro, eine Brille ist doch kein Altersindiz. Es gibt 90jährige, die noch ohne Brille lesen.

Kishon: Wer zum Beispiel?

Ephraim: Na, wer schon . . .

Kishon: Adenauer?

Ephraim: Wer ist das?

Kishon: Der Kanzler . . .

Ephraim: Nie gehört.

Kishon: Bißchen senil, was?

Ephraim: Werden Sie gefälligst nicht persönlich. Ihre eigene Verkalkung ist längst im fortgeschrittenen Kreidestadium.

Kishon: Auf alle Fälle würde ich sie nicht gegen deine Nierensteine eintauschen.

Ephraim: Du bist selbst ein Fund aus der Steinzeit.

Kishon: Und du eine schlechtpräparierte Mumie.

Ephraim: Dinosaurier.

Kishon: Neandertaler.

Ephraim: Herr Kishon, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Abraham Kann Nichts Dafür. 66 Neue Satiren.
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