Butterfly

Kürzlich saß ich mit geschlossenen Augen in meinem Lehnstuhl und versuchte mittels autogenem Training irgend etwas Komisches zu erfinden, wurde aber, Gott sei Dank, von der Türglocke erlöst. Vor der Türe stand eine winzig kleine Dame japanischen Ursprungs, die ihr Mündchen öffnete und höflich hauchte: »Hatschi. Die Schuh.«

Mein erster Impuls war, ihr Gesundheit zu wünschen. Aber nachdem ich sie ins Haus gebeten hatte, klärte sich ihre mysteriöse Äußerung auf. Sie war nicht etwa verschnupft, sondern hatte sich lediglich vorgestellt. Sie hieß Shashiko Hachitishu und war niemand geringerer als die japanische Übersetzerin meiner Bücher. In diesem Augenblick gewann sie meine Zuneigung trotz ihrer übergroßen Brille.

»Ich freue mich ganz besonders, Sie kennenzulernen«, informierte sie mich in fließendem Deutsch und unterstrich ihre Gunst mit bezauberndem Lächeln.

»Ganz meinerseits«, lächelte ich lieblich zurück und faltete die Hände vor der Brust, während ich mich tief verneigte. »Willkommen in meinem bescheidenden Heim, Fräulein Hachitischu.«

Nun war wieder ihr Lächeln an der Reihe:

»Es ist nicht so wichtig«, sagte sie, »aber das, was Sie da eben vollführten, war keine japanische, sondern eine chinesische Begrüßung. Wir in Japan neigen nur kurz den Kopf, ohne die Hände zu falten.«

Ich sah meinen Irrtum sofort ein, aber da sich das nicht als abendfüllend erwies, bat ich sie, Platz zu nehmen. Ich schloß mich an, worauf wir uns rasch in ein höchst angeregtes Schweigen vertieften. Nach einigem Nachdenken durchbrach ich die Stille:

»Schade, daß Sie nicht in Ihrer traditionellen Nationaltracht gekommen sind«, sagte ich, um irgend etwas zu sagen. »Übrigens, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht Magnolientee oder Bambussaft?«

»Nein, danke«, lächelte meine kleine Geisha, »ein trockener Martini tut's auch. Und was meine Kleidung betrifft, so enttäusche ich Sie ungern, aber so kleiden sich japanische Frauen heute.«

»Und die zusammengefalteten Fallschirme auf dem Rücken?«

»Damit müssen sich nur noch Kellnerinnen in japanischen Restaurants abschleppen, und das auch nur mehr in Europa.«

Sie konnte bezaubernd lächeln, meine winzige Übersetzerin, und dazu zeigte sie eine Überzahl blendend weißer Zähne. Plötzlich wurde mir klar, daß einem das Schweigen viel leichter fällt, wenn man so ein Lächeln made in Japan sein eigen nennt. Aber trotzdem, meine Pflichten als Gastgeber zwangen mich, nach einem gemeinsamen Gesprächsthema zu suchen.

»Ah, Madame Butterfly«, seufzte ich in wohltemperierter Nostalgie. »Ich bin verrückt nach dieser Oper.«

»Wir sind es nicht«, lächelte Fräulein Hachitishu.

»Wollen Sie damit sagen, daß Madame Butterfly in Japan nicht gespielt wird?«

»O doch. Sie ist sogar ein echter Hit. Es vergeht keine Saison, ohne daß sie in irgendeinem Cabaret gespielt wird.«

»Haben Sie ›Cabaret‹ gesagt?«

»Natürlich. Wir vermuten nämlich, daß die italienische Diva mit den Schlitzaugen von ihrem nichtsnutzigen Pinkerton nicht sehr angetan war. Dazu kommt, daß sie bestimmt nicht wußte, welcher ihrer vielen Kunden der Vater ihres kleinen Bengels war.«

»Wie bitte?«

»Wir betrachten Madame Butterfly als eine durchtriebene, kleine Schlampe«, erklärte Fräulein Hachitishu. »Sie hat ihren Pinki nicht nur hinten und vorne betrogen, sie hat ihm auch noch Alimente aus der Tasche gezogen.«

»Sie machen Witze!«

»Keine Spur«, sagte meine Miniaturübersetzerin und lächelte mich an. »Ich glaube, Sie stellen sich die japanische Frau so vor, wie es das Hollywood-Image vorschreibt: treu, unterwürfig, liebevoll und demütig. Mit anderen Worten die dumme, kleine, teekochende Geisha, die zerbrechliche Rose aus dem Orient. Es tut mir leid, aber diese handlichen Sklavinnen gibt es in Japan nicht und hat es nie gegeben.«

»Aber«, protestierte ich halbherzig, »ich habe sie im Fernsehen doch mit eigenen Augen gesehen.«

»Natürlich haben Sie das. Als die Männer aus dem Westen entdeckten, daß die unterwürfige Geisha nichts anderes war als ein Nebenprodukt ihrer Phantasie, schufen sie sie in ihren Opern, Theaterstücken und Bestsellern neu. Eine der jüngsten Goldgruben dieser Art ist ›Shogun‹. Daraus habt Ihr sogar eine Fernsehserie gemacht.«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Nur den Anfang. Nach einer halben Stunde hatte ich vor Lachen solche Bauchschmerzen, daß ich abdrehen mußte. Ihre Vorstellung von der japanischen Frau, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten wollen, entspringt reinem Wunschdenken. Ihr träumt unverdrossen von einem ehrfurchtgebietenden Samurai, der seine makellose Gattin in das Bett seines nicht unangenehm überraschten Gastes steckt. Ihr stellt euch gelenkige Japanerinnen wie siamesische Kätzchen vor, zierliche Nymphomaninnen, die bei Nacht splitternackt unter eure Decke schlüpfen. Glauben Sie mir, das ist der dümmste Witz, den wir in den letzten 300 Jahren gehört haben.«

»Wenn das so ist«, fragte ich, »was ist dann die Aufgabe der japanischen Frau?«

»Sie ist der Schatzmeister der Familie«, lächelte Fräulein Hachitishu, »oder besser gesagt, der Finanzminister. Mit anderen Worten, sie kontrolliert das gesamte Einkommen ihres Gatten, außer einem Taschengeld von einigen Yen. Vorausgesetzt, er benimmt sich anständig.«

»Und die japanischen Männer lassen sich das gefallen?«

»Natürlich. Sie haben ja ›Shogun‹ nicht gelesen.«

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich, die winzige Shashiko Hachitishu, und fuhr lächelnd nach Yokohama. Ich blickte ihr mit gemischten Gefühlen nach und beschloß, sie aus dem Protokoll zu streichen. Als Vollblutschriftsteller verabscheue ich die nackte Wahrheit. Ich bevorzuge, wie jeder normale Mann, eine zarte kleine Geisha, hingebungsvoll, unterwürfig und verführerisch. Sonst nichts.

Nach dem Abgang des kleinen Schmetterlings stand ich also auf, faltete meine Hände vor der Brust, und – ja, zum Donnerwetter noch mal! – ich verbeugte mich tief, noch tiefer und verkündete lauthals in meinem sowie im Namen aller Supermänner dieser Erde: »Leb wohl, gelbe Rose aus dem Orient! Mögen die Götter dich behüten und geleiten auf deiner weiten Reise in das Land der aufgehenden Sonne und der blühenden Kirschbäume . . .«

So. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Alles bleibt, wie es war. Geishas, Shoguns, Butterflys, das ganze Teehaus.

Punktum.

Abraham Kann Nichts Dafür. 66 Neue Satiren.
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