Disziplin

In jenem tapferen, kleinen Land des Nahen Ostens, in dem die folgende Geschichte spielt, stellten die zuständigen Experten eines Tages fest, daß die Wasservorräte langsam, aber sicher zur Neige gingen. Man konnte mit einiger Bestimmtheit voraussagen, daß sie höchstens noch zwei Jahre lang reichen würden. Der für das Wasser zuständige Oberkommissär berief daher eine Pressekonferenz ein und mahnte die Journalisten bei Kaffee und Kuchen:

»Meine Herren, die Wassersituation spitzt sich bedrohlich zu. Das Schicksal des Landes liegt in Ihren Händen.«

Die Presse reagierte großzügig. Fast sämtliche Zeitungen brachten auf der letzten Seite, direkt unter den Nachtdienst leistenden Apotheken, folgenden Satz: »Unserem Land droht ein katastrophales Ende, wenn wir mit dem Wasser nicht sparsamer umgehen.«

Einige eifrige Leser entdeckten diese Notiz. Aber sie unternahmen nichts. Schließlich, wofür sollte es gut sein, selber Wasser zu sparen, wenn alle anderen es verschwendeten. Es gab zwar zwei Junggesellen, die einen Klempner anriefen, um tropfende Wasserhähne reparieren zu lassen, aber die Leitung war leider besetzt.

Im Jahr darauf wurde die Gefahr akut.

Das Wasserkommissariat stellte unwiderruflich fest, daß die Vorräte im Höchstfalle noch zehn Monate reichen würden, und verlangte sofortige Maßnahmen seitens der Regierung. Diese aber war ziemlich machtlos, denn alle Ermahnungen, Wasser zu sparen, wurden von der Bevölkerung schlichtweg ignoriert. Also beschlossen die zuständigen Regierungsstellen, die eigenen Warnungen ebenfalls zu ignorieren. Dies um so mehr, als sich das alles in einem Wahljahr abspielte und die Regierung wußte: in solchen Zeiten ist es ratsamer, von radikalen Steuersenkungen als von Wassersparmaßnahmen zu reden.

Dann war aber auch die Wahl vorbei, und eine landesweite Aufklärungskampagne wurde gestartet. Von allen Plakatwänden verkündeten Aufrufe, daß nur noch rigorose Wassersparmaßnahmen das Land vor dem unvermeidlichen Austrocknen bewahren könnten.

Es nützte so gut wie nichts. Die Bürger sagten: »Wir müssen uns waschen, oder? Wir müssen auch kochen und unsere Blumen gießen, nicht wahr? Unser Aquarium füllen, stimmt's?«

So wurde auf keinen einzigen Topfen verzichtet. Schlimmer noch, man trank nach jeder Kaffeepause auch noch einen Tee.

Zu Beginn des neuen Jahres reichten die Wasserreserven nur noch für einen Monat. Die Regierung bestellte im Ausland eine beträchtliche Anzahl neuer Wasserstandsmesser, und der Regierungschef rief persönlich über das Fernsehen auf: »Wenn wir unseren Wasserverbrauch nicht sofort und bedingungslos einschränken, werden wir alle verdursten!«

Die Bevölkerung aber war wegen des letzten Fußball-Ligaspiels in heiße Debatten verstrickt und brauchte eine Menge kalter Duschen, um sich abzukühlen. Auch die Fische gediehen weiter in ihren Aquarien. In der Stadtmitte barst die Hauptwasserleitung und 800 Millionen Kubikmeter des kostbaren Nasses versickerten im Kanal . . .

Als sich herausstellte, daß das Wasser nur mehr bis Donnerstag nachmittag reichen würde, ging die Regierung zu drastischen Maßnahmen über: sie erhöhte die Wassergebühren um 17,5 Prozent pro Kubikmeter. Aber die Öffentlichkeit war derartiges längst gewöhnt und zahlte ohne zu murren. Am Donnerstag nachmittag war dann das Wasser endgültig dahin, und wir alle verdursteten.

So ein Pech.

Abraham Kann Nichts Dafür. 66 Neue Satiren.
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