Nachwort
Ohne Ankündigung, heimtückisch, unberechenbar
trifft die Pest den Menschen. Im Jahr der großen Pest zu London,
1665
– auch noch lange danach –, wußte man nichts über sie, außer daß
sie in Epidemien auftrat, die durch nichts wirksam zu beeinflussen
waren, und daß die Fälle meist tödlich verliefen, besonders am
Beginn einer neuen Heimsuchung. Die Angst vor dem Schwarzen Tod war
allgemein tief verwurzelt, und das gerade in einer Zeit, in der die
Bedrohung des Lebens durch Unfälle und Krankheiten weit höher war
als heute. Seit mehr als dreihundert Jahren, seit 1347/48, schlug
die Pest in unregelmäßigen Abständen in einzelnen Städten oder
ganzen Landstrichen zu, holte ihren Tribut mitunter in einem
Ausmaß, daß tiefgreifende soziale Umschichtungen die Folge waren.
Erst 1894 wurde der Erreger, ein Bakterium, von A. Yersin und S.
Kitasato entdeckt, die Übertragung durch Flohstiche, die
Zwischenträgerschaft und Verbreitung durch Ratten aufgeklärt.
1664, im Herbst, treten in London zwei Pestfälle auf. Zwei Franzosen erkranken und sterben in ihrem Logis »Long Acre, oder richtiger am oberen Ende von Drury Lane«. Man nimmt an, daß sie in Holland, von wo Kaufleute über eine Epidemie berichtet haben, infiziert worden waren. Diese Fälle werden zunächst ignoriert, ohne daß Defoe darauf eingeht, daß die Pest in London ja nicht unbekannt war, immer wieder vereinzelt aufgetreten war und daß 1636/1637 als Pestjahre in die Geschichte eingegangen waren.
Weitere Fälle im Frühjahr 1665 werden
verschwiegen, als Todesfälle durch Fleckfieber dargestellt und
bagatellisiert.
Auch die örtliche Beschränkung auf zunächst ein bis zwei
Pfarrsprengel wird als »Beruhigungspille« für die Bevölkerung
gewertet. Wen erinnert das nicht an das Verhalten von Behörden bei
Vorfällen aus jüngster Zeit? Bis zum Frühsommer funktioniert dieses
System, dann jedoch kann die Ausweitung zu einer Epidemie nicht
mehr verheimlicht werden. Entsetzen greift um sich, Massenflucht
und damit verbunden Massenarbeitslosigkeit – Dienstboten, Arbeiter
und Tagelöhner werden gekündigt, die Besitzlosen vor das Nichts
geworfen – setzen ein. Ein jeder muß sehen, wo er bleibt, aus einer
friedlichen Idylle wird ein Hexenkessel mit allen Erscheinungen der
Massenhysterie. Im Zeitalter des Puritanismus zeigt sich, daß
innere Einkehr und Gottvertrauen nur wenigen gegeben ist und daß
wie eh und je Geschäftemacherei mit Angst und Aberglauben, mit
Unkenntnis und Hoffnung, daß exzessive Hingabe an Äußerlichkeiten
weit mehr zutage treten. Diese Erscheinungen sind bis heute gleich
geblieben, nur die äußeren Anlässe haben sich geändert.
Defoes Schilderung der Pest zu London galt vom Augenblick des
Erscheinens 1722 etwa zwei Jahrhunderte lang als
Augenzeugenbericht, in der medizinischen Forschung sogar als
wichtigste Quelle für diese Epidemie. Erst die moderne
Literaturwissenschaft zweifelte an der unmittelbaren Authentizität,
als man nach dem Geburtsjahr dieses Begründers der Kunstform des
realistischen Romans forschte.
1660 oder 1661 zu London war er geboren worden, genaueres fand man
nicht. Im »Journal of the Plague Year« berichtet er jedoch als
erwachsener und urteilsfähiger Mann in reiferen Jahren – konnte er
auf Erinnerungen als vier- oder fünfjähriges Kind
zurückgreifen?
Daniel Foe, der sich auch D. Foe, De Foe oder Defoe nannte, war im
Alter von 35 Jahren königlicher Lotterie-Einnehmer. Eine
wechselvolle Laufbahn als Kaufmann führte ihn auf Reisen vermutlich
durch weite Gebiete Europas, vielleicht auch bis Nordafrika und
Kleinasien. 1701 erlebte er, der vom Wohlleben des reichen
Kaufmanns bis zur Schande des Bankrotteurs bereits alles erfahren
hatte, einen ersten Erfolg als Schriftsteller. Die satirischen
Knittelverse »The True-Born Englishman« brachten ihm Anerkennung,
aber auch Verfolgung ein, das 1702 erschienene Werk »The Shortest
Way with the Dissenters« dreimal an den Pranger und ins Gefängnis.
Der wechselvolle Lebenslauf war damit noch nicht zu Ende.
Im Zeitalter des Puritanismus war freudvolle Unterhaltung verpönt,
an ihre Stelle hatte Erbauung zu treten. Die bekanntesten Werke
Defoes zeigen es, auch seine größten: »The Life and Strange
Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner« und »The
Fortunes and Misfortunes of the Famous Moll Flanders«. Beide sind –
wie all seine Schriften – belehrend und erbaulich, aufgelockert
durch großartige erzählende Abschnitte, die seinen Ruhm festigten.
1722, im Erscheinungsjahr des »Journal of the Plague Year« war sein
Ruf bereits fest begründet, seine Jahre als politischer Journalist
unter wechselnden parteipolitischen Vorzeichen bereits
Vergangenheit. Trotzdem – oder besser: deshalb – erschien das
»Journal« unter sorgsam gewahrter Anonymität.
Äußerer Anlaß für das Erscheinen waren Meldungen einer neuerlichen
Pestepidemie, die 1720/21 von Marseille ausgehend über Amsterdam
1722 auch London zu erreichen drohte. Im März 1722 ließ Defoe das
»Journal« erscheinen, vor den Sommermonaten, die jeweils die
Höhepunkte der Epidemien waren. Interesse und Verkaufsmöglichkeiten
waren somit am größten – alles wohlberechnet.
Wohlberechnet? Man glaubt es nicht bei der Lektüre der »Pest zu
London«. Zu tief ist die Betroffenheit Defoes über die Ereignisse
von 1665, zu tief sein Blick in die Massengräber, in die
Leichengruben. Man kennt einen Teil der Quellen, die der Autor zu
seinen Schilderungen benützte, man kann daraus ersehen, daß er
jahrelang Material – auch mündliche Überlieferungen – gesammelt
hat. Es ist unwahrscheinlich, daß sich das äußerst umfangreiche
Material erst im Moment der Niederschrift zu dieser großangelegten
Gesamtschau der Ereignisse des Sommers 1665 geformt hat, auch bei
aller Berücksichtigung der Schnelligkeit des Schreibens und der
intuitiven Nervosität der Gedankenführung, die aus dem »Journal«
spricht. Der Druck des Unheimlichen, Heimtückischen,
Unbegreiflichen, das er als Kind, um nicht zu sagen, fast als
Kleinkind, erlebt und erkannt hatte, hat ihn wohl sein ganzes Leben
nicht verlassen. Ein äußerer Anlaß hat dann die Ausformung des im
Innern bereits Verarbeiteten verursacht. Wohldurchdachter Aufbau,
Verweise auf Späteres, Rückgriffe auf bereits Vorgetragenes,
Unterbrechungen und Wiederaufnehmen von Gedankensträngen heben das
Werk weit über den Journalismus hinaus. Die Anschaulichkeit des
Erzählens beginnt bereits am Anfang beim Pesttod der beiden
Franzosen in ihrem Logis »Long Acre, oder richtiger am oberen Ende
von Drury Lane« – als wäre Defoe selbst dorthin gepilgert, zum
oberen Ende von Drury Lane, um das Logis in Augenschein zu nehmen.
Und seine Glaubwürdigkeit erhöht er selbst immer wieder durch
eingestreute Einschränkungen, wie: »So hat man mir
berichtet.«
Und wie äußert sich die puritanische Forderung nach Didaktik, wie
die Lehre, die er vermitteln wollte? Bei allem Lob, das er den
Londoner Behörden ob ihrer Ausdauer in der Gefahr und der offenbar
unkorrupten Verteilung der reich einlaufenden Spenden an die
Ärmsten der Armen, die Arbeits- und Einkommenslosen, zollt, so
scharf kritisiert er die in seinen Augen überflüssigen,
wirkungslosen und grausamen Anordnungen, die von der Pest
betroffenen Häuser zu verschließen und die Einwohner darin
einzusperren. Die bessere Vorsorge für ein neues Unheil im Sommer
1722 war der Anlaß für das Erscheinen des »Journal of the Plague
Year«.
Daniel Defoe starb am 26. April 1731 und hat ein äußerst
umfangreiches Werk hinterlassen. Weltberühmt ist sein »Robinson
Crusoe« – auch als Kinderbuch – geworden, weltberühmt seine »Moll
Flanders«. Sein Leben verlief mitunter dramatisch, seine Gegner
haben ihm oft hart zugesetzt. Auch damals waren Konkurrenzneid und
Mißgunst die Begleitung der Erfolgreichen. Und erfolgreich war
seine Schilderung der »Pest zu London«, mehr als zweieinhalb
Jahrhunderte Fortleben in der Literatur bescheinigen es.