63

Bamberg, 11.00 Uhr

 

Michener und Katerina folgten Irma Rahn über den Maxplatz zum Fluss, wo ein fünfgeschossiges Gasthaus stand. Auf einem schmiedeeisernen Wirtshausschild stand der Name KÖNIGSHOF und außerdem die Zahl 1614. Das Baujahr, wie Irma erklärte.

Dieses Gebäude gehörte ihrer Familie schon seit Generationen, und sie hatte es von ihrem Vater geerbt, nachdem ihr Bruder im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Zu beiden Seiten des Gasthauses standen ehemalige Fischerhäuser. Ursprünglich war das Gebäude eine Mühle gewesen. Das Mühlrad war zwar schon seit Jahrhunderten verschwunden, doch das schwarze Mansardendach, die schmiedeeisernen Balkone und die barocke Fassade waren erhalten. Irma Rahn hatte das Erdgeschoss zu einer Gaststätte umgebaut, in die sie Michener und Katerina jetzt führte. Dort ließen sie sich an einem runden Tisch neben einem zwölfteiligen Sprossenfenster nieder. Draußen zog sich der Himmel zu, es würde wohl bald wieder schneien. Ihre Gastgeberin brachte jedem einen Krug Bier.

»Wir haben nur abends geöffnet«, erklärte sie. »Dann wird es allerdings ziemlich voll. Unser Koch ist recht beliebt.«

Michener hatte eine Frage. »Vorhin in der Kirche sagten Sie, Jakob habe mein und Katerinas Eintreffen angekündigt. Stand das wirklich so in seinem letzten Brief?«

Sie nickte. »Er schrieb, Sie würden bestimmt kommen und zwar wahrscheinlich in Begleitung dieser reizenden Frau hier. Mein Jakob war sehr intuitiv, und ganz besonders, wenn es um Sie ging, Colin. Darf ich dich so nennen? Ich habe das Gefühl, dich sehr gut zu kennen.«

»Ich bitte darum.«

»Und ich bin Katerina.«

Sie schenkte ihnen ein freundliches Lächeln.

»Was hat Jakob sonst noch geschrieben?«, fragte er.

»Er hat mir von deinem Dilemma erzählt. Von deiner Glaubenskrise. Ich nehme an, du hast meine Briefe gelesen. Sonst wärst du ja nicht hier.«

»Ich wusste nicht, wie tief eure Beziehung ging.«

Vor dem Fenster tuckerte ein Lastkahn Richtung Norden.

»Mein Jakob war ein Mann, der viel geliebt hat. Er hat sein ganzes Leben anderen geweiht. Sich Gott geschenkt.«

»Aber offensichtlich nicht ganz und gar«, warf Katerina ein.

Michener hatte diesen Einwand erwartet. Am Vorabend hatte Katerina die Briefe gelesen, die er gerettet hatte. Volkners innige Gefühle hatten sie bestürzt.

»Ich war ihm böse«, erklärte Katerina mit ausdrucksloser Stimme. »Ich dachte, er setze Colin unter Druck, sich für die Kirche zu entscheiden. Aber ich habe mich geirrt. Jetzt ist mir klar, dass keiner besser als er verstanden hätte, wie ich mich fühlte.«

»Allerdings. Er hat mir berichtet, wie sehr Colin litt. Er wollte ihm die Wahrheit sagen, damit er sich mit seinem Problem nicht so allein fühlt, aber ich war dagegen. Es war nicht die richtige Zeit dafür. Ich wollte nicht, dass irgendjemand von uns erfuhr. Es ging ja um unsere intimsten Gefühle.« Sie sah Michener an. »Er wollte, dass du Priester bleibst. Er brauchte deine Hilfe, um irgendetwas zu verändern. Ich glaube, er wusste selbst damals schon, dass ihr beide eines Tages etwas Bedeutendes vollbringen würdet.«

»Er versuchte, etwas zu ändern«, erwiderte Michener. Es kam ihm aus dem Herzen. »Nicht im Streit, sondern mit Vernunft. Er war ein friedfertiger Mensch.«

»Aber vor allen Dingen, Colin, war er ein Mensch.« Ihre Stimme erstarb, als kehre eine Erinnerung zurück, die sie nicht übergehen wollte. »Einfach nur ein Mensch, schwach und sündig wie wir alle.«

Katerina griff über den Tisch und umfing die Hand der alten Frau. Beide hatten feuchte Augen.

»Wann hat eure Beziehung begonnen?«, fragte Katerina.

»Wir waren noch Kinder. Schon damals wusste ich, dass ich ihn liebte und immer lieben würde.« Sie biss sich auf die Lippen. »Aber ich wusste ebenso, dass ich ihn niemals wirklich bekommen würde. Nicht ganz und gar. Schon damals wollte er Priester werden. Aber irgendwie hat es mir immer genügt, seine Liebe zu besitzen.«

Michener wollte es wissen, obwohl es ihn wirklich nichts anging. Doch er hatte das Gefühl, die Frage stellen zu dürfen.

»Ihr habt euch niemals körperlich geliebt?«

Sie hielt seinem Blick stand, doch dann trat ein leises Lächeln auf ihre Lippen. »Nein, Colin. Jakob hat sein Priestergelübde niemals gebrochen. Das wäre für uns beide undenkbar gewesen.« Sie sah Katerina an. »Wir müssen uns selbst vor dem Hintergrund unserer Zeit beurteilen. Jakob und ich kommen aus einer anderen Ära. Es war schon schlimm genug, dass wir einander liebten. Für uns war es undenkbar, noch weiter zu gehen.«

Ihm fiel ein, was Clemens damals in Turin gesagt hatte. Es tut weh, seine Liebe zu unterdrücken. »Hast du immer ganz allein hier gelebt?«

»Ich habe meine Familie, das Restaurant, meine Freunde und Gott. Ich habe die Liebe eines Mannes kennen gelernt, der sich mir ganz anvertraute. Nicht im körperlichen Sinne, aber in jedem anderen. Das können nur wenige Frauen von sich behaupten.«

»Ist es dir denn niemals schwer gefallen, nicht mit ihm zusammen zu sein?«, fragte Katerina. »Ich meine jetzt nicht sexuell. Aber ich meine, real in seiner Nähe zu sein. Das war doch bestimmt hart.«

»Anders wäre es mir lieber gewesen. Aber das konnte ich nicht beeinflussen. Jakob fühlte sich früh zum Priester berufen. Ich wusste das und habe mich nie dagegen gewehrt. Ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich ihn teilen konnte sogar mit dem Himmel.«

Eine Frau mittleren Alters trat aus einer Schwingtür und besprach sich kurz mit Irma. Es ging um Einkäufe auf dem Wochenmarkt. Draußen auf dem graubraunen Fluss glitt ein weiterer Lastkahn vorbei. Ein paar Schneeflocken wirbelten gegen die Fensterscheibe.

»Weiß irgendjemand von dir und Jakob?«, fragte Michener, als die Frau gegangen war.

Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben beide niemals darüber geredet. Aber hier in dieser Stadt wissen viele, dass Jakob und ich als Kinder befreundet waren.«

»Sein Tod muss schrecklich für dich gewesen sein«, sagte Katerina.

Die alte Frau seufzte tief. »Ihr könnt es euch nicht vorstellen. Ich wusste, dass er angegriffen aussah. Ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Es war mir klar, dass seine Zeit begrenzt war. Wir wurden beide älter. Aber dann kam es so plötzlich. Ich erwarte noch immer, Briefe von ihm zu bekommen, wie früher so oft.« Ihre Stimme wurde weich und zitterte vor Ergriffenheit. »Mein Jakob ist tot, und ihr seid die ersten Menschen, mit denen ich über ihn gesprochen habe. Er hat mir gesagt, dass ich euch vertrauen kann. Und dass ich durch euren Besuch meine Ruhe wiederfinden werde. Er hatte Recht. Allein schon darüber zu reden war eine Erleichterung.«

Er fragte sich, was diese sanftmütige Frau denken würde, wenn sie wüsste, dass Volkner sich das Leben genommen hatte. Hatte sie das Recht, es zu erfahren? Sie hatte ihnen ihr Herz ausgeschüttet, und er hatte das Lügen satt. Clemens Andenken würde durch sie keinen Schaden nehmen. »Er hat Selbstmord begangen.«

Irma erwiderte nichts. Lange.

»Der Papst hat sich das Leben genommen?« Katerina funkelte ihn empört an.

Michener nickte. »Schlaftabletten. Er schrieb, die Jungfrau Maria habe ihn aufgefordert, seinem Leben ein Ende zu setzen. Zur Strafe für seinen Ungehorsam. Er schrieb mir, er habe die Wünsche des Himmels zu lange missachtet. Doch damit sei es nun vorbei.«

Irma erwiderte noch immer nichts. Sie starrte ihn einfach nur an. Vollkommen aufgewühlt.

»Du wusstest Bescheid?«, fragte er.

Sie nickte. »Er war kürzlich bei mir im Traum. Er sagte mir, es sei alles in Ordnung. Er habe Vergebung erlangt. Und er wäre ohnehin bald zu Gott gegangen. Ich verstand nicht, was er damit meinte.«

»Haben Sie auch im wachen Zustand Visionen gehabt?«, fragte Michener.

Sie schüttelte den Kopf. »Nur im Traum.« Ihre Stimme klang abwesend. »Bald werde ich bei ihm sein. Das hält mich aufrecht, das allein. Jakob und ich werden für die Ewigkeit zusammen sein. Das sagte er mir im Traum.« Sie sah Katerina an. »Du hast mich gefragt, ob die lange Trennung nicht schwer war. Verglichen mit der Ewigkeit sind diese Jahre der Trennung ein Nichts. Und Geduld habe ich.«

Michener musste zum springenden Punkt kommen. »Irma, wo ist das, was Jakob dir geschickt hat?«

Sie starrte in ihr Bier. »Ich habe von Jakob einen Umschlag erhalten, den ich dir geben soll.«

»Ich brauche ihn.«

Irma stand auf. »Er liegt nebenan in meiner Wohnung. Ich bin gleich wieder da.«

»Warum hast du mir das mit Clemens verschwiegen?«, fragte Katerina, als die Tür zugegangen war. Ihr Tonfall war so kalt wie die Temperaturen, die draußen herrschten.

»Die Antwort dürfte auf der Hand liegen.«

»Wer weiß davon?«

»Nur ganz wenige Menschen.«

Sie erhob sich vom Tisch. »Es ist doch immer dasselbe. Lauter Geheimnisse im Vatikan.« Sie schlüpfte in ihren Mantel und ging zur Tür. »Du scheinst dich damit ja sehr wohl zu fühlen.«

»Genau wie du.« Er wusste, dass er besser geschwiegen hätte.

Sie blieb stehen. »Das eine will ich dir zugute halten: Ich habe es verdient. Und wie lautet deine Entschuldigung?«

Er schwieg, und sie wandte sich zum Gehen. »Wo gehst du hin?«

»Spazieren. Bestimmt hast du mit Clemens Freundin noch andere Dinge zu besprechen, die mich nichts angehen.«

64

Katerina war vollkommen durcheinander. Michener hatte ihr verschwiegen, dass Clemens XV. sich das Leben genommen hatte! Valendrea wusste mit Sicherheit Bescheid sonst hätte Ambrosi sie bedrängt, so viel wie möglich über die Umstände von Clemens Tod in Erfahrung zu bringen. Was um alles in der Welt war hier los? Verschwundene Dokumente, Seherinnen, die mit Maria sprachen, und ein Papst, der sich das Leben nahm, nachdem er über sechs Jahrzehnte heimlich eine Frau geliebt hatte. Das alles war nahezu unglaublich.

Sie trat aus dem Gasthaus, knöpfte ihren Mantel zu und beschloss, in Richtung Maxplatz zu gehen und sich ihren Frust von der Seele zu laufen. Überall in der Stadt läutete es Mittag. Katerina wischte sich den Schnee aus dem Haar. Immer mehr Flocken fielen herab. Die Luft war schneidend kalt und so düster wie ihre Stimmung.

Irma Rahn hatte ihr eine neue Perspektive eröffnet. Während sie selbst Michener vor Jahren zu einer Entscheidung gezwungen und damit die für beide Seiten schmerzhafte Trennung herbeigeführt hatte, hatte Irma einen weniger selbstsüchtigen Weg eingeschlagen, der von Liebe statt Vereinnahmung zeugte. Vielleicht hatte die alte Frau ja Recht. Die sexuelle Beziehung war gar nicht so wichtig. Was wirklich zählte, war die innere Nähe.

Katerina fragte sich, ob Michener und sie wohl eine ähnliche Beziehung hätten leben können. Wahrscheinlich nicht. Die Zeiten hatten sich geändert. Und doch war sie nun wieder mit demselben Mann zusammen und befand sich anscheinend wieder auf demselben mühsamen Pfad. Die Liebe ging verloren, wurde wiedergefunden, dann geprüft und dann ja, das war die Frage. Und dann?

Sie marschierte weiter, fand den großen Platz, überquerte einen Kanal und erblickte die beiden Zwiebeltürme der Gangolfskirche.

Das Leben war so verdammt kompliziert.

Noch immer hatte sie den Mann vor Augen, der sich gestern Abend mit gezücktem Messer auf Michener gestürzt hatte. Ohne zu zögern hatte sie ihn angegriffen. Danach hatte sie vorgeschlagen, zur Polizei zu gehen, doch Michener hatte abgelehnt. Jetzt verstand sie, warum: Er konnte nicht das Risiko eingehen, dass der Selbstmord des Papstes bekannt wurde. Jakob Volkner bedeutete ihm so viel. Vielleicht zu viel. Und jetzt verstand sie auch, warum Michener nach Bosnien gereist war er hatte die Antwort auf Fragen gesucht, die sein alter Freund hinterlassen hatte. Offensichtlich konnte Michener dieses Kapitel in seinem Leben nicht abschließen, weil der Schluss erst noch gefunden werden musste. Ob das wohl jemals gelingen würde?

Sie ging weiter und stand plötzlich wieder vor dem Portal der Gangolfskirche. Die Wärme dort drinnen lockte sie, also trat sie ein und sah, dass das Gitter der Seitenkapelle, wo Irma geputzt hatte, noch immer offen stand. Sie ging daran vorbei und blieb vor einer anderen Seitenkapelle stehen. Eine Statue der Jungfrau Maria blickte mit dem Stolz einer liebenden Mutter auf das Jesuskind in ihren Armen herab. Es war eine Darstellung aus dem Mittelalter, und Maria war eine blütenweiße Europäerin, doch man hatte sich weltweit daran gewöhnt, die Muttergottes in dieser Gestalt anzubeten. Maria hatte in Israel gelebt, wo die Sonne heiß war und die Menschen dunkelhäutig. Sie musste semitische Gesichtszüge gehabt haben, dunkles Haar und einen kräftigen Körper. Doch so hätten die europäischen Katholiken sie niemals akzeptiert. Also hatte man ein vertrauteres Frauenbild geschaffen und die Kirche hatte seitdem daran festgehalten.

Ob Maria wirklich Jungfrau gewesen war? Hatte der Heilige Geist ihren Schoß mit dem Sohn Gottes gesegnet? Selbst wenn es so war, hatte Maria mit Sicherheit selbst die Entscheidung getroffen. Nur sie allein konnte der Schwangerschaft zugestimmt haben. Warum aber führte die Kirche dann diesen Feldzug gegen Abtreibung und Geburtenkontrolle? Wann hatten die Frauen das Recht verloren, selbst zu entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringen wollten? Hatte nicht Maria dieses Recht begründet? Was, wenn sie sich geweigert hätte? Wäre sie dann trotzdem gezwungen worden, das göttliche Kind auszutragen?

Katerina hatte all diese Fragen satt. Auf die meisten gab es ja doch keine Antwort. Sie wandte sich zum Gehen.

Keinen Meter von ihr entfernt stand Paolo Ambrosi.

Katerina schrak zusammen.

Da stürzte er sich auf sie, wirbelte sie herum und schob sie in die Kapelle, in der die Jungfrau stand. Er stieß sie gegen die Steinmauer und verdrehte ihr den linken Arm auf dem Rücken. Mit der anderen Hand packte er sie im Nacken. Ihr Gesicht wurde gegen den rauen Stein gedrückt.

»Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, wie ich Sie von Michener loseisen kann. Aber das haben Sie ja freundlicherweise selbst für mich erledigt.«

Ambrosi verdrehte ihr den Arm noch stärker. Sie öffnete den Mund zum Schreien.

»Na, na. Schön still bleiben. Außerdem hört Sie hier ja doch keiner.«

Sie versuchte sich zu befreien, setzte die Beine ein.

»Halten Sie still. Meine Geduld ist erschöpft.«

Statt einer Antwort wehrte sie sich noch heftiger.

Ambrosi riss sie von der Wand weg und nahm sie in den Schwitzkasten. Er drückte ihr mit dem Unterarm die Gurgel zu. Sie versuchte sich loszureißen und grub ihm die Fingernägel in den Arm, doch weil sie keine Luft bekam, flimmerte es ihr vor den Augen.

Sie öffnete den Mund, bekam aber keinen Schrei mehr heraus.

Sie verdrehte die Augen.

Das Letzte, was sie sah, bevor alles schwarz wurde, war der klagende Blick der Jungfrau, der Katerina in ihrer elenden Lage aber auch nicht half.

65

Michener betrachtete Irma, die aus dem Fenster auf den Fluss starrte. Sie war kurz nach Katerinas Aufbruch zurückgekommen, einen vertraut wirkenden blauen Umschlag in der Hand, der jetzt auf dem Tisch lag.

»Mein Jakob hat sich das Leben genommen«, flüsterte sie. »Wie schrecklich traurig.« Sie sah Michener an. »Und doch wurde er im Petersdom begraben. In geweihtem Boden.«

»Wir mussten die Wahrheit vor der Öffentlichkeit verschweigen.«

»Genau das hat er der Kirche immer vorgeworfen. Dass die Wahrheit zu wenig gilt. Welche Ironie, dass nun auch sein Vermächtnis auf einer Lüge gründet.«

Michener fand das nicht ungewöhnlich. Auch seine eigene Karriere war ja auf einer Lüge begründet. Interessant, wie ähnlich er und Clemens sich doch waren. »Hat er dich immer geliebt?«

»Du willst wohl wissen, ob es noch andere Frauen gab? Nein, Colin. Nur mich.«

»Hattet ihr nicht das Gefühl, dass eure Beziehung sich weiterentwickeln müsste? Hast du dir nie Mann und Kinder gewünscht?«

»Doch, Kinder schon. Das ist das Einzige, was ich in meinem Leben bedaure. Aber ich wusste früh im Leben, dass ich zu Jakob gehören wollte, und er hat es sich ebenfalls so gewünscht. Dir ist bestimmt bewusst, dass du in jeder Hinsicht wie ein Sohn für ihn warst.«

Micheners Augen wurden feucht.

»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass du seine Leiche gefunden hast. Das muss schrecklich für dich gewesen sein.«

Er wollte nicht daran denken, wie Clemens auf dem Bett gelegen hatte, während die Nonnen ihn zur Bestattung vorbereiteten. »Er war ein bemerkenswerter Mann. Und doch kommt es mir jetzt so vor, als wäre er ein Fremder gewesen.«

»Das brauchst du nicht so zu empfinden. Er hat nur einen Teil seiner selbst für sich behalten. So wie auch du bestimmte Seiten an dir hast, die er nie kennen gelernt hat.«

Wie zutreffend!

Sie zeigte auf den Brief. »Ich konnte nicht lesen, was er mir da geschickt hat.«

»Du hast es versucht?«

Sie nickte. »Ich habe den Umschlag geöffnet. Ich war neugierig. Aber erst nach Jakobs Tod. Der Text ist in einer fremden Sprache verfasst.«

»Italienisch.«

»Erzähl mir, worum es geht.«

Erstaunt lauschte sie seinem Bericht. Dann musste er ihr sagen, dass außer Alberto Valendrea kein lebender Mensch wusste, was das Dokument in dem Umschlag enthielt.

»Ich wusste, dass irgendetwas Jakob beunruhigte. In den letzten Monaten klangen seine Briefe zynisch und deprimiert. Es sah ihm gar nicht ähnlich. Und er weigerte sich, mir irgendetwas zu erzählen.«

»Ich habe auch vergebens versucht zu erfahren, was ihn bedrückte.«

»Manchmal konnte er sehr verschlossen sein.«

Er hörte, wie vorne eine Tür aufging und wieder zugeschlagen wurde. Über den Dielenboden näherten sich Schritte. Das Restaurant lag im hinteren Bereich des Hauses. Vorne waren ein kleiner Eingangsbereich und das Treppenhaus. Vermutlich kehrte Katerina zurück.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Irma.

Michener saß nicht mit Blick zur Tür, sondern zum Fluss. Jetzt drehte er sich um und erblickte Paolo Ambrosi, der ein paar Meter hinter ihm stand. Der Italiener trug bequeme schwarze Jeans und ein dunkles Hemd. Sein grauer Mantel reichte bis über die Knie.

Michener stand auf. »Wo ist Katerina?«

Ambrosi antwortete nicht. Der selbstgefällige Blick dieses Drecksacks gefiel Michener überhaupt nicht. Er stand auf und stürzte auf ihn zu, doch Ambrosi zog gelassen eine Pistole aus der Manteltasche. Michener blieb stehen.

»Wer ist das?«, fragte Irma.

»Gefahr.«

»Ich bin Monsignore Paolo Ambrosi. Und Sie müssen wohl Irma Rahn sein.«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

Michener stand zwischen den beiden und hoffte, dass Ambrosi den Brief auf dem Tisch übersehen würde. »Er hat deine Briefe gelesen. Als ich gestern von Rom aufbrach, konnte ich sie nicht alle mitnehmen.«

Irma bedeckte den Mund mit der Hand. Ein Keuchen entrang sich ihren Lippen. »Der Papst weiß Bescheid?«

Michener zeigte auf Ambrosi. »Wenn dieses Arschloch Bescheid weiß, dann weiß auch Valendrea Bescheid.«

Sie bekreuzigte sich.

Er sah Ambrosi an und verstand sofort. »Sagen Sie mir, wo Katerina ist.«

Die Mündung zeigte noch immer auf ihn. »Vorläufig ist sie in Sicherheit. Aber Sie wissen genau, was ich will.«

»Und woher wissen Sie, dass ich es habe?«

»Entweder Sie selbst haben es oder diese Frau.«

»Ich dachte, Valendrea hätte mir den Auftrag gegeben, das Verlorene zu finden.« Er hoffte nur, dass Irma den Mund hielt.

»Sie hätten es doch nur an Kardinal Ngovi geschickt.«

»Ich weiß nicht, was ich getan hätte.«

»Oh doch, das wissen Sie.«

Er hätte Ambrosi am liebsten in seine arrogante Fresse geschlagen, aber da war nun einmal die Pistole.

»Ist Katerina in Gefahr?«, fragte Irma.

»Es geht ihr bestens«, antwortete Ambrosi.

»Jetzt mal ehrlich, Ambrosi, Katerina ist Ihr Problem«, sagte Michener. »Sie war Valendreas Spionin. Mir ist sie scheißegal.«

»Es wird ihr das Herz brechen, das zu hören.«

Michener zuckte mit den Schultern. »Sie hat sich selbst in diese Lage hineinmanövriert, da soll sie auch zusehen, wie sie wieder herauskommt.« Er fragte sich, ob er Katerina damit in Gefahr brachte, aber wenn er jetzt Schwäche zeigte, konnte das tödlich sein.

»Ich will Tibors Übersetzung«, sagte Ambrosi.

»Ich habe sie nicht.«

»Aber Clemens hat das Dokument hierher geschickt. Das stimmt doch?«

»Ich weiß es nicht noch nicht.« Er musste Zeit gewinnen. »Aber ich kann es herausfinden. Und noch etwas.« Er deutete auf Irma. »Wenn ich das Gesuchte finde, möchte ich, dass Sie diese Dame hier in Ruhe lassen. Die Sache hat nichts mit ihr zu tun.«

»Clemens hat sie in die Angelegenheit verwickelt, nicht ich.«

»Wenn Sie die Übersetzung wollen, ist das die Bedingung. Andernfalls gebe ich sie der Presse.«

Michener bemerkte ein winziges Zucken in Ambrosis eiskalter Miene. Michener hätte beinahe gelächelt. Er hatte richtig geraten. Valendrea hatte seinen Handlanger losgeschickt, um das Dokument zu zerstören, nicht um es zu bergen.

»Ich betrachte diese Frau als unbeteiligt«, erklärte Ambrosi. »Vorausgesetzt, sie hat das Dokument nicht gelesen.«

»Sie versteht kein Italienisch.«

»Sie allerdings schon, Michener. Vergessen Sie also meine Warnung nicht. Sollten Sie sich dafür entscheiden, mein Verbot zu übertreten, lassen Sie mir keine Wahl.«

»Woher würden Sie denn wissen, ob ich es gelesen habe, Ambrosi?«

»Ich gehe davon aus, dass man sich da schlecht verstellen kann. Vor dieser Botschaft sind Päpste erzittert. Lassen Sie es also sein, Monsignore. Die Sache geht Sie nichts mehr an.«

»Für jemanden, den das alles nichts angeht, haben Sie mich aber ganz schön beansprucht. Ich erinnere nur an den Besuch, den ich gestern Abend bekam.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle auch behaupten.«

»Was ist mit Clemens?«, fragte Irma mit flehender Stimme. Sie dachte anscheinend noch immer über die Briefe nach.

Ambrosi zuckte mit den Schultern. »Sein Andenken liegt ganz in Ihrer Hand. Ich möchte die Presse außen vor halten. Sollte das aber misslingen, werden wir gewisse Informationen durchsickern lassen, die sein Andenken, tja, ruinieren würden, um es gelinde auszudrücken und Ihren Ruf übrigens auch.«

»Sie wollen öffentlich erklären, auf welche Weise er gestorben ist?«, fragte sie.

Ambrosi warf Michener einen Blick zu. »Sie weiß Bescheid?«

Er nickte. »Wie Sie selbst offensichtlich auch.«

»Gut. Das macht die Dinge einfacher. Ja, wir würden das Geheimnis lüften, wenn auch nicht offiziell. Gerüchte können da wesentlich wirkungsvoller sein. Noch heute glauben viele Menschen, dass Johannes Paul I., Gott hab ihn selig, ermordet wurde. Stellen Sie sich nur vor, was alles über Clemens geschrieben würde. Die paar Briefe in unserer Hand würden reichen, um ihn vollständig zu kompromittieren. Wenn der Verstorbene Ihnen teuer ist, wovon ich doch ausgehe, sollten Sie in dieser Sache mit uns kooperieren. Dann wird niemand jemals etwas erfahren.«

Irma erwiderte nichts, doch Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Weinen Sie nicht«, sagte Ambrosi. »Hochwürden Michener wird schon das Richtige tun. Das tut er immer.« Ambrosi ging rückwärts zur Tür, blieb aber noch einmal stehen. »Wie ich höre, wird der Bamberger Krippenweg heute eröffnet. In allen Kirchen werden Szenen der Geburt Jesu zu sehen sein. Im Dom wird eine Messe gefeiert. Man rechnet mit großem Andrang. Die Messe ist um zwanzig Uhr. Ich schlage vor, dass wir der Menge zuvorkommen und unsere Pfänder um neunzehn Uhr austauschen.«

»Ich wüsste nicht, was Sie mir geben könnten.«

Ambrosi lächelte fies. »Ich glaube doch. Heute Abend. Im Dom.« Er zeigte aus dem Fenster auf die große Kathedrale, die den Hügel auf der anderen Seite des Flusses krönte. »Ein sehr öffentlicher Ort, da werden wir uns alle besser fühlen. Aber wenn Sie wollen, können wir den Austausch auch jetzt erledigen.«

»Um neunzehn Uhr im Dom. Und jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen.«

»Denken Sie an meine Worte, Michener. Lassen Sie den Brief versiegelt. Tun Sie sich selbst, Frau Lew und Frau Rahn den Gefallen.«

Ambrosi ging.

Irma saß da und schluchzte lautlos vor sich hin. Dann sagte sie: »Dieser Mann ist böse.«

»Er und ebenso unser neuer Papst.«

»Gehört dieser Mann zu Petrus?«

»Er ist der päpstliche Privatsekretär.«

»Was ist da los, Colin?«

»Das kann ich erst sagen, wenn ich das Dokument im Umschlag gelesen habe.« Doch er musste eine Gefährdung Irmas verhindern. »Ich möchte, dass du aus dem Zimmer gehst. Ich möchte nicht, dass du irgendetwas davon mitbekommst.«

»Warum willst du den Umschlag öffnen?«

Michener nahm den Brief in die Hand. »Ich muss wissen, was so wichtig ist.«

»Dieser Mann hat ausdrücklich gesagt, dass du das nicht tun sollst.«

»Zum Teufel mit Ambrosi.« Michener staunte selbst über die Härte seines Tons. Irma schien über seine Zwangslage nachzudenken, dann sagte sie: »Ich werde dafür sorgen, dass du ungestört bleibst.«

Sie zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich. Diese quietschte leise in den Angeln, genau wie damals die Tür im Archiv. Michener konnte sich noch gut an den verregneten Vormittag vor beinahe einem Monat erinnern, an dem jemand ihn im Archiv beobachtet hatte.

Es war mit Sicherheit Paolo Ambrosi gewesen.

In der Ferne hörte man das lang gezogene Tuten einer Schiffssirene. Von der anderen Seite des Flusses klang der Stundenschlag der Kirchturmuhr herüber. Es war ein Uhr mittags.

Er setzte sich hin und riss den Umschlag auf.

Darin lagen zwei Blätter, das eine blau, das andere beige Auf dem blauen Papier erkannte er Clemens Handschrift und las diese Seite zuerst:

 

Colin, inzwischen weißt du, dass die Botschaft der Jungfrau mehr umfasste. Ich vertraue dir ihre Worte an. Geh weise damit um.

 

Mit zitternden Händen legte Michener das blaue Blatt beiseite. Clemens hatte offensichtlich gewusst, dass er schließlich den Weg nach Bamberg finden und das Dokument lesen würde, das sich in dem Umschlag befand.

Er entfaltete die beigefarbene Seite.

Die Tinte war hellblau, und die Seite fühlte sich neu an. Er überflog den italienischen Text. Nach dem zweiten Durchgang verstand er ihn besser. Nach dem dritten Lesen wusste er genau, was Schwester Lucia im Jahr 1944 aufgezeichnet hatte den Rest des dritten Geheimnisses, das die Jungfrau ihr anvertraut hatte und was Hochwürden Tibor damals, an jenem Tag im Jahre 1960, übersetzt hatte.

 

Bevor Unsere Liebe Frau uns verließ, verkündigte sie uns eine letzte Botschaft, die sie im Auftrag des Herrn nur Jacinta und mir anvertraute. Sie sagte, sie sei die Mutter Gottes, und forderte uns auf, diese Botschaft zur rechten Zeit aller Welt bekannt zu geben. Dabei würden wir aber auf heftigen Widerstand stoßen. Höre gut zu, und merke auf, so befahl sie. Die Menschen müssen besser werden. Sie haben gesündigt und das Geschenk, das sie bekamen, mit Füßen getreten. Mein Kind, sagte Unsere Liebe Frau, die Ehe ist heilig. Ihre Liebe kennt keine Grenzen. Die Gefühle des Herzens sind wahr, wem auch immer sie gelten und aus welchem Grunde auch immer, und vor Gottes Augen ist ein harmonisches Liebesverhältnis niemals widernatürlich. Wisse, dass Glück der einzige wahre Prüfstein der Liebe ist. Wisse außerdem, dass Frauen ebenso sehr Teil von Gottes Kirche sind wie Männer. Nicht allein Männer werden zum Dienst des Herrn berufen. Den Priestern Gottes soll man Liebe und Partnerschaft nicht verbieten und ihnen die Freude eines Kindes nicht verwehren. Gott dienen heißt nicht, das eigene Herz nicht zu hören. Priester sollten das Leben in seiner ganzen Fülle kennen. Schließlich aber wisse, sagte Unsere Liebe Frau, dass dein Körper dir gehört. So wie Gott mir seinen Sohn anvertraute, so vertraut der Herr dir und allen Frauen das Ungeborene an. Ihr allein könnt entscheiden, was das Beste ist. Geht nun, meine Kleinen, und verkündet die Herrlichkeit dieser Worte. Ich werde euch immer zur Seite stehen.

 

Micheners Hände bebten. Nicht wegen Schwester Lucias Worten, so aufrüttelnd diese auch sein mochten. Es gab einen anderen Grund.

Er griff in seine Tasche und fand die Botschaft, die Jasna vor zwei Tagen niedergeschrieben hatte. Es waren Worte, die die Jungfrau ihr auf dem Berggipfel in Bosnien anvertraut hatte. Das zehnte Geheimnis von Medjugorje. Er faltete die Seite auf und las die Botschaft erneut:

 

Fürchte dich nicht, ich bin die Mutter Gottes und fordere dich auf, meine Botschaft der ganzen Welt bekannt zu geben. Höre gut zu, und merke auf, was ich dir sage. Die Menschen müssen besser werden. Demütig müssen sie um Vergebung ihrer Sünden bitten, der schon begangenen wie der zukünftigen. Verkünde in meinem Namen, dass ein schlimmes Strafgericht die Menschheit heimsuchen wird; nicht heute und nicht morgen, aber bald, wenn sie meinen Worten nicht glaubt. All dies habe ich schon den Gesegneten in La Salette enthüllt, dann in Fatima, und heute wiederhole ich es, weil die Menschheit gesündigt und das Geschenk, das Gott ihr gab, mit Füßen getreten hat. Die Zeit der Zeiten und das Ende aller Enden wird kommen, wenn die Menschheit sich nicht bekehrt; und wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist, oder sogar noch schlimmer wird, so werden die Großen und Mächtigen mit den Kleinen und Schwachen zugrunde gehen.

Höre meine Worte. Warum verfolgt ihr den Mann oder die Frau, die anders lieben als andere? Solche Verfolgung missfällt dem Herrn. Wisse, dass das Sakrament der Ehe allen ohne Einschränkung zuteil wird. Verbote entspringen der Torheit des Menschen, nicht dem Wort Gottes. Gottes Auge ruht wohlgefällig auf den Frauen. Ihr Dienst wurde zu lange verboten, und dieses Verbot missfällt dem Himmel. Die Priester Jesu sollten glücklich sein und das Leben in seiner Fülle kennen. Die Freude der Liebe und der Elternschaft sollte ihnen niemals verwehrt werden. Der Heilige Vater ist gut beraten, wenn er dies versteht. Meine letzten Worte sind die wichtigsten. Wisse, dass ich mich aus freiem Willen entschied, die Mutter Gottes zu sein. Die Entscheidung für ein Kind liegt bei der Mutter, und niemand soll hier eingreifen. Gehe nun hin, und verkünde der Welt meine Botschaft, verkünde die Güte des Herrn, und vergiss nicht, dass ich dir immer zur Seite stehen werde.

 

Michener glitt von seinem Stuhl und fiel auf die Knie. Es stand außer Frage, was das bedeutete. Zwei Botschaften. Die eine war 1944 von einer portugiesischen Nonne einer wenig gebildeten Frau mit begrenzter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit aufgeschrieben und 1960 von einem Priester übersetzt worden. Sie berichtete von einer Marienerscheinung am 13. Juli 1917. Die andere Botschaft war vor zwei Tagen von einer Frau aufgeschrieben worden von einer Seherin, der Hunderte von Erscheinungen widerfahren waren und gab die Worte der Jungfrau Maria wieder, die ihr auf einem sturmumtosten Berggipfel zum letzten Mal erschienen war.

Zwischen den beiden Ereignissen lagen beinahe hundert Jahre.

Die erste Botschaft war im Vatikan versiegelt und nur von Päpsten und einem bulgarischen Übersetzer gelesen worden, die alle der Überbringerin der zweiten Botschaft niemals begegnet waren. Die Visionärin der zweiten Botschaft konnte ihrerseits den Inhalt der ersten Botschaft unmöglich gekannt haben. Und doch war der Inhalt beider Botschaften gleich und der gemeinsame Nenner war die Botschafterin.

Maria, die Mutter Gottes.

Seit zweitausend Jahren suchten Zweifler nach einem Gottesbeweis. Nun gab es etwas Greifbares, das Gottes Existenz zweifelsfrei vor Augen führte. Er existierte, wusste von der Welt und war in jedem Sinne des Wortes lebendig. Er war kein Gleichnis und keine Metapher. Er herrschte im Himmel, versorgte die Menschheit und bewachte die Schöpfung. Michener dachte plötzlich an seine eigene Vision.

Was ist meine Bestimmung?, hatte er gefragt.

Ein Zeichen für die Welt zu sein. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott lebendig ist.

Er hatte das alles für eine Halluzination gehalten. Jetzt wusste er, dass es wirklich passiert war.

Er bekreuzigte sich und betete zum ersten Mal in dem Wissen, dass Gott ihn hörte, betete um Vergebung für die Kirche und die Torheit der Menschen, insbesondere aber seine eigene. Wenn Clemens Recht hatte und es gab inzwischen keinen Grund mehr, daran zu zweifeln –, hatte Alberto Valendrea 1978 jenen Teil des dritten Geheimnisses unterschlagen, den Michener gerade eben gelesen hatte. Was Valendrea wohl gedacht hatte, als er die Worte zum ersten Mal las? Zweitausend Jahre christlicher Lehren verworfen, und zwar von einem des Lesens unkundigen portugiesischen Kind. Frauen dürfen Priester werden? Priester dürfen heiraten und Kinder haben? Homosexualität ist keine Sünde? Frauen entscheiden selbst, ob sie Mutter werden wollen? Als Valendrea dann gestern die Botschaft von Medjugorje gelesen hatte, hatte er sofort erkannt, was nun auch Michener wusste.

All das war Gottes Wort.

Wieder kamen ihm die Worte der Jungfrau in den Sinn: Halte an deinem Glauben fest, denn am Ende wird er das Einzige sein, was dir bleibt.

Michener schloss die Augen. Clemens hatte Recht. Die Menschen waren Toren. Der Himmel hatte versucht, die Menschheit auf den rechten Weg zu lenken, doch die Törichten waren achtlos darüber hinweggegangen. Michener dachte an die verschwundenen Botschaften der Seher von La Salette. Hatte ein anderer Papst vor einem Jahrhundert dasselbe versucht wie Valendrea und Erfolg gehabt? Das könnte erklären, warum die Jungfrau erst in Fatima und dann in Medjugorje erschienen war. Um es noch einmal zu versuchen. Und doch hatte Valendrea die Beweise vernichtet und damit die Offenbarung unmöglich gemacht. Clemens hatte wenigstens getan, was er konnte. Die Jungfrau war hier und erklärte mir, dass meine Zeit gekommen sei. Hochwürden Tibor war bei ihr. Ich erwartete, dass sie mich gleich mitnehmen würde, doch sie sagte, ich müsse mein Leben mit eigener Hand beenden. Hochwürden Tibor sagte, das sei meine Pflicht und die Buße für meinen Ungehorsam. Alles werde sich später klären. Ich sorgte mich um meine Seele, doch sie sagten mir, der Herr erwarte mich. Zu lange habe ich die Wünsche des Himmels missachtet, diesmal aber werde ich gehorchen. Diese Worte waren nicht das Gebrabbel eines Verrückten und auch nicht der Abschiedsbrief eines labilen Menschen. Michener verstand inzwischen, warum Valendrea nicht zulassen konnte, dass jemand Hochwürden Tibors Übersetzungskopie mit Jasnas Botschaft verglich.

Für ihn wären die Auswirkungen verheerend.

Nicht allein Männer werden zum Dienst des Herrn berufen. Die Haltung der Kirche zur Frage der Priesterschaft von Frauen war unbeugsam. Seit den ältesten römischen Zeiten hatten die Päpste diese Tradition immer wieder bestätigt. Jesus war ein Mann, und so sollten auch seine Priester Männer sein.

Die Priester Jesu sollten glücklich sein und das Leben in seiner Fülle kennen. Die Freuden der Liebe und der Elternschaft sollte ihnen niemals verwehrt werden. Der Zölibat war von Menschen erdacht und durchgesetzt worden. Die Kirche war der Meinung, Jesus habe zölibatär gelebt. Daher sollten seine Priester es ihm nachtun.

Warum verfolgt ihr den Mann oder die Frau, die anders lieben als andere? Die Genesis berichtete, dass Mann und Frau ein Leib wurden, wenn sie zusammenkamen, um Leben zu zeugen, und so lehrte die Kirche seit langem, dass eine Verbindung, die unfruchtbar bleiben müsse, Sünde sei.

So wie Gott mir seinen Sohn anvertraute, so vertraut der Herr dir und allen Frauen das Ungeborene an. Ihr allein könnt entscheiden, was das Beste ist. Die Kirche hatte sich vehement gegen alle Formen der Geburtenkontrolle gesperrt. Die Päpste hatten mehrmals dekretiert, dass der Embryo beseelt sei ein Mensch mit dem Recht auf Leben und dass dieses Leben ausgetragen werden musste, selbst wenn es für die Mutter eine besondere Härte bedeutete.

Die menschliche Vorstellung vom Worte Gottes unterschied sich offensichtlich gewaltig von seinem wahren Wort. Schlimmer noch, seit Jahrhunderten hatte die Kirche ihre starre Haltung mit dem Stempel päpstlicher Unfehlbarkeit versehen. Die Unfehlbarkeit war nun aber ad absurdum geführt, da kein Papst je getan hatte, was der Himmel verlangte. Was hatte Clemens gesagt? Wir sind nur Menschen, Colin. Mehr nicht. Ich bin nicht unfehlbarer als Sie. Und doch nennen wir uns Prälaten unserer Kirche. Fromme Geistliche, die nur Gott gefallen wollen. Dabei wollen wir vor allen Dingen uns selbst gefallen.

Er hatte Recht gehabt, Gott hab ihn selig.

Man brauchte nur die wenigen Worte zu lesen, die diese beiden gesegneten Frauen aufgeschrieben hatten, und man erkannte die religiösen Irrtümer von Jahrtausenden. Michener betete erneut und dankte Gott diesmal für seine Geduld. Er bat den Herrn, der Menschheit zu vergeben, und dann bat er Clemens, in den kommenden Stunden über ihn zu wachen.

Er konnte Ambrosi unmöglich Hochwürden Tibors Übersetzung aushändigen. Die Jungfrau hatte ihm gesagt, er sei ein Zeichen für die Welt. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott lebendig ist. Dafür brauchte er das vollständige dritte Geheimnis von Fatima. Gelehrte mussten den Text prüfen, und sie würden alle zum selben Ergebnis kommen.

Doch wenn er Hochwürden Tibors Übersetzung behielt, brachte er Katerina in Gefahr.

Und so betete er ein drittes Mal, diesmal um Führung.

66

16.30 Uhr

 

Katerina versuchte vergeblich, ihre Hände und Füße von dem Klebeband zu befreien, mit dem sie gefesselt war. Die Arme waren ihr hinter dem Rücken zusammengebunden, und sie lag der Länge nach auf einer harten Matratze und einer kratzigen Steppdecke, die nach Farbe roch. Durch das einzige Fenster des Raums sah sie, dass es Nacht wurde. Auch ihr Mund war mit Klebeband zugeklebt, und sie zwang sich, ruhig zu bleiben und langsam durch die Nase zu atmen.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierher gekommen war. Sie konnte sich nur erinnern, dass Ambrosi sie gewürgt hatte, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Seit ungefähr zwei Stunden war sie wach und hatte bisher nur hin und wieder Stimmen von der Straße gehört. Anscheinend befand sie sich in einem oberen Stockwerk, vielleicht in einem jener barocken Gebäude der Bamberger Altstadt in der Nähe der Gangolfskirche, denn Ambrosi konnte sie nicht weit getragen haben. In der kalten Luft trocknete ihre Nase aus, und sie war froh, dass er ihr den Mantel gelassen hatte.

In der Kirche hatte sie einen Moment lang geglaubt, es sei aus mit ihr. Doch anscheinend nützte sie ihm lebend mehr als tot bestimmt würde er sie als Pfand einsetzen, um Michener zur Herausgabe des gesuchten Dokuments zu zwingen.

Tom Kealy hatte mit seiner Meinung über Valendrea Recht gehabt, doch als er glaubte, Katerina werde Valendrea Paroli bieten können, hatte er sich getäuscht. Die Leidenschaften dieses Mannes überstiegen alles, was sie bisher kennen gelernt hatte. Valendrea hatte Kealy beim Tribunal vorgeworfen, er habe sich dem Teufel ergeben. Falls das stimmte, befanden Kealy und Valendrea sich in derselben Gesellschaft.

Sie hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Schritte kamen näher. Die Tür des Zimmers ging auf, und Ambrosi trat herein und riss sich ein paar Handschuhe von den Fingern. »Haben Sies gemütlich?«, fragte er.

Sie folgte seinen Bewegungen mit den Augen. Ambrosi warf seinen Mantel über einen Stuhl und setzte sich aufs Bett. »Bestimmt haben Sie vorhin in der Kirche geglaubt, dass es aus ist mit Ihnen. Das Leben ist ein wunderbares Geschenk, nicht wahr? Sie können mir natürlich nicht antworten, aber das ist in Ordnung. Ich beantworte meine Fragen gerne selbst.«

Er wirkte ungemein selbstzufrieden.

»Das Leben ist tatsächlich ein Geschenk, und dieses Geschenk haben Sie mir zu verdanken. Ich hätte Sie auch umbringen und das Problem, das Sie darstellen, damit aus der Welt schaffen können.«

Sie lag vollkommen bewegungslos da. Er schien sie mit den Augen auszuziehen.

»Michener hat es mit Ihnen getrieben, nicht wahr? Bestimmt hat er seinen Spaß gehabt. Was hatten Sie mir in Rom noch gesagt? Dass Sie im Sitzen pinkeln, und darum wären Sie nicht das Richtige für mich. Denken Sie etwa, dass ich Frauen nicht begehre? Denken Sie, ich wüsste nicht, wie man es anfängt? Weil ich Priester bin? Oder schwul?«

Sie fragte sich, ob die Show für sie bestimmt war oder ob er sich selbst daran aufgeilen wollte.

»Ihr Lover sagte, ihm sei es scheißegal, was mit Ihnen passierte.« Seine Stimme klang belustigt. »Er sagte, Sie seien meine Spionin und damit mein Problem und nicht seines. Vielleicht hat er ja Recht. Schließlich habe ich Sie geworben.«

Sie bemühte sich, gelassen zu wirken.

»Sie denken, Seine Heiligkeit habe sich um Ihre Hilfe bemüht? Nein, ich war es. Ich habe von Ihnen und Michener erfahren. Ich habe diese Möglichkeit erwogen. Ohne mich hätte Petrus nicht die geringste Ahnung.«

Er zerrte sie plötzlich hoch und riss ihr das Klebeband vom Mund. Bevor sie einen Ton hervorbringen konnte, zog er sie an sich und verschloss ihre Lippen mit seinem Mund. Er stieß ihr seine widerliche Zunge zwischen die Lippen, und sie wollte ihn wegstoßen, doch er hatte sie fest im Griff. Er verdrehte ihr den Kopf, packte ihr Haar und erstickte sie fast. Sein Mund schmeckte nach Bier. Schließlich schlug sie ihre Zähne in seine Zunge. Er zuckte zurück, und sie sprang vor, schnappte nach seiner Unterlippe und biss sie blutig.

»Du Schlampe«, schrie er und schleuderte sie aufs Bett.

Sie spuckte seinen Speichel aus, als könne sie sich damit von etwas Bösem reinigen. Er sprang vor und verpasste ihr eine Ohrfeige mit dem Handrücken. Der Schlag tat weh, und sie schmeckte Blut. Er schlug sie ein zweites Mal, und ihr Kopf krachte gegen die Wand neben dem Bett.

Der Raum drehte sich um sie.

»Ich sollte dich umbringen«, flüsterte er.

»Arschloch«, würgte sie hervor und drehte sich auf den Rücken, aber der Schwindel ging nicht weg.

Er betupfte die blutige Lippe mit dem Hemdsärmel.

Blut rann ihr aus dem Mundwinkel. Sie wischte die Wange an der Steppdecke ab. Jetzt waren rote Flecken darauf. »Am besten bringen Sie mich um. Sonst töte ich Sie, sobald ich die Gelegenheit habe.«

»Diese Gelegenheit werden Sie niemals bekommen.«

Ihr wurde klar, dass sie sicher war, bis Ambrosi das Geheimnis in Händen hielt. Michener hatte gut daran getan, dem Dummkopf einzureden, sie, Katerina, sei unwichtig.

Er trat dicht ans Bett, noch immer seine Lippe betupfend. »Ich hoffe nur, dass Ihr Lover überhört hat, was ich ihm gesagt habe. Es wird mir Vergnügen bereiten, Ihnen beiden beim Sterben zuzusehen.«

»Große Worte für einen kleinen Mann.«

Er warf sich vor und setzte sich rittlings auf sie. Sie wusste, dass er sie nicht umbringen würde. Jedenfalls noch nicht.

»Was ist los, Ambrosi, wissen Sie nicht weiter?«

Er bebte vor Wut. Sie reizte ihn bis aufs Blut!

»Ich hatte Petrus nach Rumänien nahe gelegt, Sie in Ruhe zu lassen.«

»Und deshalb werde ich jetzt von seinem Schoßhündchen verprügelt?«

»Sie haben Glück, dass Ihnen sonst nichts passiert.«

»Vielleicht wäre Valendrea ja eifersüchtig. Vielleicht sollten wir unser kleines Tête-à-tête ja für uns behalten?«

Diese höhnische Bemerkung reizte ihn so, dass er sie am Hals packte. Sie bekam zwar noch Luft, wusste aber, dass sie fürs Erste besser den Mund hielt.

»Jetzt, wo ich an Händen und Füßen gefesselt bin, spielen Sie den starken Mann! Nehmen Sie mir die Fesseln ab, dann wollen wir doch mal sehen, wie tapfer Sie wirklich sind.«

Ambrosi schob sich von ihr herunter. »Sie sind die Mühe nicht wert. Es sind nur noch ein paar Stunden. Ich geh erst mal was essen, bevor ich das hier erledige.« Er durchbohrte sie mit seinem Blick. »Endgültig.«

67

Vatikanstadt, 18.30 Uhr

 

Valendrea schlenderte durch die Gärten des Vatikans und genoss den ungewöhnlich milden Dezemberabend. Sein erster Samstag im Papstamt war sehr ausgefüllt gewesen. Am Vormittag hatte er eine Messe zelebriert und anschließend eine Prozession von Menschen empfangen, die nach Rom gereist waren, um ihm zu gratulieren. Der Nachmittag hatte mit einer Kardinalsversammlung begonnen. Etwa achtzig Kardinäle hielten sich noch in der Stadt auf, und er hatte ihnen während eines dreistündigen Treffens einen Teil seiner Zukunftspläne skizziert. Man hatte die üblichen Fragen gestellt, und er hatte die Gelegenheit genutzt und angekündigt, dass alle Ernennungen Clemens bis zur folgenden Woche gültig bleiben würden. Die einzige Ausnahme sei der Kardinalarchivar, der aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt eingereicht habe. Sein Nachfolger sei ein belgischer Kardinal, der nach seiner Abreise nun schon wieder auf dem Rückweg nach Rom sei. Ansonsten habe er noch keine Entscheidungen getroffen und werde dies auch erst nach dem Wochenende tun. Valendrea hatte die erwartungsvollen Blicke vieler Kardinäle auf sich gespürt, die darauf hofften, dass er die vor dem Konklave gegebenen Versprechen einlöste, doch niemand stellte seine Erklärung in Frage. Das gefiel Valendrea.

Vor ihm stand jetzt Kardinal Bartolo, der Valendrea unmittelbar nach der Versammlung um einen Termin gebeten und den dieser hierher einbestellt hatte. Der Erzbischof von Turin hatte auf einem Gespräch bestanden. Valendrea wusste, worum es ihm ging. Bartolo war das Amt des Staatssekretärs versprochen worden, und nun wollte der Kardinal offensichtlich auf die Einhaltung des Versprechens pochen. Ambrosi hatte Bartolo dieses Versprechen gegeben, aber er hatte Valendrea auch den Rat erteilt, die tatsächliche Entscheidung so lange wie möglich hinauszuzögern. Schließlich war Bartolo nicht der Einzige, dem Ambrosi dieses Amt zugesagt hatte. Den Verlierern musste er irgendeinen Ersatz anbieten, um Streit zu verhindern irgendwelche Positionen, für die es sich lohnte, die Enttäuschung zu überwinden und auf Vergeltungsmaßnahmen zu verzichten. Dem einen oder anderen konnte man gewiss einen attraktiven Posten anbieten, aber Valendrea wusste natürlich, dass das Staatssekretariat für hochrangige Kardinäle ein besonders begehrter Posten war.

Bartolo stand neben dem Pasetto di Borgo. Dieser mittelalterliche Gang führte durch die Vatikanmauer in die nahe gelegene Engelsburg, eine Festung, in der die Päpste früher in bedrohlichen Situationen Schutz gesucht hatten.

»Eminenz«, grüßte Valendrea beim Näherkommen.

Bartolo neigte das bärtige Gesicht. »Heiliger Vater.« Der Ältere lächelte. »Sie hören diese Anrede gerne, nicht wahr, Alberto?«

»Sie klingt gut.«

»Sie sind mir aus dem Weg gegangen.«

Der Papst tat diese Beobachtung ab. »Ganz und gar nicht.«

»Ach, kommen Sie, dafür kenne ich Sie zu gut. Ich bin nicht der einzige Kardinal, dem das Staatssekretariat angeboten wurde.«

»Die Stimmen fallen einem nun mal nicht in den Schoß. Man tut, was man kann.« Er bemühte sich um einen scherzhaften Ton, doch es war ihm klar, dass Bartolo keineswegs naiv war.

»Mindestens ein Dutzend Ihrer Stimmen haben Sie mir zu verdanken.«

»Aber ich habe sie nicht gebraucht.«

Bartolos Gesicht wurde hart. »Nur weil Ngovi den Rückzug angetreten hat. Wäre der Kampf weitergegangen, hätten diese zwölf Stimmen sich vermutlich als entscheidend erwiesen.«

Die Stimme des alten Mannes kippte, und er hörte sich kraftlos und flehend an. Valendrea beschloss, Klartext zu reden. »Gustavo, Sie sind zu alt. Der Staatssekretär hat ein sehr anstrengendes Amt, und er ist ständig auf Reisen.«

Bartolo starrte ihn wütend an. Dieser Verbündete würde sich nur schwer beschwichtigen lassen. Der Kardinal hatte Valendrea tatsächlich einige Stimmen eingebracht, wie abgehörte Gespräche zweifelsfrei ergaben, und er war von Anfang an Valendreas Favorit gewesen. Aber Bartolo genoss allgemein wenig Achtung. Er war nicht sonderlich gebildet und hatte keinerlei diplomatische Erfahrung. Valendrea würde sich keine Freunde damit machen, wenn er Bartolo mit einem Amt betraute, und schon gar nicht einem so entscheidenden wie dem des Staatssekretärs. Es gab noch drei weitere Kandidaten, die ebenso hart für Valendrea gearbeitet hatten, darüber hinaus aber noch einen vorbildlichen Hintergrund aufwiesen und im Kardinalskollegium über wesentlich mehr Rückhalt verfügten. Doch Bartolo hatte etwas zu bieten, was seine Konkurrenten Valendrea verwehren würden. Unbedingten Gehorsam. Und der war durchaus nicht zu verachten.

»Gustavo, falls ich erwägen sollte, Sie zu ernennen, müssten Sie einige Bedingungen erfüllen.« Er wollte einmal vorfühlen, auf wie viel Bereitwilligkeit er stieß.

»Ich höre.«

»Ich werde mir die Entscheidungskompetenz für auswärtige Belange vorbehalten. Entscheidungen werde ich treffen und nicht Sie. Sie würden meine Vorgaben eins zu eins umsetzen müssen.«

»Sie sind der Papst.«

Die Antwort kam ohne Zögern.

»Ich würde weder Widerspruch noch eigenwillige Vorstöße dulden.«

»Alberto, ich stehe jetzt seit beinahe fünfzig Jahren im Dienst der Kirche und habe bisher jedem Papst gehorcht. Ich habe sogar auf Knien Jakob Volkners Ring geküsst, obwohl ich diesen Mann verachte. Wie können Sie da meine Loyalität in Frage stellen?«

Valendrea gestattete sich ein Lächeln. »Ich stelle gar nichts in Frage. Ich will nur, dass Sie die Regeln kennen.«

Er ging ein Stück den Pfad entlang, und Bartolo folgte ihm. Valendrea zeigte nach oben und sagte: »Durch diesen Gang dort sind früher einige Päpste aus dem Vatikan geflohen. Sie haben sich versteckt wie Kinder, die sich im Dunkeln fürchten. Diese Vorstellung ist mir zutiefst zuwider.«

»Heutzutage fallen keine Armeen mehr in den Vatikan ein.«

»Truppen nicht, aber Armeen schon. Heute kommen die Ungläubigen in der Gestalt von Reportern und Journalisten. Sie bringen ihre Kameras und Notizbücher mit und arbeiten an der Zerstörung des Fundaments der Kirche, Seite an Seite mit Liberalen und Abtrünnigen. Manchmal, Gustavo, verbündet der Papst sich sogar mit ihnen, so wie Clemens es tat.«

»Gott sei Dank ist er gestorben.«

Diese Antwort gefiel Valendrea sehr, und er wusste, dass es keine leere Floskel war. »Ich habe die Absicht, dem Papsttum seine Würde zurückzugeben. Wo auch immer in der Welt der Papst auftaucht, strömen Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen herbei. Dieses Potenzial sollten die Regierungen fürchten. Ich habe die Absicht, der meistreisende Papst der Geschichte zu werden.«

»Und dafür würden Sie den unverbrüchlichen Beistand des Staatssekretariats benötigen.«

Sie spazierten weiter. »Genau das habe ich gemeint, Gustavo«

Wieder blickte Valendrea auf den gemauerten Fluchtgang und dachte an den letzten Papst, der aus dem Vatikan geflüchtet war vor einem Einfall deutscher Söldner. Er wusste das genaue Datum der 6. Mai 1527. Hundertsiebenundvierzig Schweizergardisten waren damals bei der Verteidigung ihres Papstes gestorben. Der Papst hatte seine weiße Kleidung abgelegt, damit keiner ihn erkannte, und war mit knapper Not durch den gemauerten Gang entkommen.

»Ich werde niemals aus dem Vatikan flüchten«, erklärte Valendrea nicht nur Bartolo, sondern geradezu den Mauern selbst. Plötzlich überwältigte es ihn, und er beschloss, Ambrosis Rat zu missachten. »Nun gut, Gustavo, ich werde die Entscheidung Montag bekannt geben. Sie werden zum Staatssekretär ernannt. Dienen Sie mir gut.«

Der alte Mann strahlte. »Sie werden einen hingebungsvollen Diener in mir finden.«

Das erinnerte Valendrea an seinen treuesten Verbündeten.

Ambrosi hatte ihn vor zwei Stunden angerufen und ihm mitgeteilt, dass man ihm Hochwürden Tibors Übersetzungskopie um neunzehn Uhr übergeben werde. Bisher gebe es keinerlei Anzeichen, dass jemand das Schriftstück gelesen haben könnte, und diese Nachricht beruhigte Valendrea sehr.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Achtzehn Uhr fünfzig.

»Haben Sie noch einen Termin, Heiliger Vater?«

»Nein, Eminenz. Ich dachte nur an eine andere Angelegenheit, die sich in diesen Minuten entscheidet.«

68

Bamberg, 18.50 Uhr

 

Michener stieg einen steilen Fußweg zum Bamberger Dom St. Peter und Georg hinauf und kam auf einen abschüssigen, länglichen Platz. Unten lag die Stadt als eine Landschaft aus Ziegeldächern und Steintürmen, erhellt von einem Gewimmel von Lichtflecken. Aus dem dunklen Himmel wirbelten unablässig Schneeflocken herab, doch das hielt die Leute nicht davon ab, zum Dom zu strömen, dessen vier Türme mit blauweißem Licht angestrahlt wurden.

Seit mehr als vier Jahrhunderten stellte man in den Kirchen und auf den Plätzen Bambergs im Advent Weihnachtskrippen aus. Michener hatte von Irma Rahn erfahren, dass der Krippenweg immer im Dom eröffnet wurde und dass nach dem Segen des Bischofs alle in die Stadt ausschwärmten, um zu sehen, was in diesem Jahr an den verschiedenen Orten aufgebaut worden war. Die Leute kamen aus ganz Bayern, und Irma hatte Michener gesagt, dass die Straßen laut und überfüllt sein würden.

Michener warf einen Blick auf seine Uhr. Noch nicht ganz sieben.

Er sah sich um und beobachtete die Familien, die auf das Domportal zumarschierten. Viele Kinder plapperten unaufhörlich über den Schnee, Weihnachten und Nikolaus. Zur Rechten hatte sich eine Gruppe um eine Frau in einem dicken Lodenmantel geschart. Sie stand auf einem kniehohen Mäuerchen und erzählte etwas über den Bamberger Dom. Irgendeine Führung.

Michener fragte sich, was die Leute wohl denken würden, wenn sie dasselbe wüssten wie er. Dass Gott keineswegs ein menschliches Hirngespinst war. Sondern dass es genau so war, wie Theologen und Heilige es von Anfang an verkündet hatten: Gott war da und sah die Menschen, oft erfreut, oft enttäuscht und manchmal voll Ärger. Offensichtlich war der älteste Rat noch immer der beste: Dient ihm gut und treu.

Michener machte sich Sorgen, wie er seine eigenen Sünden büßen sollte. Vielleicht war seine jetzige Aufgabe ja Teil der Wiedergutmachung. Immerhin erleichterte es ihn sehr, dass seine Liebe zu Katerina zumindest aus himmlischer Sicht niemals eine Sünde gewesen war. Wie viele Priester waren nach vergleichbaren Verfehlungen aus der Kirche ausgeschieden? Wie viele gute Männer hielten sich bis zu ihrem Tod für Gefallene?

Er wollte sich gerade an der Touristengruppe vorbeischieben, als etwas, was die Führerin sagte, seine Aufmerksamkeit erregte.

»… die Stadt der sieben Hügel.«

Er verharrte stocksteif.

»So nannte man Bamberg früher. Wegen der sieben Hügel, die sich hier aus dem Flusstal erheben. Das lässt sich zwar heute nur noch schwer erkennen, aber es sind sieben getrennte Hügel, von denen jeder in früheren Jahrhunderten Standort eines Fürsten- oder Bischofsitzes oder einer Kirche wurde. In der Regierungszeit Kaiser Heinrichs II. als Bamberg die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs war, brachte diese Analogie das weltliche Herrschaftszentrum dem religiösen Zentrum Rom näher, das ebenfalls als Stadt der sieben Hügel bezeichnet wurde.«

Bei ihrer letzten Heimsuchung wird die Heilige Katholische Kirche von Petrus Romanus regiert werden, der seine Herde in großer Drangsal weiden wird, und danach wird in der Stadt der Sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten. So lautete die angebliche Prophezeiung des Malachius aus dem elften Jahrhundert. Michener war davon ausgegangen, dass mit der Stadt der sieben Hügel Rom gemeint war. Er hatte nicht gewusst, dass Bamberg auch so genannt worden war.

Er schloss die Augen und betete ein weiteres Mal. War dies eine wichtige Erkenntnis? Spielte es bei dem, was nun geschehen würde, eine entscheidende Rolle?

Angestrengt blickte er zur Bogenlaibung des Trichterportals hinauf. Das hell angestrahlte Bogenfeld stellte Jesus beim Jüngsten Gericht dar. Maria und Johannes zu Jesu Füßen waren Fürsprecher der aus ihren Särgen steigenden Seelen. Die Erretteten schritten hinter Maria auf den Himmel zu, während die Verdammten von einem grinsenden Teufel in die Hölle gezerrt wurden. Endeten zweitausend Jahre christlicher Arroganz nun in dieser Nacht und an diesem Ort, den ein heilig gesprochener irischer Priester vor tausend Jahren vorhergesagt hatte?

Michener sog die eiskalte Luft ein, nahm allen Mut zusammen und schob sich zur Kirche durch. Drinnen waren die Sandsteinwände des Kirchenschiffs von sanftem Licht übergossen. Er sah das Rippengewölbe, die mächtigen Säulen, die Statuen und die Spitzbogenfenster. Die Kirche hatte zwei Chöre, von denen einer mit prächtigem gotischem Chorgestühl ausgestattet war. In dem anderen stand ein Altar. Hinter dem Altar lag das Grab Clemens II. Volkners Namenspatron und der einzige Papst, der je auf deutschem Boden bestattet worden war.

Michener blieb vor dem Weihwasserbecken stehen und tauchte die Finger ein. Er bekreuzigte sich und betete um Beistand. Eine leise Orgelmelodie war zu hören.

Er sah sich unter den Besuchern um, die die langen Kirchenbänke füllten. Messdiener machten sich hier und da im Chorraum zu schaffen. Links vorn, etwas erhöht, stand Katerina vor einer mächtigen Steinbalustrade. An ihrer Seite erblickte er Ambrosi, der denselben dunklen Mantel und Schal trug wie zuvor. Links und rechts einer Schranke führte eine Treppe zum Chor hinauf, auf der zahlreiche Besucher standen. Zwischen den beiden Treppen lag das Kaisergrab. Clemens hatte es erwähnt auf dem Sarkophag von Riemenschneider waren Kaiser Heinrich II. und seine Frau dargestellt, deren Gebeine seit einem halben Jahrhundert darin ruhten.

Michener wusste, dass Ambrosi eine Pistole dabei hatte, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er hier in der Kirche schießen würde. Er fragte sich, ob Ambrosi in der Menschenmenge noch Helfer hatte. Michener stand ganz still, während die Leute an ihm vorbei in die Kirche strömten.

Ambrosi winkte ihn heran.

Michener rührte sich nicht.

Ambrosi winkte erneut.

Michener schüttelte den Kopf.

Ambrosis Blick wurde hart.

Michener nahm den Umschlag aus der Manteltasche und hielt ihn so, dass sein Feind ihn sehen konnte. Der Ausdruck im Gesicht des päpstlichen Privatsekretärs ließ erkennen, dass er den Umschlag, der im Restaurant so unschuldig auf dem Tisch gelegen hatte, wiedererkannte.

Noch einmal schüttelte Michener den Kopf.

Dann fiel ihm ein, dass Katerina ihm erzählt hatte, Ambrosi habe ihre Lippen gelesen, als sie Michener auf dem Petersplatz beschimpfte.

Ich scheiß auf dich, Ambrosi, flüsterte er mit deutlichen Lippenbewegungen.

Er sah, dass der Priester ihn verstanden hatte.

Michener steckte den Umschlag wieder ein und ging zum Ausgang, inständig hoffend, dass er das alles nicht bald bereuen würde.

Katerina sah, dass Michener mit den Lippen Worte formte und sich dann zum Gehen wandte. Auf dem Weg zum Dom hatte sie sich Ambrosi nicht widersetzt, da er ihr erklärt hatte, er sei nicht allein und wenn sie nicht mitkäme, sei Michener bald ein toter Mann. Sie bezweifelte zwar, dass er Helfer hatte, doch so oder so war ihre beste Chance, in die Kirche mitzukommen und eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Daher achtete sie nicht auf die Pistolenmündung, die sich in ihren Rücken bohrte, und trat Ambrosi in dem Moment, als ihm Micheners Verrat klar wurde, den linken Absatz mit voller Wucht auf den Fuß. Sie stieß den Priester von sich und entriss ihm die Pistole, die krachend auf die Steinplatten fiel.

Dann stürzte sie sich auf die Waffe. Ihre Nachbarin kreischte laut auf, und Katerina nutzte die entstehende Verwirrung, schnappte sich die Pistole und rannte zur Treppe. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Ambrosi aufstand.

Sie schob sich durch das Gedränge auf der Treppe, bis sie auf die Idee kam, übers Gelände auf den Sarkophag des Kaisers zu springen. Sie landete auf der Marmorplastik einer Frau an der Seite eines Mannes im Kaisermantel und sprang von dort zu Boden. Die Pistole hatte sie noch immer in der Hand. Menschen schrien, Panik brach aus. Katerina drängte sich durch eine Gruppe von Leuten, die an der Tür stand, und trat in die eiskalte Nacht hinaus.

Sie steckte die Pistole in die Manteltasche, sah sich nach Michener um und entdeckte ihn auf dem Weg, der zur Altstadt führte. Der Lärm hinter ihr machte ihr klar, dass Ambrosi ebenfalls versuchte, nach draußen zu kommen.

Deshalb rannte sie los.

 

Michener meinte, Katerina gesehen zu haben, rannte aber weiter den gewundenen Weg hinunter. Er durfte nicht stehen bleiben. Auf keinen Fall. Falls es Katerina war, würde sie ihm schon folgen und Ambrosi würde hinter ihr her laufen. Daher eilte er den schmalen, gepflasterten Weg hinunter, vorbei an zahlreichen Menschen, die auf dem Weg nach oben waren. Unten angekommen, stürzte er zur Rathausbrücke. Diese führte zum Fachwerkbau des Alten Rathauses, durch dieses hindurch und auf der anderen Seite des Flusses zum belebten Maxplatz.

Michener lief jetzt langsamer und riskierte einen kurzen Blick zurück.

Katerina war fünfzig Meter hinter ihm und rannte weiter auf ihn zu.

 

Katerina wollte Michener zurufen, dass er auf sie warten solle, doch er eilte entschlossenen Schrittes auf das Gedränge des Weihnachtsmarktes zu. Zwar hatte sie noch immer die Pistole in der Manteltasche, doch Ambrosi hinter ihr holte rasch auf. Sie hatte nach einem Polizisten oder irgendeiner Amtsperson Ausschau gehalten, doch anscheinend hatten die Behörden an diesem Feiertag dicht gemacht. Weit und breit war niemand in Uniform zu sehen.

Sie musste darauf vertrauen, dass Michener wusste, was er tat. Er hatte Ambrosi absichtlich an der Nase herumgeführt und setzte offensichtlich darauf, dass ihr Angreifer ihr in der Öffentlichkeit nichts antun würde. Was auch immer in Hochwürden Tibors Übersetzung stand: Weil es anscheinend so wichtig war, wollte Michener auf keinen Fall, dass es Ambrosi oder Valendrea in die Hände fiel. Doch sie fragte sich, ob es wirklich so wichtig war, dass es den hohen Einsatz lohnte, mit dem Colin hier offensichtlich pokerte.

Vor ihr verschwand Michener in der Menschenmenge, die sich zwischen den Weihnachtsständen drängte. Der Weihnachtsmarkt war mit Lampen hell erleuchtet. Es roch nach Bratwurst und Bier.

Da tauchte auch sie ins Gedränge und schob sich mühsam vorwärts.

 

Michener schob sich hastig durch die Besucherscharen, achtete aber darauf, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Marktplatz war etwa hundert Meter lang und von Fachwerkhäusern gesäumt. Eine gewundene Gasse führte zwischen den Ständen hindurch, und auf dem beengten Raum herrschte ein heilloses Gedränge.

Michener erreichte die letzte Bude, wo die Menschenmenge sich auflöste.

Da rannte er wieder, so schnell er konnte, und seine Schuhsohlen schlugen laut aufs Pflaster, als er den überfüllten Markt hinter sich ließ und Richtung Kanal lief, eine Steinbrücke überquerte und in einen ruhigen Teil der Stadt kam.

Hinter ihm hallten Schritte über das Pflaster. Vor sich erblickte er die Gangolfskirche. Der ganze Trubel war auf den Maxplatz und die Domseite des Flusses konzentriert. Wenigstens die nächsten Minuten durfte er damit rechnen, hier ungestört zu bleiben.

Hoffentlich forderte er das Schicksal nicht heraus.

 

Katerina sah, dass Michener in die Gangolfskirche rannte. Was wollte er dort? Das war doch idiotisch. Ambrosi war noch immer hinter ihr her, und doch war Colin auf direktem Wege zu dieser Kirche gerannt. Er musste wissen, dass sie ihm folgte und dass Ambrosi ihr seinerseits dicht auf den Fersen war.

Sie warf einen Blick auf die umstehenden Gebäude. In den Fenstern brannten nur einige wenige Lichter, und die Straße vor ihnen war menschenleer. Sie stürzte sich zur Kirchentür, riss sie auf und polterte hinein. Ihr Atem ging stoßweise.

»Colin.«

Niemand antwortete.

Wieder rief sie seinen Namen. Noch immer keine Antwort.

Sie trabte durch den Mittelgang auf den Altar zu, vorbei an leeren Kirchenbänken, die sich als schmale, schwarze Streifen im Dämmerlicht abzeichneten. Das Kirchenschiff war nur von einigen wenigen Lampen erleuchtet. Die Kirche war offensichtlich nicht in die diesjährigen Feierlichkeiten einbezogen.

»Colin.«

Jetzt lag Verzweiflung in ihrer Stimme. Wo war er? Warum antwortete er ihr nicht? War er durch eine andere Tür verschwunden? Steckte sie hier ganz allein in der Falle?

Hinter ihr ging die Tür auf.

Sie duckte sich hinter eine Kirchenbank und versuchte, sich über den rauen Steinboden zur anderen Seite zu schleichen.

Dann hörte sie Schritte und erstarrte.

 

Michener sah, dass ein Mann die Kirche betrat. Ein Lichtstrahl ließ Paolo Ambrosis Gesicht erkennen. Kurz zuvor war Katerina hereingekommen und hatte nach ihm gerufen, doch er hatte absichtlich nicht geantwortet. Jetzt hatte sie sich zwischen den Kirchenbänken versteckt.

»Wacker gerannt, Ambrosi«, rief er.

Seine Stimme brach sich an den Wänden, und das Echo erschwerte es Ambrosi, Micheners Versteck zu orten. Michener beobachtete, wie Ambrosi nach rechts auf die Beichtstühle zuging und dabei den Kopf hin und her drehte, um zu erkennen, aus welcher Richtung der Ruf kam. Hoffentlich verriet Katerina sich jetzt nicht.

»Warum machen Sie es so kompliziert, Michener?«, rief Ambrosi. »Sie wissen genau, was ich von Ihnen will.«

»Sie sagten mir vorhin, es würde sich nicht verbergen lassen, wenn ich den Text läse. Dieses eine Mal haben Sie Recht gehabt.«

»Sie konnten noch nie gehorchen.«

»Wie war das denn mit Hochwürden Tibor? Hat er gehorcht?«

Ambrosi näherte sich dem Altar. Der Priester bewegte sich vorsichtig und suchte das Dunkel nach Michener ab.

»Ich habe überhaupt nicht mit Tibor gesprochen«, erklärte Ambrosi.

»Oh doch.«

Michener blickte von der erhöhten Kanzel herunter.

»Jetzt kommen Sie schon heraus, Michener. Dann klären wir die Sache.«

Als Ambrosi ihm kurz den Rücken zukehrte, stürzte Michener sich von oben auf ihn. Sie krachten gemeinsam zu Boden.

Ambrosi stieß sich ab und sprang auf die Füße.

Michener kam ebenfalls hoch.

Eine Bewegung zu seiner Rechten lenkte ihn ab. Er sah Katerina, die mit gezückter Waffe auf sie zustürmte. Ambrosi stieß sich von einer Kirchenbank ab, sprang hoch und trat sie mit beiden Beinen in die Brust. Sie krachte zu Boden. Michener hörte, dass ihr Schädel auf den Steinboden knallte. Ambrosi sprang über die Kirchenbank und tauchte mit der Pistole in der Hand wieder auf. Er riss die taumelnde Katerina hoch und setzte ihr die Mündung an den Hals. »Okay, Michener. Das wars.«

Michener rührte sich nicht.

»Geben Sie mir Tibors Übersetzung.«

Michener trat ein paar Schritte auf die beiden zu und zog den Umschlag aus der Manteltasche. »Meinten Sie das hier?«

»Werfen Sie ihn auf den Boden, und gehen Sie rückwärts.« Ein leises Klicken. Ambrosi spannte den Hahn. »Zwingen Sie mich nicht zum Äußersten, Michener. Ich habe den Mut zu tun, was getan werden muss, weil der Herr mir die Kraft gibt.«

»Vielleicht stellt er Sie ja auf die Probe.«

»Halten Sie den Mund. Ich brauche keinen Theologieunterricht.«

»Zur Zeit dürfte den wohl kaum jemand auf Erden besser erteilen können als ich.«

»Ist es dieses Dokument?« Ambrosis Stimme klang unsicher, wie die eines Schuljungen, der seinen Lehrer etwas fragt. »Gibt das Ihnen diesen Mut?«

Michener spürte etwas. »Was ist los, Ambrosi? Hat Valendrea Ihnen nichts gesagt? Wie schade. Das Beste hat er unter den Tisch gekehrt.«

Ambrosi packte Katerina noch fester. »Lassen Sie jetzt einfach den Umschlag fallen, und treten Sie zurück.«

Der verzweifelte Ausdruck in Ambrosis Augen ließ erkennen, dass er seine Drohung durchaus wahr machen mochte. Michener warf daher den Umschlag auf den Boden.

Ambrosi ließ Katerina los und stieß sie auf Michener zu. Dieser fing sie auf und bemerkte, dass sie von dem Sturz noch benommen war.

»Alles in Ordnung?«, murmelte er.

Ihre Augen waren glasig, doch sie nickte.

Ambrosi untersuchte den Inhalt des Umschlags.

»Woher wissen Sie überhaupt, dass dies das Dokument ist, das Valendrea haben möchte?«, fragte Michener.

»Das weiß ich nicht. Aber meine Anweisungen sind eindeutig. Mir nehmen, was ich kriegen kann, und die Zeugen eliminieren.«

»Und was, wenn ich eine Kopie gemacht habe?«

Ambrosi zuckte mit den Schultern. »Dieses Risiko gehen wir ein. Doch glücklicherweise werden Sie nicht mehr in der Lage sein, als Zeuge aufzutreten.« Er hob die Pistole und zielte auf Michener und Katerina. »Das ist der Teil, der mir am besten gefällt.«

Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten und schlich sich langsam von hinten an Ambrosi an. Sie bewegte sich vollkommen lautlos. Der Mann trug schwarze Hosen und eine eng sitzende, schwarze Jacke. In seiner Hand zeichnete sich der Umriss einer Pistole ab, die er langsam hob und Ambrosi an die rechte Schläfe setzte.

»Ich versichere Ihnen, Hochwürden«, sagte Kardinal Ngovi, »dass auch mir dieser Teil besonders gut gefällt.«

»Was machen Sie hier?«, fragte Ambrosi verblüfft.

»Ich wollte mich mit Ihnen unterhalten. Nehmen Sie die Waffe herunter, und beantworten Sie meine Fragen. Danach können Sie gehen, wohin Sie wollen.«

»Sie sind hinter Valendrea her, nicht wahr?«

»Hätte ich Sie sonst so lange am Leben gelassen?«

Michener beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Ambrosi seine Möglichkeiten abwägte. Als Michener Ngovi anrief, hatte er auf Ambrosis Überlebensinstinkt gesetzt. Er nahm an, dass Ambrosi sich trotz aller Loyalitätsbekundungen für seinen Papst zweifelsohne für sich selbst entscheiden würde, wenn ihm keine andere Wahl blieb. »Es ist vorbei, Ambrosi.« Michener zeigte auf den Umschlag. »Ich habe das Dokument gelesen. Kardinal Ngovi hat es gelesen. Zu viele wissen Bescheid. Sie haben verloren.«

»Und worum ging das Ganze eigentlich?«, fragte Ambrosi. Sein Tonfall ließ erkennen, dass er ihren Vorschlag in Erwägung zog.

»Nehmen Sie die Waffe herunter, dann werden Sie es erfahren.«

Wieder ein langes Schweigen. Schließlich senkte Ambrosi die Hand. Ngovi ergriff die Waffe und trat zurück, seine eigene Pistole noch immer auf den Priester gerichtet.

Ambrosi sah Michener an. »Sie waren der Lockvogel? Sie sollten mich hinter sich herlocken?«

»Etwas in der Art.«

Ngovi trat vor. »Wir haben einige Fragen an Sie. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, lassen wir Sie anschließend in Ruhe. Keine Polizei, keine Verhaftung. Sie können einfach verschwinden. Ein faires Angebot. In Anbetracht der Umstände.«

»In Anbetracht welcher Umstände?«

»Hochwürden Tibors Ermordung.«

Ambrosi kicherte. »Sie bluffen und wissen das auch. Es geht darum, dass Sie beide Petrus II. stürzen wollen.«

Michener stand auf. »Nein. Es geht darum, dass Sie Valendrea zu Fall bringen. Was Ihnen keine Probleme bereiten sollte. Im umgekehrten Fall würde er es mit Ihnen genauso machen.«

Zweifellos war der Mann vor ihm in Hochwürden Tibors Ermordung verstrickt; höchstwahrscheinlich war er sogar der Mörder. Aber er war auch gewieft genug, um zu merken, dass der Wind jetzt aus einer anderen Richtung wehte.

»Okay«, sagte Ambrosi. »Fragen Sie.«

Der Kardinal griff in seine Jackentasche.

Er zog ein kleines Diktiergerät hervor.

 

Michener stützte Katerina auf dem Weg zum Königshof. Irma Rahn kam zur Haustür gelaufen.

»Ist alles gut gelaufen?«, fragte die alte Dame Michener. »Ich war ganz außer mir vor Sorge.«

»Alles ist gut gegangen.«

»Gott sei Lob und Dank. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht.«

Katerina war immer noch schwindlig, fühlte sich aber allmählich besser.

»Ich bringe sie nach oben«, sagte Michener.

Er führte sie ins Obergeschoss. Kaum hatte sie das Zimmer betreten, fragte sie: »Wieso um Himmels willen war Ngovi hier?«

»Ich rief ihn heute Nachmittag an und erzählte ihm alles. Er flog nach München und kam hier gerade noch rechtzeitig an, bevor ich zum Dom aufbrach. Ich hatte die Aufgabe, Ambrosi in die Gangolfskirche zu locken. Wir brauchten einen ruhigen Ort, und Irma berichtete mir, dass in der Kirche dieses Jahr keine Krippe ausgestellt ist. Ich bat Ngovi, die Sache mit dem zuständigen Pfarrer zu besprechen. Er weiß nichts Genaues, nur dass hochrangige vatikanische Würdenträger seine Kirche eine Zeit lang brauchten.« Michener wusste, was Katerina dachte. »Schau mal, Kate, Ambrosi konnte keinem was tun, bevor er nicht Tibors Übersetzung in der Hand hatte. Erst dann konnte er sich sicher fühlen. Wir mussten diesen Trumpf ausspielen.«

»Und ich war also der Lockvogel?«

»Du und ich. Wir beide. Wir mussten Ambrosi die Stirn bieten, sonst hätte er sich niemals gegen Valendrea gestellt.«

»Ngovi ist ein ganz schön harter Typ.«

»Er ist in den Elendsvierteln von Nairobi aufgewachsen. Der schlägt sich überall durch.«

Sie hatten Ambrosi eine halbe Stunde lang befragt und alles auf Band festgehalten, was sie am nächsten Tag brauchen würden. Katerina hörte Michener zu, bis sie alles wusste. Nur das dritte Geheimnis von Fatima fehlte noch. Michener zog einen Umschlag aus seiner Manteltasche. »Hier ist das Dokument, das Hochwürden Tibor Clemens geschickt hat. Das hier war die Kopie für Ambrosi. Das Original hat Ngovi.«

Sie las den Text und sagte: »Das sieht aus wie die Botschaft, die Jasna aufgeschrieben hat. Du wolltest Ambrosi einfach die Botschaft von Medjugorje geben?«

Er schüttelte den Kopf. »Das hier ist nicht Jasnas Text. Es sind die Worte der heiligen Jungfrau von Fatima, die Lucia dos Santos 1944 niederschrieb. Und die Hochwürden Tibor 1960 übersetzte.«

»Das soll wohl ein Scherz sein. Ist dir klar, was es bedeuten würde, wenn die beiden Botschaften praktisch identisch wären?«

»Das ist mir seit heute Nachmittag vollkommen klar.« Seine Stimme war leise und gelassen, und er ließ ihr Zeit, sich über die Bedeutung dieser Tatsache Gedanken zu machen. Sie hatten oft über Katerinas Unglauben gesprochen. Doch angesichts seiner eigenen Glaubensprobleme hatte er sie deswegen niemals verurteilt. Und danach wird in der Stadt der Sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten. Vielleicht war Katerina die Erste von vielen, die über sich selbst urteilen würden.

»Es hat den Anschein, als wäre der Herrgott zurückgekehrt«, sagte er.

»Unfassbar. Aber was könnte es sonst sein? Wie sonst könnten diese Botschaften denselben Inhalt haben?«

»Angesichts dessen, was wir beide wissen, ist das die einzig mögliche Schlussfolgerung. Die Zweifler werden allerdings behaupten, dass wir Hochwürden Tibors Übersetzung gefälscht haben, damit sie zu Jasnas Botschaft passt. Sie werden alles für einen Betrug halten. Die Originale sind verschwunden, und die Menschen, die die Botschaften damals aufzeichneten, sind tot. Wir hier sind die Einzigen, die die Wahrheit kennen.«

»Es bleibt also doch wieder eine Glaubenssache. Wir beide wissen, was geschehen ist. Alle anderen aber müssten uns einfach vertrauen.« Sie schüttelte den Kopf. »Anscheinend soll Gott immer ein Mysterium bleiben.«

Er hatte schon darüber nachgedacht. Die Jungfrau hatte ihm in Bosnien gesagt, es sei seine Bestimmung, ein Zeichen für die Welt zu sein. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott vollkommen lebendig ist. Aber noch etwas anderes hatte die Jungfrau gesagt, und das war nicht weniger wichtig. Gib deinen Glauben nicht auf, denn am Ende ist er das Einzige, was dir bleibt.

»Es gibt einen Trost«, bemerkte Michener. »Vor Jahren war ich mir sehr böse, weil ich mein Keuschheitsgelübde verletzt hatte. Ich liebte dich, glaubte aber, meine Gefühle und mein Tun seien sündig. Jetzt weiß ich, dass das ein Irrtum war. In Gottes Augen war es keine Sünde.«

Es klang Michener noch in den Ohren, wie Johannes XXIII. damals zum Zweiten Vatikanischen Konzil gedrängt hatte. Er hatte Traditionalisten und Progressive angefleht, einmütig zusammenzuarbeiten, um unsere irdische Stadt jener himmlischen Stadt ähnlicher zu machen, in der die Wahrheit regiert. Erst jetzt verstand Michener ganz, was der Papst damit gemeint hatte.

»Clemens hat sein Bestes gegeben«, sagte sie. »Es tut mir Leid, was ich über ihn gedacht habe.«

»Er wird es wohl verstehen.«

Sie lächelte ihn an. »Und wie geht es weiter?«

»Wir fliegen nach Rom zurück. Ngovi und ich treffen uns morgen dort.«

»Und dann?«

Er wusste, was sie meinte. »Und dann nach Rumänien. Diese Kinder erwarten uns.«

»Ich dachte, du hättest vielleicht Hintergedanken.«

Michener zeigte zum Himmel. »Ich glaube, dass wir es Ihm schulden. Du nicht?«

69

Vatikanstadt
Samstag, 2. Dezember
11.00 Uhr

 

Michener und Ngovi passierten die Loggia auf dem Weg zur päpstlichen Bibliothek. Zu beiden Seiten des breiten Korridors strahlte die Sonne hell durch die hohen Fenster. Die beiden Geistlichen trugen ihre Soutanen, Ngovi purpurrot und Michener schwarz.

Sie hatten zuvor das päpstliche Büro kontaktiert und Ambrosis Assistenten veranlasst, sich unmittelbar mit Valendrea in Verbindung zu setzen. Ngovi wünschte eine Privataudienz beim Papst. Er hatte keinen Grund genannt, doch Michener setzte darauf, dass Valendrea schon klar sein würde, was es bedeutete, dass er und Ngovi mit ihm sprechen wollten, während Paolo Ambrosi spurlos verschwunden war. Ihre Taktik schien aufzugehen. Der Papst erteilte ihnen die Erlaubnis, den Palast zu betreten, und gewährte ihnen eine Audienz von fünfzehn Minuten.

»Können Sie Ihr Anliegen in dieser begrenzten Zeit vortragen?«, hatte Ambrosis Assistent sie gefragt.

»Ich denke schon«, hatte Ngovi geantwortet.

Valendrea hatte sie beinahe eine halbe Stunde warten lassen. Jetzt aber waren sie auf dem Weg zur Bibliothek, traten ein und schlossen die Tür hinter sich. Valendrea stand vor dem Bleiglasfenster, und seine untersetzte, ganz in Weiß gekleidete Gestalt wurde vom Sonnenlicht überflutet.

»Ich muss sagen, dass Ihre Bitte um eine Audienz mich neugierig gemacht hat. Sie beide hätte ich an diesem Samstagmorgen am allerwenigsten hier erwartet. Ich dachte, Sie, Maurice, seien in Afrika. Und Sie, Michener, in Deutschland.«

»Zur Hälfte richtig«, erklärte Maurice. »Wir waren beide in Deutschland.«

Ein eigenartiger Ausdruck trat ins Gesicht des Papstes.

Michener beschloss, direkt zur Sache zu kommen. »Sie werden nichts mehr von Ambrosi hören.«

»Was meinen Sie damit?«

Ngovi holte das kleine Diktiergerät aus seiner Soutane und schaltete es ein. Ambrosis Stimme erklang in der Bibliothek und erläuterte Hochwürden Tibors Ermordung, die Abhörvorrichtungen, die Geheimakten über die Kardinäle und die Erpressung von Stimmen für das Konklave. Valendrea hörte unbewegt zu, wie seine Verfehlungen enthüllt wurden. Ngovi schaltete das Gerät aus. »Ist damit alles klar?«

Der Papst schwieg.

»Wir haben das vollständige dritte Geheimnis von Fatima und das zehnte Geheimnis von Medjugorje in Händen«, sagte Michener.

»Ich dachte, das Geheimnis von Medjugorje wäre bei mir.«

»Sie haben eine Kopie. Jetzt weiß ich, warum Sie bei der Lektüre von Jasnas Botschaft so heftig reagiert haben.«

Valendrea wirkte verängstigt. Dieses eine Mal hatte der hartnäckige Kämpfer die Fassung verloren.

Michener trat näher. »Sie mussten diese Botschaft unbedingt verschwinden lassen.«

»Selbst Ihr Clemens hat das versucht«, hielt Valendrea ihm entgegen.

Michener schüttelte den Kopf. »Er wusste, was Sie tun würden, und war so weitblickend, Tibors Übersetzung von hier wegzuschaffen. Er hat mehr getan als jeder andere. Er hat sein Leben gegeben. Er ist besser als irgendeiner von uns. Er hat an den Herrn geglaubt ohne Beweis.« Sein Herz hämmerte vor Erregung. »Wussten Sie, dass Bamberg den Namen Stadt der Sieben Hügel trägt? Erinnern Sie sich an die Prophezeiung des Malachius? Danach wird in der Stadt der Sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten.« Michener zeigte auf das Gerät. »Für Sie wird die Wahrheit der schreckliche Richter sein.«

»Die Aufnahme stammt von einem Verdächtigen, der sich reinwaschen will«, erklärte Valendrea. »Sie beweist nichts.«

Michener blieb unbeeindruckt. »Ambrosi hat uns von Ihrer Reise nach Rumänien erzählt und genug Einzelheiten enthüllt, um eine Untersuchung in die Wege zu leiten und eine Festnahme zu veranlassen, insbesondere in einem ehemaligen Ostblockstaat, wo die Beweislast, um es einmal gelinde auszudrücken, nicht ganz so schwer wiegt.«

»Sie bluffen.«

Ngovi zog eine weitere Minikassette aus seiner Tasche. »Wir haben ihm die Botschaft von Fatima und die Botschaft von Medjugorje gezeigt. Wir mussten ihm die Bedeutung dieser Beweisstücke nicht erklären. Selbst ein amoralischer Mensch wie Ambrosi hat das Gewicht des Schicksals erkannt, das ihn erwartet. Das hat ihm die Zunge gelöst. Er bat mich, ihm die Beichte abzunehmen.« Ngovi schwenkte die Kassette. »Aber davor sprach er auf Band.«

»Er ist der perfekte Zeuge«, bemerkte Michener. »Sie sehen, es gibt tatsächlich eine Autorität, die über Ihnen steht.«

Valendrea ging quer durch den Raum auf die Regale zu, dabei sah er aus wie ein eingesperrtes Tier, das seinen Käfig abmisst. »Seit langem schon haben die Päpste Gott missachtet. Die Botschaft aus La Salette ist seit einem Jahrhundert aus dem Archiv verschwunden. Ich wette, dass die Jungfrau jenen Sehern damals genau dasselbe mitgeteilt hat.«

»Das Handeln der damaligen Päpste«, entgegnete Ngovi, »war verzeihlich. Sie betrachteten die Botschaften als Einbildung der Seher und nicht als das Wort der Jungfrau. Sie hielten Zurückhaltung für angebracht. Ihnen fehlte der Beweis, den Sie hatten. Denn Sie wussten, dass die Worte von Gott kamen, und trotzdem wollten Sie Michener und Katerina ermorden lassen, um das Wort Gottes zu unterdrücken.«

Valendreas Augen blitzten wütend auf. »Sie scheinheiliges Arschloch. Was sollte ich denn tun? Zulassen, dass die Kirche zerbricht? Ist Ihnen denn nicht klar, was diese Offenbarungen anrichten werden? Zweitausend Jahre Kirchenlehre werden plötzlich als Irrtum dastehen.«

»Wir haben nicht das Recht, das Schicksal der Kirche zu manipulieren«, gab Ngovi zurück. »Gottes Wort allein entscheidet, und offensichtlich ist seine Geduld zu Ende.«

Valendrea schüttelte den Kopf. »Wir müssen die Kirche bewahren. Welcher Katholik auf Erden würde denn noch auf Rom hören, wenn er wüsste, dass wir gelogen haben? Und wir reden hier nicht über Nebensächlichkeiten. Der Zölibat? Die Priesterweihe für Frauen? Abtreibung? Homosexualität? Und sogar das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit?«

Ngovi schienen diese Worte nicht zu berühren. »Ich an Ihrer Stelle würde mir eher Sorgen darüber machen, wie ich meinem Gott die Missachtung seines Befehls erkläre.«

Michener trat Valendrea gegenüber. »Als Sie damals im Jahr 1978 die Riserva betraten, gab es noch kein zehntes Geheimnis von Medjugorje. Und doch haben Sie einen Teil der Botschaft unterschlagen. Woher wussten Sie denn um die Wahrheit von Schwester Lucias Worten?«

»Ich sah die Angst in Pauls Augen, als er die Botschaft las. Wenn dieser Mensch Angst bekam, war wirklich Gefahr im Anzug. Als Clemens mir an jenem Freitagabend in der Riserva von Tibors Übersetzungskopie erzählte und mir dann einen Teil der Originalbotschaft zeigte, war mir, als wäre ein Teufel zurückgekehrt.«

»In gewisser Weise ist auch genau das passiert«, merkte Michener an.

Valendrea starrte ihn an.

»Wenn Gott existiert, dann auch der Teufel.«

»Und welcher von beiden hat dann Hochwürden Tibors Tod veranlasst?«, fragte Valendrea trotzig. »War es der Herrgott, um die Wahrheit ans Licht zu bringen? Oder der Teufel, um die Wahrheit ans Licht zu bringen? Beide hätten dasselbe Ziel gehabt, oder etwa nicht?«

»Und deswegen haben Sie Hochwürden Tibor ermordet?«, fragte Michener. »Um das zu verhindern?«

»In jeder religiösen Bewegung hat es Märtyrer gegeben.« Keine Spur von Reue lag in diesen Worten.

Ngovi trat vor. »Das stimmt. Und nun wollen wir einen weiteren Märtyrer schaffen.«

»Ich hatte mir fast schon gedacht, dass Sie so etwas im Sinn haben. Sie wollen mich anklagen lassen?«

»Aber durchaus nicht«, erwiderte Ngovi.

Michener hielt Valendrea ein kleines, karamellfarbenes Fläschchen hin. »Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich der Reihe der Märtyrer anschließen.«

Valendreas Augenbrauen schnellten erstaunt nach oben.

»Das hier ist das Schlafmittel, das auch Clemens genommen hat«, erläuterte Michener. »Es ist mehr als ausreichend, um Sie umzubringen. Wenn man morgen früh Ihre Leiche findet, erhalten Sie ein Papstbegräbnis und werden mit aller Feierlichkeiten im Petersdom bestattet. Sie hatten dann zwar nur eine kurze Amtszeit, aber man wird Ihrer ganz ähnlich gedenken wie Johannes Pauls I. Falls Sie allerdings morgen Früh noch am Leben sein sollten, werden wir das Kardinalskollegium über alles informieren, was wir wissen. Dann werden Sie als der erste Papst in die Geschichte eingehen, der je vor Gericht stand.«

Valendrea nahm das Fläschchen nicht entgegen. »Sie wollen, dass ich mir selbst das Leben nehme?«

Michener zuckte mit keiner Wimper. »Sie können als ein verehrter Papst sterben oder als erbärmlicher Verbrecher dastehen. Ich persönlich ziehe Letzteres vor, daher hoffe ich, dass Sie nicht den Schneid haben, es Clemens nachzutun.«

»Ich kann mich wehren.«

»Sie haben keine Chance. Wir wissen mehr als genug, und ich nehme an, dass es im Kardinalskollegium einige Würdenträger gibt, die nur auf eine Gelegenheit warten, Ihnen eins auszuwischen. Unsere Beweise sind unwiderlegbar. Ihr Mitverschwörer wird Ihr schlimmster Ankläger sein. Sie können die Sache unmöglich gewinnen.«

Noch immer nahm Valendrea das Fläschchen nicht entgegen. Michener schüttete die Tabletten auf den Schreibtisch und sah Valendrea scharf in die Augen. »Sie entscheiden. Wenn Sie Ihre Kirche so sehr lieben, wie Sie immer behaupten, opfern Sie Ihr Leben, damit die Kirche überlebt. Als es um Hochwürden Tibors Leben ging, haben Sie nicht gezögert. Mal sehen, ob Sie Ihr eigenes Leben auch so großzügig hingeben. Der schreckliche Richter hat gerichtet, und das Urteil lautet Tod.«

»Sie fordern mich auf, das Undenkbare zu tun«, entgegnete Valendrea.

»Ich fordere Sie auf, dieser Institution die Schande zu ersparen, Sie gewaltsam aus dem Amt zu entfernen.«

»Ich bin Papst. Keiner kann mich aus dem Amt entfernen.«

»Nur Gott. Und genau das tut er gewissermaßen in diesem Moment.«

Valendrea wandte sich an Ngovi. »Sie werden der nächste Papst sein, nicht wahr?«

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit.«

»Sie hätten die Wahl beim Konklave gewinnen können, oder?«

»Das war durchaus denkbar.«

»Warum sind Sie dann ausgestiegen?«

»Weil Clemens es mir aufgetragen hatte.«

Valendrea sah ihn verblüfft an. »Wann?«

»Eine Woche vor seinem Tod. Er sagte mir voraus, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ihnen und mir geben würde. Aber er sagte, dass Sie es gewinnen sollten.«

»Und warum um Himmels willen haben Sie ihm gehorcht?«

Ngovis Züge verhärteten sich. »Er war mein Papst.«

Valendrea schüttelte ungläubig den Kopf.

»Und er hatte Recht.«

»Haben Sie auch vor, dem Auftrag der Jungfrau zu gehorchen?«

»Ich werde alle Dogmen abschaffen, die ihrer Botschaft entgegenstehen.«

»Dann gibt es einen Aufstand.«

Ngovi zuckte mit den Schultern. »Wer anderer Meinung ist, kann jederzeit gehen und seine eigene Sekte gründen. Diese Freiheit besteht. Ich werde niemandem Steine in den Weg legen. Diese Kirche aber wird die Botschaft der Jungfrau befolgen.«

Valendrea sah ihn ungläubig an. »Sie meinen, dass das so einfach geht? Die Kardinäle werden das niemals zulassen.«

»Das hier ist keine Demokratie«, bemerkte Michener.

»Dann wird also niemand von den Botschaften erfahren?«

Ngovi schüttelte den Kopf. »Das ist unnötig. Skeptiker würden behaupten, die Übersetzung Hochwürden Tibors sei im Sinne der Botschaft von Medjugorje gefälscht worden. Die unfassbare Bedeutung der Botschaft würde nur Kritik hervorrufen. Schwester Lucia und Hochwürden Tibor sind nicht mehr am Leben. Damit fallen sie als Zeugen für die Authentizität der Dokumente aus. Die Welt braucht nicht zu erfahren, was geschehen ist. Wir drei wissen Bescheid, und das allein zählt. Ich werde gehorchen. Ich werde handeln, und die Verantwortung wird ganz allein bei mir liegen. Ich werde das Lob und die Kritik ernten.«

»Ihr Nachfolger wird einfach alles rückgängig machen«, murmelte Valendrea.

Ngovi schüttelte den Kopf. »Ihr Glaube ist so schwach.« Der Afrikaner drehte sich um und ging zur Tür. »Mal sehen, was morgen die Nachrichten bringen. Sie werden uns verraten, ob wir Sie Wiedersehen oder nicht.«

Michener zögerte kurz, bevor er Ngovi folgte. »Selbst der Teufel dürfte es schwierig finden, mit Ihnen klarzukommen.«

Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten.

70

23.30 Uhr

 

Valendrea starrte die Tabletten auf seinem Schreibtisch an. Jahrzehntelang hatte er davon geträumt, Papst zu sein, und er hatte sein ganzes Leben diesem Ziel gewidmet. Nun war er Papst. Er hätte zwanzig Jahre oder länger regieren können, und er wäre gerade dadurch, dass er die Vergangenheit neu belebt hätte, zum Hoffnungsträger für die Zukunft geworden. Erst gestern hatte er sich eine geschlagene Stunde mit den Einzelheiten der Krönungsfeierlichkeiten befasst, die in weniger als zwei Wochen stattfinden sollten. Er war durchs Vatikanmuseum gegangen, hatte die Kostbarkeiten, die seine Vorgänger der Ausstellung übergeben hatten, inspiziert und angeordnet, sie für das Ereignis bereitzulegen. Er hatte sich gewünscht, dass der Augenblick, in dem der spirituelle Führer einer Milliarde Menschen die Zügel der Macht an sich nahm, ein Schauspiel wurde, das jeder Katholik voller Stolz verfolgen konnte.

Er hatte sogar schon über seine erste Predigt nachgedacht. Sie wäre ein Appell für die Wiederbelebung alter Traditionen geworden, er hätte die Erneuerung der Kirche verworfen und den Rückzug in eine geheiligte Vergangenheit angekündigt. Die Kirche konnte und sollte eine Macht der Veränderung werden. Es würde keine hilflosen Klagen mehr geben, die von den Gestaltern der Weltpolitik einfach überhört wurden. Vielmehr würde er den religiösen Eifer der Gläubigen politisch wirksam einsetzen. Und er, als Vikar Christi, würde die Richtlinien dieser Politik vorgeben. Er wollte nicht irgendein, sondern der Papst sein.

Langsam zählte er die Kapseln auf dem Tisch.

Achtundzwanzig.

Wenn er sie schluckte, würde man sich seiner als des Papstes erinnern, der nur vier Tage im Amt war. Man würde ihn als einen gefallenen Führer betrachten, den der Herr viel zu rasch zu sich gerufen hatte. Ein plötzlicher Tod mochte aber auch seine Vorteile haben. Johannes Paul I. war ein unbedeutender Kardinal gewesen. Jetzt wurde er verehrt, weil er nur dreiunddreißig Tage nach dem Konklave verstorben war. Eine Hand voll Päpste war noch kürzer im Amt gewesen, die meisten jedoch viel länger, aber keiner war je zu der Entscheidung getrieben worden, vor der er jetzt stand.

Er dachte über Ambrosis Verrat nach. Er hätte Paolo niemals für so illoyal gehalten. Sie waren viele Jahre lang ein Team gewesen. Vielleicht hatten Ngovi und Michener seinen alten Freund ja unterschätzt. Vielleicht würde Ambrosi Valendreas Vermächtnis wahren und dafür sorgen, dass die Welt Petrus II. niemals vergaß. Valendrea konnte nur hoffen, dass er Recht hatte und dass Ngovi seine Entscheidung, Paolo Ambrosi entkommen zu lassen, eines Tages bereuen würde.

Sein Blick kehrte zu den Tabletten zurück. Wenigstens würde er schmerzlos sterben. Ngovi würde dafür sorgen, dass es keine Autopsie gab. Der Afrikaner war noch immer Camerlengo. Valendrea konnte sich gut vorstellen, wie der Drecksack über ihm stehen, ihm sanft mit dem Silberhammer gegen die Stirn schlagen und ihn drei Mal fragen würde, ob er tot sei.

Er war überzeugt, dass Ngovi ihn öffentlich anklagen würde, wenn er am nächsten Morgen noch am Leben war. Es gab zwar keinen Präzedenzfall für die Amtsenthebung eines Papstes, doch sobald man ihn des Mordes anklagte, wäre es ihm unmöglich, im Amt zu bleiben.

Das konfrontierte ihn mit seiner größten Sorge.

Wenn er Ngovis und Micheners Aufforderung folgte, würde er sich schon bald für seine Sünden verantworten müssen. Was würde er dann sagen?

Der Beweis der Existenz Gottes bedeutete gleichzeitig, dass es tatsächlich eine unfassbare, böse Macht gab, die das Denken und Fühlen der Menschen in die Irre führte. Das Leben war wie ein endloses Tauziehen zwischen guten und bösen Kräften. Wie sollte er da seine Sünden rechtfertigen? Würde er Vergebung finden oder gnadenlos bestraft werden? Trotz allem, was er inzwischen wusste, war er immer noch überzeugt davon, dass nur Männer Priester sein sollten. Gottes Kirche war von Männern gegründet worden, und zwei Jahrtausende lang hatten Männer ihr Blut vergossen, um diese Institution zu bewahren. Das Eindringen von Frauen in etwas so entschieden Männliches kam ihm wie ein Sakrileg vor. Ehefrauen und Kinder lenkten einen Mann nur ab. Auch die Ermordung eines Ungeborenen war für Valendrea ein Tabu. Es war die Pflicht der Frau zu gebären, unabhängig davon, wie es zur Schwangerschaft gekommen und ob das Kind gewollt oder ungewollt war. Wie konnte Gott dermaßen falsch liegen?

Er schob die Tabletten auf dem Tisch herum.

Die Kirche würde sich verändern. Nichts würde bleiben, wie es war. Ngovi würde mit Sicherheit extreme Positionen einnehmen. Bei diesem Gedanken wurde es Valendrea fast schlecht.

Er wusste, was ihn erwartete. Er würde sich rechtfertigen müssen, doch davor schreckte er nicht zurück. Er würde dem Herrgott ins Gesicht sehen und ihm sagen, dass er getan hatte, was er für richtig hielt. Wenn er in die Hölle käme, hätte er wenigstens sittenstrenge Gesellschaft. Er war nicht der erste Papst, der dem Himmel getrotzt hatte.

Er schob die Tabletten zu Siebenergruppen zusammen. Die ersten sieben hob er auf und legte sie auf die ausgestreckte Handfläche.

In den letzten Lebensminuten sah man wirklich klarer.

Sein irdisches Vermächtnis war gesichert. Er war Petrus II. Papst der Heiligen Katholischen Kirche, und das konnte ihm keiner mehr nehmen. Selbst Ngovi und Michener würden sein Andenken öffentlich ehren müssen.

Diese Aussicht tröstete ihn.

Er schob sich die Tabletten in den Mund und griff nach dem Wasserglas. Dann nahm er die nächsten sieben und schluckte sie ebenfalls. Mit diesem Gefühl der inneren Stärke spülte er die restlichen Tabletten herunter.

Ich hoffe, dass Sie nicht den Schneid haben, es Clemens nachzutun.

Michener, du Drecksack.

Er trat zu einem vergoldeten Betschemel vor einem Bildnis Jesu, kniete sich nieder, bekreuzigte sich und bat den Herrn um Vergebung. Zehn Minuten kniete er so, dann wurde ihm schwindlig. Für seinen Nachruhm konnte es nur gut sein, wenn Gott ihn beim Gebet zu sich rief.

Eine verführerische Müdigkeit überkam ihn, doch eine Zeit lang kämpfte er dagegen an. Zum Teil war er erleichtert, dass man ihn nicht mit einer Kirche in Verbindung bringen würde, die allem, was er glaubte, entgegenstand. Vielleicht war es das Beste, wenn er als der letzte Papst der guten alten Zeit in der Krypta des Petersdoms ruhte. Er stellte sich vor, wie die Römer sich morgen auf dem Petersplatz drängen würden, verzweifelt über den Verlust ihres Santissimo Padre. Millionen würden seine Bestattung verfolgen, und die Presse würde weltweit respektvoll über Petrus II. berichten. Vielleicht würden irgendwann Bücher über ihn geschrieben werden. Er hoffte, dass die Traditionalisten sein Andenken nutzen würden, um sich zum Widerstand gegen Ngovi zu sammeln. Und außerdem war da noch Ambrosi. Der gute, liebe Paolo. Er war immer noch da. Dieser Gedanke gefiel Valendrea.

Die Augen fielen ihm zu, und er konnte sich nicht mehr gegen seine Schläfrigkeit wehren. So ergab er sich ins Unvermeidliche und brach auf dem Boden zusammen.

Er sah zur Decke hinauf und überließ sich endlich der Wirkung der Tabletten. Es flimmerte vor seinen Augen. Er kämpfte nicht mehr gegen das Sterben an.

Er ließ seine Gedanken los und hoffte nur noch auf Gottes Barmherzigkeit.

71

Sonntag, 3. Dezember
13.00 Uhr

 

Michener und Katerina folgten den Scharen von Trauernden auf den Petersplatz. Rundum ließen Männer und Frauen ungehemmt ihren Tränen freien Lauf. Viele hielten Rosenkränze umklammert. Die Glocken der Basilika läuteten feierlich.

Vor zwei Stunden war in den üblichen vatikanischen Formulierungen bekannt gegeben worden, dass der Heilige Vater in der Nacht verstorben sei. Der Camerlengo, Maurice Kardinal Ngovi, sei gerufen worden, und der Leibarzt des Papstes habe Tod durch Herzinfarkt festgestellt. Es folgte die Zeremonie mit dem Silberhammer, und dann wurde die Sedisvakanz erklärt. Wieder wurden die Kardinäle nach Rom gerufen.

Michener hatte Katerina nichts von dem Gespräch mit Valendrea erzählt. Es war besser so. In gewisser Weise war er ein Mörder, auch wenn er sich nicht so fühlte. Vielmehr hatte er das Empfinden, dass der Gerechtigkeit Genüge getan war. Insbesondere in Hinblick auf Hochwürden Tibor. In einem merkwürdigen Sinne von ausgleichender Gerechtigkeit, der nur auf dem Hintergrund der ungewöhnlichen Umstände der letzten Wochen zu erklären war, hatte ein Unrecht ein anderes wieder gutgemacht.

In fünfzehn Tagen würde erneut ein Konklave zusammentreten, um einen neuen Papst zu wählen. Der zweihundertneunundsechzigste Papst seit Petrus und damit der erste, der nicht in der Liste des Malachius aufgeführt war. Der schreckliche Richter hatte gerichtet. Die Sünder waren bestraft worden. Nun lag es an Maurice Ngovi, dafür zu sorgen, dass der Wille des Herrn geschah. Es bestanden kaum Zweifel, dass Ngovi zum Papst gewählt würde. Als sie gestern den Palast verlassen hatten, hatte Ngovi Michener gebeten, in Rom zu bleiben und teilzuhaben an der Zukunft der Kirche. Doch Michener hatte abgelehnt. Er würde mit Katerina nach Rumänien gehen. Er wollte sein Leben mit ihr teilen, und Ngovi verstand ihn, wünschte ihm Glück und erklärte, dass der Vatikan ihm immer offen stehe.

Die Menschenmenge drängte weiter und füllte den Platz zwischen Berninis Kolonnaden. Michener war sich nicht sicher, warum er eigentlich gekommen war, aber etwas schien ihn zu rufen, und er fühlte einen inneren Frieden, den er schon lange nicht mehr empfunden hatte.

»Diese Leute haben keine Ahnung von Valendrea«, flüsterte Katerina.

»Für sie war er ihr Papst. Ein Italiener. Und wir könnten sie niemals vom Gegenteil überzeugen. Sie werden sein Andenken in Ehren halten, und so muss es wohl sein.«

»Du wirst mir nie erzählen, was gestern passiert ist, oder?«

Am Vorabend hatte er bemerkt, dass sie ihn nachdenklich betrachtete. Sie wusste, dass mit Valendrea irgendetwas Entscheidendes vorgefallen war, aber er hatte nichts erzählt, und sie hatte ihn nicht bedrängt.

Bevor er auf ihre Frage eingehen konnte, brach eine alte Frau bei einem der Brunnen weinend zusammen. Mehrere Menschen eilten der jammernden, den Verlust des Papstes laut beklagenden Alten zur Hilfe. Michener sah zu, wie zwei Männer die hemmungslos Schluchzende in den Schatten führten.

Nachrichtenteams strömten auf den Platz, um Interviewpartner zu finden. Bald würde die Weltpresse hierher zurückkehren, um über die Frage nachzugrübeln, welche Entscheidung das Kardinalskollegium in der Sixtinischen Kapelle wohl treffen würde.

»Bestimmt ist Tom Kealy auch wieder da«, sagte Katerina.

»Das habe ich auch gerade gedacht. Der Mann, der auf alles eine Antwort hat.« Sie schenkte ihm ein bedeutungsvolles Lächeln.

Sie näherten sich dem Petersdom und blieben mit den Trauernden vor der Absperrung stehen. Der Dom war geschlossen, da er für die Bestattungszeremonie vorbereitet wurde. Der Balkon war schwarz verhüllt. Michener sah nach rechts. Die Fensterläden des Papstschlafzimmers waren geschlossen. Dahinter war vor wenigen Stunden die Leiche Alberto Valendreas gefunden worden. Den Medienberichten zufolge hatte er gebetet, als sein Herz versagte, denn die Leiche hatte unter einem Bildnis Jesu auf dem Boden gelegen. Diese letzte Dreistigkeit Valendreas brachte Michener zum Lächeln.

Jemand ergriff seinen Arm.

Er drehte sich um.

Der Mann vor ihm hatte einen Bart, eine Hakennase und dichtes, rötliches Haar. »Sagen Sie mir, Padre, was sollen wir tun? Warum hat der Herr uns unseren Heiligen Vater genommen? Was hat all das zu bedeuten?«

Michener nahm an, dass seine schwarze Soutane den Mann zu dieser Frage veranlasst hatte, und er hatte die Erwiderung sofort parat. »Warum muss alles immer eine Bedeutung haben? Müssen Sie den Willen des Herrn ständig hinterfragen? Können Sie ihn nicht einfach hinnehmen?«

»Petrus hätte ein großer Papst werden können. Endlich saß wieder ein Italiener auf dem Heiligen Stuhl. Wir haben uns solche Hoffnungen gemacht.«

»Viele Männer der Kirche haben das Zeug dazu, ein großer Papst zu werden. Und sie müssen dafür nicht unbedingt Italiener sein.« Sein Zuhörer bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick. »Das Einzige, was zählt, ist der Wille, dem Herrn zu dienen.«

Er wusste, dass von den Tausenden Versammelten nur er selbst und Katerina das Wesentliche verstanden hatten. Gott lebte. Er war da. Er hörte ihnen zu.

Sein Blick wanderte von dem vor ihm Stehenden zur großartigen Fassade des Petersdoms. Trotz aller Pracht war auch diese Basilika nur ein Bauwerk aus Mörtel und Stein. Irgendwann würde der Zahn der Zeit sie zerstören. Doch das, wofür sie stand, würde immer bestehen. Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.

Er wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu, der gerade etwas sagte.

»Es ist zu Ende, Hochwürden. Der Papst ist tot. Alles ist zu Ende, bevor es überhaupt angefangen hat.«

Das würde er so nicht stehen lassen und den Defätismus dieses Fremden nicht einfach hinnehmen. »Sie irren sich. Es ist nicht zu Ende.« Er lächelte dem Mann aufmunternd zu. »Es fängt nämlich gerade erst an.«

Anmerkungen des Autors

Für die Recherchen zu diesem Roman bin ich nach Italien und Deutschland gereist, doch ist dieses Buch letztlich aus der katholischen Erziehung meiner Kindheit und einer lebenslangen Faszination durch Fatima erwachsen. In den letzten zweitausend Jahren ist das Phänomen der Marienvisionen mit überraschender Regelmäßigkeit aufgetreten. In der Neuzeit sind die Marienerscheinungen von La Salette, Lourdes, Fatima und Medjugorje die Bedeutendsten, doch es gibt noch zahlreiche weitere, weniger bekannte Erfahrungen dieser Art. Wie in meinen ersten beiden Romanen wollte ich den Leser sowohl unterhalten als auch bilden. Daher enthält dieses Buch noch mehr reale Tatsachen als die vorangegangenen Romane.

Die im Prolog nacherzählte Szene in Fatima beruht auf den Berichten von Augenzeugen. Sie basiert in erster Linie auf Lucias eigener Darstellung der Ereignisse, die sie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlichte. Die Worte der Jungfrau stammen aus ihrem Bericht, ebenso wie die meisten Äußerungen Lucias. Die drei in Kapitel 7 zitierten Geheimnisse sind ihrem Bericht wörtlich entnommen. Nur die in Kapitel 65 angeführte Ergänzung ist Fiktion.

Francisco und Jacintas Krankheit und Tod entsprechen ebenso der Wahrheit wie die eigenartige Geschichte des dritten Geheimnisses es lag bis Mai 2000 versiegelt im Vatikan, wo nur Päpste es lasen (Kapitel 7) und die Weisung der Kirche an Schwester Lucia, sich nicht öffentlich zu Fatima zu äußern. Traurigerweise starb Schwester Lucia kurz vor Veröffentlichung dieses Buches im Februar 2005 im Alter von siebenundneunzig Jahren.

Die in Kapitel 19 und 42 angesprochenen Visionen von La Salette sind korrekt wiedergegeben ebenso das Schicksal der beiden Seher, ihre bissigen öffentlichen Bemerkungen und der schneidende Kommentar Papst Pius IX. Unter den öffentlich bekannten Marienvisionen ist die von La Salette eine der merkwürdigsten, sie bleibt skandalumwittert und heftig angezweifelt. Auch in La Salette gab es Geheimnisse. Die Tatsache, dass die Originaldokumente über die Erscheinungen aus dem vatikanischen Bestand verschwunden sind, lässt die damaligen Geschehnisse in dem französischen Alpendorf noch rätselhafter erscheinen.

Die Ereignisse in Medjugorje weisen Ähnlichkeiten mit anderen bekannten Marienerscheinungen auf, allerdings zeichnet sie aus, dass es sich hier um mehr als tausend Erscheinungen handelt, die sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten erstrecken. Die Kirche hat diese Erscheinungen zwar noch nicht offiziell anerkannt, doch das bosnische Städtchen ist zu einem beliebten Wallfahrtsort geworden. Wie in Kapitel 38 geschildert, geht es in Medjugorje um zehn Geheimnisse. Die Versuchung, dieses Szenario in den Roman einzuweben, war unwiderstehlich, und die Koppelung des zehnten Geheimnisses von Medjugorje mit dem dritten Geheimnis von Fatima bot sich als perfekter Gottesbeweis an. Doch wie Michener in Kapitel 69 anmerkt, ist es auch nach diesem Beweis letztlich der Glaube, der zählt.

Die in Kapitel 56 dem Heiligen Malachius zugeschriebenen Prophezeiungen sind so dokumentiert. Die Trefferquote der vorhergesagten Papstsymbole ist geradezu unheimlich. Malachius letzte Prophezeiung, dass der hundertzwölfte Papst den Namen Petrus annehmen und dass in seiner Amtszeit der schreckliche Richter alle Menschen richtenwerde, ist ebenfalls korrekt wiedergegeben. Johannes Paul II. ist der hundertzehnte Papst auf Malachius Liste. Beim übernächsten Papst wird man sehen, ob die Prophezeiung sich erfüllt. Ähnlich wie Rom trug das deutsche Bamberg einst die Bezeichnung Stadt der sieben Hügel. Das erfuhr ich während meines Besuchs dort, und als ich Bamberg besichtigte, war schnell klar, dass ich diese reizende Stadt in die Handlung aufnehmen musste.

Die in Kapitel 15 geschilderten irischen Entbindungsheime und all das mit ihnen verbundene Leid hat es traurigerweise tatsächlich gegeben. Tausende von Kleinkindern wurden ihren Müttern weggenommen und zur Adoption freigegeben. Über die jeweilige Herkunft der Betroffenen ist so gut wie nichts bekannt, und viele dieser Kinder heute Erwachsene hatten wie Colin Michener mit der Ungewissheit ihrer Existenz zu kämpfen. Zum Glück gibt es diese Heime heute nicht mehr.

Ähnlich traurig ist die schreckliche Lage der in Kapitel 14 beschriebenen rumänischen Waisenkinder. Diese Tragödie dauert bis heute an. Krankheit, Armut und Verzweiflung ganz zu schweigen von sexuellem Missbrauch machen diesen unschuldigen Kindern bis heute das Leben schwer.

Alle kirchlichen Rituale und Zeremonien sind korrekt wiedergegeben bis auf die Szene mit dem Silberhammer. Heute pocht man dem verstorbenen Papst nicht mehr mit einem Hammer gegen die Stirn, doch wegen ihrer anschaulichen Dramatik wollte ich nicht auf diese Szene verzichten.

Die Aufspaltung der Kirche in ein konservatives und ein liberales Lager, in Italiener und Nicht-Italiener, Europäer und Nicht-Europäer ist real. Die Kirche kämpft derzeit mit diesen auseinander driftenden Tendenzen, und dieser Prozess schien mir ein angemessener Hintergrund für den Konflikt zwischen Clemens XV. und Alberto Valendrea.

Die in Kapitel 57 verwendeten Bibelstellen sind natürlich wörtlich zitiert und werfen ein interessantes Licht auf die im Roman angesprochene Problematik. Ebenso wird in Kapitel 7 und 68 wörtlich aus der Rede Johannes XXIII. zitiert, mit der er das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete. Dass er der erste Papst war, der das dritte Geheimnis von Fatima wirklich gelesen hat, macht seine Hoffnung auf Reformen um unsere irdische Stadt jener himmlischen Stadt ähnlicher zu machen, in der die Wahrheit regiert besonders faszinierend.

Erst im Mai 2000 wurde das dritte Geheimnis weltweit veröffentlicht. Wie Ngovi und Valendrea vermuteten, könnte die Andeutung eines Papstattentates das lange Zögern der Kirche vor der Veröffentlichung der Botschaft erklären. Insgesamt gesehen sind die rätselhaften Bilder und Gleichnisse der dritten Botschaft jedoch eher kryptisch als bedrohlich, weswegen viele Beobachter sich fragten, ob an diesem Geheimnis vielleicht mehr sein könnte, als auf den ersten Blick zu sehen war.

Die katholische Kirche ist eine einzigartige Institution. Sie hat nicht nur zwei Jahrtausende überstanden, sie wächst und gedeiht auch noch heute. Doch immer mehr Menschen fragen sich, wie die Zukunft der Kirche im kommenden Jahrhundert wohl aussehen wird. Manche Gläubige wünschen wie Clemens XV. eine tief greifende Modernisierung der Kirche. Andere wollen wie Alberto Valendrea zu alten kirchlichen Traditionen zurückkehren. Vielleicht hat Leo XIII. im Jahr 1881 am besten auf den Punkt gebracht, was für die Zukunft der Kirche entscheidend ist:

Die Kirche braucht nichts als die Wahrheit.

Dank

Wie immer schulde ich vielen Menschen Dank. Zunächst meiner Agentin Pam Ahearn für ihre stets klugen Ratschläge. Danach den Mitarbeitern von Random House: Gina Centrello als einer großartigen Verlegerin, die sich mit diesem Buch viel Mühe gemacht hat; Mark Tavani, der als Lektor Ungeschliffenheiten des Manuskripts beseitigte; Cinda Murray, die als Werbemanagerin meine Eigenarten geduldig erträgt; Kim Hovey als einem großartigen Verkaufsmanager; Beck Stvan, dem das schöne Cover zu verdanken ist; Laura Jorstadt, der Korrektorin mit den Adleraugen; Carole Lowenstein als Verantwortlicher für den Druck und schließlich allen Mitarbeitern in Werbung und Verkauf: Ohne ihre Leistungen wäre dieses Buch nicht möglich. Außerdem will ich Fran Downing, Nancy Pridgen und Daiva Woodworth nicht vergessen. Dieser Roman ist mein letzter in der Zeit unserer Autorengruppe entstandener, und ich vermisse euch sehr.

Wie immer haben mich meine Frau Amy und meine Tochter Elizabeth auf jedem Schritt des Weges begleitet und mich liebevoll ermutigt.

Dieses Buch ist meiner Tante gewidmet, einer wundervollen Frau, die sein Erscheinen leider nicht mehr erlebt hat. Ich weiß, sie wäre stolz darauf gewesen. Aber sie sieht uns, und jetzt lächelt sie bestimmt.