Erster Teil

1

Vatikanstadt, Gegenwart
Mittwoch, 8. November
6.15 Uhr

 

Monsignore Colin Michener hörte wieder das Geräusch und klappte sein Buch zu. Jemand war da, das wusste er genau.

Wie schon einmal.

Er erhob sich vom Lesetisch und sah sich zwischen den barocken Regalen um. Die uralten Bücherregale ragten bis zur Decke, bildeten lange Korridore und erstreckten sich Reihe um Reihe in beide Richtungen. Eine Aura ging von diesem Saal aus, ein Nimbus, der zum Teil mit seinem Namen verbunden war: L’Archivio Segreto Vaticano. Das Vatikanische Geheimarchiv.

Er hatte diesen Namen immer merkwürdig gefunden, denn nur das Wenigste, was in diesen Büchern stand, war geheim. Die meisten Bände enthielten einfach nur die akribischen Aufzeichnungen aus zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte, Berichte aus Zeiten, als die Päpste noch Könige, Krieger, Politiker und Liebhaber gewesen waren. Alles in allem waren es fünfundzwanzig Regalmeilen, die viel zu bieten hatten, wenn jemand wusste, wo er suchen musste.

Und das wusste Michener.

Wieder konzentrierte er sich auf das Geräusch und ließ den Blick über die Fresken Kaiser Konstantins, König Pippins und Friedrich II. hinweg zu dem eisernen Türgitter auf der anderen Seite des Saals schweifen. Hinter dem Gitter war es dunkel und still. Die Riserva durfte nur mit ausdrücklicher päpstlicher Vollmacht betreten werden, und der Türschlüssel befand sich in der Hand des Archivars. Michener war noch nie in dieser Kammer gewesen, hatte aber schon mehrfach pflichtbewusst vor der Tür gewartet, wenn sein Chef, Papst Clemens XV. den Raum betrat. Dennoch wusste er Bescheid über einige der kostbaren Dokumente, die in diesem fensterlosen Raum aufbewahrt wurden. Der Letzte Brief der Königin Maria von Schottland vor ihrer Enthauptung durch Elizabeth I., die Petitionen von fünfundsiebzig englischen Fürsten, die den Papst um Annullierung der ersten Ehe Heinrichs VIII. baten, Galileos unterschriebener Widerruf und Napoleons Vertrag von Tolentino. Michener betrachtete die Streben und Verzierungen des Eisengitters und das darüber ins Metall gehämmerte Fries von Blattwerk und Tieren. Die Tür stammte aus dem vierzehnten Jahrhundert. Nichts in der Vatikanstadt war einfach und gewöhnlich, alles trug die unverkennbare Handschrift eines berühmten Künstlers oder legendären Handwerkers, der im Bemühen, sowohl Gott als auch seinem Papst zu gefallen, jahrelang mit großer Sorgfalt gearbeitet hatte.

Michener schritt durch den Saal, und seine Schritte hallten in der lauen Luft wider. Als er vor dem eisernen Türgitter stehen blieb, strömte ihm warme Luft entgegen. An der rechten Seite des Portals befand sich ein mächtiges Türschloss. Er prüfte den Riegel: Dieser saß sicher und fest.

Hatte vielleicht einer der Aufseher das Archiv betreten? Der Dienst habende Aufseher war bei Micheners Eintreffen gegangen, und solange der päpstliche Privatsekretär da war, würde man niemanden in den Saal lassen. Der Vertraute des Papstes brauchte keinen Babysitter. Doch es gab zahlreiche Türen, die zum Geheimarchiv führten, und Michener fragte sich, ob er eben gehört haben könnte, wie die alten Türangeln vorsichtig geöffnet und wieder geschlossen worden waren. Schwer zu sagen. In diesem großen Saal waren die Geräusche ebenso schwer zu orten wie die Dokumente.

Michener trat rechter Hand in den Pergament-Saal, einen langen Korridor, hinter dem sich der Katalogsaal befand. Über ihm leuchteten Lampen auf und erloschen, sobald er ihren Lichtkreis verließ. Er kam sich vor wie in einem unterirdischen Gang, dabei befand er sich im ersten Obergeschoss.

Er ging noch ein kleines Stück, hörte aber nichts mehr und kehrte wieder um.

Es war früh am Vormittag und Mitte der Woche. Michener hatte für seine Nachforschungen absichtlich diese Zeit gewählt, um keine anderen Zugangsberechtigten zu behindern und möglichst wenig Aufmerksamkeit bei den Angestellten der Kurie zu erregen. Er stellte im Auftrag des Heiligen Vaters geheime Nachforschungen an, doch er war nicht allein. Vor einer Woche hatte er es auch schon gespürt.

Michener kehrte in den Hauptsaal zurück und trat wieder zum Lesetisch, doch dabei behielt er den Saal im Auge. Am Boden befand sich eine Darstellung der Sternkreiszeichen. Sie waren an der Sonne ausgerichtet, deren Strahlen durch exakt angeordnete Lichtschlitze oben in der Wand eindringen konnten. Vor Jahrhunderten war genau hier der gregorianische Kalender errechnet worden. Doch heute drang kein Sonnenlicht herein. Draußen war es kalt und nass, und ein Herbststurm fegte über Rom hinweg.

Die Bände, mit denen Michener sich in den letzten zwei Stunden befasst hatte, lagen ordentlich auf dem Lesepult. Ein großer Teil der Schriften war in den letzten zwei Jahrzehnten verfasst worden. Vier Bände waren jedoch wesentlich älter: zwei davon auf Italienisch geschrieben, der dritte auf Spanisch und der vierte auf Portugiesisch. Er las all diese Sprachen mühelos mit ein Grund, aus dem Clemens XV. ihn damals nur zu gerne eingestellt hatte.

Die spanischen und italienischen Berichte waren relativ wertlos, sie waren einfach nur Neuaufgüsse des portugiesischen Werks: Eine umfassende und detaillierte Studie der Berichte über die Erscheinungen der Heiligen Jungfrau Maria in Fatima vom 13. Mai 1917 bis zum 13. Oktober 1917.

Papst Benedikt XV. hatte die Studie 1922 als Teil der kirchlichen Untersuchungen zu den angeblichen Vorfällen in einem abgelegenen portugiesischen Gebirgstal angeordnet. Der Band war von Hand geschrieben und die Tinte zu einem warmen Gelb verblasst, das auf den ersten Blick an Blattgold denken ließ. Der Bischof von Leira hatte eine gründliche Untersuchung durchgeführt, die sich alles in allem über acht Jahre erstreckt hatte. Bei der Entscheidung des Vatikans im Jahre 1930, die sechs irdischen Erscheinungen der Jungfrau in Fatima als glaubwürdig anzuerkennen, hatten die hier zusammengetragenen Informationen eine entscheidende Rolle gespielt. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren drei Anhänge entstanden, die nun dem Original beigefügt waren.

Michener hatte alles mit der Gründlichkeit des ausgebildeten Kirchenjuristen gelesen. Sieben Jahre hatte er an der Universität München studiert, jedoch niemals als Anwalt im herkömmlichen Sinne praktiziert. Er kannte sich vielmehr in der Welt der Kirchenverlautbarungen und kanonischen Dekrete aus. Die Präzedenzfälle erstreckten sich über zweitausend Jahre, und ihr Verständnis beruhte eher auf historischem Einfühlungsvermögen als auf einem strikten Festhalten am stare decisis. Die harte juristische Ausbildung war für Micheners Arbeit in der Kirche von unschätzbarem Wert, denn das logische Denken des Juristen hatte ihm im verwirrenden Sumpf der Kirchenpolitik unschätzbare Dienste geleistet, und, wichtiger noch, es hatte ihm dabei geholfen, in diesem Labyrinth vergessener Dokumente das zu finden, was Clemens XV. brauchte.

Wieder hörte er das Geräusch.

Ein ganz leises Quietschen, wie das Aneinanderreiben zweier Zweige im Wind oder das Piepsen einer Maus.

Er eilte dorthin, wo er das Geräusch vernommen hatte, und spähte in beide Richtungen.

Nichts.

Fünfzehn Meter zur Linken führte eine Tür aus dem Archiv. Er näherte sich dem Durchgang und überprüfte das Schloss. Es war offen. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die schwere, holzgeschnitzte Tür, und die eisernen Türangeln quietschten ganz leise.

Er erkannte das Geräusch sofort wieder.

Der Korridor dahinter war leer, doch etwas Glänzendes auf dem Marmorboden erregte seine Aufmerksamkeit.

Er kniete sich hin.

In regelmäßigen Abständen schimmerte es feucht. Die Flecken führten in den Korridor und dann durch die Tür zurück ins Archiv. In manchen der winzigen Pfützen klebte ein wenig Schlamm oder Fetzen von Blättern und Grashalmen.

Micheners Blick folgte den feuchten Flecken, die am Ende einer Regalreihe im Archiv endeten. Noch immer trommelte der Regen aufs Dach.

Er wusste, was diese kleinen Pfützen waren.

Fußspuren.

2

Der Medienzirkus ging früh los, was Michener nicht überraschte. Er stand am Fenster und sah zu, wie die Übertragungswagen der Fernsehsender langsam auf den Petersplatz rollten und die ihnen zugewiesenen Plätze einnahmen. Die vatikanische Pressestelle hatte ihm gestern berichtet, dass einundsiebzig Medienvertreter zur Sondersitzung des Gerichts zugelassen worden seien. Vor allem handelte es sich um nordamerikanische, englische und französische Journalisten, es waren jedoch auch ein Dutzend Italiener und drei Deutsche darunter. Zum größten Teil waren Vertreter der Printmedien anwesend, doch mehrere Fernsehsender hatten um die Erlaubnis gebeten, direkt vom Ort des Geschehens zu übertragen. Die BBC hatte sogar versucht, eine Filmerlaubnis im Verhandlungssaal zu erwirken als Teil eines in Arbeit befindlichen Dokumentarfilms –, doch diese Anfrage war abgelehnt worden. Das Ganze würde ein ziemlicher Rummel werden, aber diesen Preis musste man zahlen, wenn man einen Prominenten aufs Korn nahm.

Das Apostolische Pönitentiarie war der erste von drei vatikanischen Gerichtshöfen und befasste sich ausschließlich mit Exkommunikationen. Das kanonische Gesetz nannte fünf Gründe für eine Exkommunikation: den Bruch des Beichtgeheimnisses, einen körperlichen Angriff auf den Papst, die Weihe eines Bischofs ohne Zustimmung des Heiligen Stuhls, die Entweihung der Eucharistie und die Verfehlung, um die es heute ging, nämlich die Erteilung der Absolution für die Mittäterin des Geistlichen bei einer sexuellen Sünde.

Father Thomas Kealy von der St. Peter and Paul Church in Richmond, Virginia hatte das Undenkbare getan. Vor drei Jahren hatte er sich öffentlich auf eine Beziehung mit einer Frau eingelassen, und nun hatte er seiner Partnerin und sich selbst vor den Augen seiner versammelten Gemeinde die Absolution für diese Sünde erteilt. Dieses Bravourstück und Kealys beißende Kritik am Zölibat hatten großes Aufsehen erregt. Schon lange forderten immer wieder einzelne Priester Rom in der Frage des Zölibats heraus. Die Kirche saß das normalerweise einfach aus, denn fast immer quittierte der Verfechter der Priesterehe entweder den Dienst oder fügte sich irgendwann. Father Kealy hatte den Streit jedoch eskalieren lassen und drei Bücher veröffentlicht, eines davon, in dem er sich unmittelbar gegen die katholische Doktrin wandte, war ein internationaler Bestseller geworden. Michener wusste genau, wie sehr man den Provokateur in der Kurie fürchtete. Die Kirche konnte vielleicht die eine oder andere Herausforderung durch einen Priester hinnehmen, aber mit der Toleranz war es vorbei, wenn plötzlich die Öffentlichkeit aufhorchte.

Und bei Kealy hatte die Öffentlichkeit sehr aufgehorcht.

Er war gut aussehend und gewandt und besaß die beneidenswerte Gabe, seine Gedanken prägnant auszudrücken. Kealy war schon in der ganzen Welt aufgetreten und hatte eine beträchtliche Anhängerschaft. Jede Bewegung braucht ihren Führer, und die Befürworter von Kirchenreformen hatten den ihren offensichtlich in diesem mutigen Priester gefunden. Seine Website, die, wie Michener wusste, täglich vom Apostolischen Pönitentiarie überprüft wurde, verzeichnete mehr als zwanzigtausend Besucher pro Tag. Vor einem Jahr hatte Kealy eine weltumspannende Bewegung gegründet, Catholics Rallying for Equality Against Theological Eccentricities CREATE –, ein Verein, der sich für die Demokratisierung und Modernisierung der Kirche einsetzte und der inzwischen über eine Million Mitglieder hatte, überwiegend aus Europa und Nordamerika.

Kealys Kühnheit hatte viele amerikanische Bischöfe aufgerüttelt, und im Vorjahr war eine beachtliche Gruppe von ihnen fast so weit gegangen, Kealys Ideen öffentlich zu unterstützen und Roms fortgesetztes Beharren auf mittelalterlicher Denkweise offen in Frage zu stellen. Wie Kealy regelmäßig erklärte, machte die amerikanische Kirche eine Krise durch. Das hatte sie einer arroganten Führung und einem veralteten Denken zu verdanken, aufgrund dessen immer wieder Priester in Ungnade fielen. Kealys Kritik, der Vatikan wolle zwar das amerikanische Geld, nicht aber den amerikanischen Einfluss, machte allgemein Eindruck. Er bot jene Art von populistischem gesunden Menschenverstand, nach dem man sich im Westen sehnte. Er war prominent geworden. Nun hatte er dem Favoriten den Fehdehandschuh hingeworfen, und der Wettkampf würde unter den Augen der Weltpresse ausgetragen werden.

Doch zunächst musste Michener seinen eigenen Kampf durchstehen.

Er drehte sich um, sah Clemens XV. an und verdrängte den Gedanken, dass sein alter Freund vielleicht bald sterben würde.

»Wie geht es Ihnen heute, Heiliger Vater?«, fragte er auf Deutsch. Wenn sie zu zweit waren, unterhielten sie sich immer in Clemens Muttersprache. Die sprach im Vatikan sonst fast keiner.

Der Papst griff nach einer Porzellantasse und trank einen Schluck Espresso. »Verblüffend, wie schlecht man sich in einer derart großartigen Umgebung fühlen kann.«

Clemens Sarkasmus war nichts Neues, doch in letzter Zeit hatte er sich verstärkt. Er stellte die Tasse auf den Tisch. »Haben Sie die gesuchte Information im Archiv gefunden?«

Michener trat vom Fenster weg und nickte.

»Hat der ursprüngliche Bericht über die Erscheinungen in Fatima Sie weitergebracht?«

»Nicht im Geringsten. Aber ich habe Dokumente gefunden, die mehr hergeben.« Wieder fragte er sich, warum das alles dem Papst so wichtig war, verkniff sich aber eine Bemerkung.

Der Papst schien seine Gedanken zu ahnen. »Sie stellen niemals Fragen?«

»Wenn ich Bescheid wissen sollte, würden Sie es mir sagen.«

In den vergangenen drei Jahren hatte der Papst sich sehr verändert er war von Tag zu Tag distanzierter, blasser und kränklicher geworden. Clemens war schon immer ein eher kleiner, zierlicher Mann gewesen, doch in letzter Zeit war es, als würde sein Körper von innen her schrumpfen. Der braune Haarschopf auf seinem Kopf war einem kurzen, grauen Flaum gewichen. Das fröhliche Gesicht, das einmal auf dem Titelblatt von Zeitungen und Zeitschriften geprangt hatte der Papst, wie er bei der Verkündigung seiner Wahl vom Balkon des Petersdoms herablächelte war fast zur Karikatur seiner selbst ausgemergelt. Seine frischen Wangen waren bleich geworden, bis auf den hochroten Fleck, den die Presseabteilung des Vatikans inzwischen auf den Fotos routinemäßig retouchierte. Die Bürde, die auf den Schultern des Nachfolgers Petri lastete, hatte ihren Tribut gefordert und einen Mann zum Greis gemacht, der noch vor gar nicht so langer Zeit regelmäßig in den bayerischen Alpen zum Bergsteigen gewesen war.

Michener zeigte auf das Tablett mit dem Kaffee. Er erinnerte sich an Zeiten, als ein Frühstück aus Wurst, Joghurt und Schwarzbrot bestanden hatte. »Warum essen Sie nichts? Ihr Hausdiener sagte mir, Sie hätten gestern schon das Abendessen ausgelassen.«

»Immer macht er sich Sorgen.«

»Warum sind Sie nicht hungrig?«

»Und er lässt nicht locker.«

»Sie beruhigen mich nicht, wenn Sie meinen Fragen ausweichen.«

»Was beunruhigt Sie denn, Colin?«

Er hätte gerne die Falten erwähnt, die Clemens Stirn durchfurchten, seine Besorgnis erregende Blässe und die an Händen und Handgelenken blau heraustretenden Adern. Doch stattdessen sagte er nur: »Ihre Gesundheit, Heiliger Vater.«

Clemens lächelte. »Sie wollen sich nicht meinem Spott aussetzen.«

»Wer würde dem Heiligen Vater widersprechen wollen?«

»Ach, kommen Sie mir wieder mit diesem Unfehlbarkeitsgerede. Stimmt ja. Ich hab immer Recht.«

Michener beschloss, die Herausforderung anzunehmen. »Nicht immer.«

Clemens kicherte. »Haben Sie den Namen in den Archiven gefunden?«

Entschlossen griff Michener in seine Soutane und zog einen Zettel heraus. Unmittelbar bevor das Geräusch ihn aufschreckte, hatte er sich eine Notiz gemacht. Er reichte das Papier Clemens und bemerkte: »Es war wieder jemand da.«

»Was Sie nicht überraschen sollte. Hier bleibt nichts verborgen.« Der Papst las die Worte und wiederholte sie ein zweites Mal laut. »Pater Andrej Tibor.«

»Er ist ein Priester im Ruhestand und lebt in Rumänien«, erklärte Michener. »Ich habe seine Daten überprüft. Hat dort eine Adresse und erhält bis heute regelmäßig einen Scheck aus der Pensionskasse.«

»Ich möchte, dass Sie hinfahren und ihn besuchen.«

»Sagen Sie mir auch, warum?«

»Noch nicht.«

Seit drei Monaten wirkte Clemens zutiefst beunruhigt. Der alte Mann hatte sich bemüht, seine Sorgen zu verbergen, doch Michener, der seit vierundzwanzig Jahren mit ihm befreundet war, waren sie nicht entgangen. Er erinnerte sich genau, wann er Clemens Irritation zum ersten Mal gespürt hatte, es war unmittelbar nach einem Besuch des Papstes in der Riserva gewesen, wo sich hinter dem verschlossenen Türgitter ein uralter Tresor befand. »Sagen Sie mir wenigstens, wann ich es erfahre?«

Der Papst erhob sich von seinem Stuhl. »Nach dem Gebet.«

 

Sie verließen das Arbeitszimmer, gingen schweigend durch den dritten Stock und blieben in einer offenen Tür stehen. Die Kapelle dahinter war mit weißem Marmor ausgekleidet, und die verwirrenden Glasmosaike der Fenster stellten die Stationen des Kreuzwegs dar. Jeden Morgen kam Clemens für ein paar Minuten stiller Andacht hierher. Keiner durfte ihn dabei stören. Alles konnte warten, bis er seine Unterredung mit Gott beendet hatte.

Seit den frühesten Tagen hatte Michener für Clemens gearbeitet. Der drahtige Deutsche war vom Erzbischof zum Kardinal und schließlich zum Kardinalstaatssekretär aufgestiegen. Micheners Karriere war parallel dazu verlaufen, vom Seminaristen über die Priesterwürde bis zum Monsignore, und als das Kardinalskollegium Jakob Kardinal Volkner zum zweihundertsiebenundsechzigsten Nachfolger auf dem Stuhle Petri wählte, erreichte auch Micheners Laufbahn ihren Höhepunkt. Volkner ernannte ihn gleich nach der Wahl zu seinem Privatsekretär.

Michener kannte Clemens als einen Mann, der in der zutiefst erschütterten deutschen Nachkriegsgesellschaft aufgewachsen war und das diplomatische Handwerk an so schwierigen Orten wie Dublin, Kairo, Cape Town und Warschau gelernt hatte. Jakob Volkner war ein Mann, der ungeheure Geduld und eine unbändige Aufmerksamkeit aufbringen konnte. Nicht ein einziges Mal in ihren gemeinsamen Jahren hatte Michener Zweifel am Glauben oder Charakter seines Mentors gehegt, und wenn er in seinem Leben auch nur halb so viel Format bewiese wie Clemens, wäre er jederzeit bereit, es einen vollen Erfolg zu nennen.

Clemens beendete sein Gebet, bekreuzigte sich und küsste das Pectorale, das Kreuz um seinen Hals, das die Brust seiner weißen Albe verzierte. Seine Andacht war heute kurz gewesen. Der Papst erhob sich vom Betschemel, verweilte aber noch vor dem Altar. Michener stand schweigend in einer Ecke, bis der Pontifex zu ihm trat.

»Ich beabsichtige, Hochwürden Tibor alles Nötige in einem Brief zu erklären. Er wird der päpstlichen Autorität gehorchen und Ihnen bestimmte Informationen übergeben.«

Noch immer keine Erklärung, warum die Reise nach Rumänien nötig war. »Wann soll ich abreisen?«

»Morgen. Spätestens übermorgen.«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich gut ist. Kann nicht ein Legat diese Aufgabe übernehmen?«

»Ich versichere Ihnen, Colin, dass ich bestimmt nicht während Ihrer Abwesenheit sterbe. Ich fühle mich weit besser, als ich aussehe.«

Dasselbe hatten auch Clemens Ärzte vor weniger als einer Woche bestätigt. Nach einer Serie von Tests war man zu dem Ergebnis gekommen, die Gesundheit des Papstes sei nicht angegriffen. Unter vier Augen hatte der Leibarzt des Oberhirten jedoch darauf hingewiesen, dass psychischer Stress Clemens gefährlichster Feind sei. Die rapide Verschlechterung seines Befindens in den letzten Monaten schien Beweis genug, dass irgendetwas an seiner Seele nagte.

»Ich hatte gar nicht gesagt, dass Sie schlecht aussehen, Euer Heiligkeit.«

»Das war auch nicht nötig. Die Augen sind das Fenster der Seele. Und in den Ihren kann ich sehr gut lesen.«

Michener hielt den Zettel mit seiner Notiz hoch. »Warum wollen Sie diesen Priester kontaktieren?«

»Das hätte ich schon nach meinem ersten Besuch in der Riserva tun sollen. Aber ich habe mich dagegen gewehrt.« Clemens stockte. »Jetzt kann ich mich nicht länger wehren.«

»Warum sieht sich das Oberhaupt der Heiligen Katholischen Kirche ohne Alternative?«

Der Papst entfernte sich und betrachtete ein Kruzifix an der Wand. Zu beiden Seiten des Marmoraltars brannten zwei mächtige Kerzen.

»Gehen Sie heute Vormittag zur Verhandlung des Pönitentiarie?«, fragte Clemens, den Rücken zu Michener gekehrt.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Das Oberhaupt der Heiligen Katholischen Kirche entscheidet selbst, welche Fragen es beantwortet.«

»Meines Wissens hatten Sie mir Anweisung erteilt, der Verhandlung beizuwohnen. Also, ja. Ich gehe hin. Und geselle mich zu einem Saal voller Reporter.«

»Wird sie auch da sein?«

Michener wusste genau, von wem der alte Mann sprach. »Wie ich hörte, hat sie die Akkreditierung als Presseberichterstatterin beantragt.«

»Wissen Sie, warum sie sich für die Verhandlung interessiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Wie bereits gesagt, habe ich nur zufällig von ihrem Kommen erfahren.«

Clemens drehte sich um und sah ihn an. »Was für ein glücklicher Zufall.«

Michener fragte sich, warum der Papst sich dafür interessierte.

»Es ist gut, dass sie Ihnen nicht gleichgültig ist, Colin. Sie ist ein Teil Ihrer Vergangenheit. Ein Teil, den Sie niemals vergessen sollten.«

Clemens kannte die ganze Geschichte nur, weil Michener damals einen Beichtvater gebraucht hatte und der Erzbischof von Köln ihm von allen Menschen am nächsten stand. In dem Vierteljahrhundert seit seiner Priesterweihe hatte es nur diesen einen Bruch seiner Gelübde gegeben. Michener hatte daran gedacht, das Priesteramt niederzulegen, doch Clemens hatte es ihm ausgeredet. Eine Seele müsse durch ihre Schwächen hindurchgehen, um zu ihrer Kraft zu finden, hatte er erklärt. Einfach davonzulaufen mache nichts besser. Jetzt, nach über einem Dutzend Jahren, gab Michener Jakob Volkner Recht: Er war der päpstliche Privatsekretär. Seit beinahe drei Jahren half er Clemens XV. den bürokratischen Kirchenapparat mit seinen oft lächerlich eitlen Würdenträgern zu regieren. Dass Micheners Mitarbeit auf einer Verletzung seines Eides gegenüber Gott und der Kirche beruhte, schien Clemens nie zu stören. Diese Tatsache hatte Michener letzthin einigermaßen beunruhigt.

»Ich habe nichts vergessen«, flüsterte er.

Der Papst trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Trauern Sie dem Verlorenen nicht nach. Das ist ungesund und führt zu nichts.«

»Das Lügen fällt mir nicht leicht.«

»Ihr Gott hat Ihnen vergeben. Mehr brauchen Sie nicht.«

»Wieso sind Sie da so sicher?«

»Nun, ich bin mir sicher. Und wenn Sie dem unfehlbaren Haupt der katholischen Kirche nicht glauben können, wem dann?« Mit einem Lächeln, das diesen kleinen Scherz begleitete, ermahnte er Michener, die Dinge nicht ganz so ernst zu sehen.

»Sie sind unmöglich«, erlaubte sich Michener lächelnd zu erwidern.

Clemens zog die Hand zurück. »Stimmt, aber liebenswert.«

»Ich werde mich bemühen, das nicht zu vergessen.«

»Unbedingt. Mein Brief an Hochwürden Tibor ist gleich fertig. Ich werde um eine schriftliche Antwort bitten, aber falls er mit Ihnen sprechen will, hören Sie ihm zu, befragen Sie ihn nach Herzenslust, und berichten Sie mir alles. Haben Sie das verstanden?«

Welche Fragen konnte Michener dem Mann wohl stellen, wenn er nicht einmal wusste, worum es bei dem Besuch ging? Doch statt weiter nachzuhaken, sagte er nur: »Ich habe verstanden, Euer Heiligkeit. Wie immer.«

Clemens lächelte. »Das ist gut so, Colin. Wie immer.«

3

11.00 Uhr

 

Michener betrat den Verhandlungssaal. Es war ein hoher, weiter Raum aus weißem und grauem Marmor mit einem farbigen geometrischen Mosaik, das vierhundert Jahre Kirchengeschichte miterlebt hatte.

Zwei Schweizergardisten in Zivil bewachten die Bronzetüren und verbeugten sich, als sie den Privatsekretär des Papstes erkannten. Michener hatte vor seinem Kommen absichtlich noch eine Stunde verstreichen lassen. Er wusste, dass seine Anwesenheit Gesprächsstoff abgeben würde nur selten wohnte ein so enger Vertrauter des Papstes den Verhandlungen bei.

Auf Clemens Bitte hin hatte Michener alle drei Bücher Kealys gelesen und das Kirchenoberhaupt über die darin enthaltenen Provokationen unterrichtet. Clemens selbst hatte sie nicht gelesen, da ein solcher Akt Anlass für zu viele Spekulationen geliefert hätte. Der Papst hatte jedoch ein lebhaftes Interesse an Thomas Kealys Schriften gezeigt. Als Michener sich jetzt auf einen der hinteren Sitze des Saals niederließ, sah er den Autor zum ersten Mal.

Der Angeklagte saß allein an einem Tisch. Er wirkte wie Mitte dreißig, hatte dichtes, kastanienbraunes Haar und ein sympathisches, jungenhaftes Gesicht. Das Lächeln, das hin und wieder darin aufblitzte, wirkte berechnet Kealy schien absichtlich einen auf Spaßvogel zu machen. Michener hatte alle Hintergrundberichte gelesen, die der Gerichtshof hatte anfertigen lassen, und in jedem wurde Kealy als blasiert und unangepasst dargestellt. Offensichtlich einer, der in die Medien will, hatte einer der Ermittler geschrieben. Dennoch konnte Michener sich des Gedankens nicht erwehren, dass Kealys Argumente in vieler Hinsicht überzeugend klangen.

Kealy wurde von Kardinalstaatssekretär Alberto Valendrea befragt, und Michener beneidete den Angeklagten nicht um seine Lage. Kealy hatte harte Richter erwischt. Michener hielt jeden der versammelten Prälaten für einen strammen Konservativen. Keiner von ihnen befürwortete das Zweite Vatikanische Konzil, und ebenso gehörte kein Einziger zu Clemens’ XV. Anhängern. Insbesondere Valendrea war für seinen radikalen Dogmatismus bekannt. Die Mitglieder des Gerichtshofs steckten im vollen Ornat, die Kardinäle waren in purpurne Seide, die Bischöfe in schwarze Wolle gekleidet. Alle saßen hinter einem geschwungenen Marmortisch unter einem Gemälde Raphaels.

»Kein Mensch ist Gott ferner als der Häretiker«, sagte Kardinal Valendrea gerade. Seine tiefe Stimme trug auch ohne Mikrofon im ganzen Saal.

»Mir dagegen, Eminenz«, entgegnete Kealy, »will scheinen, dass vor allem der heimliche Häretiker gefährlich ist. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Vielmehr erscheint mir die offene Diskussion gesund für die Kirche.«

Valendrea hielt drei Bücher hoch. Michener erkannte die Umschläge: Es waren Kealys Bücher. »Das hier ist Häresie. Eine andere Sichtweise gibt es nicht.«

»Weil ich die Priesterehe befürworte? Oder die Priesterweihe für Frauen? Weil ich der Meinung bin, dass ein Priester wie andere fromme Menschen seine Frau, seine Kinder und Gott gleichzeitig lieben kann? Weil ich den Papst nicht für unfehlbar halte? Er ist ein Mensch und kann irren. Ist das Häresie?«

»Das dürfte kein Mitglied dieses Gerichtshofs anders sehen.«

So war es.

Michener sah zu, wie Valendrea sich in seinem Stuhl zurechtrückte. Der Kardinal war klein und untersetzt. Fransig zerzaustes Haar kringelte sich in seiner Stirn, was durch den Kontrast zu seiner olivbraunen Haut besonders auffiel. Mit seinen sechzig Jahren war Valendrea relativ jung in der von weit älteren Männern dominierten Kurie. Er hatte auch keineswegs die Gesetztheit, die Außenseiter bei einem hohen kirchlichen Würdenträger vermuteten. Er rauchte fast zwei Päckchen Zigaretten am Tag, besaß einen beneidenswert gut bestückten Weinkeller und bewegte sich regelmäßig in den politisch rechts stehenden Kreisen Europas. Seine Familie war mit Reichtum gesegnet, und als ihrem ältesten Angehörigen in väterlicher Linie entfiel ein großer Teil davon auf ihn.

Die Presse stufte Valendrea schon seit langem als papabile ein, was bedeutete, dass man ihn aufgrund seines Alters, seines Ranges und seines Einflusses als ernst zu nehmenden Kandidaten für die nächste Papstwahl ansah. Michener hatte gerüchteweise gehört, dass Valendrea versuchte, sich für das nächste Konklave in Position zu bringen, indem er mit Unentschiedenen verhandelte und potenzielle Gegner einschüchterte. Clemens war gezwungen gewesen, ihn zum Kardinalstaatssekretär zu ernennen, was ihn zum einflussreichsten Mann nach dem Papst machte. Er hatte darin dem Drängen einer bedeutenden Gruppe von Kardinälen nachgegeben, da er klug genug war, denen entgegenzukommen, die ihn an die Macht gebracht hatten. Außerdem folgte er, wie er damals erklärte, der Devise, dass man seinen Freunden nahe, seinen Feinden jedoch noch näher sein solle.

Valendrea legte die Arme auf den Tisch. Vor ihm lag kein einziges Blatt Papier. Er war als ein Mann bekannt, der kaum je einen Blick in die Unterlagen brauchte. »Father Kealy, viele Vertreter der Kirche sind der Ansicht, dass man das Zweite Vatikanische Konzil nicht als Erfolg beurteilen kann, und Sie sind ein hervorragendes Beispiel für diesen Fehlschlag. Ein Geistlicher hat nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung. In dieser Welt gibt es zu viele Meinungen, um eine offene Debatte zuzulassen. Die Kirche muss mit einer einzigen Stimme sprechen, nämlich der Stimme des Heiligen Vaters.«

»Heute sind allerdings auch viele kirchliche Amtsträger der Überzeugung, dass der Zölibat und die Doktrin der päpstlichen Unfehlbarkeit überholte Dogmen sind, Irrtümer aus einer Zeit des Analphabetismus und kirchlicher Korruption.«

»Da muss ich Ihnen widersprechen. Doch selbst falls es solche höheren Würdenträger geben sollte, behalten diese ihre Meinung für sich.«

»Die Angst schließt so manchem den Mund, Euer Eminenz.«

»Keiner hat etwas zu befürchten.«

»Da möchte ich von diesem meinem Platz hier meinen Widerspruch anmelden.«

»Die Kirche bestraft ihre Priester nicht für Gedanken, sondern nur für Handlungen. Solche wie die Ihren. Ihre Organisation ist eine Beleidigung der Kirche, der Sie dienen.«

»Läge mir meine Kirche nicht am Herzen, Eminenz, hätte ich einfach stillschweigend den Dienst quittiert. Doch ich liebe die Kirche genug, um ihrer Politik entgegenzutreten.«

»Haben Sie wirklich geglaubt, die Kirche würde tatenlos zusehen, wie Sie Ihr Gelübde brechen, sich öffentlich zu einer sexuellen Beziehung bekennen und sich dann selbst von dieser Sünde freisprechen?« Valendrea hielt erneut die drei Bücher hoch. »Und dann haben Sie auch noch darüber geschrieben. Sie haben die Kirche bewusst herausgefordert.«

»Glauben Sie wirklich, dass alle Priester im Zölibat leben?«, fragte Kealy.

Diese Frage erregte Micheners Interesse. Er merkte, dass auch die Reporter aufhorchten.

»Was ich glaube, spielt keine Rolle«, antwortete Valendrea. »Dieser Punkt betrifft vielmehr den einzelnen Geistlichen. Jeder Priester hat vor Gott und der Kirche ein Gelübde abgelegt. Ich erwarte, dass er sein Gelübde hält. Wer dies nicht schafft, sollte die Kirche von sich aus verlassen oder aber zum Gehen gezwungen werden.«

»Haben Sie Ihr Gelübde gehalten, Eminenz?«

Michener staunte über Kealys Unverfrorenheit. Vielleicht war ihm einfach klar, dass er nichts mehr zu verlieren hatte.

Valendrea schüttelte den Kopf. »Halten Sie es für eine gute Verteidigungsstrategie, mich persönlich herauszufordern?«

»Es ist eine ganz schlichte Frage.«

»Ja. Ich habe mein Gelübde gehalten.«

Kealy wirkte nicht weiter beeindruckt. »Eine andere Antwort konnten Sie mir ja wohl auch gar nicht geben.«

»Wollen Sie mich etwa der Lüge bezichtigen?«

»Nein, Eminenz. Nur ist es einfach so, dass kein Priester, Kardinal oder Bischof zugeben kann, was er in seinem Herzen empfindet. Jeder von uns ist dazu verpflichtet, das zu sagen, was die Kirche von ihm verlangt. Ich habe keine Ahnung, was Sie wirklich fühlen, und das ist traurig.«

»Meine Gefühle sind zur Beurteilung Ihrer Häresie unerheblich.«

»Mir scheint, Eminenz, dass Sie mich schon jetzt verurteilt haben.«

»Nicht mehr als Ihr Gott. Der tatsächlich unfehlbar ist. Oder wollen Sie diese Doktrin auch angreifen?«

»Wann hat Gott erklärt, dass einem Priester die Liebe eines Gefährten verwehrt bleiben muss?«

»Eines Gefährten? Warum sagen Sie nicht einfach einer Frau?«

»Weil die Liebe keine Grenzen kennt, Eminenz.«

»Der Homosexualität reden Sie also auch das Wort?«

»Ich trete nur dafür ein, dass jeder Einzelne seinem Herzen folgen soll.«

Valendrea schüttelte den Kopf. »Haben Sie vergessen, dass Sie bei Ihrer Ordination in eine Gemeinschaft mit Christus eingetreten sind? Der Kern Ihrer Identität und das gilt für jeden der hier Versammelten liegt in der vollständigen Teilhabe an dieser Gemeinschaft. Sie sollen ein lebendes, ungetrübtes Abbild Christi sein.«

»Aber woher wollen wir das Vorbild kennen? Keiner von uns war dabei, als Jesus lebte und lehrte.«

»Die Kirche hat es überliefert.«

»Aber heißt das nicht, dass der Mensch das Göttliche nach seinen Bedürfnissen formt?«

Ungläubig zog Valendrea die rechte Augenbraue hoch. »Ihre Arroganz ist verblüffend. Wollen Sie etwa behaupten, Christus selbst habe nicht zölibatär gelebt? Er habe seine Kirche nicht über alles andere gestellt? Er sei nicht in eine Gemeinschaft mit seiner Kirche eingetreten?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie Jesu sexuelle Vorlieben aussahen, und Sie auch nicht.«

Valendrea zögerte einen Moment und sagte dann: »Im Zölibat, Hochwürden, bringen Sie sich selbst zum Geschenk. Es ist Ausdruck Ihrer Hingabe. So lautet die Lehrmeinung der Kirche. Doch Sie scheinen unfähig oder nicht willens, sie zu verstehen.«

Kealy antwortete, indem er weitere Dogmen anführte, und Micheners Gedanken schweiften ab. Er hatte es vorhin absichtlich vermieden, sich nach ihr umzusehen, denn schließlich war er nicht ihretwegen gekommen. Aber dann ließ er den Blick doch rasch über die etwa hundert Anwesenden gleiten, bis er an einer Frau hängen blieb, die zwei Reihen hinter Kealy saß.

Ihr Haar war mitternachtsschwarz und bemerkenswert dicht und glänzend. Er hatte es als lange Mähne in Erinnerung, die nach frischen Limonen duftete, doch inzwischen hatte sie einen gestuften Kurzhaarschnitt, der sich leicht mit den Fingern kämmen ließ. Er sah ihr Profil nur von schräg hinten, aber sie hatte noch immer die feine Nase und die schmalen Lippen. Ihr Teint mit seinem hellen Milchkaffeebraun zeugte wie eh und je von ihrer Abstammung: Die Mutter war eine rumänische Zigeunerin und der Vater halb Ungar, halb Deutscher. Ihr Name, Katerina Lew, bedeutete »reiner Löwe«, was Michener bei ihrem Temperament und ihren fanatischen Überzeugungen immer als äußerst passend empfunden hatte.

Sie hatten sich in München kennen gelernt. Er war damals dreiunddreißig und bereitete sich auf sein Juraexamen vor. Sie war fünfundzwanzig und schwankte zwischen Journalismus und einer Schriftstellerkarriere. Sie hatte gewusst, dass er Priester war, und sie hatten beinahe zwei Jahre miteinander verbracht, bevor es dann zum Eklat kam.

Dein Gott oder ich, hatte sie erklärt.

Er hatte sich für Gott entschieden.

»Father Kealy«, erklärte Valendrea gerade. »Es liegt in der Natur des Glaubens, dass man nichts hinzufügen oder wegnehmen kann. Sie müssen die Lehren unserer Mutter Kirche als Ganzes annehmen oder vollständig zurückweisen. Es gibt keine halben Katholiken. Unsere Prinzipien in ihrer Auslegung durch den Heiligen Vater sind nicht gottlos und lassen sich nicht verwässern. Sie sind so rein wie Gott.«

»Meines Wissens zitieren Sie gerade Papst Benedikt XV.«, merkte Kealy an.

»Sie kennen sich gut aus. Umso mehr betrübt mich Ihre Häresie. Einem so intelligent wirkenden Mann wie Ihnen sollte klar sein, dass diese Kirche offenen Dissens weder dulden kann noch wird. Und schon gar nicht in einem Maße, wie er von Ihnen praktiziert wurde.«

»Damit sagen Sie nur, dass die Kirche Diskussionen fürchtet.«

»Ich sage damit, dass die Kirche Regeln festsetzt. Wenn Ihnen diese Regeln nicht gefallen, müssen Sie genug Stimmen sammeln, um einen Papst zu wählen, der die Regeln ändert.«

»Wie konnte ich das nur vergessen! Der Heilige Vater ist ja unfehlbar. Was auch immer er in Glaubensdingen behauptet, ist fraglos richtig. Gebe ich das Dogma korrekt wieder?«

Michener fiel auf, dass keiner der anderen Prälaten auch nur ansatzweise etwas gesagt hatte. Offensichtlich hatte der Kardinalstaatssekretär heute die Rolle des Inquisitors. Die anderen gehörten jedoch ohnehin zu seinen loyalen Anhängern, sie würden ihrem Wohltäter nicht ins Gehege kommen. Thomas Kealy machte Valendrea die Sache jedoch leicht und fügte sich selbst mehr Schaden zu, als alle zusätzlichen Fragen hätten anrichten können.

»Das ist richtig«, antwortete Valendrea. »Die Unfehlbarkeit des Papstes gehört zum Glaubensbestand der Kirche.«

»Wieder so eine von Menschen geschaffene Doktrin.«

»Ein weiteres Dogma, zu dem diese Kirche sich bekennt.«

»Ich bin ein Priester, der Gott und die Kirche liebt«, erklärte Kealy. »Mir ist nicht klar, warum man mich wegen meiner abweichenden Meinungen exkommunizieren sollte. Debatte und Diskussion sind die Grundlagen einer klugen Politik. Warum hat die Kirche Angst davor?«

»Hochwürden, hier geht es nicht um Redefreiheit. Wir sind nicht Amerika, es gibt hier kein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf dergleichen. In dieser Verhandlung geht es um Ihre Beziehung mit einer Frau, um die öffentlich zelebrierte Freisprechung von Ihrer beider Sünden und um Ihren offenen Dissens. In all diesen Punkten stehen Sie in einem eklatanten Gegensatz zu den Regeln der Kirche, der Sie angehören.«

Micheners Blick wanderte wieder zu Kate. So hatte er sie immer genannt, um dieser durch und durch osteuropäischen Frau zumindest einen Touch seines irischen Erbes zu verleihen. Sie saß aufrecht da, ein Notizbuch auf dem Schoß, und war ganz auf die Diskussion konzentriert.

Er dachte an ihren letzten gemeinsamen Sommer in Bayern, als er in den Semesterferien drei Wochen Urlaub mit ihr gemacht hatte. Sie waren in ein Alpendorf gefahren und mitten zwischen schneebedeckten Gipfeln in einem Gasthaus abgestiegen. Er wusste, dass es falsch war, aber damals hatte sie schon einen Teil seiner selbst berührt, von dessen Existenz er gar nichts gewusst hatte. Kardinal Valendreas Bemerkung über die Gemeinschaft des Priesters mit der Kirche beschrieb tatsächlich die Grundlage des priesterlichen Zölibats. Ein Priester sollte sich ausschließlich Gott und der Kirche weihen. Aber seit jenem Sommer fragte Michener sich immer wieder, warum es nicht möglich sein sollte, eine Frau, die Kirche und Gott gleichzeitig zu lieben. Was hatte Kealy gesagt? Wie andere fromme Menschen.

Er spürte, dass ihn jemand ansah. Als er aufblickte, sah er, dass Katarina den Kopf gedreht hatte und ihn direkt anblickte.

Ihr Gesicht zeigte immer noch die Hartnäckigkeit, die er damals so attraktiv gefunden hatte. Auch ihre Augen hatten noch die leichte mongolische Schrägstellung. Die Mundwinkel waren nach unten gezogen, das Kinn weiblich und sanft. Nach außen hin hatte sie keine harten Kanten. Alles Scharfkantige war in ihrer Persönlichkeit verborgen. Er betrachtete ihre Miene prüfend und versuchte, ihre Stimmung zu erahnen. Er bemerkte weder Zorn noch Groll noch Zuneigung. Ihr Blick war nichts sagend, er enthielt nicht einmal einen Gruß. Michener fühlte sich unbehaglich angesichts dieses Schattens aus seiner Vergangenheit. Vielleicht hatte Kate erwartet, ihn hier zu sehen, und wollte ihm nicht das befriedigende Gefühl geben, dass er ihr noch irgendetwas bedeutete. Schließlich hatten sie sich damals vor all diesen Jahren nicht freundschaftlich getrennt.

Sie wandte sich wieder dem Tribunal zu, und seine Nervosität ließ nach.

»Father Kealy«, sagte Valendrea gerade. »Ich frage Sie ganz einfach: Widerrufen Sie Ihre Häresie? Sehen Sie ein, dass Ihr Handeln gegen die Gesetze der Kirche und Gottes verstoßen hat?«

Der Priester rückte näher an den Tisch heran. »Ich glaube nicht, dass die Liebe zu einer Frau dem Gesetz Gottes widerspricht. Daher war es nicht ganz folgerichtig von mir, diese Tatsache wie eine Sünde zu vergeben. Ich habe das Recht, mich öffentlich zu äußern, und so entschuldige ich mich auch nicht für die Bewegung, die ich leite. Ich habe nichts Falsches getan, Eminenz.«

»Sie sind ein Narr, Father Kealy. Ich habe Ihnen jede erdenkliche Möglichkeit gewährt, um Vergebung zu bitten. Die Kirche kann und soll den Reumütigen vergeben. Aber ohne Reue geht es nicht. Der Sünder muss bußfertig sein.«

»Ich bitte nicht um Vergebung.«

Valendrea schüttelte den Kopf. »Es schmerzt mich um Sie und Ihre Anhänger. Sie haben sich offensichtlich dem Teufel ergeben.«

4

13.05 Uhr

 

Alberto Kardinal Valendrea stand schweigend da und hoffte, dass die Euphorie, die ihn nach der Verhandlung erfüllt hatte, seine aufsteigende Gereiztheit dämpfen würde. Erstaunlich, wie schnell ein Ärgernis eine freudige Stimmung vertreiben konnte.

»Was meinen Sie, Alberto?«, fragte Clemens XV.. »Bleibt mir noch Zeit für einen Blick auf die Menge?« Der Papst zeigte auf die Fensternische mit dem geöffneten Fenster.

Es ärgerte Valendrea, dass der Papst seine Zeit damit verschwendete, vor einem offenen Fenster zu stehen und den Leuten auf dem Petersplatz zuzuwinken. Der Sicherheitsdienst des Vatikans hielt diese Geste für gefährlich, doch der alte Narr ignorierte die Warnungen. Die Presse schrieb ständig darüber und verglich den Deutschen mit Johannes XXIII. Tatsächlich gab es Parallelen. Beide waren erst als beinahe Achtzigjährige auf den Papststuhl gelangt. Beide waren als Übergangspäpste gewählt worden. Und beide hatten jedermann überrascht.

Valendrea hasste es, wie die Vatikanbeobachter das geöffnete Papstfenster als Bild für alles Mögliche sahen. Es stehe für Clemens lebhaftes Denken, seine bescheidene Art, seine Offenheit und charismatische Wärme. Aber bei der Papstwürde ging es nicht um Popularität. Es ging um Beständigkeit, und der Kardinalstaatssekretär war wütend, wie leichtfertig Clemens viele altehrwürdige Sitten abgetan hatte. Die Berater des Papstes knieten sich nicht mehr nieder, wenn er den Raum betrat, kaum noch einer küsste den Papstring, und Clemens sprach so gut wie nie in der ersten Person Plural, was die Päpste vordem jahrhundertelang getan hatten. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, sagte Clemens gerne, wenn er wieder einmal irgendeiner Tradition den Garaus machte.

Valendrea erinnerte sich gut an die noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeiten, als ein Papst sich niemals ins offene Fenster stellte. Von den Sicherheitsbedenken einmal abgesehen, erwarb sich ein Papst, der selten zu sehen war, eine Aura des Geheimnisvollen. Nichts förderte Glauben und Gehorsam mehr als der Eindruck des Mysteriums.

Seit beinahe vier Jahrzehnten diente er verschiedenen Päpsten. Er war in der Kurie schnell aufgestiegen und hatte sich sein Birett verdient, als er noch nicht einmal fünfzig war. Damit war Valendrea einer der jüngsten Kardinäle der neueren Zeit. Inzwischen war er als Kardinalstaatssekretär der zweitmächtigste Mann der katholischen Kirche und durch sein Amt in alle Tätigkeiten des Heiligen Stuhls eingebunden. Aber er wollte mehr. Er wollte der Mächtigste sein. Derjenige, dessen Entscheidungen nicht angezweifelt wurden. Der, der unfehlbar war.

Er wollte Papst sein.

»Heute ist ein so schöner Tag«, sagte der Papst gerade. »Der Regen hat sich wohl verzogen. Die Luft ist wie daheim in den Alpen. Eine Gebirgsfrische. Es ist eine Schande, drinnen zu sein.«

Clemens trat ein Stück in die Fensternische, doch von draußen war er noch nicht zu sehen. Der Papst trug eine weiße Leinensoutane und die traditionelle weiße Mozetta als Schulterumhang. Seine Füße steckten in rotbraunen Schuhen, und sein teilweise kahler Kopf war von der Scheitelkappe bedeckt. Er war der einzige Prälat unter einer Milliarde Katholiken, der sich auf diese Weise kleiden durfte.

»Vielleicht könnten Euer Heiligkeit sich diesem Vergnügen nach dem Abschluss meines Berichts widmen? Ich habe noch weitere Verpflichtungen, und das Tribunal hat mich den ganzen Vormittag über beschäftigt.«

»Es dauert doch nicht lange«, wandte Clemens ein.

Valendrea wusste, dass der Deutsche ihn gerne verspottete. Von jenseits des geöffneten Fensters hörte man das Summen Roms, dieses einzigartige Geräusch, das drei Millionen Menschen und ihre Fahrzeuge auf einem Untergrund aus poröser Vulkanasche erzeugten.

Auch Clemens schien das ferne Dröhnen wahrzunehmen. »Diese Stadt hat einen eigenartigen Klang.«

»Es ist unser Klang.«

»Ach, fast hätte ich es vergessen. Sie sind ja im Gegensatz zu uns Italiener.«

Valendrea stand neben einem Himmelbett, das so viele Kerben und Macken aufwies, um sie wie einen Teil der Holzarbeit wirken zu lassen. Das Fußende war mit einer alten Häkeldecke bedeckt, und am Kopfende lagen zwei riesige Kissen. Auch die restlichen Möbel waren deutsch der hohe Schrank, die Kommode und die Tische waren alle im bayerischen Stil bunt bemalt. Seit der Mitte des elften Jahrhunderts war dies der erste deutsche Papst. Clemens II. war für den gegenwärtigen Clemens XV. ein Quell der Inspiration gewesen woraus der Pontifex auch gar kein Geheimnis machte. Jedoch war jener frühe Clemens höchstwahrscheinlich vergiftet worden, eine Lektion, die der jetzige Papst wie Valendrea häufig dachte besser beherzigen sollte.

»Vielleicht haben Sie Recht«, gab Clemens nach. »Die Leute können warten. Wir haben Amtsgeschäfte zu erledigen, nicht wahr?«

Ein Windstoß fuhr durchs Fenster und raschelte in den Unterlagen auf dem Schreibtisch. Valendrea legte die Hand auf das flatternde Papier, bevor es auf die Computertastatur wehte. Clemens hatte das Gerät noch nicht eingeschaltet. Er war der erste Papst, der mühelos mit dem PC arbeitete wieder etwas, was die Presse an ihm liebte –, aber gegen diese Veränderung hatte Valendrea nichts einzuwenden gehabt. Internet- und Faxverbindungen waren viel einfacher zu überwachen als Telefone.

»Wie ich hörte, waren Sie heute Vormittag recht eifrig«, meinte Clemens. »Welche Entscheidung wird der Gerichtshof treffen?«

Valendrea nahm an, dass der Papst Micheners Bericht bereits gehört hatte. Er hatte den Privatsekretär des Papstes im Publikum gesehen. »Ich wusste nicht, dass Euer Heiligkeit ein solches Interesse am Thema der Verhandlung hegen.«

»Wie sollte ich nicht neugierig sein? Der ganze Petersplatz steht voller Übertragungswagen. Beantworten Sie also bitte meine Frage.«

»Father Kealy hat uns keine Alternative gelassen. Er wird exkommuniziert.«

Der Papst verschränkte die Hände im Rücken. »Er hat nicht um Vergebung gebeten?«

»Er war geradezu beleidigend arrogant und hat uns zum Kampf herausgefordert.«

»Vielleicht sollten wir die Herausforderung annehmen.«

Valendrea fühlte sich überrumpelt, doch Jahrzehnte des diplomatischen Dienstes hatten ihn gelehrt, Überraschung mit Fragen zu überspielen. »Und was wäre der Zweck dieses unorthodoxen Vorgehens?«

»Warum muss denn alles einen Zweck haben? Vielleicht sollten wir uns einfach einmal eine gegensätzliche Meinung anhören.«

Kein Muskel zuckte in Valendreas Gesicht. »Die Frage des Zölibats kann man unmöglich öffentlich diskutieren. Diese Doktrin besteht seit fünfhundert Jahren. Was kommt dann als Nächstes? Frauen im Priesteramt? Die Ehe für Geistliche? Die Billigung von Verhütungsmitteln? Sollen alle Dogmen auf den Kopf gestellt werden?«

Clemens trat zu seinem Bett und betrachtete ein aus dem Mittelalter stammendes Porträt Clemens II. das an einer Wand hing. Valendrea wusste, dass er es aus den weiträumigen Kellerräumen hatte hochbringen lassen, wo es jahrhundertelang geruht hatte. »Er war Bischof von Bamberg, ein einfacher Mann, der nicht im Geringsten nach der Papstwürde strebte.«

»Er war ein Vertrauter des Königs«, entgegnete Valendrea. »Er hatte politische Beziehungen, und er war zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Position.«

Clemens drehte sich um und sah ihn an. »Wie ich selbst, nehme ich an?«

»Sie wurden von einer überwältigenden Kardinalsmehrheit gewählt, die vom Heiligen Geist durchdrungen war.«

Um Clemens Lippen spielte ein ironisches Lächeln. »Oder lag es vielleicht daran, dass kein anderer Kandidat, Sie selbst eingeschlossen, die nötigen Stimmen auf sich vereinigen konnte?«

Heute waren sie ziemlich schnell aneinander geraten.

»Der Ehrgeiz treibt Sie um, Alberto. Sie glauben, diese weiße Soutane hier würde Sie glücklich machen. Ich kann Ihnen versichern, dass dem nicht so ist.«

Ähnliche Unterredungen hatten sie auch schon vorher gehabt, doch in letzter Zeit waren sie hitziger geworden. Beide wussten, wie der andere fühlte. Sie waren keine Freunde und würden es auch nie werden. Valendrea amüsierte sich über die allgemein verbreitete Vorstellung, nur weil er Kardinal und Clemens Papst sei, müsse zwischen Ihnen eine heilige Beziehung zweier frommer Seelen herrschen, die das Wohl der Kirche an erste Stelle setzten. Im Gegenteil, sie waren zwei sehr unterschiedliche Menschen, die von widersprüchlichen politischen Strömungen zusammengezwungen worden waren. Man musste ihnen jedoch zugute halten, dass sie ihren Streit nicht öffentlich austrugen. Dafür war Valendrea zu klug ein Papst durfte sich nicht streiten –, und Clemens war offensichtlich klar, dass sehr viele Kardinäle seinen Staatssekretär unterstützten. »Ich bin frei von Wünschen, Heiliger Vater. Nur Ihnen wünsche ich ein langes und gesegnetes Leben.«

»Sie sind ein schlechter Lügner.«

Er hatte das Gestichel des alten Mannes allmählich satt. »Warum spielt das eine Rolle? Sie werden nicht mehr dabei sein, wenn das Konklave zusammentritt. Das alles braucht Ihnen keine Sorgen mehr zu machen.«

Clemens zuckte mit den Schultern. »Es spielt tatsächlich keine Rolle mehr für mich. Ich liege dann in meiner Grabstätte unter dem Petersdom bei den anderen Männern, die auf dem Heiligen Stuhl saßen. Mir kann mein Nachfolger vollkommen gleichgültig sein. Aber der Betreffende, ja, der Betreffende sollte sich große Sorgen machen.«

Der alte Prälat wusste irgendetwas, aber was? In letzter Zeit hatte er die Gewohnheit angenommen, merkwürdige Andeutungen fallen zu lassen. »Gibt es etwas, was das Missfallen des Heiligen Vaters erregt?«

Clemens Augen blitzten wütend auf. »Sie sind ein Opportunist, Alberto. Ein Ränke schmiedender Politikertyp. Vielleicht enttäusche ich Sie ja und werde noch zehn Jahre älter.«

Valendrea beschloss, die Maske fallen zu lassen. »Das bezweifle ich.«

»Ich hoffe wirklich, dass Sie mein Nachfolger werden. Sie werden feststellen, dass die Realität durchaus nicht Ihren Erwartungen entspricht. Vielleicht sollte es wirklich Sie treffen.«

Das machte ihn neugierig. »Was sollte mich treffen?«

Der Papst schwieg einen Moment lang. Dann sagte er: »Die Papstwahl natürlich. Was denn sonst?«

»Was bedrückt Sie eigentlich so?«

»Wir sind Narren, Alberto. Wir alle sind in unserer ganzen Großartigkeit nichts als Narren. Gott ist viel weiser, als irgendeiner von uns es sich auch nur vorzustellen vermag.«

»Das dürfte wohl kein gläubiger Christ in Frage stellen.«

»Wir entwickeln unsere Dogmen und machen dabei das Leben von Menschen wie Father Kealy kaputt. Er ist einfach nur ein Priester, der sich bemüht, seinem Gewissen zu gehorchen.«

»Er kam mir eher wie ein Opportunist vor um einmal mit Ihren Worten zu sprechen. Ein Mann, der gern im Rampenlicht steht. Und zweifellos kannte er die Haltung der Kirche, als er gelobte, unseren Lehren treu zu sein.«

»Aber wessen Lehren sind das denn? Das Wort Gottes wird von Menschen ausgelegt, von Menschen wie Ihnen und mir. Menschen wie Sie und ich bestrafen andere Menschen für Verstöße gegen diese Lehren. Ich frage mich oft, ob unsere großartigen Dogmen dem Willen des Allmächtigen entspringen oder einfach nur den Köpfen ganz normaler, sterblicher Kleriker.«

Valendrea kam diese Frage nicht merkwürdiger vor als vieles an dem Verhalten, das der Papst in letzter Zeit zeigte. Er überlegte, ob er nicht weiter nachhaken sollte, kam aber zu dem Schluss, dass er auf die Probe gestellt wurde, und gab deshalb die einzige Antwort, die ihm möglich war: »Ich halte die Lehren unserer Kirche für eins mit dem Wort Gottes.«

»Gute Antwort. Geradezu lehrbuchfähig. Unglückseligerweise, Alberto, wird diese Überzeugung Sie irgendwann ins Verderben stürzen.«

Mit diesen Worten wandte sich der Papst von ihm ab und trat ans Fenster.

5

Michener schlenderte im Licht der Mittagssonne dahin. Nach dem regnerischen Vormittag hatte es aufgeklart, und die Wolkendecke war überall aufgerissen. Durch die blauen Himmelsflecken zog sich die weiße Spur eines Flugzeugs, das Richtung Osten flog. Das Pflaster des Petersplatzes glänzte noch vom Regen, und überall standen Pfützen, es sah aus wie eine Seenplatte im Kleinformat. Die Fernsehteams waren noch da, und viele sendeten jetzt Berichte nach Hause.

Michener hatte den Gerichtshof verlassen, bevor die Sitzung beschlossen wurde. Wie einer seiner Mitarbeiter ihm später berichtete, hatte die Auseinandersetzung zwischen Father Kealy und Kardinal Valendrea sich noch beinahe zwei Stunden hingezogen. Michener fragte sich nach dem Sinn der Verhandlung. Die Entscheidung, Kealy zu exkommunizieren, stand mit Sicherheit schon längst fest. Nur wenige von Exkommunikation bedrohte Geistliche wandten sich je an das Tribunal, und Kealy hatte es wahrscheinlich getan, um auf seine Organisation aufmerksam zu machen. In wenigen Wochen würde man erklären, Kealy befinde sich nicht im Einklang mit dem Heiligen Stuhl. Danach war er einfach nur noch einer der vielen Ausgeschlossenen, die ihrerseits die Kirche als eine Art vom Aussterben bedrohten Dinosaurier darstellten.

Manchmal glaubte Michener, dass Kritiker wie Kealy Recht haben könnten.

 

Nahezu die Hälfte der katholischen Weltbevölkerung lebte inzwischen in Lateinamerika, nahm man Afrika und Asien dazu, stieg der Anteil dieser Gruppe auf drei Viertel. Diese wachsende internationale Mehrheit zufrieden zu stellen, ohne die Europäer und Italiener vor den Kopf zu stoßen, war täglich eine neue Herausforderung. Kein Staatsoberhaupt hatte eine so komplizierte Aufgabe zu bewältigen. Doch die katholische Kirche hatte zweitausend Jahre lang alle möglichen Zerreißproben überstanden was keine andere Institution von sich behaupten konnte –, und vor Michener lag nun eine der großartigsten Manifestationen ihres Geistes.

Der schlüsselförmige Platz, den Berninis wunderbare halbkreisförmige Kolonnaden umschlossen, war atemberaubend schön. Michener bewunderte die Vatikanstadt seit eh und je. Zum ersten Mal war er vor einem Dutzend Jahren als Assistent des Erzbischofs von Köln hierher gekommen. Nach der Prüfung seiner Tugendhaftigkeit durch Katerina Lew war er umso entschlossener gewesen. Er erinnerte sich, wie er die vierundvierzig Hektar große, von einer Mauer umschlossene Enklave erkundet und sich darüber gewundert hatte, welche Erhabenheit in zweitausend Jahren beständiger Bautätigkeit zu erreichen war.

Die winzige Nation lag nicht auf einem der sieben Stadthügel, auf denen Rom erbaut worden war, sondern krönte den Mons Vaticanus auf der rechten Tiberseite. Der Vatikanstaat hatte nicht einmal zweihundert echte Staatsbürger, und von diesen besaßen noch weniger einen Pass. Kein einziger Mensch war je hier geboren worden, außer den Päpsten starb kaum jemand hier, und noch weniger Menschen wurden hier begraben. Die Regierungsform war eine der letzten verbliebenen absoluten Monarchien der Welt, und Michener hatte es immer als paradox empfunden, dass der Vertreter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen die UN-Menschenrechtserklärung nicht unterschreiben konnte, weil es in den Grenzen des Vatikans keine Religionsfreiheit gab.

Michener sah zwischen den Antennenwäldern der Fernsehübertragungswagen hindurch auf den sonnigen Platz. Ihm fiel auf, dass die Leute sich nach rechts oben gewandt hatten. Einige riefen: »Santissimo Padre.« Heiliger Vater. Er folgte ihren Blicken und sah, wie im dritten Stock des Apostolischen Palastes zwischen den hölzernen Läden eines Eckfensters das Gesicht Clemens XV. auftauchte.

Viele Menschen begannen zu winken. Clemens winkte zurück.

»Er fasziniert dich noch immer, nicht wahr?«, hörte er plötzlich eine Frauenstimme.

Er drehte sich um. Einige Schritte von ihm entfernt stand Katerina Lew. Irgendwie hatte er gewusst, dass sie ihn finden würde. Sie trat zu ihm in den Schatten der Kolonnade. »Du hast dich kein bisschen verändert. Noch immer im Tête-à-tête mit deinem Gott. Das hab ich im Gerichtssaal in deinen Augen gesehen.«

Michener versuchte zu lächeln, konzentrierte sich dann aber auf die Herausforderung, die vor ihm lag. »Wie ist es dir ergangen, Kate?« Ihre Gesichtszüge wurden milder. »Ist das Leben so gelaufen, wie du es dir gewünscht hast?«

»Ich kann mich nicht beklagen. Nein, ich werde mich nicht beklagen. Das bringt nichts. So hast du dich doch einmal übers Klagen geäußert.«

»Das höre ich gerne.«

»Woher wusstest du, dass ich heute Vormittag da sein würde?«

»Ich habe vor ein paar Wochen dein Akkreditierungsgesuch gesehen. Darf ich dich fragen, was dich an Father Kealy interessiert?«

»Wir haben seit fünfzehn Jahren kein Wort miteinander gesprochen, und du willst jetzt über Kealy reden?«

»Bei unserem letzten Gespräch hast du mir verboten, je wieder von uns zu sprechen. Du sagtest, es gäbe kein uns, sondern nur mich und Gott. Darum hielt ich das für kein gutes Thema.«

»Aber das habe ich erst nach deiner Ankündigung gesagt, dass du wieder zum Erzbischof zurückkehrst und dich ganz dem Dienst für andere weihst als Priester der katholischen Kirche.«

Sie standen zu nah beieinander, und Michener trat tiefer in den Schatten der Kolonnade. Dabei fiel sein Blick auf Michelangelos Kuppel, die den Petersdom krönte und die jetzt in der strahlenden Herbstsonne trocknete.

»Wie ich sehe, besitzt du immer noch das Talent, Fragen geschickt auszuweichen«, sagte er.

»Ich bin hier, weil Tom Kealy mich darum gebeten hat. Er ist kein Dummkopf. Er weiß, wie das Tribunal entscheiden wird.«

»Für wen schreibst du denn gerade?«

»Freiberuflich. Zur Zeit arbeite ich mit ihm zusammen an einem Buch.«

Sie war eine gute Schriftstellerin, vor allem eine ausgezeichnete Lyrikerin. Er hatte sie immer um dieses Talent beneidet, und er wollte wirklich gerne wissen, wie es ihr nach ihrer Zeit in München ergangen war. Das eine oder andere hatte er mitbekommen. Ihre Anstellungen bei europäischen Zeitungen waren befristete Jobs gewesen, nie etwas Längeres, und eine Zeit lang hatte sie sogar in Amerika gearbeitet. Gelegentlich las er ihren Namen unter Artikeln es waren meist kirchenkritische Essays, nie etwas Großes. Mehrmals hätte er sie beinahe ausfindig gemacht, um einen Kaffee mit ihr zu trinken, aber das ging nun einmal nicht. Er hatte seine Entscheidung getroffen, es führte kein Weg zurück.

»Ich war nicht überrascht, als ich von deiner Ernennung zum päpstlichen Privatsekretär hörte«, sagte sie. »Als Volkner zum Papst gewählt wurde, dachte ich mir schon, dass er dich nicht gehen lassen würde.«

Er fing den Blick ihrer smaragdgrünen Augen auf und sah, dass sie mit ihren Gefühlen kämpfte. Genau wie vor fünfzehn Jahren. Damals war er ein Priester im Rechtsstudium gewesen, der sich auf sein Examen vorbereitete. Ein nervöser, ehrgeiziger junger Mann, der sein Los mit dem Geschick eines deutschen Bischofs verbunden hatte, in dem viele einen zukünftigen Kardinal sahen. Inzwischen war häufig von Micheners eigener Erhebung in die Kardinalswürde die Rede. Es kam durchaus vor, dass ein Privatsekretär des Papstes unmittelbar aus dieser Funktion heraus das Birett erlangte. Er wollte gerne zu den Führern der Kirche gehören und beim nächsten Konklave in der Sixtinischen Kapelle unter den Fresken von Michelangelo und Botticelli mit seiner Stimme dabei sein.

»Clemens ist ein guter Papst«, sagte er.

»Er ist ein Dummkopf«, entgegnete sie prompt. »Die Herren Kardinäle haben ihn als Platzhalter auf den Stuhl gesetzt, bis einer der ihren genug Unterstützung zusammenbekommt.«

»Woher willst du das denn so genau wissen?«

»Habe ich denn Unrecht?«

Er wandte sich von ihr ab, um seinen Zorn in den Griff zu bekommen, und beobachtete eine Gruppe von Souvenirhändlern am Rande des Platzes. Sie war genauso biestig, wie er sie in Erinnerung hatte, und ihre Worte waren so bitter und beißend wie eh und je. Sie ging auf die vierzig zu, doch bisher hatte die Reife ihre verzehrende Leidenschaftlichkeit nicht gemildert. Ihr Ungestüm hatte ihn schon immer gestört, doch gleichzeitig vermisste er es. In seiner Welt waren Ehrlichkeit und Offenheit Fremdwörter. Er war von Menschen umgeben, die im Brustton der Überzeugung behaupteten, was sie keineswegs meinten. So gesehen hatte Wahrhaftigkeit durchaus etwas für sich. Wenigstens wusste man, woran man war, und hatte festen Boden unter den Füßen. Und nicht diesen diplomatischen Sumpf, an den Michener sich inzwischen gewöhnt hatte.

»Clemens ist ein ausgezeichneter Mann, der eine nahezu unmögliche Aufgabe hat«, erklärte er.

»Wenn die gute Mutter Kirche ein klein wenig nachgäbe, wäre es ja vielleicht nicht ganz so schwierig. Dürfte ganz schön hart sein, eine Milliarde Menschen zu regieren, die alle akzeptieren müssen, dass der Papst der einzige Mensch auf Erden ist, der niemals irrt.«

Er wollte sich nicht mit ihr über Dogmen streiten, und schon gar nicht mitten auf dem Petersplatz. In kaum zwei Meter Entfernung kamen zwei Schweizergardisten in ihrer historischen Uniform mit Helmbusch vorbei, die Hellebarden in die Luft gereckt. Michener sah ihnen nach, wie sie zum Haupteingang des Doms marschierten. Die sechs schweren Glocken oben in der Kuppel schwiegen, doch ihm war klar, dass der Zeitpunkt, wenn sie zu Clemens Tod läuten würden, absehbar war. Umso mehr ärgerte er sich über Katerinas Unverschämtheit. Es war ein Fehler gewesen, zum Tribunal zu gehen und sich jetzt mit ihr zu unterhalten. Er wusste, was er zu tun hatte. »Hat mich gefreut, dich zu sehen, Kate.« Er wandte sich zum Gehen.

»Drecksack.«

Sie spie es gerade so laut heraus, dass er es hören konnte.

Er drehte sich um. Hatte sie das ernst gemeint? Kates Gesicht spiegelte ihren inneren Konflikt wider. Michener trat näher und senkte die Stimme. »Wir haben seit Jahren nicht miteinander geredet, und jetzt hast du mir nur zu sagen, dass die Kirche eine grauenhafte Institution ist. Wenn du sie so sehr verachtest, warum verschwendest du dann deine Zeit damit, Artikel über sie zu schreiben? Schreib doch lieber diesen Roman, von dem du immer geredet hast. Ich dachte, du wärest inzwischen vielleicht etwas nachsichtiger geworden. Offensichtlich habe ich mich getäuscht.«

»Ich höre mit Begeisterung, dass du dir Gedanken über mich machst. Als du mir das Ende unserer Beziehung mitteiltest, hast du nämlich genau das nicht getan. Es war dir völlig egal, was ich dabei empfinde.«

»Müssen wir das alles wieder von vorn aufrollen?«

»Nein, Colin. Ist nicht nötig.« Sie trat etwas zurück. »Absolut nicht. Wie du schon sagtest: Hat mich gefreut, dich zu treffen.«

Einen Moment lang spürte er, wie verletzt sie war, doch es gelang ihr schnell, es zu überspielen.

Michener sah wieder zum Palast. Inzwischen riefen und winkten immer mehr Besucher auf dem Petersplatz, und Clemens winkte zurück. Einige Fernsehteams filmten die kleine Szene.

»Er ist das Problem«, sagte Katerina. »Dein Problem. Du weißt es nur nicht.«

Bevor er etwas erwidern konnte, war sie verschwunden.

6

15.00 Uhr

 

Valendrea setzte sich den Kopfhörer auf die Ohren, drückte die Wiedergabetaste seines Bandgerätes und hörte das Gespräch zwischen Colin Michener und Clemens XV. ab. Die in der Papstwohnung installierten Abhörgeräte hatten wieder einmal perfekt funktioniert. Der gesamte Apostolische Palast war gründlich verwanzt. Dafür hatte der Würdenträger unmittelbar nach Clemens Wahl gesorgt. Da er als Kardinalstaatssekretär für die Sicherheit des Vatikans Verantwortung trug, war das ein Leichtes gewesen.

Clemens hatte vorhin bei ihrem Gespräch Recht gehabt. Valendrea wünschte durchaus, dass das gegenwärtige Pontifikat noch etwas länger dauerte, denn so bekam er Zeit, sich noch die letzten paar Stimmen zu sichern, die er für das Konklave brauchte. Das Kardinalskollegium umfasste derzeit 160 Mitglieder, von denen allerdings siebenundvierzig über achtzig waren und daher kein Wahlrecht hatten. Fünfundvierzig Stimmen hatte Valendrea so gut wie sicher. Das war ein guter Anfang, bedeutete aber noch lange nicht, dass er die Wahl in der Tasche hatte. Ein Sprichwort besagte: Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal heraus. Das hatte er letztes Mal leider nicht beachtet. Diesmal würde er jedoch kein Risiko eingehen. Die Abhörgeräte waren nur ein Aspekt seiner Strategie, alles dafür zu tun, dass die italienischen Kardinäle ihn diesmal nicht wieder im Stich ließen. Es war wirklich erstaunlich, wie unbedacht die höchsten kirchlichen Würdenträger Tag für Tag ihre Geheimnisse ausplauderten, doch sie sündigten und bedurften ebenso wie andere Menschen der Vergebung. Valendrea wusste jedoch, dass man dem Büßer manchmal seine Buße aufnötigen musste.

Es ist gut, dass sie Ihnen nicht gleichgültig ist, Colin. Sie ist ein Teil Ihrer Vergangenheit. Ein Teil, den Sie niemals vergessen sollten.

Valendrea nahm den Kopfhörer ab und blickte den Mann an seiner Seite an. Der Geistliche Paolo Ambrosi stand ihm schon seit mehr als einem Jahrzehnt zur Seite. Er war ein kleiner, schmaler Mann mit dünnem, grauem Haar. Die Hakennase und das Kinn erinnerten Valendrea an einen Falken, ein Bild, mit dem auch der Charakter des Priesters recht treffend beschrieben war. Ambrosi lächelte selten und lachte so gut wie nie. Er umgab sich stets mit einer Aura von gewichtigem Ernst, doch das störte Valendrea nicht im Geringsten, denn Paolo Ambrosi besaß zwei Eigenschaften, die Valendrea enorm bewunderte: Leidenschaftlichkeit und Ehrgeiz.

»Wirklich zum Lachen, Paolo. Die beiden reden Deutsch, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, die diese Sprache verstehen.« Valendrea schaltete das Tonband aus. »Diese Frau, mit der Monsignore Michener offensichtlich bekannt ist, scheint unserem guten Papst Sorgen zu bereiten. Erzählen Sie mir von ihr.«

Sie saßen in einem fensterlosen Gesellschaftszimmer im zweiten Stock des Apostolischen Palasts, wo der Kardinalstaatssekretär über etliche Räumlichkeiten verfügte. Dort standen die Empfangs- und Aufnahmegeräte in einem verschließbaren Schrank. Valendrea machte sich keine Sorgen, dass irgendjemand diese Geräte entdecken könnte. Es gab hier über zehntausend Zimmer, Empfangssäle und Korridore, die zum größten Teil hinter verschlossenen Türen lagen, und so war die Gefahr, dass jemand in diesen mittelgroßen Raum hier eindringen könnte, ziemlich gering.

»Sie heißt Katerina Lew. Ihre Eltern sind rumänische Flüchtlinge, die mit ihr in ihrer Teenagerzeit das Land verließen. Ihr Vater war Juraprofessor. Sie hat studiert. Ein Abschluss an der Universität München, ein anderer an einem belgischen Eliteinstitut. In den späten Achtzigerjahren ist sie nach Rumänien zurückgekehrt und war dabei, als Ceauºescu gestürzt wurde. Sie ist eine stolze Revolutionärin.«

Valendrea spürte den Anklang von Belustigung in Ambrosis Stimme. »Sie hat Michener während ihrer gemeinsamen Studienzeit in München kennen gelernt. Die beiden hatten eine Affäre, die sich über einige Jahre hinzog.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Michener und der Papst haben schon öfter über dieses Thema gesprochen.«

Valendrea überflog stets nur die wichtigsten Bänder, Ambrosi dagegen hörte sich alles an. »Sie haben das bisher noch nie erwähnt.«

»Es kam mir unwichtig vor, bis der Heilige Vater Interesse an der Verhandlung des Tribunals zeigte.«

»Vielleicht habe ich Monsignore Michener ja unterschätzt. Jetzt kommt er einem geradezu menschlich vor. Ein Mann mit Vergangenheit. Und Sünden. Diese Seite an ihm gefällt mir sehr. Erzählen Sie mir mehr.«

»Katerina Lew hat für eine Reihe von europäischen Zeitungen gearbeitet. Sie nennt sich Journalistin, ist aber eher eine freiberufliche Autorin. Sie war schon beim Spiegel, beim Herald Tribune und bei der Londoner Times, ist aber nie lange geblieben. Politisch steht sie links und vertritt radikale religiöse Ansichten. Ihre Artikel sind nicht schmeichelhaft für die organisierte Frömmigkeit. Sie ist Mitautorin von drei Büchern. Zwei über die deutschen ›Grünen‹ und eins über die katholische Kirche in Frankreich. Keines hat sich sonderlich gut verkauft. Sie ist ausgesprochen intelligent, aber ziemlich undiszipliniert.«

Valendrea roch den Braten. »Vermutlich ist sie auch ehrgeizig.«

»Sie war nach ihrer Trennung von Michener zweimal verheiratet. Beide Male nur kurz. Der Kontakt zu Father Kealy kam auf ihre Initiative zustande. Seit einigen Jahren arbeitet sie in Amerika. Eines Tages tauchte sie in seinem Büro auf, und seitdem sind sie zusammen.«

Valendreas Neugierde war geweckt. »Haben die beiden was miteinander?«

Ambrosi zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Aber sie scheint was für Priester übrig zu haben. Ich denke also schon.«

Valendrea setzte die Kopfhörer wieder auf und ließ das Wiedergabegerät laufen. Clemens Stimme war zu hören. Mein Brief an Hochwürden Tibor ist gleich fertig. Ich werde um eine schriftliche Antwort bitten, aber falls er mit Ihnen sprechen will, hören Sie ihm zu, befragen Sie ihn nach Herzenslust, und berichten Sie mir alles. Er nahm den Kopfhörer ab. »Was hat der alte Narr vor? Wieso schickt er Michener hinter einem achtzig Jahre alten Priester her? Welchen Zweck mag das haben?«

»Tibor ist außer Clemens der einzige noch lebende Mensch, der die Geheimnisse von Fatima, die in der Riserva aufbewahrt werden, mit eigenen Augen gesehen hat. Johannes XXIII. hat dem Geistlichen persönlich den Originaltext der Schwester Lucia übergeben.«

Bei der Erwähnung von Fatima wurde es Valendrea ganz komisch im Bauch. »Haben Sie Tibor ausfindig machen können?«

»Ich habe eine Adresse in Rumänien.«

»Wir müssen diese Sache genau im Auge behalten.«

»Das sehe ich. Erfahre ich auch, warum?«

Valendrea wollte es nicht erklären, jedenfalls nicht, bevor es unbedingt nötig war. »Mir scheint, ein bisschen Hilfe beim Überwachen Micheners könnte recht wertvoll sein.«

Ambrosi grinste. »Glauben Sie, dass Katerina Lew uns hilft?«

Der Staatssekretär ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und überlegte, was er über Michener wusste und was er jetzt über Katerina Lew vermutete. »Wir werden sehen, Paolo.«