7

20.30 Uhr

 

Michener stand vor dem Hochaltar im Petersdom. Die Kirche war nun geschlossen, und außer dem Reinigungspersonal, das die riesige Marmorfläche wienerte, störte niemand die Stille. Michener lehnte sich gegen eine dicke Balustrade und sah zu, wie die Putzkräfte die Marmorstufen wischten und den Schmutz und Abfall des Tages beseitigten. Unmittelbar unter ihm lag das Grab des Heiligen Petrus, das den theologischen und künstlerischen Bezugspunkt der christlichen Weltgemeinde darstellte. Michener drehte sich um, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete Berninis reich verzierten baldacchino. Dann blickte er in Michelangelos Kuppel hinauf, unter der der Altar, wie jemand einmal bemerkt hatte, wie in Gottes gewölbter Hand lag.

Er dachte an das Zweite Vatikanische Konzil und stellte sich vor, wie in den Bänken des Kirchenschiffs dreitausend Kardinäle, Priester, Bischöfe und Theologen aller möglichen Konfessionen Platz gefunden hatten. Im Jahr 1962 war er ein Junge, der die Erstkommunion schon hinter sich und die Firmung noch vor sich hatte. Er lebte in der Nähe des Savannah River im südöstlichen Georgia und ging in eine katholische Schule. Was damals im fernen Rom vor sich ging, hatte keinerlei Bedeutung für ihn gehabt. Später hatte er dann Filmaufzeichnungen der Eröffnungssitzung gesehen, bei denen Johannes XXIII. gebeugt auf seinem Thron saß und eindringlich an Traditionalisten und Progressive appellierte, doch zusammenzuarbeiten, um unsere irdische Stadt jener himmlischen Stadt ähnlicher zu machen, in der die Wahrheit regiert. So etwas hatte es noch nie gegeben. Ein absoluter Monarch, der seine Untergebenen zusammenrief, damit sie ihn bei tiefgreifenden Reformen berieten. Drei Jahre lang hatten die Delegierten über Religionsfreiheit, das Judentum, den Laienstand, über Ehe, Kultur und Priesterstand debattiert. Am Ende war die Kirche eine andere. Manche waren der Meinung, sie habe sich nicht genug geändert, anderen war es deutlich zu viel.

In seinem Leben war es ihm ähnlich ergangen.

Er war in Irland zur Welt gekommen, aber in Georgia aufgewachsen. Seine Ausbildung begann in Amerika und endete in Europa. Trotz seiner binationalen Herkunft galt er in der italienisch dominierten Kurie als Amerikaner. Zum Glück verstand er das komplizierte Spannungsgefüge seiner Umgebung sehr gut. Schon einen Monat nach seiner Ankunft waren ihm die vier vatikanischen Überlebensregeln in Fleisch und Blut übergegangen: Erstens: Denke niemals etwas Originelles. Zweitens: Sollte dir aus irgendeinem Grund doch eine Idee kommen, sprich sie nicht aus. Drittens: Halte absolut niemals einen Gedanken schriftlich fest. Und viertens: Solltest du doch einmal so töricht gewesen sein, etwas zu notieren, dann unterschreibe es nicht.

Er blickte sich wieder in der Kirche um und bewunderte die harmonischen Maße, die von einem nahezu vollkommen architektonischen Gleichgewicht zeugten. Hier lagen hundertdreißig Päpste begraben, und er hatte gehofft, heute Abend zwischen ihren Grabstätten eine gewisse innere Ruhe zu finden.

Doch seine Sorgen um Clemens ließen nicht nach.

Er griff unter seine Soutane und zog zwei gefaltete Blätter heraus. Seine Nachforschungen über Fatima waren um die drei Botschaften der Heiligen Jungfrau gekreist. Was auch immer den Papst umtrieb, diese Worte schienen entscheidend zu sein. Michener entfaltete die Seiten und las Schwester Lucias Bericht des ersten Geheimnisses:

 

Unsere Liebe Frau zeigte uns ein großes Feuermeer, das in der Tiefe der Erde zu sein schien. Eingetaucht in dieses Feuer sahen wir die Teufel und die Seelen, als seien es durchsichtige schwarze oder braune, glühende Kohlen in menschlicher Gestalt. Diese Vision dauerte nur einen Augenblick.

 

Das zweite Geheimnis knüpfte unmittelbar an das erste an:

 

Ihr habt die Hölle gesehen, wohin die Seelen der armen Sünder kommen, erklärte uns Unsere Liebe Frau. Um sie zu retten, will Gott in der Welt die Andacht zu meinem Unbefleckten Herzen begründen. Wenn man tut, was ich euch sage, werden viele Seelen gerettet werden, und es wird Friede sein. Der Krieg wird ein Ende nehmen. Wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Papst Pius XI. ein anderer, schlimmerer beginnen. Ich werde kommen, um die Weihe Russlands an mein unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats zu verlangen. Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren und es wird Friede sein. Wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.

 

Die dritte Botschaft war die dunkelste von allen:

 

Nach den zwei Teilen, die ich schon dargestellt habe, haben wir links von Unserer Lieben Frau etwas oberhalb einen Engel gesehen, der ein Feuerschwert in der linken Hand hielt; es sprühte Funken, und Flammen gingen von ihm aus, als sollten sie die Welt anzünden; doch die Flammen verlöschten, als sie mit dem Glanz in Berührung kamen, den Unsere Liebe Frau von ihrer rechten Hand auf ihn ausströmte: den Engel, der mit der rechten Hand auf die Erde zeigte und mit lauter Stimme rief: Buße, Buße, Buße! Und wir sahen in einem ungeheuren Licht, das Gott ist, »etwas, das aussieht wie Personen in einem Spiegel, wenn sie davor vorübergehen«, einen in Weiß gekleideten Bischof; »wir hatten Ahnung, dass es der Heilige Vater war«. Verschiedene andere Bischöfe, Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen, die einen steilen Berg hinaufstiegen, auf dessen Gipfel sich ein großes Kreuz befand aus rohen Stämmen wie aus Korkeiche mit Rinde. Bevor er dort ankam, ging der Heilige Vater durch eine große Stadt, die halb zerstört war, und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete. Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen. Genauso starben nach und nach die Bischöfe, Priester, Ordensleute und verschiedene weltliche Personen, Männer und Frauen unterschiedlicher Klassen und Positionen. Unter den beiden Armen des Kreuzes waren zwei Engel, ein jeder hatte eine Gießkanne aus Kristall in der Hand. Darin sammelten sie das Blut der Märtyrer auf und tränkten damit die Seelen, die sich Gott näherten.

 

Die Sätze waren so dunkel und mysteriös wie ein Gedicht, dessen Geheimnis nach Deutung verlangt. Theologen, Historiker und Menschen, die überall Verschwörungen aufdecken wollten, boten seit Jahrzehnten verschiedenste Interpretationen dieser Botschaft an, doch wer wusste schon, was sie wirklich besagte? Und doch war Clemens XV. durch irgendetwas zutiefst beunruhigt.

»Euer Heiligkeit.«

Er drehte sich um. Eine der Nonnen, die sein Abendessen zubereitet hatten, eilte auf ihn zu. »Verzeihen Sie mir, aber der Heilige Vater möchte Sie gerne sprechen.«

Normalerweise aß Michener mit Clemens zu Abend, aber heute hatte der Papst mit einer Besuchergruppe von mexikanischen Bischöfen im North American College gespeist. Michener warf einen Blick auf seine Uhr. Clemens war früh zurückgekehrt. »Vielen Dank, Schwester. Dann werde ich mich jetzt zu seiner Wohnung begeben.«

»Dort ist er nicht.«

Das war eigenartig.

»Er befindet sich im Archivio Segreto Vaticano. In der Riserva. Er bittet Sie, ihn dort aufzusuchen.«

Michener verbarg seine Überraschung. »Gut. Ich begebe mich direkt dorthin.«

Er eilte durch die leeren Korridore zum Archiv. Dass Clemens schon wieder in der Riserva war, machte ihm Sorge. Michener wusste genau, was der Papst dort tat, verstand aber dessen Beweggründe nicht. Deshalb ging er zum x-ten Mal die Ereignisse in Fatima durch.

Im Jahr 1917 war die Jungfrau Maria drei Hirtenkindern in einem Gebirgskessel namens Cova da Iria erschienen, der in der Nähe des portugiesischen Dorfes Fatima liegt. Jacinta und Francisco Marto waren Geschwister. Sie war sieben, er neun. Lucia dos Santos, ihre Cousine, war zehn. Von Mai bis Oktober, jeweils zum Dreizehnten des Monats, erschien die Muttergottes ihnen sechs Mal, immer zur selben Stunde und am selben Ort. Bei der letzten Erscheinung bezeugten Tausende von Anwesenden, wie die Sonne am Himmel tanzte. Man erachtete es als himmlisches Zeichen für die Echtheit der Visionen.

Über ein Jahrzehnt später entschied die Kirche, dass die Erscheinungen als glaubwürdig zu betrachten seien. Doch zwei der drei jungen Seher erlebten diese Anerkennung nicht mehr. Innerhalb von zweieinhalb Jahren nach der letzten Erscheinung der Jungfrau verstarben Jacinta und Francisco an Grippe. Lucia dagegen wurde alt, weihte ihr Leben Gott, trat in ein Kloster ein und starb erst in jüngerer Zeit. Die Jungfrau hatte dies damals mit den Worten vorhergesagt: Ich werde bald kommen und Jacinta und Francisco holen. Du aber, Lucia, sollst noch eine Zeit lang hier bleiben. Jesus lässt dich dabei dienen, mich in der Welt bekannter und beliebter zu machen.

Die Geheimnisse vertraute die Jungfrau den jungen Sehern bei ihrer Erscheinung im Juli an. Lucia selbst enthüllte die ersten beiden Geheimnisse in den Jahren nach den Erscheinungen, und sie hielt sie auch in ihren Memoiren fest, die sie in den frühen vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte. Das dritte Geheimnis hörten tatsächlich nur Jacinta und Lucia, nicht aber Francisco, der aus irgendeinem Grund Maria zwar sah, aber nichts vernahm. Lucia erhielt jedoch die Erlaubnis, ihm das Geheimnis weiterzusagen. Trotz des Drucks, den der Bischof ihres Bistums auf sie ausübte, weigerten sich alle drei Kinder, das dritte Geheimnis zu enthüllen. Jacinta und Francisco nahmen ihr Wissen mit sich ins Grab. Im Oktober 1917 sagte Francisco allerdings einem Interviewer, das dritte Geheimnis handele »vom Seelenheil, und viele wären traurig, wenn sie davon erführen.«

Lucia war dann schließlich die letzte Bewahrerin des dritten Geheimnisses.

Zwar war sie von robuster Konstitution, doch 1943 schien während einer rezidivierenden Rippenfellentzündung ihr Ende nahe. Der Bischof ihres Bistums, ein Mann namens da Silva, bat sie, das dritte Geheimnis aufzuschreiben und es in einen versiegelten Umschlag zu stecken. Anfangs weigerte sie sich, doch im Januar 1944 erschien ihr die Jungfrau in ihrem Kloster in Tuy und trug ihr auf, die letzte Botschaft nun gemäß Gottes Willen niederzuschreiben.

Lucia schrieb die Botschaft auf und versiegelte sie in einem Umschlag. Auf die Frage, wann die Mitteilung veröffentlicht werden solle, sagte sie nur: 1960. Der Umschlag wurde Bischof da Silva ausgehändigt, in einen größeren Umschlag gesteckt, mit Wachs versiegelt und im Schließfach des Bistums deponiert, wo er dreizehn Jahre lang ruhte.

Im Jahr 1957 verlangte der Vatikan die Übersendung aller Aufzeichnungen Schwester Lucias einschließlich des dritten Geheimnisses. Papst Pius XII. legte den Umschlag mit dem dritten Geheimnis in eine hölzerne Schatulle mit der Aufschrift: SECRETUM SANCTI OFFICII, Geheimnis des Heiligen Offiziums. Zwei Jahre lang stand die Schatulle auf dem Schreibtisch des Papstes, doch Pius XII. las das Geheimnis nicht.

Im August 1959 wurde die Schatulle schließlich geöffnet und der noch immer mit Wachs versiegelte doppelte Umschlag Papst Johannes XXIII. übergeben. Im Februar 1960 ließ der Vatikan öffentlich bekannt geben, das dritte Geheimnis von Fatima werde weiterhin versiegelt bleiben. Eine Erklärung wurde nicht gegeben. Auf Anordnung des Papstes wurde Schwester Lucias handschriftlicher Text in die Schatulle zurückgelegt und wieder in die Riserva gebracht. Jeder Papst nach Johannes XXIII. hatte sich ins Archiv gewagt und die Schatulle geöffnet, doch kein Pontifex hatte sein Wissen preisgegeben.

Bis zu Johannes Paul II.

Als er im Jahr 1981 beinahe der Kugel eines Attentäters erlag, war er überzeugt, dass eine mütterliche Hand ihn vor einem tödlichen Schuss bewahrt hatte. Neunzehn Jahre später befahl er aus Dankbarkeit gegenüber der Jungfrau die Enthüllung des dritten Geheimnisses. Um Debatten zu vermeiden, wurde das Geheimnis zusammen mit einer vierzigseitigen wissenschaftlichen Untersuchung veröffentlicht, die die komplizierte Metaphorik der Jungfrau interpretierte. Außerdem wurden Fotos der Originalhandschrift Schwester Lucias gezeigt. Die Presse war eine Zeit lang fasziniert, doch der Neuigkeitswert war rasch verbraucht.

Die Spekulationen hörten auf.

Kaum jemand sprach noch vom dritten Geheimnis.

Nur Clemens blieb besessen davon.

 

Michener betrat das Archiv und ging am Nachtpräfekten vorbei, der ihm nur flüchtig zunickte. Der Lesesaal lag im Dunkeln, doch an der gegenüberliegenden Seite, wo jetzt das Eisengitter der Riserva geöffnet wurde, leuchtete ein gelblicher Schimmer.

Davor stand Maurice Kardinal Ngovi, die Arme unter einer purpurroten Soutane verschränkt. Er hatte schlanke Hüften und das wettergegerbte Gesicht eines Menschen, der sich alles hart erkämpft hat. Sein drahtiges, schütteres Haar war grau, und seine Augen blickten aufmerksam und besorgt durch die Gläser einer Drahtbrille. Mit zweiundsechzig Jahren war Ngovi schon Erzbischof von Nairobi und der ranghöchste afrikanische Kardinal. Er trug den Bischofstitel nicht nur ehrenhalber, sondern hatte bis vor wenigen Jahren das größte katholische Bistum Schwarzafrikas aktiv geleitet.

Sein alltägliches Eingebundensein in die Bistumsarbeit fand allerdings ein Ende, als Clemens XV. ihn als Leiter der Kongregation für das katholische Bildungswesen nach Rom berief. Nun befasste Ngovi sich mit allen Aspekten der katholischen Erziehung und Bildung und arbeitete eng mit Bischöfen und Priestern zusammen, um sicherzustellen, dass alle katholischen Schulen, Universitäten und Seminare im Sinne des Heiligen Stuhls lehrten. In früheren Jahrzehnten war diese Kongregation wegen ihres damaligen Konfrontationskurses außerhalb Italiens recht verhasst gewesen, doch das änderte sich durch den Geist der Erneuerung des Zweiten Vatikanischen Konzils und durch Männer wie Ngovi, die gut vermitteln konnten, ohne an Durchsetzungsfähigkeit einzubüßen.

Sein engagiertes Arbeitsethos und seine einnehmende Persönlichkeit waren zwei Gründe, aus denen Clemens Ngovi ernannt hatte. Ein anderer war sein Wunsch, diesen brillanten Kardinal einem weiteren Kreis bekannt zu machen. Vor sechs Monaten hatte Clemens dem Afrikaner außerdem noch den Titel des Camerlengo verliehen. Das bedeutete, dass Ngovi nach Clemens Tod während der zwei Wochen bis zum Beginn der Papstwahl den Heiligen Stuhl verwalten würde. Es war eine überwiegend zeremonielle Funktion, aber dennoch wichtig, da Ngovi dadurch beim nächsten Konklave eine Schlüsselposition einnehmen würde.

Michener und Clemens hatten sich mehrmals über die nächste Papstwahl unterhalten. Wenn man aus der Geschichte etwas lernen konnte, wäre die ideale Besetzung ein allseits geschätzter Mann mit Erfahrung in der Kurie vorzugsweise der Erzbischof eines Landes, das keine Weltmacht war. Nach drei fruchtbaren Jahren in Rom besaß Maurice Ngovi all diese Eigenschaften, und Kardinäle aus der Dritten Welt stellten immer wieder dieselbe Frage: War die Zeit für einen farbigen Papst gekommen?

Michener näherte sich dem Eingang der Riserva. Drinnen stand Clemens XV. vor einem alten Schließfach, das schon Napoleons Plünderungen miterlebt hatte. Die doppelte Eisentür war geöffnet und ließ bronzene Schubladen und Fächer erkennen. Clemens hatte eine der Schubladen aufgezogen. Darin war eine hölzerne Schatulle zu sehen. Der Papst hielt ein Blatt Papier in seiner zitternden Hand. Michener wusste, dass Schwester Lucias Originalschrift noch immer in der Schatulle aufbewahrt wurde. Dort lag aber auch eine italienische Übersetzung der ursprünglichen portugiesischen Botschaft, die Johannes XXIII. bei seiner ersten Lektüre im Jahr 1959 hatte anfertigen lassen. Der Priester, der diese Aufgabe ausgeführt hatte, war ein junger Mitarbeiter des Staatssekretariats gewesen.

Hochwürden Andrej Tibor.

Michener hatte im Archiv Tagebücher von Mitarbeitern der Kurie gelesen, die von dem Vorgang berichteten. Hochwürden Tibor hatte die Übersetzung Papst Johannes XXIII. persönlich übergeben. Dieser hatte die Botschaft gelesen und dann angeordnet, sie in der Holzschatulle zusammen mit dem Original versiegeln zu lassen.

Nun war Clemens XV. auf der Suche nach Andrej Tibor.

»Das ist beunruhigend«, flüsterte Michener, den Blick noch immer auf Clemens geheftet.

Kardinal Ngovi stand neben ihm, erwiderte aber nichts. Dann griff er Michener am Arm und führte ihn zu einer Regalreihe. Ngovi war einer der wenigen Menschen im Vatikan, dem Clemens und er völlig vertrauten.

»Was machen Sie hier?«, fragte er Ngovi.

»Ich wurde hierher beordert.«

»Ich dachte, Clemens sei heute Abend im North American College.« Michener flüsterte immer noch.

»War er auch, aber er ist dort unvermittelt aufgebrochen. Er rief mich vor einer halben Stunde an und bat mich, ihn hier zu treffen.«

»Jetzt ist er schon zum dritten Mal in zwei Wochen da drinnen. Es muss doch langsam auffallen.«

Ngovi nickte. »Zum Glück ist in diesen Safe alles Mögliche eingeschlossen. Man kann also nicht genau wissen, was er dort sucht.«

»Ich mache mir Sorgen, Maurice. Er verhält sich merkwürdig.« Nur unter vier Augen erlaubte Michener es sich, den Bischof beim Vornamen zu nennen.

»Sie haben Recht. Auch auf meine Fragen antwortet er in Rätseln.«

»Ich bin im letzten Monat jeder Marienerscheinung nachgegangen, die jemals untersucht wurde. Ich habe zahllose Berichte der Menschen, die die Erscheinungen hatten, sowie ihrer Zeugen gelesen. Ich wusste überhaupt nicht, dass es so viele himmlische Besuche auf Erden gegeben hat. Clemens will jedes Detail wissen, jedes Wort, das die Jungfrau gesagt hat. Aber er erklärt mir nie, warum. Stattdessen kehrt er immer wieder hierher zurück.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht mehr lange, und Valendrea wird davon erfahren.«

»Er und Ambrosi sind heute Abend nicht im Vatikan.«

»Das spielt keine Rolle. Er wird es herausfinden. Manchmal frage ich mich, ob wirklich jeder ihm Bericht erstattet.«

Drinnen in der Riserva hörte man das Zuklappen eines Deckels, dann das Scheppern einer Metalltür. Gleich darauf tauchte Clemens auf. »Wir müssen Hochwürden Tibor finden.«

Michener trat vor. »Ich habe inzwischen von der Meldebehörde seine genaue Adresse erfahren.«

»Wann brechen Sie auf?«

»Morgen Abend oder übermorgen Vormittag, je nachdem wie die Flugverbindungen sind.«

»Ich möchte, dass diese Reise unter uns bleibt. Nehmen Sie Urlaub.«

Michener nickte. Clemens flüsterte die ganze Zeit. Das wunderte Michener. »Warum reden wir so leise?«

»Oh, ich war mir dessen gar nicht bewusst.«

Michener spürte Gereiztheit. Vielleicht hätte er besser geschwiegen.

»Colin, Sie und Maurice sind die einzigen Menschen, denen ich bedingungslos vertraue. Aber der Kardinal kann keine Auslandsreise machen, ohne dass es auffällt. Dazu ist er inzwischen zu bekannt, zu wichtig. Darum sind Sie der Einzige, der für die Aufgabe in Frage kommt.«

Michener zeigte zur Riserva hinüber. »Warum kehren Sie immer wieder dorthin zurück?«

»Die Worte rufen mich.«

»Seine Heiligkeit Johannes Paul II. hat das Geheimnis von Fatima zu Beginn des neuen Millenniums vor der Welt enthüllt«, bemerkte Ngovi. »Davor wurde es von einer Priester- und Gelehrtenkommission analysiert. Ich war selbst Mitglied dieser Kommission. Der Text wurde fotografiert und allgemein zugänglich veröffentlicht.«

Clemens erwiderte nichts.

»Vielleicht könnte eine Beratung mit den Kardinälen bei der Lösung des Problems helfen?«

»Gerade die Kardinäle fürchte ich am meisten.«

»Und was hoffen Sie von einem alten Mann in Rumänien zu erfahren?«, fragte Michener.

»Er hat mir etwas geschickt, das meine Aufmerksamkeit verlangt.«

»Ich kann mich an kein Schreiben von ihm erinnern«, wandte Michener ein.

»Es war in der diplomatischen Post. Ein versiegelter Umschlag des Nuntius in Bukarest. Der Absender behauptete, damals die Botschaft der Jungfrau für Papst Johannes übersetzt zu haben.«

»Wann traf dieser Brief ein?«, fragte Michener.

»Vor drei Monaten.«

Das war ungefähr der Zeitpunkt, an dem Clemens Besuche in der Riserva begonnen hatten.

»Nachdem ich nun weiß, dass Tibor die Wahrheit gesagt hat, möchte ich die weitere Einbindung des Nuntius vermeiden. Deshalb müssen Sie nach Rumänien reisen und sich selbst ein Urteil über Hochwürden bilden. Ihre Meinung ist mir wichtig.«

»Heiliger Vater …«

Clemens hob die Hand. »Ich verbitte mir weitere Nachfragen in dieser Angelegenheit.« In Clemens Stimme schwang Verärgerung mit, was für den Papst recht ungewöhnlich war.

»Schon gut«, antwortete Michener. »Ich werde Andrej Tibor finden, Euer Heiligkeit. Keine Sorge.«

Clemens warf einen Blick auf die Riserva. »Meine Vorgänger haben schrecklich geirrt.«

»In welcher Hinsicht?«, fragte Ngovi.

Clemens wandte sich ihm wieder zu, die Augen abwesend und traurig. »In jeder Hinsicht, Maurice.«

8

Valendrea genoss den Abend. Er und Hochwürden Ambrosi hatten den Vatikan zwei Stunden zuvor in einem Dienstwagen verlassen und befanden sich nun auf dem Rückweg vom La Marcello, einem der Lieblingsbistros des Kardinals. Das Kalbsherz mit Artischocken war zweifellos das beste in Rom. Die Ribollita, eine toskanische Suppe aus Gemüse und Brot sowie einem zusätzlichen Schuss Olivenöl, erinnerte ihn an seine Kindheit. Und allein schon das Dessert Zitronensorbet in einer gaumenumschmeichelnden Mandarinensauce war so köstlich, dass jeder, der zum ersten Mal zu Gast war, mit Sicherheit wiederkam. Valendrea speiste schon seit Jahren in diesem Restaurant. Er hatte seinen Stammtisch im hinteren Bereich der Räumlichkeiten. Der Wirt kannte seine Lieblingsweine genau und wusste, dass dieser Gast absolut ungestört zu bleiben wünschte.

»Ein wunderschöner Abend«, bemerkte Ambrosi.

Der jüngere Geistliche saß mit Valendrea im Fond einer Mercedes-Stretchlimousine, in der schon viele Diplomaten durch die Ewige Stadt chauffiert worden waren selbst der Präsident der Vereinigten Staaten bei seinem Besuch im vergangenen Herbst. Der Fahrgastbereich war durch eine Milchglasscheibe vom Chauffeur getrennt. Alle Wagenfenster waren getönt und aus schusssicherem Glas. Die Karosserie und das Fahrgestell waren gepanzert.

»Ja, wirklich.« Valendrea rauchte eine Zigarette und genoss die beruhigende Wirkung des Nikotins nach einer prächtigen Mahlzeit. »Was wissen wir über Hochwürden Tibor?«

Es gefiel ihm, in der ersten Person Plural zu reden. Er übte schon einmal für die hoffentlich vor ihm liegenden Jahre. Jahrhundertelang hatten die Päpste den Pluralis Majestatis verwendet. Johannes Paul II. hatte diese Gewohnheit jedoch aufgegeben, und Clemens XV. hatte sie offiziell für beendet erklärt. Doch wenn der derzeitige Papst fest entschlossen war, alle altehrwürdigen Traditionen über Bord zu werfen, würde Valendrea sie mit nicht geringerem Eifer wieder auferstehen lassen.

Während des Essens hatte er das Thema Tibor, das ihm schwer auf der Seele lag, gemieden und Ambrosi keinerlei Fragen gestellt. Er besprach vatikanische Angelegenheiten aus Prinzip nie außerhalb des Vatikans. Zu viele Männer hatte er durch ihre Sorglosigkeit stürzen sehen, manchmal genügten ein paar achtlos dahingesagte Worte. Bei einigen hatte er allerdings auch selbst kräftig nachgeholfen. Seinen Wagen betrachtete Valendrea jedoch als eine Erweiterung des Vatikans, und Ambrosi kontrollierte ihn täglich auf Wanzen.

Aus dem CD-Spieler ertönte eine sanfte Chopin-Melodie. Er empfand die Musik als entspannend, gleichzeitig schützte sie das Gespräch vor irgendwelchen mobilen Abhörvorrichtungen.

»Sein voller Name lautet Andrej Tibor«, antwortete Ambrosi. »Von 1959 bis 1967 war er im Vatikan beschäftigt. Danach war er als Priester in verschiedenen Gemeinden tätig. Vor zwanzig Jahren ging er in Pension. Alles völlig unauffällig. Zur Zeit lebt er in Rumänien und erhält dort einen monatlichen Pensionsscheck, den er regelmäßig eigenhändig einlöst.«

Valendrea inhalierte tief. »Dann lautet also die Frage des Tages, was Clemens von diesem alten Priester will?«

»Es geht mit Sicherheit um Fatima.«

Gerade waren sie von der Via Milazzo abgebogen und fuhren nun über die Via Dei Fori Imperiali auf das Kolosseum zu. Es gefiel Valendrea, wie sehr Rom an seiner Vergangenheit festhielt. Er konnte sich mühelos vorstellen, wie Kaiser und Päpste sich in dem befriedigenden Gefühl gesonnt hatten, einen Ort von solcher Pracht und Schönheit zu regieren. Eines Tages würde er dieses Gefühl selbst genießen. Er würde sich niemals mit dem purpurroten Birett zufrieden geben. Er wollte den Camauro tragen, der allein den Päpsten vorbehalten war. Clemens hatte diese historische Kopfbedeckung als anachronistisch verworfen. Doch die rote Samtkappe mit dem weißen Pelzsaum würde als eines der vielen Zeichen für die Rückkehr des imperialen Papsttums dienen. Kein Katholik, ob aus dem Westen oder aus der Dritten Welt, würde künftig das päpstliche Dogma verwässern dürfen. Die Kirche sorgte sich inzwischen viel mehr um die Meinung der Welt als um die Verteidigung ihres Glaubens. Das Angebot an anderen Glaubensrichtungen wie dem Islam, dem Hinduismus, Buddhismus und den unzähligen protestantischen Sekten ließ die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche zurückgehen. All das war Teufelswerk. Die eine, alleinige wahre apostolische Kirche steckte in der Krise, doch Valendrea wusste genau, dass die Kirche einfach eine feste Hand brauchte. Jemanden, der dafür sorgte, dass die Priester gehorchten, die Mitglieder bei der Stange blieben und die Einnahmen stiegen. Und dafür wollte er Sorge tragen.

Er spürte eine Berührung am Knie und wandte den Blick vom Fenster. »Eminenz, direkt da vorn«, erklärte Ambrosi mit ausgestrecktem Zeigefinger.

Valendrea blickte wieder nach draußen, der Wagen bog ab, und sie passierten eine Straßenzeile voller Cafés, Bistros und blinkender Diskotheken. Sie fuhren nun auf einer Nebenstraße, der Via Frattini, auf deren Bürgersteig sich die Nachtschwärmer drängten.

»Sie wohnt in diesem Hotel dort vorn«, sagte Ambrosi. »Das weiß ich aus ihrem Akkreditierungsantrag, der vom Sicherheitsdienst abgeheftet wurde.«

Ambrosi war gründlich zu Werk gegangen, wie immer. Mit seinem unangekündigten Besuch bei Katerina Lew ging Valendrea ein Risiko ein, doch er hoffte, angesichts des Gedränges und der späten Stunde von neugierigen Blicken verschont zu bleiben. Er sah ein Problem darin, den Kontakt herzustellen, weil er nicht unbedingt vor aller Augen in ihr Zimmer marschieren wollte. Ambrosi wollte er auch nicht hochschicken. Doch dann konnte er erfreulicherweise feststellen, dass all das nicht nötig sein würde.

»Anscheinend hält Gott ein Auge auf unsere Mission«, bemerkte er und zeigte auf eine Frau, die über den Bürgersteig auf die Efeuranken des Hoteleingangs zuschlenderte.

Ambrosi lächelte. »Timing ist alles.«

Der Fahrer erhielt Anweisung, am Hotel vorbeizufahren und neben der Frau zu halten. Valendrea drückte auf einen Knopf, und die Fensterscheibe glitt lautlos nach unten.

»Ms. Lew, guten Tag. Ich bin Alberto Kardinal Valendrea. Vielleicht erinnern Sie sich? Ich habe heute Vormittag das Tribunal geleitet.«

Sie blieb stehen und wandte sich dem Wagenfenster zu. Ihre Haltung, ihr energisches Auftreten, die Art, wie sie den Kopf hob und sich aufrichtete, als er sie ansprach, all das ließ auf eine Charakterstärke schließen, die man wegen ihrer geringen Körpergröße gar nicht vermutete. Sie reagierte so gleichmütig, als würde sie täglich von hohen kirchlichen Würdenträgern angesprochen, Kardinalstaatssekretär hin oder her. Doch Valendrea spürte auch Ehrgeiz in ihr, und da entspannte er sich. Vielleicht war das Ganze viel leichter als erwartet.

»Könnten wir uns vielleicht miteinander unterhalten? Hier im Wagen?«

Sie warf ihm ein Lächeln zu. »Wie könnte ich ein so großzügiges Angebot des Kardinalstaatssekretärs ausschlagen?«

Er öffnete die Tür, rutschte zur Seite und machte ihr Platz. Sie stieg ein und knöpfte ihre gefütterte Jacke auf. Ambrosi schloss die Tür hinter ihr. Valendrea fiel auf, dass ihr Rock beim Hinsetzen ein Stück nach oben rutschte.

Der Mercedes rollte langsam an und hielt ein kleines Stück entfernt in einer schmalen, menschenleeren Gasse. Der Fahrer stieg aus und ging zur Einfahrt der Gasse zurück. Dort würde er dafür sorgen, dass keine anderen Autos kamen.

»Darf ich vorstellen: Hochwürden Paolo Ambrosi, mein persönlicher Assistent im Staatssekretariat.«

Katerina schüttelte Ambrosi die Hand. Valendrea bemerkte, dass Ambrosis Augen weicher wurden, ein beruhigender Blick für den Gast. Paolo wusste genau, wie man mit einer solchen Situation umging.

»Wir müssen mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit sprechen, bei der Sie uns hoffentlich behilflich sein können«, erklärte Valendrea.

»Ich verstehe nicht, wie ich einem Mann von Ihrer Bedeutung behilflich sein könnte, Eminenz.«

»Sie haben heute Vormittag die Verhandlung besucht. Gehe ich recht in der Annahme, dass Father Kealy um Ihre Anwesenheit gebeten hat?«

»Geht es darum? Haben Sie Angst vor negativen Schlagzeilen?«

Er lächelte entschuldigend. »Angesichts der versammelten Journalistenschar können Sie versichert sein, dass es mir hier nicht um nachteilige Presse geht. Father Kealys Schicksal ist besiegelt. Das werden Sie so gut wissen wie er selbst und die Medienvertreter. Hier geht es um etwas weit Wichtigeres als einen einzelnen Häretiker.«

»Ist das zitierfähig?«

Er gestattete sich ein Lächeln. »Immer ganz die Journalistin. Nein, Ms. Lew, das hier ist keine offizielle Äußerung. Sind Sie dennoch interessiert?«

Er wartete ab und ließ ihr Zeit zu überlegen. Dies hier war der Moment, wo ihr Ehrgeiz die Vernunft besiegen musste.

»Nun gut«, sagte sie. »Also vertraulich. Schießen Sie los.«

Das lief ja bestens. So weit, so gut. »Es geht um Colin Michener.«

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung.

»Ja. Ich weiß von Ihrer früheren Beziehung mit dem jetzigen Privatsekretär des Papstes. Für einen Geistlichen von seiner Bedeutung ist das eine ziemlich schwerwiegende Sache.«

»Das ist eine Ewigkeit her.«

Ihrer Stimme hörte man an, dass sie sich in der Defensive fühlte. In diesem Moment wurde ihr vielleicht klar, warum er ihr die Zusicherung der Vertraulichkeit so bereitwillig geglaubt hatte und dass es hier um sie und nicht um ihn ging.

»Paolo hat heute Nachmittag Ihre Begegnung mit Michener auf der Piazza beobachtet. Die war alles andere als herzlich. Haben Sie ihn nicht Drecksack genannt?«

Sie warf einen Blick auf seinen Helfer. »Ich kann mich nicht erinnern, diesen Mann gesehen zu haben.«

»Der Petersplatz ist groß«, bemerkte Ambrosi leise.

»Vielleicht überlegen Sie jetzt, wie er sie nur gehört haben kann? Sie haben ja kaum geflüstert. Aber Paolo liest problemlos von den Lippen ab. Ein sehr nützliches Talent, finden Sie nicht auch?« Sie schien um eine Antwort verlegen, und so ließ er sie einen Moment lang zappeln und sagte dann: »Ms. Lew, ich habe nicht vor, Sie zu erpressen. Monsignore Michener wird in Kürze eine Reise im Auftrag des Papstes unternehmen. In dieser Sache brauche ich Ihre Unterstützung.«

»Was sollte ich denn für Sie tun können?«

»Jemand muss beobachten, wohin er fährt und was er dort tut. Dafür wären Sie perfekt geeignet.«

»Und warum sollte ich das tun?«

»Weil es einmal eine Zeit gab, in der er Ihnen etwas bedeutet hat. In der Sie ihn vielleicht sogar liebten. Vielleicht lieben Sie ihn ja immer noch. Viele Geistliche wie Monsignore Michener haben Beziehungen mit Frauen gehabt. So ist das in unserer gottlosen Zeit. Ein Gelübde bedeutet diesen Männern nichts mehr.« Er hielt inne. »Und ob sie dabei eine Frau verletzen, ist ihnen völlig gleichgültig. Ich spüre aber, dass Sie dem Monsignore nichts Schlimmes wünschen.« Er ließ seine Worte wirken. »Wir sind der Meinung, dass es da ein Problem gibt, das Michener schaden könnte. Nicht körperlich, Sie verstehen schon, aber es könnte seine Position in der Kirche und seine Karriere gefährden. Ich möchte dies verhindern. Ließe ich Michener aber von einem Angehörigen des Vatikans beobachten, wäre Geheimhaltung unmöglich und der Auftrag zum Scheitern verurteilt. Ich mag Michener. Ich möchte nicht, dass seine Karriere vielleicht schon bald abrupt endet. Daher muss jemand ihn beschützen, der das so unauffällig tun kann wie Sie.«

Sie zeigte auf Ambrosi. »Warum schicken Sie nicht den Padre hier?«

Valendrea fand sie ganz schön dreist. »Hochwürden Ambrosi ist zu bekannt für eine solche Aufgabe. Micheners Auftrag führt ihn glücklicherweise nach Rumänien, ein Land, das Sie ausgezeichnet kennen. Sie könnten also auf der Bildfläche erscheinen, ohne dass er stutzig wird. Falls er überhaupt erfährt, dass Sie da sind.«

»Und was wäre der Zweck dieses Besuchs in meinem Heimatland?«

Valendrea wehrte ab. »Unnötige Informationen würden Sie nur voreingenommen machen. Sie sollen einfach nur beobachten, umso objektiver können Sie dann berichten.«

»Anders gesagt, Sie wollen es mir nicht sagen.«

»Genau.«

»Und was hätte ich davon, dass ich Ihnen diesen Gefallen tue?«

Er kicherte leise und nahm sich eine Zigarre aus einem Seitenfach in der Tür. »Leider wird Clemens XV. uns bald verlassen. In absehbarer Zukunft steht ein Konklave bevor. In diesem Fall werden Sie einen Freund haben, der Ihnen mehr als genug Informationen liefert, um Ihren Artikeln in journalistischen Kreisen Gewicht zu verschaffen. Vielleicht können Sie dann sogar wieder für all die großen Zeitungen arbeiten, die Sie fallen gelassen haben.«

»Soll ich jetzt beeindruckt sein, weil Sie so viel über mich wissen?«

»Ich versuche nicht, Sie zu beeindrucken, Ms. Lew. Ich möchte mich nur Ihrer Hilfe versichern und verspreche Ihnen dafür etwas, wofür jeder Journalist sich glatt die Hand abhacken lassen würde.« Er steckte die Zigarre an und zog daran. Er machte sich nicht die Mühe, das Fenster zu öffnen, sondern qualmte den Wagen rücksichtslos voll.

»Diese Angelegenheit muss Ihnen wichtig sein«, bemerkte Katerina.

Ihre Formulierung entging ihm nicht. Sie sagte nicht: der Kirche wichtig sein, sondern Ihnen wichtig sein. Er beschloss, einen Hauch von Wahrhaftigkeit in ihre Unterredung einfließen zu lassen. »Zumindest so wichtig, dass ich Sie hier aufgesucht habe. Ich versichere Ihnen, dass ich meinen Teil der Abmachung einhalten werde. Das nächste Konklave wird eine enorme Bedeutung haben, und Sie werden dann verlässliche Informationen aus erster Hand erhalten.«

Sie schien noch immer mit sich zu kämpfen. Vielleicht hatte sie geglaubt, in Colin Michener jene anonyme vatikanische Quelle zu besitzen, mit der sie für ihre Artikel hausieren gehen konnte. Hier bot sich nun eine andere Möglichkeit. Ein lukratives Angebot. Dabei war die Aufgabe kinderleicht. Er forderte sie nicht zum Stehlen, Lügen oder Betrügen auf. Sie sollte einfach nur in ihre Heimat fahren und ein paar Tage lang einen alten Freund im Auge behalten.

»Ich muss darüber nachdenken«, sagte sie schließlich.

Wieder zog er an seiner Zigarre. »Ich würde mir nicht zu viel Zeit lassen. Das Ganze wird schnell über die Bühne gehen. Ich rufe Sie morgen im Hotel an, sagen wir um vierzehn Uhr, und erwarte dann Ihre Antwort.«

»Falls ich mitmache, wie erhalten Sie dann meinen Bericht?«

Er deutete auf Ambrosi. »Mein Assistent wird Kontakt mit Ihnen aufnehmen. Versuchen Sie auf keinen Fall, mich anzurufen. Verstanden? Er wird Sie finden.«

Ambrosi faltete die Hände vor seiner schwarzen Soutane, und Valendrea gestattete ihm diesen Moment der Selbstzufriedenheit. Katerina Lew sollte ruhig wissen, dass sie besser daran tat, den Priester nicht herauszufordern, und Ambrosi brachte das mit seiner Haltung sehr gut zum Ausdruck. Diese Eigenschaft Paolos hatte ihm immer sehr gefallen. Öffentlich trat er zurückhaltend auf, doch wer näher mit ihm zu tun hatte, vergaß ihn nicht so schnell.

Valendrea holte einen Umschlag unter seinem Sitz hervor und reichte ihn seinem Gast. »Zehntausend Euro für die Spesen, Flug, Hotel und so weiter. Falls Sie sich entschließen, mir zu helfen, sollen Sie die Reise natürlich nicht selbst finanzieren. Falls Sie ablehnen, können Sie das Geld trotzdem behalten. Für die Ungelegenheiten.«

Er griff an ihr vorbei und öffnete die Tür. »Hat mich gefreut, mit Ihnen zu reden, Ms. Lew.«

Sie schlüpfte aus dem Wagen, den Umschlag in der Hand. Er spähte in die Nacht hinaus und sagte: »Ihr Hotel liegt dort hinten links an der Via. Guten Abend.«

Sie erwiderte nichts und ging davon. Er zog die Tür zu und flüsterte: »Vollkommen vorhersagbar. Sie will uns zappeln lassen. Aber es ist ganz klar, was sie tun wird.«

»Es war fast schon zu einfach«, gab Ambrosi zurück.

»Genau deshalb möchte ich, dass Sie nach Rumänien reisen. Diese Frau wird sich weit risiko- und müheloser beobachten lassen als Michener. Ich habe eine der Firmen auf unserer Spenderliste gebeten, uns einen Privatjet zur Verfügung zu stellen. Brechen Sie morgen früh auf. Wir kennen Micheners Bestimmungsort schon, daher sollten Sie vor ihm dort eintreffen und auf ihn warten. Er dürfte morgen Abend ankommen oder spätestens übermorgen. Verhalten Sie sich unauffällig, behalten Sie die Dame aber im Auge, und machen Sie ihr klar, dass wir für unsere Investition etwas sehen wollen.«

Ambrosi nickte.

Der Fahrer kam zurück und setzte sich wieder hinters Steuer. Ambrosi klopfte an die Trennscheibe, und der Wagen fuhr rückwärts auf die Via hinaus.

Valendrea wandte seine Gedanken angenehmeren Dingen zu.

»Nachdem wir diese Intrige jetzt erfolgreich in die Gänge geleitet haben, vielleicht einen Kognak und ein paar Takte Tschaikowski vor dem Schlafengehen? Was meinen Sie, Paolo?«

9

23.50 Uhr

 

Katerina wälzte sich von Father Tom Kealy herunter und entspannte sich. Er hatte sie oben in seinem Zimmer erwartet und ihren Bericht über die unerwartete Begegnung mit Kardinal Valendrea angehört.

»Es war schön, Katerina«, sagte Kealy. »Wie immer.«

Sie betrachtete die Konturen seines Gesichts, auf das goldenes Licht durch die halb zugezogenen Vorhänge fiel.

»Morgens nimmt man mir meinen Priesterkragen, und abends liege ich nackt mit einer Frau im Bett. Und dann noch mit einer so schönen Frau.«

»Das nimmt der Sache die Schärfe.«

Er kicherte. »So könnte man es ausdrücken.«

Kealy wusste von ihrer Beziehung mit Colin Michener. Es hatte ihr damals gut getan, ihr Herz jemandem auszuschütten, der das alles vielleicht verstehen würde. Sie hatte den Kontakt angebahnt und war mit der Bitte um ein Interview in Kealys Gemeinde in Virginia eingetrudelt. Damals lebte sie in den Staaten und schrieb freiberuflich für einige Zeitschriften, die sich für radikale religiöse Tendenzen interessierten. Sie hatte halbwegs genug verdient, zumindest hatte sie davon leben können, aber sie hatte gehofft, mit Kealys Story vielleicht groß rauszukommen.

Hier hatte sie einen Priester, der gegen die Kirche zu Feld zog, und dabei ging es um ein Thema, das den Katholiken in der westlichen Welt am Herzen lag. Die North American Church bemühte sich verzweifelt, ihre Mitglieder bei der Stange zu halten. Skandale um pädophile Priester und Kindesmissbrauch hatten das Ansehen der Kirche ruiniert, und die nachlässige Reaktion in Rom hatte die ohnehin schon schwierige Lage zusätzlich verschärft. Das Verbot von Homosexualität und Empfängnisverhütung sowie das starre Festhalten der Kirche am Zölibat verstärkten die allgemeine Desillusionierung noch.

Kealy hatte Katerina damals gleich am ersten Tag zum Essen eingeladen, und kurz darauf landete sie auch in seinem Bett. Es machte Spaß mit Kealy, er war ein interessanter Partner, sowohl körperlich als auch intellektuell. Seine Geliebte, die den Anlass für den ganzen Aufruhr geliefert hatte, hatte ihm vor einem Jahr den Laufpass gegeben. Irgendwann hatte sie das öffentliche Interesse satt gehabt und wollte nicht länger im Mittelpunkt einer so genannten religiösen Revolution stehen. Katerina hatte nicht ihren Platz eingenommen und sich lieber im Hintergrund gehalten. Sie hatte jedoch stundenlange Interviews mit Kealy geführt und hoffte, damit eine ausgezeichnete Arbeitsgrundlage für ein Buch zu haben. Der Zölibat vor Gericht lautete der Arbeitstitel ihres Buches, in welchem sie gegen den Zölibat polemisierte, den die Kirche laut Kealy so sehr brauchte wie ein Keiler Titten. Kealys Exkommunikation der Todesstoß, den die Kirche ihm versetzt hatte würde die PR-Grundlage für die Vermarktung des Buches liefern. Ein Priester wird wegen Unstimmigkeiten mit Rom des Amtes enthoben. Argumente für einen modernen Klerus. Neu konnte man diese Strategie nicht gerade nennen, aber Kealy hatte eine unverbrauchte, freche, volkstümliche Stimme zu bieten. Bei CNN war er sogar als Kommentator für das nächste Konklave im Gespräch, ein Insider, der ein Gegengewicht zu den üblichen konservativen Meinungen bilden könnte, die sich traditionell bei der Papstwahl zu Wort meldeten. Alles in allem war ihre Beziehung zum beiderseitigen Vorteil gewesen. Aber nun hatte sich durch die Begegnung mit dem Kardinalstaatssekretär einiges geändert.

»Was hältst du von Valendrea? Und von seinem Angebot?«, fragte sie.

»Er ist ein aufgeblasener Trottel, der durchaus der nächste Papst werden könnte.«

Dieselbe Einschätzung hatte sie schon von anderen gehört, was Valendreas Angebot umso interessanter machte. »Er interessiert sich für alles, was Colin tut.«

Kealy wälzte sich auf die Seite und sah sie an. »Ich selbst ehrlich gesagt auch. Was hat der Privatsekretär des Papstes nur in Rumänien zu suchen?«

»Als wenn es dort nichts Interessantes gäbe!«

»Na na, empfindlich sind wir überhaupt nicht, hm?«

Katerina hielt sich nicht für eine Patriotin, war aber stolz darauf, Rumänin zu sein. Ihre Eltern waren mit ihr geflohen, als sie ein Teenager war, aber später war Katerina zurückgekehrt und hatte bei Ceauºescus Sturz mitgeholfen. Damals, als der Diktator seine letzte Rede vom Balkon des Gebäudes des Zentralkomitees in Bukarest hielt, war sie dabei gewesen. Aus der von oben angeordneten Arbeiterdemonstration für die kommunistische Regierung war damals ein offener Aufstand geworden. Auf dem Platz war die Hölle losgebrochen, und die Schreie hallten bis heute in Katerinas Ohren nach. Die Polizei war mit Waffengewalt eingeschritten, während aus den Lautsprechern der zuvor aufgenommene Beifall ertönte.

»Ich weiß, dass du das nur schwer glauben kannst«, erklärte sie. »Aber ein echter Aufstand hat nichts mit Make-up für die Kamera zu tun, nichts mit provokativen Erklärungen im Internet und schon gar nichts damit, dass man eine Frau im Bett hat. Revolution bedeutet Blutvergießen.«

»Die Zeiten haben sich geändert, Katerina.«

»Die Kirche lässt sich nicht so leicht ändern.«

»Hast du gesehen, wie viele Medienberichterstatter heute dort versammelt waren? Man wird auf der ganzen Welt von dieser Verhandlung berichten. Die Öffentlichkeit wird sich meines Falls annehmen.«

»Und was, wenn kein Hahn danach kräht?«

»Unsere Website wird täglich zwanzigtausend Mal angeklickt. Das ist eine Menge Aufmerksamkeit. Worte können eine mächtige Wirkung entfalten.«

»Gewehrkugeln auch. Ich war da, in diesen Tagen vor Weihnachten, als Rumänen starben, um den Diktator und seine Schlampe von Frau vor ein Hinrichtungskommando zu bringen.«

»Du hättest selbst auf ihn geschossen, wenn man dir Gelegenheit dazu gegeben hätte, stimmts?«

»Ohne eine Sekunde zu zögern. Die beiden haben mein Vaterland zugrunde gerichtet. Leidenschaft, Tom. Daraus macht man Revolutionen. Tiefe, unkontrollierbare Leidenschaft.«

»Und was sagst du jetzt Valendrea?«

Sie seufzte. »Ich habe keine Wahl. Ich muss es tun.«

Er kicherte. »Eine Wahl gibt es immer. Lass mich raten: Diese Reise eröffnet dir eine zweite Chance mit Colin Michener?«

Inzwischen war ihr klar, dass sie Tom Kealy viel zu viel von sich erzählt hatte. Er hatte ihr versichert, dass er niemals etwas verraten würde, doch sie machte sich Sorgen. Gewiss, Micheners Fehltritt lag lange zurück, aber jede Enthüllung, ob zutreffend oder nicht, würde ihn seine Karriere kosten. So sehr sie Micheners damals gefällte Entscheidung auch hasste, sie würde nie etwas von ihrer Beziehung verraten.

Sie verharrte eine Weile reglos und sah zur Decke hinauf. Valendrea hatte von einem Problem gesprochen, das Micheners Karriere beschädigen könnte. Wenn sie also gleichzeitig Michener und sich selbst helfen konnte, warum eigentlich nicht?

»Ich reise.«

»Du begibst dich in eine Schlangengrube«, sagte Kealy gut gelaunt. »Aber du hast das Zeug, dich mit dem Teufel anzulegen. Und ein Teufel ist Valendrea wirklich, das kannst du mir glauben. Er ist von Ehrgeiz zerfressen, ein richtiges Schwein.«

»Damit solltest du dich ja auskennen.« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen.

Er strich mit der Hand über ihr nacktes Bein. »Vielleicht. Wie mit so einigem anderen.«

Seine Arroganz war unglaublich. Er schien sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen weder durch die Anhörung vor den ernst dreinblickenden Prälaten am Vormittag, noch durch den drohenden Verlust seines Priesterkragens. Hatte gerade diese Dreistigkeit sie anfangs angezogen? Egal, Kealy wurde ihr langsam lästig. Sie fragte sich, ob der Priesterberuf ihm eigentlich jemals etwas bedeutet hatte. Micheners religiöse Hingabe fand sie bewundernswert, auf Tom Kealys Loyalität konnte man nicht bauen. Aber sie hatte kein Recht, ihn zu verurteilen. Aus purem Eigennutz hatte sie sich ihm angeschlossen, und das hatte er gewiss erkannt und ausgenutzt. Doch all das würde sich nun vielleicht ändern. Sie hatte eine Unterredung mit dem Kardinalstaatssekretär gehabt und eine Aufgabe erhalten, die große Chancen mit sich brachte. Und wie Valendrea ganz richtig gesagt hatte: Vielleicht käme es wirklich dazu, dass sie wieder mit all den großen Zeitungsverlagen zusammenarbeiten könnte, die sie fallen gelassen hatten.

Sie spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Körper.

Die unerwarteten Vorfälle an diesem Abend waren das reinste Aphrodisiakum. Wunderbare Zukunftsbilder schwirrten ihr durch den Kopf. Diese Hoffnungen ließen den gerade genossenen Sex im Nachhinein besonders befriedigend erscheinen und umso verlockender erschien ihr nun der nächste Gang.

10

Turin, Italien
Donnerstag, 9. November
10.30 Uhr

 

Michener spähte durch das Fenster des Hubschraubers auf die unter ihm liegende Stadt. Die helle Morgensonne befreite die Luft allmählich vom Nebel, der noch als dünne, ausgefranste Decke über den Dächern Turins lag. Dahinter breitete sich das Piemont aus, dieses italienische Gebiet, das an Frankreich und an die Schweiz grenzte und dessen fruchtbare Ebene von Alpengipfeln und -gletschern und dem Meer eingeschlossen war.

Clemens saß neben ihm, gegenüber zwei Leibwächter. Der Papst war in den Norden gereist, um das Grabtuch Jesu zu segnen, bevor es wieder weggeschlossen und versiegelt wurde. Die Ausstellung des Tuches hatte unmittelbar nach Ostern begonnen, und Clemens hätte eigentlich gleich zur Eröffnung kommen sollen, doch ein vorher vereinbarter Staatsbesuch in Spanien hatte Vorrang gehabt. Daher sollte Clemens nun zum Abschluss der Ausstellung dem Tuch seine Verehrung erweisen, wie die anderen Päpste es in den vergangenen Jahrhunderten getan hatten.

Der Hubschrauber ging in eine Linkskurve und verlor langsam an Höhe. Unter ihnen auf der Via Roma staute sich der Vormittagsverkehr, und die Piazza San Carlo war ebenso verstopft. Turin war eine Industriestadt in europäischer Tradition, in der vor allem Autofirmen ansässig waren. Es gab durchaus Ähnlichkeiten mit vielen Städten, die Michener aus seiner Kindheit im Süden Georgias kannte, wo die Papierindustrie vorherrschte.

Der Duomo San Giovanni kam in Sicht, seine hohen Glockentürme waren von Nebelschwaden umhüllt. Dieser Johannes dem Täufer geweihte Dom war im fünfzehnten Jahrhundert errichtet worden, doch erst seit dem siebzehnten Jahrhundert wurde das Leichentuch Jesu dort aufbewahrt.

Die Kufen des Hubschraubers setzten sanft auf dem feuchten Straßenpflaster auf.

Das Heulen der Tragschraube erstarb, und Michener öffnete seinen Sicherheitsgurt. Doch erst als die Rotorblätter vollkommen still standen, öffneten die beiden Leibwächter die Kabinentür.

»Gehen wir?«, fragte Clemens.

Auf dem Flug von Rom hatte der Papst kaum etwas gesagt. Manchmal war es so auf Reisen, und Michener respektierte die Eigenarten des alten Mannes.

Von Clemens gefolgt, trat er auf die Piazza. Eine riesige Menschenmenge hatte sich am Rande des Platzes zusammengedrängt. Die Luft war frisch, doch Clemens hatte es abgelehnt, einen Umhang zu tragen. In der weißen Albe mit dem vor seiner Brust baumelnden Pectorale bot er einen eindrucksvollen Anblick. Der päpstliche Fotograf schoss die ersten Bilder, die der Presse noch vor Tagesende zur Verfügung stehen würden. Der Papst winkte, und die Menge erwiderte seinen Gruß.

»Wir sollten uns hier nicht aufhalten«, flüsterte Michener Clemens zu.

Der Sicherheitsdienst des Vatikans hatte nachdrücklich betont, dass die Piazza nicht sicher sei. Der Platz war ein reines Durchgangsobjekt, wie die Sicherheitsteams das nannten. Nur die Kathedrale und die Kapelle waren am Vortag auf Sprengstoff untersucht worden und wurden seitdem bewacht. Dieser Papstbesuch war langfristig arrangiert und in den Medien angekündigt worden. Daher verbrachte man besser möglichst wenig Zeit im Freien.

»Einen Moment noch.« Clemens winkte noch immer den Leuten zu. »Sie sind gekommen, um ihren Papst zu sehen. Dann sollen sie auch etwas davon haben.«

Die Päpste waren in Italien immer großzügig gereist. Das war ein Privileg der Italiener, die zweitausend Jahre lang die Mutter Kirche behütet hatten. Daher nahm Clemens sich die Zeit, sich einen Moment lang der Menge zu widmen.

Schließlich ging der Papst weiter und betrat den Vorbau des Doms. Michener folgte ihm, wobei er absichtlich ein Stück zurückblieb, um der Turiner Geistlichkeit Gelegenheit zu geben, sich an der Seite des Papstes fotografieren zu lassen.

Drinnen erwartete sie Gustavo Kardinal Bartolo. Er trug eine purpurrote Seidensoutane mit ebensolcher Stola, die seinen hochrangigen Status im Kardinalskollegium deutlich machte. Er war ein spitzbübisch wirkender Mann mit weißem, glanzlosem Haar und einem dichten, langen Bart. Michener hatte sich oft gefragt, ob dieses Äußere eines biblischen Propheten Absicht war, denn Bartolo galt weder als intellektuell brillant noch als spirituell erleuchtet. Vielmehr hatte er den Ruf eines loyalen Laufburschen. Er war von Clemens Vorgänger ins Kardinalskollegium berufen und zum Bischof von Turin ernannt worden. Damit befand sich das Grabtuch Jesu in seiner Obhut.

Clemens hatte dem Besuch zugestimmt, obgleich Bartolo einer von Valendreas engsten Verbündeten war. Wen Bartolo im nächsten Konklave wählen würde, stand außer Zweifel, und so musste Michener innerlich schmunzeln, als der Papst direkt auf den Kardinal zuging und ihm die rechte Hand mit der Handfläche nach unten entgegenstreckte. Bartolo verstand sofort, was das Protokoll verlangte, und unter den Augen seiner Priester und Nonnen blieb ihm keine andere Wahl, als die Hand zu ergreifen, sich niederzuknien und den Papstring zu küssen. Normalerweise verzichtete Clemens hinter verschlossenen Türen auf diese Geste und begnügte sich mit einem einfachen Handschlag. Dass der Papst nun auf dem Wortlaut des Protokolls beharrte, war eine Botschaft, die der Kardinal offensichtlich verstand. Michener sah Empörung in seinem Blick aufflackern, die der alte Würdenträger schnell zu unterdrücken suchte.

Bartolos Unbehagen schien Clemens, der begann, Liebenswürdigkeiten mit den anderen Umstehenden auszutauschen, nicht weiter zu stören. Nach ein paar Minuten heiterer Konversation segnete Clemens die zwei Dutzend Anwesenden und ging dann ins Innere des Doms voran.

Michener blieb zurück, seine Aufgabe bestand darin, in der Nähe zu sein, jederzeit abrufbereit, doch für den eigentlichen Ablauf der Zeremonie war er unwichtig. Ihm fiel auf, dass einer der Turiner Geistlichen bei ihm blieb. Er wusste, dass der kleine Priester mit dem schütteren Haar Bartolos Assistent war.

»Bleibt der Heilige Vater zum Essen?«, fragte der Priester auf Italienisch.

Michener gefiel der knappe Tonfall nicht. Er war höflich, doch es schwang auch eine gewisse Gereiztheit darin mit. Offensichtlich lag die Loyalität seines Gesprächspartners nicht bei dem altersschwachen Papst, und der Mann empfand auch nicht das Bedürfnis, seine Feindseligkeit vor einem amerikanischen Monsignore zu verbergen, der mit Sicherheit seinen Job los war, sobald der Vikar Christi starb. Nein, er war eher dabei sich auszumalen, was sein Prälat für ihn tun konnte. Ähnlich wie Michener vor zwei Jahrzehnten, als ein deutscher Bischof Gefallen an einem schüchternen Seminaristen gefunden hatte.

»Wenn alles plangemäß verläuft, bleibt der Papst zum Mittagessen. Im Moment sind wir sogar etwas früher dran. Haben Sie die Liste mit seinen Speisewünschen erhalten?«

Ein ganz leichtes Nicken. »Es ist alles nach Wunsch.«

Clemens schätzte die italienische Küche nicht besonders, eine Tatsache, die der Vatikan möglichst nicht an die Öffentlichkeit durchsickern ließ. Offiziell hieß es dazu nur, die Essgewohnheiten des Papstes seien seine Privatsache und hätten nichts mit seinem Amt zu tun.

»Sollen wir hineingehen?«, fragte Michener.

In letzter Zeit hatte er wenig Lust, über Kirchenpolitik zu diskutieren, da ihm bewusst war, dass seine Meinung mit Clemens schlechterem Gesundheitszustand immer mehr an Gewicht verlor.

Er schritt in den Dom voran, und der Priester, über den er sich noch immer ärgerte, folgte ihm. Offensichtlich war er für heute sein Schutzengel.

Clemens stand in der Vierung des Doms, wo eine rechteckige Glasvitrine von der Decke herabhing. Darin sah man, von einem indirekten Licht erhellt, ein vergilbtes, grauweißes, etwa vier Meter langes Leinentuch. Darauf war der schwache Abdruck eines flach auf dem Rücken liegenden Mannes zu sehen. Vorder- und Rückteil des Abdrucks liefen am Kopf zusammen, so als hätte man eine Leiche auf das Tuch gelegt und sie dann vom Kopf her zugedeckt. Er trug einen Bart, das zottige Haar hing ihm über die Schultern, und die Hände waren sittsam über dem Schritt gekreuzt. An Kopf und Handgelenken waren Wunden unübersehbar. Die Brust wies einen Stich auf, der Rücken war von Geiselhieben übersät.

Es war reine Glaubenssache, ob man das Tuch als Abbild Jesu ansah. Michener persönlich konnte nur schwer glauben, dass ein Stück Leinentuch in Fischgrätbindung zweitausend Jahre überstanden haben sollte. Mit dieser Reliquie ging es ihm ähnlich wie mit den Marienerscheinungen in Fatima, mit denen er sich jetzt schon monatelang befasste.

Er hatte die Berichte eines jeden dieser vermutlichen oder vermeintlichen Seher studiert, die behaupteten, Besuch aus dem Himmel erhalten zu haben. In den meisten Fällen stießen die päpstlichen Untersuchungsbeauftragten auf einen Irrtum, eine Halluzination oder die Manifestation psychischer Probleme. Manchmal war es einfach nur ein dummer Scherz. Doch es gab etwa zwei Dutzend Vorfälle, deren Glaubwürdigkeit die Beauftragten trotz aller Mühe nicht erschüttern konnten. Nachdem andere Erklärungen ausgeschlossen worden waren, musste man schließlich von Erscheinungen der Mutter Gottes ausgehen. Diese Erscheinungen wurden von der Kirche anerkannt.

Wie Fatima.

Aber ganz ähnlich wie bei dem vor ihm hängenden Grabtuch war diese Glaubwürdigkeit eben Glaubenssache.

Clemens betete ganze zehn Minuten vor dem Tuch. Michener bemerkte, dass sie nun hinter den Zeitplan zurückfielen, doch keiner wagte es, den Papst zu unterbrechen. Die Versammlung stand schweigend da, bis der Papst sich erhob, sich bekreuzigte und Kardinal Bartolo in die schwarze Marmorkapelle folgte. Offensichtlich wollte der Kardinal mit dem eindrucksvollen Raum prunken.

Die Besichtigung dauerte beinahe eine halbe Stunde, länger als geplant, da Clemens Fragen stellte und darauf bestand, das gesamte Personal des Doms persönlich zu begrüßen. Nun hatten sie allmählich wirklich Verspätung, und Michener war erleichtert, als Clemens sein Gefolge schließlich zum Essen in ein Nebengebäude führte.

Vor dem Speisesaal blieb der Papst stehen und wandte sich an Bartolo. »Gibt es einen Raum, wo ich mich kurz ungestört mit meinem Sekretär unterhalten kann?«

Der Kardinal zeigte ihnen einen fensterlosen Nebenraum, der offensichtlich als Umkleidekammer diente. Nachdem die Tür geschlossen war, griff Clemens in seine Soutane und zog einen taubenblauen Umschlag hervor. Michener erkannte das private Briefpapier des Papstes. Er hatte es selbst in Rom gekauft und Clemens letzte Weihnachten geschenkt.

»Das ist der Brief, den Sie für mich nach Rumänien bringen sollen. Sollte Hochwürden Tibor meiner Bitte nicht nachkommen können oder wollen, bitte ich Sie, den Brief zu vernichten und nach Rom zurückzukehren.«

Michener nahm den Umschlag entgegen. »Ich verstehe, Heiliger Vater.«

»Der gute Kardinal Bartolo ist ungemein zuvorkommend, nicht wahr?« Diese Frage stellte er lächelnd.

»Er wird sich wohl kaum die dreihundert Ablässe verdient haben, die man mit dem Küssen des päpstlichen Rings erwirbt.«

Eine alte Tradition wollte, dass jeder, der den Papstring hingebungsvoll küsste, einen Sündennachlass erhielt. Michener hatte sich oft gefragt, ob es den Päpsten des Mittelalters, die diese Belohnung versprochen hatten, um die Vergebung der Sünden gegangen war oder einfach nur darum, dass sie mit angemessenem Eifer verehrt wurden.

Clemens kicherte. »Ich schätze, dreihundert vergebene Sünden dürften dem Kardinal nicht reichen. Er ist einer von Valendreas engsten Verbündeten. Wenn der Mann aus der Toskana sich den Papststuhl gesichert hat, könnte Bartolo sogar das Amt des Staatssekretärs bekommen. Allerdings kann dieser Gedanke einem Angst machen. Bartolo ist ja schon als Bischof dieses Doms überfordert.«

Dies hier sollte wohl eine Art offenes Gespräch werden, und so nahm Michener sich eine Bemerkung heraus: »Sie werden beim nächsten Konklave jeden Freund gebrauchen können, um das zu verhindern.«

Clemens verstand ihn sofort: »Sie wollen das Birett, nicht wahr?«

»Das wissen Sie doch.«

Der Papst zeigte auf den Umschlag. »Erledigen Sie das hier für mich.«

Michener fragte sich, ob sein Botengang nach Rumänien irgendwie mit der Berufung zum Kardinal verbunden war, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Das war nicht Jakob Volkners Art. Allerdings war der Papst ihm ausgewichen, und nicht zum ersten Mal. »Sie wollen mir immer noch nicht sagen, was Ihnen Sorgen bereitet?«

Clemens trat zu den Messgewändern. »Glauben Sie mir, Colin, das wollen Sie gar nicht wissen.«

»Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«

»Sie haben mir noch gar nicht von Ihrer Begegnung mit Katerina Lew erzählt. Wie war es nach all diesen Jahren?«

Wieder ein Themenwechsel. »Wir haben kaum etwas gesprochen. Und die Stimmung zwischen uns war sehr angespannt.«

Neugierig runzelte Clemens die Stirn. »Warum haben Sie es so weit kommen lassen?«

»Sie ist eigensinnig. Und sie hat sehr entschiedene Ansichten zur Kirche.«

»Na ja, das kann man ihr nicht übel nehmen, Colin. Wahrscheinlich hat sie Sie geliebt, vergeblich geliebt. Einen Mann an eine Frau zu verlieren mag noch angehen, aber an Gott Das ist möglicherweise schwer zu akzeptieren. Es tut weh, seine Liebe zu unterdrücken.«

Wieder wunderte Michener sich über Clemens Interesse an seinen persönlichen Angelegenheiten. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie lebt ihr Leben, und ich lebe meins.«

»Aber das bedeutet doch nicht, dass Sie einander keine Freunde sein können. Reden Sie miteinander, dann werden Sie sehen, wie nahe man sich kommen kann, wenn man sich wirklich füreinander interessiert. Diese Freude verbietet die Kirche uns ja nun nicht.«

Einsamkeit war eine Berufskrankheit, die jeden Priester bedrohte. Michener hatte Glück gehabt als seine Beziehung mit Katerina gescheitert war, war Volkner zur Stelle gewesen, hatte ihm zugehört und ihn von seinen Sünden freigesprochen. Seltsamerweise sollte Tom Kealy für ein ähnliches Vergehen exkommuniziert werden. Erklärte das vielleicht Clemens Interesse an Kealy?

Der Papst trat zu einem der Kleidergestelle und befühlte die farbenprächtigen Roben. »Als Kind in Bamberg war ich Messdiener. Ich erinnere mich gerne an diese Zeit zurück. Es war in der Nachkriegszeit, und der Wiederaufbau war in vollem Gang. Zum Glück hatte der Dom die Luftangriffe überstanden. Mir kam es immer wie ein Zeichen vor, dass unsere Kirche all dieses von Menschen heraufbeschworene Grauen unbeschadet überstanden hat.«

Michener erwiderte nichts. Gewiss wollte Clemens auf irgendetwas anderes hinaus. Warum sollte er alle warten lassen für ein Gespräch, das keineswegs unaufschiebbar wirkte?

»Ich habe den Dom geliebt«, fuhr Clemens fort. »Er war Teil meiner Jugend. Noch heute habe ich den Kirchenchor in den Ohren. Das war wirklich erhebend. Ich wünschte, ich könnte dort begraben werden. Aber das ist wohl leider unmöglich. Ein Papst muss im Petersdom ruhen. Wer wohl diese Regel aufgestellt hat?«

Clemens Stimme wirkte distanziert. Michener fragte sich, mit wem er eigentlich wirklich sprach. Er trat näher. »Jakob, sagen Sie mir doch, was Sie beunruhigt.«

Clemens ließ den Stoff der Robe los und verschränkte die zitternden Hände vor dem Bauch. »Sie sind sehr naiv, Colin. Sie verstehen einfach nicht, worum es geht. Es ist Ihnen nicht möglich.« Er sprach durch die Zähne, fast ohne die Lippen zu bewegen. Seine Stimme wirkte flach und ausdruckslos. »Denken Sie denn auch nur einen Moment lang, dass wir irgendwo unbelauscht sind? Verstehen Sie denn nicht, wie brennend Valendreas Ehrgeiz ist? Der Toskaner weiß alles, was wir tun und sagen. Sie möchten Kardinal werden? Dann müssen Sie das Maß Ihrer Verantwortung begreifen. Wie können Sie von mir die Ernennung erwarten, wenn Sie nicht sehen, was so klar vor Augen liegt?«

Sie hatten sich in all der Zeit kaum je gestritten, und jetzt tadelte der Papst ihn so scharf? Wofür?

»Wir sind nur Menschen, Colin. Mehr nicht. Ich bin nicht unfehlbarer als Sie. Und doch nennen wir uns Prälaten unserer Kirche. Fromme Geistliche, die nur Gott gefallen wollen. Dabei wollen wir vor allen Dingen uns selbst gefallen. Dieser Narr von Bartolo, der draußen auf uns wartet, ist ein gutes Beispiel. Er fragt sich nur eines, nämlich wann ich sterbe. Dann wird sich sein Los mit Sicherheit ändern. So wie Ihres.«

»Ich hoffe, Sie sagen so etwas nur zu mir.«

Clemens umfasste sanft das Pectorale vor seiner Brust. Danach schien seine Hand nicht mehr zu zittern. »Ich mache mir Sorgen um Sie, Colin. Sie sind wie ein Delfin, der in einem Aquarium gehalten wird. Ihre Wärter haben immer für sauberes Wasser und ausreichende Nahrung gesorgt. Jetzt aber wird man Sie bald im Meer aussetzen. Werden Sie dort überleben?«

Er nahm es Clemens übel, dass er so von oben herab mit ihm redete. »Ich weiß mehr, als Sie vielleicht denken.«

»Sie können sich nicht vorstellen, wie weit ein Mensch wie Alberto Valendrea gehen würde. Er ist kein Mann Gottes. Es hat viele Päpste wie ihn gegeben habgierige, dünkelhafte Narren, die meinen, jedes Problem allein mit Macht lösen zu können. Ich dachte, solche Päpste gehörten der Vergangenheit an, aber da habe ich mich getäuscht. Sie meinen, Sie könnten es mit Valendrea aufnehmen?« Clemens schüttelte den Kopf. »Nein, Colin. Sie sind ihm nicht gewachsen. Sie sind zu anständig. Zu vertrauensselig.«

»Warum sagen Sie mir das?«

»Weil es gesagt werden muss.« Clemens trat dicht auf ihn zu; sie waren jetzt nur noch Zentimeter voneinander entfernt. »Alberto Valendrea wird die Kirche zugrunde richten falls ich und meine Vorgänger das nicht schon erledigt haben. Sie fragen mich ständig, was mich beunruhigt. Sie sollten sich nicht so viel um mich sorgen, sondern einfach tun, was ich Ihnen auftrage. Ist das klar?«

Michener war verblüfft über Clemens Grobheit. Er war siebenundvierzig Jahre alt und Monsignore. Privatsekretär des Papstes. Ein treuer Diener. Warum stellte sein alter Freund nun sowohl seine Loyalität als auch seine Fähigkeiten in Frage? Doch er entschied, nicht zu widersprechen. »Ich habe vollkommen verstanden, Heiliger Vater.«

»Wenn Sie einen Vertrauten brauchen, steht Maurice Ngovi mir näher als jeder andere. Denken Sie daran, wenn es einmal nötig ist.« Clemens trat zurück, nun anscheinend in anderer Stimmung. »Wann brechen Sie nach Rumänien auf?«

»Morgen früh.«

Clemens nickte, griff in seine Soutane und zog einen weiteren taubenblauen Umschlag hervor. »Ausgezeichnet. Würden Sie dies hier bitte für mich zur Post bringen?«

Michener nahm das Päckchen entgegen und las dabei die Adresse: Irma Rahn. Sie und Clemens kannten sich seit ihrer Kindheit. Sie lebte noch immer in Bamberg, und die beiden korrespondierten seit vielen Jahren regelmäßig.

»Wird erledigt.«

»Von hier aus.«

»Entschuldigung?«

»Geben Sie den Brief hier auf. In Turin. Und bitte persönlich. Schicken Sie keinen anderen.«

Er brachte die Briefe des Papstes immer persönlich zur Post, und das hatte man ihm auch nie zu sagen brauchen. Doch wieder entschied er sich, keine Fragen zu stellen.

»Gewiss, Heiliger Vater. Ich gebe den Brief hier auf. Eigenhändig.«

11

Vatikanstadt, 13.15 Uhr

 

Valendrea ging direkt ins Büro des Archivars der Heiligen Katholischen Kirche. Der für das Geheimarchiv des Vatikans zuständige Kardinal war keiner seiner Anhänger, aber der Mann würde hoffentlich vernünftig genug sein, dem voraussichtlichen künftigen Papst nicht in die Quere zu kommen. Alle Ernennungen endeten mit dem Tod eines Papstes. Es hing ausschließlich von der Entscheidung des nächsten Vikar Christi ab, ob eine Person ihr Amt behielt, und Valendrea wusste, dass der derzeitige Archivar an seiner Position hing.

Er traf ihn hinter seinem Schreibtisch an, in seine Arbeit vertieft. Valendrea betrat das große Büro gelassen und schloss die Flügel einer Bronzetür hinter sich.

Der Kardinal blickte auf, sagte aber nichts. Der Mann ging auf die siebzig zu, hatte schwere Wangen und eine ausgeprägte, aber fliehende Stirn. Er war Spanier von Geburt, hatte aber sein ganzes Leben als Geistlicher in Rom verbracht.

Das Kardinalskollegium war dreifach unterteilt. Die Kardinalbischöfe hatten einen römischen Bischofssitz inne. Die Kardinalpriester standen den Diözesen außerhalb Roms vor, und die Kardinaldiakone gehörten der Verwaltung der Kurie an. Der Archivar war der ranghöchste Kardinaldiakon und hatte als solcher nach einem Konklave die Ehre, den Namen des neu gewählten Papstes vom Balkon des Petersdoms zu verkünden. Doch dieses Privileg interessierte Valendrea nicht. Was diesen alten Mann für ihn wichtig machte, war vielmehr sein Einfluss auf eine Hand voll Kardinaldiakone, die sich noch immer nicht festgelegt hatten, wen sie im Konklave unterstützen würden.

Valendrea trat auf den Schreibtisch zu und bemerkte, dass sein Gastgeber nicht aufstand, um ihn zu begrüßen. »So schlimm ist es doch gar nicht«, reagierte der Staatssekretär auf den Blick, mit dem er empfangen wurde.

»Wer weiß. Der Papst ist vermutlich noch in Turin?«

»Wäre ich sonst hier?«

Der Archivar stieß einen vernehmbaren Seufzer aus.

»Ich möchte, dass Sie die Riserva und das Schließfach für mich öffnen«, erklärte Valendrea.

Nun stand der alte Mann endlich doch auf. »Das muss ich ablehnen.«

»Das wäre unklug.« Diese Botschaft würde sein Gegner hoffentlich verstehen.

»Mit Drohungen können Sie einen direkten päpstlichen Befehl nicht unwirksam machen. Nur der Papst darf die Riserva betreten. Sonst keiner. Nicht einmal Sie.«

»Keiner braucht davon zu erfahren. Es geht schnell.«

»Mein Eid als Archivar und mein Gelübde als Priester bedeuten mir mehr, als Ihnen klar zu sein scheint.«

»Hören Sie mir zu, alter Mann. Ich bin in einer Mission hier, die für die Kirche von größter Bedeutung ist. Daher muss ich zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen.« Das war eine Lüge, aber sie klang gut.

»Dann haben Sie gewiss nichts dagegen einzuwenden, dass der Heilige Vater zuvor seine Erlaubnis erteilt. Ich kann ihn in Turin anrufen.«

Der Moment der Wahrheit war gekommen. »Ich besitze eine eidliche Erklärung Ihrer Nichte. Sie hat sie uns bereitwillig gegeben. Sie schwört vor dem Allmächtigen, dass Sie ihrer Tochter die Sünde einer Abtreibung vergeben haben. Kann das denn sein, Eminenz? Das ist Häresie.«

»Ich weiß Bescheid über die eidliche Erklärung. Ihr Ambrosi ist mit der Familie meiner Schwester nicht gerade zimperlich umgesprungen. Ich habe die junge Frau von ihrer Sünde freigesprochen, weil sie im Sterben lag und sich vor der Hölle fürchtete. Ich habe sie mit der Gnade Gottes getröstet, wie es einem Priester ansteht.«

»Für meinen Gott Ihren Gott ist eine Abtreibung unverzeihlich. Abtreibung ist Mord. Sie hatten kein Recht, diese Sünde zu vergeben. Ein Punkt, in dem gewiss auch der Heilige Vater mir zustimmen müsste.«

Das Gesicht des alten Mannes schien noch abweisender zu werden, doch gleichzeitig begann sein linkes Auge, nervös zu zucken vielleicht zeigte sich hier doch Unsicherheit.

Die zur Schau gestellte Tapferkeit des Kardinal-Archivars beeindruckte Valendrea nicht besonders. Dieser Mann hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, Akten von einem Stoß zum anderen zu räumen, idiotische Vorschriften durchzusetzen und jedem einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, der kühn genug war, den Heiligen Stuhl herauszufordern. Er war der letzte in einer langen Reihe von Scriptoren, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan hatten, als für die Sicherheit der Päpstlichen Archive zu sorgen. Wenn sie auf ihrem schwarzen Thron saßen, diente schon ihre Anwesenheit in den Archiven als Warnung, dass allein der Zutritt zu den Archiven nicht automatisch dazu berechtigte, sich alles ansehen zu können. Wie bei archäologischen Ausgrabungen waren Erkenntnisse nur von sorgfältigen Erkundungen der tieferen Schichten zu erwarten. Die aber erforderten Zeit eine Zeit, die die Kirche den Wissenschaftlern erst seit einigen wenigen Jahrzehnten zugestand. Die einzige Aufgabe von Männern wie dem Kardinal-Archivar bestand darin, die Kirche sogar vor ihren Würdenträgern zu beschützen.

»Nur zu, Alberto. Sagen Sie der Welt, was ich getan habe. In die Riserva lasse ich Sie jedenfalls nicht. Um dort Zutritt zu haben, müssen Sie erst Papst werden. Und das ist noch lange nicht sicher.«

Vielleicht hatte er diesen Sesselfurzer ja doch unterschätzt. Er hatte mehr Statur, als man ihm ansah. Valendrea beschloss, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Zumindest vorläufig. Vielleicht würde er den Kardinal in den kommenden Monaten noch brauchen.

Er ging auf den Ausgang zu. »Wenn ich Papst bin, sprechen wir uns wieder.« Er blieb vor der Bronzetür stehen und warf einen Blick zurück. »Dann werden wir sehen, ob Sie ebenso loyal zu mir halten wie zu anderen.«

12

Rom, 16.00 Uhr

 

Katerina wartete schon seit kurz nach dem Mittagessen in ihrem Hotelzimmer. Kardinal Valendrea hatte versprochen, sie um 14.00 anzurufen, aber er hatte nicht Wort gehalten. Vielleicht war er der Meinung, zehntausend Euro müssten genügen, um sie bei der Stange zu halten. Vielleicht ging er auch davon aus, dass ihre frühere Freundschaft mit Colin Michener Anreiz genug für sie sei, nach seiner Pfeife zu tanzen. Wie auch immer dass der Kardinal offensichtlich zu der Überzeugung gekommen war, sie durchschaut zu haben, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Gewiss, das Geld, das sie als freie Journalistin in den Staaten verdient hatte, war nahezu aufgebraucht, und sie hatte es satt, sich von Tom Kealy aushalten zu lassen, der ihre Abhängigkeit zu genießen schien. Er hatte an seinen drei Büchern gut verdient, und bald würde er noch viel besser verdienen. Er gefiel sich in seiner Rolle als neueste Kultfigur der amerikanischen Katholiken. Er war süchtig nach Aufmerksamkeit, was bis zu einem gewissen Grad verständlich sein mochte, doch sie kannte Seiten an Tom Kealy, die seinen Anhängern vollkommen unbekannt waren. Gefühle konnte man nicht einfach per Website erzeugen oder mit einem Werbeblättchen verschicken. Wer wirklich Talent hatte, konnte sie mit Worten hervorrufen, doch Kealy war kein guter Schriftsteller. Seine drei Bücher stammten aus der Feder eines Ghostwriters und das zum Beispiel war etwas, was nur sie und sein Verleger wussten. Kealy wollte auf keinen Fall, dass das an die Öffentlichkeit kam. Der Mann war einfach nicht echt. Nur eine Illusion, der einige Millionen Menschen er selbst eingeschlossen sich hingaben.

Ganz anders als Michener.

Es tat ihr Leid, dass sie gestern so verbittert gewesen war. Sie hatte sich vor ihrer Ankunft in Rom vorgenommen, auf ihre Worte zu achten, falls sie Michener traf. Schließlich war das alles schon sehr lange her, und sie hatten sich beide ein eigenes Leben aufgebaut. Doch als sie ihn bei der Gerichtsverhandlung sah, wurde ihr klar, dass er sich unauslöschlich in ihre Gefühle eingegraben hatte. Sie wollte sich nicht eingestehen, wie viel er ihr noch bedeutete, und die Wut auf sich selbst ließ sie ihre Worte vergessen.

Gestern Nacht, als Kealy schon neben ihr schlief, hatte sie sich gefragt, ob ihr eigener mühsamer Weg in den vergangenen zwölf Jahren nur das Vorspiel zu diesem Moment gewesen war. Im Beruf hatte sie alles andere als Erfolg, und ihr Privatleben war desolat. Und doch wartete sie nun darauf, dass der zweitmächtigste Mann der katholischen Kirche sie anrief, damit sie jemanden betrog, der ihr immer noch sehr wichtig war.

Am Vormittag hatte sie sich in italienischen Pressekreisen nach Valendrea erkundigt und erfahren, dass er eine vielschichtige Persönlichkeit war. Er stammte aus einer der ältesten und reichsten italienischen Patrizierfamilien. Unter seinen Vorfahren gab es mindestens zwei Päpste und fünf Kardinäle, und seine Onkel und Brüder bewegten sich entweder in der italienischen Politik oder in internationalen Unternehmerkreisen. Der Valendrea-Klan war außerdem aus dem europäischen Kunstleben nicht wegzudenken und hatte Paläste und große Ländereien in seinem Besitz. Man hatte gegenüber Mussolini Abstand gewahrt und war im Umgang mit den nachfolgenden instabilen italienischen Regierungen, die sich ständig die Klinke in die Hand gaben, noch vorsichtiger gewesen. Als Kapitalisten und Geldgeber war die Familie bis heute umworben, und sie ging mit ihrer Gunst wählerisch um.

Aus dem Annuario Pontifico des Vatikans erfuhr Katerina, dass Valendrea sechzig war und Abschlüsse der Universität Florenz, der Katholischen Universität vom Heiligen Herzen und der Haager Akademie für Internationales Recht erworben hatte. Er hatte vierzehn theologische Abhandlungen veröffentlicht. Für seinen Lebensstil benötigte er mehr als die dreitausend Euro monatlich, die die Kirche ihren Prälaten zahlte. Der Vatikan sah es zwar nicht gerne, wenn Kardinäle in weltliche Angelegenheiten verwickelt waren, doch es war bekannt, dass Valendrea Aktienpakete verschiedener italienischer Mischkonzerne hielt und in zahlreichen Unternehmensvorständen saß. Seine relative Jugend galt ebenso als Pluspunkt wie seine angeborenen politischen Fähigkeiten und sein Durchsetzungsvermögen. Er hatte sein Amt als Kardinalstaats-Sekretär klug genutzt und genoss inzwischen in den Medien der westlichen Welt ein gewisses Renommee. Auch hatte er erkannt, was man mit modernen Kommunikationsmitteln erreichen konnte, und wusste sich in der Öffentlichkeit ein verlässliches Image zu geben. Des Weiteren war er ein theologischer Hardliner, der öffentlich Stellung gegen das Zweite Vatikanische Konzil bezog. Das hatte er bei Kealys Verhandlung auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Er war ein strenger Traditionalist und überzeugt, dass die Rückkehr zu früheren Praktiken für die Kirche das Beste wäre.

Fast alle Leute, die Katerina befragt hatte, waren sich einig gewesen, dass Valendrea im Rennen um die Nachfolge Clemens die Nase ganz vorn hatte. Nicht unbedingt, weil er die ideale Besetzung gewesen wäre, sondern weil ein starker Herausforderer fehlte. Er war offensichtlich auf das nächste Konklave vorbereitet und stand schon in den Startlöchern.

Doch auch vor drei Jahren war er schon als Papst gehandelt worden und hatte verloren.

Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken.

Ihr Blick schoss zum Hörer, doch sie kämpfte gegen den Drang an, sofort abzunehmen. Falls Valendrea der Anrufer war, sollte er ruhig ein bisschen schwitzen.

Nach dem sechsten Klingeln griff sie nach dem Hörer.

»Sie lassen mich warten?«

»Ich musste auch warten.«

Ein Kichern drang aus dem Hörer. »Sie gefallen mir, Ms. Lew. Sie haben Charakter. Und nun, wie lautet Ihre Entscheidung?«

»Als ob Sie das fragen müssten.«

»Ich wollte höflich sein.«

»Sie kommen mir nicht wie jemand vor, der sich mit solchen Lappalien abgibt.«

»Sie haben nicht viel Achtung vor einem Kardinal der katholischen Kirche.«

»Sie stehen morgens ebenso nackt auf wie andere Leute.«

»Ich spüre keinerlei Gottesfurcht in Ihnen.«

Diesmal war sie mit Lachen an der Reihe. »Jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie zwischen Ihren politischen Machenschaften auch noch den Seelsorger spielen.«

»Ich habe mit Ihnen wirklich eine kluge Wahl getroffen. Wir beide werden gut miteinander auskommen.«

»Woher wissen Sie eigentlich, dass ich unser Gespräch nicht heimlich aufnehme?«

»Damit würden Sie sich doch die Chance Ihres Lebens vermasseln. Das glaube ich wirklich nicht. Ganz abgesehen von der sich bietenden Möglichkeit, Ihren guten Michener wiederzutreffen. Und alles auf meine Kosten. Was könnten Sie sich Besseres wünschen?«

Er war ebenso überheblich wie Tom Kealy und regte sie genauso auf. Sie fragte sich, wieso diese blasierten Typen immer auf sie flogen. »Wann soll ich aufbrechen?«

»Der Privatsekretär des Papstes fliegt morgen Vormittag los und trifft mittags in Bukarest ein. Sie könnten vielleicht einen kleinen Vorsprung gewinnen und schon heute fliegen.«

»Und wohin geht die Reise?«

»Monsignore Michener besucht einen Geistlichen namens Andrej Tibor. Er ist pensioniert und arbeitet in einem Waisenhaus in einem Städtchen namens Zlatna. Das liegt ein ganzes Stück nördlich von Bukarest. Vielleicht kennen Sie den Ort ja?«

»Ich weiß, wo er liegt.«

»Dann werden Sie sicherlich in Erfahrung bringen können, wieso Michener dort ist und was er mit dem Priester bespricht. Michener hat einen Brief des Papstes bei sich. Wenn es Ihnen gelingt, einen Blick darauf zu werfen, würde das Ihren Wert in meinen Augen noch weiter steigern.«

»Sie verlangen nicht gerade viel, hm?«

»Sie sind eine kluge Frau und haben Ihre Mittel. Ich schlage vor, dass Sie einfach dieselben Reize einsetzen wie bei Tom Kealy. Dann wird Ihr Auftrag mit Sicherheit ein voller Erfolg.«

Damit legte er auf.

13

Vatikanstadt, 17.30 Uhr

 

Valendrea stand am Fenster seines Büros im zweiten Stock. Draußen hielten die hohen Zedern, Pinien und Zypressen in den Gärten des Vatikans den Sommer fest. Seit dem dreizehnten Jahrhundert wandelten die Päpste auf den von Lorbeer und Myrten gesäumten Backsteinpfaden und erfreuten sich an den klassischen Skulpturen, Büsten und Bronzereliefs.

Er erinnerte sich an eine Zeit, als er selbst noch gern durch die Gärten spaziert war. Damals hatte es auf den Gartenwegen von jungen Priestern gewimmelt, die sich Gedanken über ihre Zukunft machten. Er hatte noch die Zeiten erlebt, als der italienische Klerus im Vatikan dominiert hatte. Doch das hatte sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geändert, und Clemens drängte Valendreas Landsleute noch weiter zurück. Jeden Tag kam eine neue Liste mit Berufungen des Papstes. Immer mehr Priester, Bischöfe und Kardinäle aus allen Erdteilen wurden nach Rom geholt. In der Hoffnung, dass Clemens endlich starb, hatte er sich bemüht, alle Berufungen zu verzögern, aber schließlich war ihm keine andere Wahl geblieben, als den Anweisungen Folge zu leisten.

Schon waren die Italiener im Kardinalskollegium in der Minderzahl, und Paul VI. war vielleicht der letzte italienische Papst gewesen. Valendrea hatte den Mailänder Kardinal persönlich gekannt und das Glück gehabt, in den letzten Jahren seines Pontifikats in Rom zu sein. Im Jahr 1983 wurde Valendrea zum Erzbischof geweiht. Schließlich setzte Johannes Paul II. ihm das rote Birett auf, eine Geste des guten Willens gegenüber dem einheimischen Klerus.

Aber war da nicht vielleicht noch ein anderer Grund gewesen?

Valendreas Konservativismus war allgemein bekannt und ebenso die Gewissenhaftigkeit, mit der er Aufgaben erledigte. Johannes Paul ernannte ihn zum Präfekten der Kongregation für die Evangelisierung der Völker. Dort koordinierte er die weltweite Missionstätigkeit der Kirche, beaufsichtigte den Bau von Kirchen, zog die Grenzen von Diözesen neu und sorgte für die Ausbildung von Katechisten und Geistlichen. Dieses Amt hatte ihn mit jedem Aspekt des Kirchenlebens vertraut gemacht und ihm gestattet, sich bei den Männern, die das Potenzial zum Kardinal hatten, in aller Stille eine Machtbasis zu errichten. Niemals vergaß er die Lehre seines Vaters: Eine Hand wäscht die andere.

Wie zutreffend.

Bald würde es soweit sein.

Er wandte sich vom Fenster ab.

Ambrosi war schon nach Rumänien aufgebrochen. Paolo fehlte ihm, wenn er weg war. Er war der einzige Mensch, in dessen Gegenwart Valendrea sich vollkommen wohl fühlte. Ambrosi schien sein Naturell zu verstehen. Und seinen Ehrgeiz. Es gab so viel zu tun, und man musste zur rechten Zeit handeln und im rechten Maß, und trotz alledem war die Gefahr zu scheitern wahrscheinlicher als der Erfolg.

Es gab einfach nicht viele Gelegenheiten, Papst zu werden. Er hatte bisher an einem einzigen Konklave teilgenommen, und das zweite war möglicherweise nicht mehr fern. Wenn er die Wahl zum Papst diesmal verfehlte, mochte der nächste Amtsinhaber, falls er nicht überraschend verstarb, durchaus so lange regieren, dass es für Valendrea zu spät war. Sein aktives und passives Wahlrecht beim Konklave endete im Alter von achtzig Jahren. Noch immer wünschte er, Paul hätte dieses Zugeständnis nicht gemacht, doch so war es nun einmal, und noch so viele belauschte und auf Band aufgezeichnete vertrauliche Gespräche würden das nicht ändern.

Er starrte auf ein Porträt Clemens XV. an der Wand. Ärgerlicherweise verlangte das Protokoll diesen Wandschmuck. Wenn Valendrea die Wahl hätte, hinge dort ein Bild Pauls VI. der italienischer Abstammung war, ein römisches Temperament hatte und durch und durch ein romanischer Typ war. Paul war brillant gewesen. Er hatte nur kleine Konzessionen gemacht und war nicht mehr Kompromisse eingegangen als unbedingt nötig, um die kirchlichen Würdenträger zufrieden zu stellen. So würde auch Valendrea die Kirche führen. Wenig geben und mehr behalten. Seit gestern dachte er ständig über Paul nach. Was hatte Ambrosi über Tibor gesagt? Abgesehen von Clemens ist er der einzige noch lebende Mensch, der die Dokumente über die Fatima-Geheimnisse gesehen hat, die in der Riserva aufbewahrt sind.

Das stimmte nicht ganz.

Valendrea ließ seine Gedanken ins Jahr 1978 zurückwandern

 

»Kommen Sie, Alberto. Folgen Sie mir.«

Paul VI. stand vorsichtig auf und prüfte, ob sein rechtes Knie der Belastung standhielt. Der alte Papst hatte in den letzten Jahren viel gelitten. Er hatte Bronchitis gehabt, Grippe, Blasenprobleme, Nierenversagen und eine Prostataoperation. Mit starken Antibiotika hatte man die Infektionen in Schach gehalten, doch die Medikamente schwächten sein Immunsystem und machten ihn kraftlos. Insbesondere seine Arthritis schien schmerzhaft zu sein, und Valendrea empfand Mitleid mit dem alten Mann. Das Ende kam, aber es kam quälend langsam.

Der Papst schlurfte aus seiner Wohnung und zu seinem privaten Lift im dritten Stock. Es war spät am Abend, eine stürmische Nacht im Mai, und im Apostolischen Palast war es still. Paul schickte die Leute vom Sicherheitsdienst weg und erklärte, er und sein Assistent kämen bald zurück. Es sei auch nicht nötig, seine beiden Privatsekretäre zu rufen.

Schwester Giacomina trat aus ihrem Zimmer. Sie hatte die Aufsicht über das Personal des päpstlichen Haushalts und pflegte Paul. Vor langer Zeit hatte die Kirche entschieden, dass die Haushälterinnen von Geistlichen ein angemessenes Alter haben sollten. Valendrea amüsierte sich darüber. Mit anderen Worten, die Frauen mussten alt und hässlich sein.

»Wohin gehen Sie, Heiliger Vater?«, fragte die Nonne, als wäre er ein Kind, das ohne Erlaubnis sein Zimmer verlässt.

»Keine Sorge, Schwester. Ich habe etwas zu erledigen.«

»Sie sollten sich ausruhen. Das wissen Sie genau.«

»Ich bin gleich wieder da. Aber ich fühle mich gut und muss mich um diese Sache kümmern. Hochwürden Valendrea wird auf mich aufpassen.«

»Nicht länger als eine halbe Stunde. Verstanden?«

Paul lächelte. »Versprochen. Eine halbe Stunde, und ich liege wieder im Bett.«

Die Nonne kehrte in ihr Zimmer zurück, und die beiden gingen zum Lift. Im Erdgeschoss schlich Paul mühsam durch die langen Korridore zum Eingang des Archivs.

»Seit vielen Jahren schiebe ich etwas auf, Alberto. Doch nun scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen, die Sache anzugehen.«

Paul ging auf seinen Stock gestützt, und Valendrea passte sich seinem Tempo an und machte extra kleine Schritte. Der Anblick dieses einst so großartigen Mannes machte ihn traurig. Giovanni Battista Montini war der Sohn eines erfolgreichen italienischen Anwalts. Er hatte sich in der Kurie nach oben gearbeitet und schließlich ein Amt im Staatssekretariat übernommen. Danach war er Erzbischof von Mailand geworden und hatte die Diözese erfolgreich verwaltet. Er war dem damals von Italienern dominierten Kardinalskollegium als der natürliche Nachfolger des beliebten Johannes XXIII. erschienen. Als Papst hatte er ausgezeichnete Arbeit geleistet, gerade in den schwierigen Zeiten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Kirche würde ihn schmerzlich vermissen und ebenso Valendrea. In den letzten Monaten hatte er das Glück gehabt, viel Zeit mit Paul zu verbringen. Der alte Kämpe schien seine Gesellschaft zu genießen. Sogar seine Erhebung zum Bischof war im Gespräch. Hoffentlich würde Paul ihm das gewähren, bevor Gott ihn zu sich rief.

Sie betraten das Archiv, und beim Erscheinen des Papstes kniete der Präfekt sich nieder. »Was führt Euch her, Heiliger Vater?«

»Schließen Sie bitte die Riserva auf.«

Die Art, wie der Papst eine Frage mit einem Befehl beantwortete, gefiel Valendrea. Der Präfekt holte schnell einen Schlüsselbund mit alten, großen Schlüsseln und ging ihnen dann ins dunkle Archiv voran. Paul folgte ihm langsam, und sie trafen gerade ein, als der Präfekt eine eiserne Gittertür geöffnet und eine Reihe von trüben Glühlampen eingeschaltet hatte. Valendrea wusste, dass nur der Papst den Zutritt zur Riserva gewähren konnte. Dieser Raum hier war ausschließlich den Vikaren Christi vorbehalten. Einzig Napoleon hatte sich mit Gewalt Zugang verschafft, doch diese Entweihung hatte er am Ende teuer bezahlt.

Paul betrat eine fensterlose Kammer und deutete auf ein schwarzes Schließfach: »Schließen Sie bitte auf.«

Der Präfekt kam seinem Wunsch nach, drehte am Schließmechanismus und stellte die richtige Zahlenkombination ein. Die Flügeltür schwang lautlos auf. Die Messingangeln arbeiteten vollkommen geräuschlos.

Der Papst setzte sich auf einen von drei Stühlen.

»Das war alles«, sagte er, und der Präfekt zog sich zurück.

»Mein Vorgänger war der erste Mensch, der das dritte Geheimnis von Fatima gelesen hat. Danach befahl er, es zu versiegeln und in diesem Schließfach aufzubewahren. Seit fünfzehn Jahren widerstehe ich dem Drang, hierher zu kommen.«

Valendrea war ein wenig verwirrt. »Hat der Vatikan nicht 1967 erklärt, dass das Geheimnis versiegelt bleiben wird? Hatten Sie es denn vorher gar nicht gelesen?«

»Die Kurie tut vieles, wovon ich wenig erfahre. Von dieser Erklärung hat man mich allerdings unterrichtet. Hinterher.«

Valendrea hatte das Gefühl, dass er sich die Frage besser gespart hätte, und er beschloss, seine Zunge von nun an zu hüten.

»Ich finde diese ganze Angelegenheit sehr erstaunlich«, bemerkte der Papst. »Die Mutter Gottes erscheint drei Bauernkindern nicht etwa einem Priester, Bischof oder Papst. Sie hat drei des Lesens und Schreibens unkundige Kinder ausgewählt. Ihre Wahl scheint immer auf einfache, demütige Menschen zu fallen. Ob der Himmel uns damit etwas sagen will?«

Valendrea wusste, auf welchem Weg Schwester Lucias Mariengesicht und die Botschaft der Jungfrau von Portugal in den Vatikan gelangt waren.

»Ich hatte nie den Eindruck, dass die Worte der guten Nonne meine Aufmerksamkeit erforderten«, fuhr Paul fort. »Ich habe Lucia in Fatima getroffen, als ich den Ort 1967 besuchte. Man hat mich für diese Reise kritisiert. Die Progressiven behaupteten, ich wollte hinter das Zweite Vatikanische Konzil zurückgehen und dem Übernatürlichen zu viel Gewicht verleihen. Ich verehrte Maria mehr als Christus und den Herrn. Aber ich wusste es besser.«

Valendrea bemerkte einen feurigen Glanz in Pauls Augen. Vielleicht hatte dieser alte Veteran doch noch Kraft zum Kämpfen.

»Ich wusste, dass die jungen Menschen Maria liebten. Die heiligen Orte zogen sie an. Meine Reise dorthin war wichtig für sie. Ich habe ihnen gezeigt, dass all das ihrem Papst nicht gleichgültig ist. Und ich hatte Recht, Alberto. Heute ist Maria beliebter denn je.«

Er wusste, dass Paul die Madonna liebte und sie während seines ganzen Pontifikats mit Titeln und Aufmerksamkeiten geehrt hatte. Manchen war das allerdings zu viel gewesen.

Paul deutete auf das Schließfach. »Die vierte Schublade links, Alberto. Zieh sie auf, und gib mir den Inhalt.«

Valendrea folgte Pauls Anweisung und zog eine schwere Eisenschublade heraus. Darin lag eine kleine Holzschatulle, mit einem Wachssiegel verschlossen, das das Papstwappen Johannes XXIII. zeigte. Auf dem Deckel prangten die Worte: SECRETUM SANCTI OFFICII, Geheimnis des Heiligen Offiziums. Er übergab die Schatulle Paul, der sie mit zitternden Händen untersuchte.

»Die Inschrift soll von Pius XII. angebracht worden sein und das Siegel auf Befehl von Johannes XXIII. Würden Sie bitte das Wachs erbrechen, Alberto?«

Valendrea blickte sich nach einem geeigneten Werkzeug um. Als er nichts fand, schob er die Kante der Schließfachtür unter das Wachs und löste es damit ab. Dann gab er Paul die Schatulle zurück.

»Gute Idee«, bemerkte der Papst.

Sein Assistent nahm das Lob mit einem Nicken entgegen.

Paul stellte die Schatulle auf seinen Schoß und suchte seine Lesebrille in der Soutane. Er setzte sie auf die Nase, öffnete die Schatulle und holte zwei Papierpäckchen heraus. Das eine legte er beiseite, das andere faltete er auf. Valendrea erblickte ein neueres weißes Blatt, das in ein eindeutig älteres Papier eingelegt war. Beide waren beschriftet.

Der Pontifex betrachtete das ältere Blatt.

»Dies hier ist die Originalniederschrift Schwester Lucias«, erklärte Paul. »Leider ist sie auf Portugiesisch, und ich verstehe diese Sprache nicht.«

»Ich leider auch nicht, Heiliger Vater.«

Paul reichte ihm das Blatt. Darauf standen etwa zwanzig Zeilen, mit schwarzer, inzwischen grau verblasster Tinte geschrieben. Valendrea fand es aufregend, dass vor ihm nur Schwester Lucia, eine von der Kirche anerkannte Marienseherin, und Papst Johannes Paul XXIII. dieses Papier berührt hatten.

Paul hob das neuere, weißere Papier hoch. »Das hier ist die Übersetzung.«

»Übersetzung, Heiliger Vater?«

»Johannes konnte auch kein Portugiesisch. Er ließ die Botschaft ins Italienische übersetzen.«

Das hatte Valendrea nicht gewusst. Dann hatte also doch noch jemand die Aufzeichnung in der Hand gehabt irgendein zum Übersetzen herbeigerufener Beamter der Kurie, dem mit Sicherheit hinterher ein Schweigegelübde abgenommen worden war. Wahrscheinlich war er inzwischen längst tot.

Paul entfaltete das zweite Blatt und begann zu lesen. Das Gesicht des Papstes nahm einen sonderbaren Ausdruck an. »Rätselraten hat mir noch nie gelegen.«

Der Papst packte das erste Päckchen wieder zusammen und griff nach dem zweiten Bündel. »Anscheinend hat die Botschaft noch eine zweite Seite.« Paul entfaltete die Blätter. Wieder war das eine Papier unübersehbar neuer als das andere. »Wieder Portugiesisch.« Paul warf einen Blick auf das zweite Blatt. »Ah ja, Italienisch. Noch eine Übersetzung.«

Valendrea beobachtete den Papst beim Lesen und merkte, dass dessen Gesichtsausdruck erst Verwirrung und dann tiefe Sorge zeigte. Flach atmend, die Stirn in tiefe Falten gelegt, las Paul die Übersetzung ein zweites Mal.

Der Papst sagte kein Wort. Auch Valendrea schwieg. Er wagte nicht, Paul zu bitten, ihn die Seite lesen zu lassen.

Der Papst las die Botschaft zum dritten Mal.

Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die Züge des alten Mannes zeigten einen Ausdruck tiefen Erstaunens. Einen Moment lang bekam Valendrea Angst. Dies hier war der erste Papst, der die Welt bereist hatte. Ein Mann, der einer Armee von fortschrittsbesessenen Katholiken entgegengetreten war und ihre revolutionären Ideen gemäßigt hatte. Er hatte vor den Vereinten Nationen gestanden und die Worte »Nie wieder Krieg« gesprochen. Er hatte Geburtenkontrolle als Sünde angeprangert und sich einem Proteststurm gestellt, der die Kirche bis ins Fundament erschütterte. Er hatte die Tradition des Priesterzölibats bestätigt und Abweichler exkommuniziert. Er war einem Attentat auf den Philippinen entgangen, hatte sich nicht von Terroristen einschüchtern lassen und die Bestattung seines Freundes, des italienischen Premierministers, persönlich zelebriert. Dieser Papst war ein entschlossener Mann und nicht so leicht zu erschüttern. Und doch hatte etwas in der gerade beendeten Lektüre ihn aus der Passung gebracht.

Der Papst faltete die Blätter wieder zusammen, legte beide Papierbündel in die hölzerne Schatulle und knallte den Deckel zu.

»Stellen Sie das zurück«, murmelte er, den Blick gesenkt. Ein paar rote Siegelwachskrümel waren auf seine weiße Soutane gefallen. Paul wischte sie weg, als wären sie ansteckend. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht hierher kommen sollen.« Dann schien der Papst sich jedoch zusammenzureißen und gewann seine Fassung zurück. »Wenn Sie mich nach oben begleitet haben, habe ich einen Befehl für Sie. Ich möchte, dass Sie diese Schatulle persönlich neu versiegeln. Danach wird niemand mehr diesen Raum betreten, unter Strafe der Exkommunikation. Ohne jede Ausnahme.«

 

Dieser Befehl galt allerdings nicht für den Papst, dachte Valendrea. Clemens XV. konnte die Riserva jederzeit betreten.

Und genau das hatte der Deutsche getan.

Valendrea wusste schon seit Jahren, dass es eine italienische Übersetzung der Niederschrift Schwester Lucias gab, doch erst seit gestern kannte er den Namen des Übersetzers.

Der Geistliche Andrej Tibor.

Drei Fragen gingen ihm durch den Kopf.

Was veranlasste Clemens XV. immer wieder in die Riserva zu kommen? Warum wollte der Papst Kontakt mit Tibor aufnehmen? Und wichtiger noch, was wusste dieser Übersetzer?

Im Moment waren alle diese Fragen offen.

Doch vielleicht würde er ja in den nächsten Tagen durch Colin Michener, Katerina Lew und Ambrosi die Antworten erhalten.