Zweiter Teil

14

Bukarest, Rumänien
Freitag, 10. November
11.15 Uhr

 

Michener stieg die Metalltreppe hinab und betrat den ölverschmierten Asphalt des Otopeni-Flughafens. Sein Linienflug von Rom war nur zur Hälfte besetzt gewesen, dabei war British Airways nur eine von vier Gesellschaften, die diesen Flughafen überhaupt anflogen. Er hatte Rumänien schon einmal besucht, als er unter Kardinal Volkner im Staatssekretariat arbeitete. Damals war er in der Abteilung für Internationale Beziehungen mit den diplomatischen Kontakten zu verschiedenen Staaten befasst gewesen.

Der Vatikan und die rumänische Kirche hatten im Gefolge des Zweiten Weltkriegs wegen der Übertragung katholischen Eigentums an die orthodoxe Kirche einen jahrzehntelangen Streit geführt. Es ging dabei unter anderem um Klöster, die früher zu Rom gehört hatten. Mit dem Fall des Kommunismus wurde die Religionsfreiheit wiederhergestellt, doch der alte Eigentumsstreit blieb bestehen, und Katholiken und Orthodoxe waren mehrmals heftig aneinander geraten. Nach Ceauºescus Sturz hatte Johannes Paul II. einen Dialog mit der rumänischen Regierung eröffnet und dem Land einen offiziellen Besuch abgestattet. Allerdings tat sich nur langsam etwas. Michener war selbst an den Fortsetzungen der Verhandlungen beteiligt gewesen. Letzthin hatte die zentralistische Regierung kleinere Zugeständnisse gemacht. Im Land lebten knapp zwei Millionen katholische Christen gegenüber zweiundzwanzig Millionen Orthodoxen, doch allmählich verschaffte die Minderheit sich Gehör. Clemens hatte seinen Besuchswunsch angemeldet, aber die Gespräche über einen Papstbesuch wurden durch den Eigentumsstreit behindert.

Die ganze Angelegenheit gehörte zu jenen komplizierten politischen Balanceakten, die Micheners Zeit ausfüllten. Eigentlich war er gar kein Priester mehr. Er war Regierungsminister, Diplomat und persönlicher Vertrauter und all das würde mit Clemens letztem Atemzug enden. Danach würde er vielleicht ins Priesteramt zurückkehren. Er hatte niemals einer Gemeinde gedient. Missionsarbeit würde er als Herausforderung betrachten. Kardinal Ngovi hatte sich mit ihm über Kenia unterhalten. Afrika mochte einem ehemaligen päpstlichen Privatsekretär eine ausgezeichnete Zuflucht bieten, insbesondere, wenn Clemens starb, ohne ihn vorher zum Kardinal zu ernennen.

Er schob die Gedanken an seine ungewisse Zukunft beiseite und ging zum Terminal. Das Gebäude war seit dem letzten Mal in die Höhe gewachsen. Der Tag war düster und kalt. Acht Grad hatte der Pilot kurz vor der Landung angesagt. Der Himmel war von dicken, tief hängenden Wolken bedeckt, die den Sonnenstrahlen nicht die kleinste Chance gaben.

Zielstrebig betrat er den Terminal und ging zur Passkontrolle. Er hatte nur für zwei Tage gepackt und sich gemäß Clemens Bitte unauffällig gekleidet. Jeans, Pullover und Jackett.

Mit seinem vom Vatikan ausgestellten Reisepass war er von der sonst üblichen Visumsgebühr befreit. Am Flughafen konnte er mit Euro zahlen, mietete gleich nach der Grenzkontrolle einen zerbeulten Ford Fiesta und ließ sich von einem der Angestellten den Weg nach Zlatna beschreiben. Immerhin konnte er so viel Rumänisch, dass er die Anweisungen des Rothaarigen halbwegs verstand.

Die Aussicht, allein in einem der ärmsten Länder Europas herumzukurven, machte ihn nicht gerade glücklich. Gestern Abend hatte er recherchiert und war auf mehrere offizielle Stellen gestoßen, die vor Dieben und Überfällen warnten, insbesondere nachts und auf dem Land. Er hätte gerne den päpstlichen Nuntius in Bukarest um Unterstützung gebeten. Einer von dessen Leuten hätte ihm als Fahrer und Führer dienen können, doch das hatte Clemens nicht zugelassen. Daher stieg er in den Mietwagen, verließ den Flughafen und fand schließlich die Autobahn Richtung Nordwesten nach Zlatna.

 

Katerina stand am Rand des zentralen Platzes in Zlatna. Die Pflastersteine waren uneben, viele fehlten, und noch mehr waren halb zerbröckelt. Die Leute hasteten hin und her. Sie hatten wichtigere Sorgen: Essen, Heizmaterial und Wasser. Ein kaputtes Straßenpflaster war wirklich ihr kleinstes Problem.

Vor zwei Stunden war Katerina in Zlatna eingetroffen, und sie hatte die erste Stunde dazu genutzt, sich über Andrej Tibor zu informieren. Dabei ging sie vorsichtig vor, denn die Rumänen waren, gelinde gesagt, ein neugieriges Volk. Nach Valendreas Informationen sollte Michener kurz nach 11 Uhr gelandet sein. Für die Strecke von Bukarest würde er gut zwei Stunden brauchen. Ihre Uhr zeigte 13.20 Uhr. Wenn sein Flug pünktlich gewesen war, sollte er also bald eintreffen.

Es war ein merkwürdiges und doch tröstliches Gefühl, wieder in ihrer Heimat zu sein. Sie war in Bukarest geboren und aufgewachsen, hatte aber einen großen Teil ihrer Kindheit auf der anderen Seite der Karpaten in Transsilvanien verbracht. Diese Region war für sie nicht das Land der Vampire und Werwölfe die gab es nur in Romanen. Sie nannte die Gegend auch Erdély oder Siebenbürgen, und dort gab es tiefe Wälder, Burgen und herzliche Leute. Die ungarische und die deutsche Kultur prägten das Zusammenleben der Menschen, darüber hinaus gab es die Einflüsse der Roma-Kultur. Katerinas Vater war ein Nachkomme sächsischer Einwanderer, die dort im zwölften Jahrhundert angesiedelt worden waren, um die Gebirgspässe gegen Tartareneinfälle zu schützen. Der Volksstamm hatte Jahrhunderte von Despoten und rumänischen Monarchen überstanden, war dann aber nach dem Zweiten Weltkrieg von den Kommunisten vernichtet und vertrieben worden.

Die Eltern ihrer Mutter waren Roma, und mit dieser Minderheit sprangen die Kommunisten alles andere als sanft um. Sie wurde diskriminiert und verfolgt. Zlatna mit seinen Holzhäusern, Veranden und dem Bahnhof im Mogul-Stil erinnerte Katerina an das Dorf ihrer Großeltern. Während Zlatna jedoch von den in dieser Gegend häufigen Erdbeben verschont geblieben war und Ceauºescus Kollektivierungen überstanden hatte, war das Dorf ihrer Großeltern wie zwei Drittel der ländlichen Gemeinden systematisch abgerissen worden; die Einwohner hatte man in triste Wohnblocks umquartiert. Die Eltern ihrer Mutter waren schändlicherweise sogar gezwungen worden, das eigene Haus einzureißen. Bäuerliche Erfahrung mit marxistischer Effizienz verbinden, so hieß das. Traurigerweise hatten nur wenige Rumänen das Verschwinden der Zigeunerdörfer beklagt. Katerina erinnerte sich, wie sie später die Großeltern in der neuen, anonymen Wohnung besucht hatte. Die schäbigen grauen Räume waren nicht mehr vom Geist der Vorfahren beseelt, das Eigentliche, die Lebendigkeit, war verschwunden. Und genau darum war es ja gegangen. Später in Bosnien nannte man das ethnische Säuberungen. Ceauºescu benutzte lieber den Ausdruck Fortschritt. Katerina selbst nannte es Wahnsinn. Mit den Bildern und Geräuschen Zlatnas kamen auch all diese hässlichen Erinnerungen zurück.

Von einem Schuster erfuhr Katerina, dass es im Umkreis drei staatliche Waisenhäuser gab. Das Haus, in dem Tibor arbeitete, hatte den schlimmsten Ruf. Es lag westlich der Stadt und war für todkranke Kinder bestimmt, von denen es infolge Ceauºescus wahnwitziger Politik viele gab.

Der Diktator hatte Empfängnisverhütung verboten und erklärt, bis zum Alter von fünfundvierzig Jahren solle jede Frau mindestens fünf Kinder zur Welt bringen. Die Folge war ein Kinderreichtum, mit dem viele Eltern nicht mehr fertig wurden. Zahlreiche Säuglinge wurden einfach ausgesetzt. AIDS, Tuberkulose, Hepatitis und Syphilis forderten ihren Tribut. Schließlich schossen überall Waisenhäuser empor, die kaum mehr waren als Müllhalden. Um die ungewollten Kinder mussten sich nun Fremde kümmern.

Außerdem hatte Katerina erfahren, dass Tibor Bulgare war und sich dem achtzigsten Lebensjahr näherte vielleicht hatte er es auch schon überschritten, das wusste keiner so genau. Er war als frommer Mann bekannt, der sich im Rentenalter um Kinder kümmerte, die bald vor ihren Gott treten würden. Sie fragte sich, wie viel Mut man brauchte, um ein sterbendes Kleinkind zu trösten oder einem Zehnjährigen zu erzählen, dass er nun bald an einen Ort käme, wo er es besser haben würde. Sie selbst glaubte nichts dergleichen. Sie war seit jeher Atheistin. Die Religion war von Menschen gemacht worden genau wie Gott selbst. Sie betrachtete den Glauben als eine andere Art von Politik. Wie bekam man die Massen besser in den Griff als durch die Angst vor dem Zorn eines allmächtigen Wesens? Besser, man vertraute auf sich selbst, glaubte an seine eigenen Fähigkeiten und kam mit eigener Kraft in der Welt voran. Beten war etwas für die Schwachen und Trägen. Sie hatte so etwas niemals gebraucht.

Abermals ein Blick auf die Uhr: kurz nach halb.

Es wurde Zeit, zum Waisenhaus zu gehen.

Sie machte sich auf den Weg und überquerte den Platz. Darüber, was zu tun war, wenn Michener eintraf, musste sie sich noch klar werden.

Aber ihr würde schon was einfallen.

 

Michener erblickte das Waisenhaus und nahm den Fuß vom Gas. Einen Teil der Fahrt von Bukarest hatte er auf der Autostrada zurückgelegt, einer überraschend gut ausgebauten vierspurigen Schnellstraße. Ganz anders war dagegen die Landstraße gewesen, auf der er zuletzt gefahren war. Die Straßenränder waren zerbröckelt, der Asphalt von Schlaglöchern wie Mondkratern überzogen, und die Wegweiser waren so verwirrend, dass er sich zweimal verfahren hatte. Vor kurzem hatte er die eindrucksvolle Schlucht des Flusses Olt überquert, die zwischen zwei bewaldeten Bergrücken eingeschnitten war. Auf dem Weg nach Norden hatte die Landschaft sich verändert. Wiesen und Felder waren Hügeln und schließlich dem Gebirge gewichen. Unterwegs hatte Michener immer wieder die schwarzen Rauchfahnen von Fabrikschloten gesehen, die sich schlangengleich in den Himmel wanden.

Bei einem Metzger in Zlatna hatte er sich nach dem Priester erkundigt und erfahren, wo dieser zu finden war. Das Waisenhaus lag in einem zweigeschossigen Gebäude. Die Löcher und Narben in dem roten Ziegeldach zeugten von der schwefelhaltigen Luft, die auch im Hals kratzte. Vor den Fenstern waren Eisengitter, die meisten Scheiben wurden von Klebeband zusammengehalten. Viele waren weiß überstrichen, und Michener fragte sich, ob man daran gehindert werden sollte, hinaus- oder hineinzusehen.

Er rollte in den ummauerten Hof und stellte den Motor ab.

Der harte Boden war dicht mit Unkraut bewachsen. Auf einer Seite standen eine verrostete Schaukel und eine Rutsche. Irgendetwas Schwarzes, Schmieriges lief an der gegenüberliegenden Mauer entlang und mochte der Grund für den fauligen Geruch sein, der ihn beim Aussteigen begrüßte. Aus der Haustür trat eine Nonne, gekleidet in ein knöchellanges, braunes Gewand.

»Guten Tag, Schwester. Mein Name ist Colin Michener. Ich bin Geistlicher und würde gerne mit Hochwürden Tibor sprechen.« Er sprach Englisch, lächelte und hoffte, dass sie ihn verstand.

Die schon etwas ältere Frau führte die zusammengelegten Hände vor die Brust und begrüßte ihn mit einer leichten Verbeugung. »Willkommen, Hochwürden. Mir war nicht bewusst, dass Sie Geistlicher sind.«

»Ich bin im Urlaub und habe die Soutane zu Hause gelassen.«

»Sind Sie mit Hochwürden Tibor befreundet?« Sie sprach ein ausgezeichnetes, akzentfreies Englisch.

»Eigentlich nicht. Sagen Sie ihm doch bitte, dass ich ein Kollege bin.«

»Er ist drinnen. Bitte folgen Sie mir.« Sie zögerte einen Moment lang. »Haben Sie schon einmal einen solchen Ort besucht, Hochwürden?«

Eine seltsame Frage, fand er. »Nein, Schwester.«

»Bitte versuchen Sie, mit den Kindern Geduld zu haben.«

Er nickte und folgte ihr die fünf halb zerfallenen Stufen der Haustreppe hinauf. Der Geruch im Inneren des Hauses war eine grauenhafte Mischung aus Urin, Kot und Verwahrlosung. Er atmete ganz flach, damit ihm nicht schlecht wurde, am liebsten hätte er sich die Nase zugehalten, doch er wollte nicht unhöflich sein. Unter seinen Schuhsohlen knirschten Scherben, und von den Wänden blätterte Farbe ab wie Haut, die sich nach einem Sonnenbrand schält.

Aus den Zimmern kamen Kinder gelaufen. Es waren etwa dreißig, lauter Jungen vom Kleinkindalter bis zur Pubertät. Sie umdrängten ihn. Ihre Schädel waren kahl geschoren, wegen der Läuse, wie die Nonne erklärte. Manche hinkten, andere schienen ihre Muskulatur nicht unter Kontrolle zu haben. Viele schielten, andere hatten Sprechstörungen. Sie befühlten ihn mit ihren rissigen Händen, zerrten an ihm und kämpften schreiend um seine Aufmerksamkeit. Ihre Stimmen waren rau, und sie sprachen in verschiedenen Sprachen, überwiegend Russisch und Rumänisch. Einige fragten ihn, wer er sei und warum er gekommen sei. In der Stadt hatte er erfahren, dass die meisten von ihnen todkrank oder behindert waren. Die Szene wirkte noch unwirklicher, weil viele Jungen Röcke und Frauenkleider trugen, zum Teil auch zusätzlich zur Hose. Offensichtlich zogen sie einfach an, was ihnen passte, egal was. Alle waren mager und knochig, und im Moment bestanden sie fast nur aus Augen. Die wenigsten hatten Zähne im Mund. Arme, Beine und das Gesicht waren von offenen Wunden bedeckt. Er versuchte, jeden Hautkontakt zu vermeiden. Gestern Abend hatte er gelesen, dass viele der vergessenen Kinder Rumäniens mit AIDS infiziert waren.

Er wollte ihnen sagen, dass Gott sie nicht vergaß und ihre Leiden einen Sinn hatten. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, trat ein hoch gewachsener Mann in einem schwarzen Geistlichengewand in den Korridor. Ein kleiner Junge auf seinem Arm klammerte sich verzweifelt an ihm fest. Das Haar des alten Mannes war kurz geschnitten, und alles an seinem Schritt, seinem Gesicht und seinem Auftreten sprach von großer Sanftmut. Er trug eine Stahlrandbrille; seine großen, runden Augen waren braun. Er war mager und drahtig, doch seine Arme wirkten hart und muskulös.

»Hochwürden Tibor?«, fragte Michener auf Englisch.

»Wie ich hörte, sind Sie ein Kollege.« Sein Englisch hatte einen osteuropäischen Akzent.

»Mein Name ist Colin Michener.«

Der alte Priester setzte das Kind ab. »Dumitru hat gerade seine tägliche Therapie. Sagen Sie mir, warum ich ihn warten lassen sollte, um mit Ihnen zu reden?«

Michener wunderte sich über die Feindseligkeit in der Stimme des alten Mannes. »Der Papst braucht Ihre Hilfe.«

Tibor holte tief Luft. »Wird ihm etwa endlich bewusst, in welcher Lage wir uns hier befinden?«

Colin Michener wollte unter vier Augen mit ihm sprechen, die Zuhörer und vor allem die Nonne störten ihn. Die Kinder zerrten und zupften immer noch an seinen Kleidern. »Wir sollten uns privat unterhalten.«

Hochwürden Tibor taxierte Michener mit gelassener, fast ausdrucksloser Miene. Michener staunte über die ausgezeichnete körperliche Verfassung seines Gastgebers und hoffte, dass er selbst mit achtzig auch nur halb so gut in Form sein würde.

»Nehmen Sie die Kinder mit, Schwester. Und kümmern Sie sich um Dumitrus Therapie.«

Die Nonne nahm den kleinen Jungen auf den Arm und führte die Truppe den Gang hinunter. Tibor erteilte Anweisungen auf Rumänisch. Michener verstand sie zum Teil, wollte aber Genaueres erfahren: »Was für eine Therapie bekommt der Junge?«

»Wir massieren einfach nur seine Beine, damit er vielleicht irgendwann laufen lernt. Wahrscheinlich ist es umsonst, aber andere Mittel stehen uns nicht zur Verfügung.«

»Es gibt keinen Arzt?«

»Wir sind schon froh, wenn wir genug zu essen für die Kinder haben. An ärztliche Hilfe ist nicht zu denken.«

»Warum machen Sie das?«

»Eine sonderbare Frage aus dem Mund eines Priesters. Diese Kinder brauchen uns.«

Das Grauen, das er gerade gesehen hatte, ließ ihn nicht mehr los. »Ist es im ganzen Land so schlimm?«

»Hier ist sogar eines der besseren Häuser. Wir haben hart gearbeitet, damit man hier irgendwie leben kann. Doch wie Sie sehen, bleibt noch viel zu tun.«

»Geld?«

Tibor schüttelte den Kopf. »Nur das, was die Hilfsorganisationen uns gelegentlich zukommen lassen. Die Regierung tut wenig für uns, die Kirche so gut wie gar nichts.«

»Sie sind auf eigene Faust hierher gekommen?«

Der alte Mann nickte. »Nach der Revolution las ich über die Waisenhäuser und beschloss, hierher zu kommen. Das war vor zehn Jahren. Seitdem war ich niemals weg.«

Die Stimme des Priesters klang noch immer recht scharf, und so fragte Michener: »Warum begegnen Sie mir so feindselig?«

»Ich frage mich, was der Privatsekretär des Papstes von einem alten Mann will.«

»Sie wissen, wer ich bin?«

»Ich bin nicht von der Welt abgeschnitten.«

Andrej Tibor war alles andere als ein Dummkopf. Vielleicht hatte Papst Johannes XXIII. eine kluge Wahl getroffen, als er Lucias Niederschrift von diesem Mann übersetzen ließ. »Ich habe einen Brief des Heiligen Vaters bei mir.«

Tibor ergriff Michener sanft beim Arm. »Das hatte ich befürchtet. Gehen wir in die Kapelle.«

Sie gingen durch den Flur auf den Ausgang zu. Die Kapelle war ein winziger Raum, der Fußboden mit Karton ausgelegt und sandig. Die Wände waren aus nacktem Stein, die Holzdecke wirkte baufällig. Das einzige christliche Symbol war ein Buntglasfenster mit der Madonna. Die mosaikartige, farbenfrohe Gestalt hatte die Arme ausgebreitet und schien alle, die ihren Trost suchten, umarmen zu wollen.

Tibor deutete auf das Bild. »Das habe ich nicht weit von hier in einer Kirche gefunden, die vor dem Abriss stand. Einer der Freiwilligen, die immer im Sommer kommen, hat es hier für mich eingebaut. Die Kinder hängen sehr daran.«

»Sie wissen, warum ich hier bin, nicht wahr?«

Tibor erwiderte nichts.

Michener griff in seine Jacketttasche, zog den blauen Umschlag heraus und reichte ihn Tibor.

Der Priester nahm ihn entgegen und trat ans Fenster. Er riss ihn auf und zog Clemens Brief hervor. Mit ausgestrecktem Arm versuchte er, ihn im trüben Licht zu entziffern.

»Es ist eine Weile her, seit ich zum letzten Mal Deutsch gelesen habe«, bemerkte Tibor. »Aber es kommt wieder.« Er las zu Ende. »Als ich dem Papst schrieb, hatte ich gehofft, er würde einfach tun, worum ich ihn bat, und keine weiteren Fragen stellen.«

Michener hätte gerne gewusst, worum der Priester gebeten hatte, sagte aber stattdessen: »Haben Sie eine Antwort für den Heiligen Vater?«

»Ich habe viele Antworten. Welche soll ich ihm geben?«

»Diese Entscheidung können nur Sie treffen.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach.« Er deutete mit dem Kopf auf das Buntglasfenster: »Sie hat es so kompliziert gemacht.«

Tibor stand einen Moment lang schweigend da, drehte sich dann um und sah Michener an. »Sind Sie in Bukarest abgestiegen?«

»Wünschen Sie das?«

Tibor gab ihm den Umschlag zurück. »In der Nähe der Piaþa Revoluþiei gibt es ein Restaurant, das Café Krom. Es ist leicht zu finden. Kommen Sie um zwanzig Uhr. Ich werde über die Angelegenheit nachdenken und Ihnen dann eine Antwort geben.«

15

Michener fuhr südwärts nach Bukarest, den Kopf voll mit den Bildern des Waisenhauses.

Wie viele dieser Kinder, so hatte auch er seine leiblichen Eltern nie kennen gelernt. Erst als Erwachsener hatte er erfahren, dass seine leibliche Mutter aus Clogheen, einem kleinen irischen Dorf im Norden Dublins stammte. Sie war noch keine zwanzig gewesen und unverheiratet, als sie schwanger wurde. Sein leiblicher Vater war nicht bekannt zumindest hatte seine leibliche Mutter das standhaft behauptet. Damals war eine Abtreibung undenkbar, und in der irischen Gesellschaft begegnete man unverheirateten Müttern mit geradezu brutaler Ablehnung.

In dieser Situation wurde die Kirche tätig.

Entbindungsheime hatte der Erzbischof von Dublin diese Stätten genannt, doch sie waren kaum mehr als Müllhalden für die Ungewollten, ähnlich wie der Ort, den er gerade verlassen hatte. Die Häuser wurden alle von Nonnen geleitet die keineswegs so liebevoll waren wie die Schwester in Zlatna, sondern schwierige Persönlichkeiten, die ihre Schützlinge, die künftigen Mütter, wie Verbrecherinnen behandelten.

Die Frauen wurden bis kurz vor der Geburt und im Anschluss daran zu erniedrigenden Arbeiten gezwungen und erhielten dafür kaum oder gar kein Geld. Manche wurden geschlagen, andere bekamen nicht genug zu essen, und fast alle wurden schlecht behandelt. In den Augen der Kirche waren sie Sünderinnen, und die ihnen aufgezwungene Buße war der einzige Weg, ihre Seelen zu retten. Die meisten dieser Frauen waren aber einfache Mädchen vom Land, die es sich nicht leisten konnten, ein Kind großzuziehen. Manche waren Geliebte von verheirateten Männern, die die Vaterschaft entweder abstritten oder geheim halten wollten. Andere waren verheiratete Frauen, die das Pech hatten, gegen den Willen ihres Mannes schwanger geworden zu sein. Was sie alle miteinander verband, war die Scham. Keine von ihnen war bereit, sich oder ihre Familie um eines ungewollten Kindes willen vor den Augen der Öffentlichkeit bloßzustellen.

Nach der Geburt blieben die Kinder ein bis zwei Jahre in den Zentren und wurden langsam von der Mutter entwöhnt jeden Tag ein bisschen weniger Kontakt. Dass der Abschied bevorstand, erfuhr die Mutter erst unmittelbar zuvor. Man teilte ihr mit, dass am nächsten Tag ein amerikanisches Ehepaar kommen werde. Nur Katholiken durften diese Kinder adoptieren, und sie mussten sich verpflichten, sie katholisch zu erziehen und ihre Herkunft geheim zu halten. Eine Spende an die Sacred Heart Adoption Society, die für die Adoptionen gegründete Organisation, war erwünscht, aber keine Bedingung. Es war gestattet, den Kindern von der Adoption zu erzählen. Allerdings sollten die neuen Eltern den Kindern sagen, dass die leiblichen Eltern gestorben seien. So wollten es die meisten der leiblichen Mütter sie hofften, dass die Schande ihres Fehltritts mit der Zeit verblassen würde. Niemand sollte wissen, dass sie ein Kind weggegeben hatten.

Michener erinnerte sich lebhaft an den Tag, als er sein eigenes Entbindungsheim, den Ort seiner Geburt, besucht hatte. Der graue Kalksteinbau lag in einer Gemeinde namens Kinnegad in einem engen, waldreichen Tal in der Nähe der Irischen See. Er hatte das verlassene Gebäude durchwandert und sich vorgestellt, wie seine eingeschüchterte Mutter sich in der Nacht vor dem endgültigen Verlust ihres Kleinen in die Kinderstation geschlichen und allen Mut zusammengenommen hatte, um sich von ihm zu verabschieden. Gewiss hatte sie sich gefragt, warum die Kirche und Gott solche Qualen zuließen. War ihre Sünde denn so groß? Falls aber ja, warum wog die des Vaters dann nicht ebenso schwer? Warum musste sie allein alle Schuld auf sich nehmen?

Und allen Schmerz.

Er hatte vor einem Fenster im Obergeschoss gestanden und auf einen Maulbeerbaum hinuntergeblickt. Nur ein trockener Wind hatte die Stille durchbrochen, der durch die Räume heulte wie früher das Jammern der unglücklichen Säuglinge. Er hatte den Schreck und das Grauen nachempfunden, mit dem diese Mütter einen letzten verstohlenen Blick auf ihre Kinder geworfen hatten, die zum wartenden Wagen getragen wurden. Seine leibliche Mutter war eine dieser Frauen gewesen. Ihren Namen würde er niemals erfahren. Die Kinder hatten in der Regel keine Nachnamen erhalten, und so war es unmöglich, Kinder und Mütter einander zuzuordnen. Das Wenige, was er über sich wusste, hatte er von einer Nonne erfahren, die die meisten Einzelheiten längst vergessen hatte.

Über zweitausend Babys hatten Irland auf diese Weise verlassen, eines von ihnen ein Kleinkind mit hellbraunem Haar und leuchtend grünen Augen. Sein Bestimmungsort: Savannah, Georgia. Sein Adoptivvater war Anwalt gewesen, und seine Mutter hatte wirklich alles für ihren neuen Sohn getan. Er wuchs in Atlantiknähe in einem gehobenen Mittelschichtviertel auf. Er war ein ausgezeichneter Schüler, wurde später Priester, und all das war für seine Adoptiveltern eine große Freude. In Europa studierte er zusätzlich Jura und fand Trost bei einem einsamen Bischof, der ihn wie einen Sohn liebte. Jetzt arbeitete er immer noch für diesen Bischof, der inzwischen Papst geworden war. Sie alle gehörten zu ebender Kirche, die in Irland so schrecklich versagt hatte.

Er hatte seine Adoptiveltern innig geliebt. Wie vereinbart, hatten sie ihm gegenüber immer erklärt, dass seine leiblichen Eltern ums Leben gekommen seien. Erst auf dem Totenbett hatte seine Mutter ihm die Wahrheit gesagt das Geständnis einer frommen Frau vor ihrem zum Priester geweihten Sohn, in der Hoffnung, dass sowohl er als auch Gott ihr verzeihen würden.

Seit Jahren sehe ich sie vor mir, Colin. Was sie empfunden haben muss, als wir dich mitnahmen. Dort hat man mir versichert, es sei so für alle das Beste. Ich selbst habe versucht, mir das immer wieder zu sagen. Aber sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf.

Er hatte hilflos geschwiegen.

Wir haben uns so sehr ein Kind gewünscht. Und der Bischof erklärte uns, ohne unser Eingreifen hättest du ein hartes Leben vor dir. Aber deine Mutter geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich würde ihr gerne sagen, dass es mir Leid tut. Ich würde ihr gerne sagen, dass wir dich in Liebe großgezogen haben. Ich habe dich so geliebt, wie sie dich geliebt hätte. Vielleicht könnte sie uns dann verzeihen.

Aber es gab nichts zu verzeihen. Die Gesellschaft trug die Schuld. Die Kirche. Nicht die Tochter eines Farmers in South Georgia, die keine eigenen Kinder bekommen konnte. Sie hatte nichts Falsches getan, und er hatte Gott angefleht, ihr Frieder zu schenken.

In den letzten Jahren hatte er kaum noch über diese ferne Vergangenheit nachgedacht, doch das Waisenhaus hatte nun all das wieder aufgewühlt. Noch hatte er den Gestank in der Nase, und er machte das Fenster auf und ließ den kalten Wind herein, um diese Erinnerung irgendwie loszuwerden.

Diese Kinder würden niemals Gelegenheit zu einer Reise nach Amerika bekommen und niemals die Liebe von Eltern erfahren, die sie wirklich haben wollten. Ihre Welt war auf das Innere grauer Mauern und Wände begrenzt, auf ein eisenvergittertes Haus ohne elektrisches Licht und beinahe unbeheizt. So würden sie sterben, allein und vergessen, nur von ein paar Nonnen und einem alten Priester geliebt.

16

Michener suchte ein Hotel, das nicht in der Nähe der Piaþa Revoluþiei und des lebhaften Universitätsviertels lag, und entschied sich für ein bescheidenes Etablissement in der Nähe eines idyllischen Parks. Die Zimmer waren klein und sauber, die Art-Déco-Möblierung wirkte jedoch seltsam unangemessen. Sein Zimmer war mit einem Waschbecken ausgestattet, und er bekam sogar erstaunlich heißes Wasser. Gemeinschaftsdusche und Toiletten befanden sich auf dem Gang.

Er saß am einzigen Fenster des Raums, trank Cola light und aß ein Stück Gebäck, um die Zeit bis zum Abendessen zu überbrücken. In der Ferne schlug eine Uhr fünf.

Nachdem Tibor die Nachricht gelesen hatte, sollte Michener sie eigentlich vernichten, ohne selbst einen Blick darauf zu werfen. Clemens vertraute darauf, dass er seine Anweisungen befolgen würde, und Michener hatte seinen Gönner noch nie enttäuscht, auch wenn ihm seine Beziehung zu Katerina immer als Verrat erschienen war. Er hatte sein Gelübde gebrochen, sich der Kirche widersetzt und seinen Gott gekränkt. Das war unverzeihlich. Clemens allerdings hatte das anders gesehen.

Glaubst du etwa, du seist als einziger Priester der Versuchung erlegen?

Das macht es nicht besser.

Colin, Vergebung ist das Kennzeichen unseres Glaubens. Du hast gesündigt und sollst es bereuen. Das heißt aber nicht, dass du dein Leben wegwerfen sollst. Außerdem, war es denn wirklich eine so große Sünde?

Er erinnerte sich noch immer an den neugierigen Blick, den er dem damaligen Erzbischof von Köln zugeworfen hatte. Was hatte er damit sagen wollen?

Hat es sich wie eine Sünde angefühlt? Hat dein Herz dir gesagt, dass es falsch ist?

Die Antwort auf beide Fragen lautete damals wie heute: Nein. Er hatte Katerina geliebt. Diese Tatsache ließ sich nicht bestreiten. Sie war damals, kurz nach dem Tod seiner Mutter, als er mit seiner Vergangenheit rang, in sein Leben getreten. Sie hatte ihn auf der Reise zu diesem Entbindungsheim in Kinnegad begleitet. Hinterher waren sie über die Klippen am Meer entlang spaziert. Sie hatte ihn bei der Hand gehalten und ihm gesagt, dass seine Adoptiveltern ihn geliebt hätten und er froh sein könne, zwei so liebe Menschen hinter sich zu wissen. Natürlich hatte sie Recht gehabt. Trotzdem musste er ständig an seine leibliche Mutter denken. Konnte die Gesellschaft Frauen wirklich so sehr unter Druck setzen, dass sie freiwillig ihre Kinder aufgaben, um selbst normal weiterleben zu können?

Warum war so etwas überhaupt nötig?

Er trank seine Cola leer und starrte auf den Umschlag. Sein ältester und liebster Freund, ein Mensch, der sein halbes Leben für ihn da gewesen war, steckte in Schwierigkeiten.

Also traf er eine Entscheidung. Es war Zeit zu handeln.

Er griff nach dem Umschlag und zog den blauen Brief hervor. Der Text war deutsch und in Clemens Handschrift verfasst.

 

Sehr geehrter Herr Hochwürden Tibor,

 

ich weiß, welchen Auftrag Sie für den tief verehrten Johannes XXIII. ausführten. Ihre erste Botschaft hat mir große Sorgen bereitet. »Warum lügt die Kirche?«, so lautete Ihre Frage. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was Sie damit meinten. Nach Ihrer zweiten Kontaktaufnahme verstehe ich nun, vor welchem Dilemma Sie stehen. Ich habe mir Ihre Kopie des dritten Geheimnisses, die Ihrem ersten Brief beilag, angesehen und Ihre Übersetzung immer wieder gelesen. Warum haben Sie dieses Beweisstück zurückgehalten? Selbst als das dritte Geheimnis von Johannes Paul enthüllt wurde, haben Sie weiter geschwiegen. Wenn das, was Sie mir geschickt haben, wahr ist, hätten Sie damals Ihre Stimme erheben sollen. Warum haben Sie es nicht getan? Mancher würde Sie unter diesen Umständen als Betrüger ansehen und Ihnen keinen Glauben schenken, doch ich weiß, dass das ein Irrtum wäre. Warum? Das kann ich nicht erklären. Ich weiß einfach nur, dass ich Ihnen glaube. Ich habe Ihnen meinen Privatsekretär geschickt. Er ist vertrauenswürdig. Sie können dem Hochwürdigen Herrn alles Nötige anvertrauen. Er wird Ihre Worte nur an mich weitergeben. Sollten Sie keine Antwort für mich haben, so richten Sie ihm das bitte aus. Ich verstehe, dass die Kirche Sie zutiefst enttäuscht und verärgert hat. Ich selbst habe manchmal ähnliche Gedanken. Aber es gibt vieles zu bedenken, wie Sie mit Sicherheit wissen. Ich möchte Sie bitten, den Umschlag mit diesem Brief an Monsignore Michener zurückzugeben. Ich danke Ihnen für alles, was Sie in diesem Fall für uns tun können und wollen. Gott sei mit Ihnen, Hochwürden.

 

Clemens

P. P. Servus Servorum Dei

 

Es war die offizielle Unterschrift des Papstes. Hirte der Hirten, Diener der Diener Gottes. So unterzeichnete Clemens jedes offizielle Dokument.

Michener hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Clemens Vertrauen missbraucht hatte. Doch hier braute sich ganz offensichtlich etwas zusammen. Tibor musste beim Papst Eindruck gemacht haben, sonst hätte dieser nicht seinen Privatsekretär losgeschickt, sich ein Bild der Lage zu machen. Warum haben Sie dieses Beweisstück zurückgehalten?

Was für ein Beweisstück?

Ich habe mir Ihre Kopie des dritten Geheimnisses, die Ihrem ersten Brief beilag, angesehen und Ihre Übersetzung immer wieder gelesen.

Lagen diese beiden Schriftstücke nun in der Riserva? Waren sie in der hölzernen Schatulle, die Clemens in letzter Zeit so oft öffnete?

Unmöglich zu sagen.

Er wusste noch immer gar nichts.

Also steckte er das Schreiben wieder in den Umschlag zurück, ging zum Gemeinschaftsbad im Gang, zerriss alles in kleine Fetzen und spülte diese die Toilette hinunter.

 

Katerina lauschte Colin Micheners Schritten auf dem Dielenboden im Zimmer über ihr.

Sie war ihm von Zlatna nach Bukarest gefolgt, weil es ihr wichtiger erschien, sein Hotel zu kennen, als zu erfahren, was Hochwürden Tibor weiter unternahm. Sie war nicht überrascht gewesen, als er am Stadtzentrum vorbeifuhr und sich ein recht einfaches Hotel suchte. Er hatte auch das Büro des päpstlichen Nuntius in der Nähe des Centru Civic gemieden wiederum keine Überraschung, denn Valendrea hatte ihr ja deutlich erklärt, dass Michener keinen offiziellen Besuch machte.

Bei ihrer Fahrt durch das Stadtzentrum machte es sie traurig, dass die endlosen gelben Plattenbauten noch immer diesen orwellhaft konformen Look hatten einer sah aus wie der andere. Ceauºescu hatte damals die ganze Altstadt platt gemacht, um Raum für seine »grandiose« Stadtentwicklung zu schaffen. Irgendwie hatte er geglaubt, durch die reine Größe werde etwas Bedeutendes entstehen, und da spielte es keine Rolle, dass keiner die teuren und unpraktischen Gebäude wollte. Der Staat verkündete, dass das Volk dankbar zu sein habe, und inhaftierte die Undankbaren. Wenn sie Glück hatten, wurden sie vorher erschossen.

Ein halbes Jahr nach Ceauºescus Hinrichtung hatte sie das Land verlassen, nachdem sie an den ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte des Landes teilgenommen hatte. Als lauter ehemalige Kommunisten gewählt wurden, begriff sie, wie wenig sich auf die Schnelle ändern würde, und nun stellte sie fest, wie richtig ihre Vorhersage damals gewesen war. Noch immer lag etwas Trauriges über Rumänien. Das hatte sie in Zlatna so gespürt und ebenso auf den Straßen von Bukarest. Es war wie eine Totenwache. Ein bisschen wie ihr eigenes Leben. Was war schon aus ihr geworden? In den letzten zwölf Jahren hatte sie kaum etwas erreicht. Ihr Vater hatte sie bedrängt, doch im Land zu bleiben und für die neue, angeblich freie rumänische Presse zu arbeiten, doch das ganze Spektakel war ihr einfach zu viel geworden. Während des Aufstands war sie voll dabei gewesen, doch danach empfand sie nur Überdruss. Sollten andere den rauen Beton glätten sie selbst mischte lieber die Rohstoffe an. Sie verließ Rumänien, zog durch Europa, fand und verlor Colin Michener und machte sich dann auf den Weg nach Amerika und zu Tom Kealy.

Jetzt aber war sie zurückgekehrt.

Und ein Mann, den sie einmal geliebt hatte, lief ein Stockwerk über ihr im Zimmer herum.

Wie sollte sie eigentlich herauskriegen, was er hier tat? Was hatte Valendrea gesagt? Ich schlage vor, dass Sie einfach dieselben Reize einsetzen wie bei Tom Kealy. Dann wird Ihr Auftrag mit Sicherheit ein voller Erfolg.

Arschloch!

Aber vielleicht hatte er Recht. Der direkte Weg war wohl am vielversprechendsten. Sie kannte Micheners Schwächen natürlich und verübelte sich schon jetzt, dass sie sie ausnutzen würde.

Doch es blieb ihr kaum eine andere Wahl.

Sie stand auf und verließ ihr Zimmer.

17

Vatikanstadt, 17.30 Uhr

 

Valendreas letzter Termin lag für einen Freitagnachmittag recht früh. Dann wurde ein in der französischen Botschaft angesetztes Abendessen plötzlich abgesagt irgendeine Krise in Paris hatte den Botschafter aufgehalten –, und so hatte er plötzlich einen seiner seltenen freien Abende.

Unmittelbar nach dem Mittagessen hatte er eine äußerst unangenehme Stunde mit Clemens verbracht. Eigentlich sollte er den Papst bei diesem Termin über auswärtige Angelegenheiten auf dem Laufenden halten, doch in Wirklichkeit hatten sie sich ununterbrochen gezankt. Ihre Beziehung verschlechterte sich rapide, und das Risiko einer öffentlichen Auseinandersetzung wurde von Tag zu Tag größer. Noch hatte Clemens ihn nicht zum Rücktritt aufgefordert, da der Papst sicherlich hoffte, dass er sein Amt unter Anführung spiritueller Bedenken von sich aus niederlegen würde.

Aber darauf konnte er lange warten.

Einer der Tagesordnungspunkte der heutigen Besprechung waren die Anweisungen gewesen, die der Papst ihm bezüglich des in zwei Wochen geplanten Besuchs des amerikanischen Staatssekretärs erteilte. Washington versuchte, den Papst zur Unterstützung seiner politischen Initiativen in Brasilien und Argentinien zu bewegen. Die Kirche war in Südamerika eine politische Kraft, und Valendrea hatte seine Bereitschaft signalisiert, den Einfluss des Vatikans zugunsten Washingtons geltend zu machen. Doch Clemens wollte eine Einmischung der Kirche vermeiden. In dieser Beziehung war er ganz anders als Johannes Paul II. Der Pole hatte zwar in der Öffentlichkeit dieselbe Haltung vertreten, persönlich aber das Gegenteil getan. Mit diesem Ablenkungsmanöver, so hatte Valendrea oft gedacht, hatte er Moskau und Warschau erst in Sicherheit gewiegt, dann aber den Kommunismus in die Knie gezwungen. Der Kardinalstaatssekretär hatte mit eigenen Augen gesehen, was das moralische und spirituelle Oberhaupt einer Milliarde Katholiken gegen oder für eine Regierung bewirken konnte. Was für eine Schande, ein solches Potenzial ungenutzt zu lassen, doch Clemens hatte einen Schulterschluss zwischen den Vereinigten Staaten und dem Heiligen Stuhl verboten. Die Argentinier und Brasilianer würden ihre Probleme alleine lösen müssen.

Es klopfte an der Tür zu seinen Räumlichkeiten.

Er war allein, da er den Hausdiener nach einer Kanne Kaffee geschickt hatte. Also trat er aus seinem Arbeitszimmer, durchquerte den Vorraum und öffnete die Flügeltür zum Korridor. Zwei Schweizergardisten standen mit dem Rücken zur Wand links und rechts der Tür. Zwischen ihnen stand Maurice Kardinal Ngovi.

»Ich hatte mich gefragt, Euer Eminenz, ob wir uns vielleicht einmal kurz unterhalten könnten. Ich rief in Ihrem Büro an und erhielt den Bescheid, Sie hätten sich schon für den Abend zurückgezogen.«

Ngovis Stimme klang leise und gelassen. Valendrea fiel auf, dass er die förmliche Anrede »Euer Eminenz« verwendet hatte, gewiss, weil die Gardisten mithörten. Da Colin Michener derzeit durch Rumänien zog, hatte Clemens offensichtlich die Aufgabe des Laufburschen an Ngovi delegiert.

Er bat den Kardinal herein und gab den Wächtern Anweisung, dass sie nicht gestört werden wollten. Dann führte er Ngovi in sein Arbeitszimmer und bot ihm einen Platz auf einer vergoldeten Polsterbank an.

»Ich würde Ihnen gerne eine Tasse Kaffee anbieten, aber der Hausdiener ist gerade unterwegs, um welchen zu holen.«

Ngovi wehrte mit einer Handbewegung ab. »Das ist nicht nötig. Ich bin zum Reden gekommen.«

Valendrea setzte sich. »Nun, was möchte Clemens?«

»Ich selbst möchte etwas. Was haben Sie mit Ihrem gestrigen Besuch beim Archivar bezweckt? Was sollte diese Einschüchterung des Kardinalarchivars? So etwas ist ungeheuerlich.«

»Ich wüsste nicht, dass die Archive in den Zuständigkeitsbereich der Kongregation für das Katholische Bildungswesen fallen.«

»Beantworten Sie meine Frage.«

»Dann sind Sie also doch in Clemens Auftrag hier.«

Ngovi schwieg, eine Taktik, die der Afrikaner, wie Valendrea aufgefallen war, häufig anwandte und die ihn selbst dazu brachte, zu viel zu verraten.

»Sie beriefen sich dem Archivar gegenüber auf eine Mission, die für die Kirche von größter Bedeutung sei. Und außergewöhnliche Maßnahmen erfordere. Wovon sprachen Sie da?«

Valendrea fragte sich, wie viel der Schlappschwanz aus dem Archiv wohl weitergegeben haben mochte. Gewiss hatte er seine eigene Sünde, die Vergebung einer Abtreibung, nicht gestanden. Das hatte der alte Trottel sich bestimmt nicht getraut. Oder doch? Valendrea beschloss, dass Angriff die beste Verteidigung war. »Wir beide wissen, dass Clemens vom Fatima-Geheimnis besessen ist. Immer wieder geht er in die Riserva.«

»Das ist das Vorrecht des Papstes. Es ist nicht an uns, das zu hinterfragen.«

Valendrea beugte sich im Sitzen vor. »Warum macht sich unser guter Pontifex so große Sorgen um etwas, was alle Welt schon weiß?«

»Diese Frage steht weder Ihnen noch mir zu. Johannes Paul II. hat meine Neugierde mit der Enthüllung des dritten Geheimnisses befriedigt.«

»Sie waren an der Kommission beteiligt, nicht wahr? Der Prüfkommission, die das Dokument analysierte und die offizielle Interpretation verfasste, die mit dem Geheimnis veröffentlicht wurde?«

»Ich hatte die Ehre. Ich hatte mich schon lange für die Abschlussbotschaft der Jungfrau interessiert.«

»Aber der Text entsprach den vorher geweckten Erwartungen so ganz und gar nicht. Er sagte kaum etwas aus, abgesehen von den üblichen Aufforderungen zur Buße und zum Glauben.«

»Er sagte einen Anschlag auf den Papst voraus.«

»Das erklärt, warum die Kirche die Verkündigung all die Jahre unter Verschluss hielt. Man wollte schließlich nicht irgendeinen Irren auf die Idee bringen, er müsse im Auftrag Gottes den Papst erschießen.«

»Wir halten das für das Motiv hinter Johannes XXIII. Anordnung, das Geheimnis zu versiegeln.«

»Und was die Jungfrau vorhergesagt hat, ist eingetreten. Jemand hat versucht, Paul VI. zu erschießen, und dann schoss dieser Türke auf Johannes Paul II. Aber das beantwortet nicht meine Frage, warum Clemens das Bedürfnis hat, immer wieder die ursprüngliche Niederschrift zu lesen.«

»Ich kann nur wiederholen: Es steht weder Ihnen noch mir zu, das zu hinterfragen.«

»Es sei denn, einer von uns beiden würde Papst.« Er wartete ab, ob sein Gegner den Köder schluckte.

»Sie sind nicht Papst, und ich bin es auch nicht. Ihr Versuch war eine Verletzung des kanonischen Gesetzes.« Ngovis Stimme blieb ruhig, und Valendrea fragte sich, ob dieser gelassene Mann jemals die Beherrschung verlor.

»Wollen Sie mich verklagen?«

Ngovi zuckte mit keiner Wimper. »Wenn es Aussicht auf Erfolg hätte, würde ich es sofort tun.«

»Dann müsste ich vielleicht zurücktreten, und Sie könnten mein Nachfolger als Staatssekretär werden. Das würde Ihnen gefallen, nicht wahr, Maurice?«

»Ich würde Sie einfach nur gerne nach Florenz zurückschicken, wo Sie und ihre Medici-Vorfahren hingehören.«

Valendrea riss sich zusammen. Der Afrikaner war ein Meister geschickter Provokationen. Dies hier war eine gute Übung für das Konklave, wo Ngovi mit Sicherheit alles in seiner Macht Stehende tun würde, um ihn zu einer Dummheit herauszufordern. »Ich bin kein Medici, sondern ein Valendrea. Wir waren Gegner der Medici.«

»Aber garantiert erst nach dem einsetzenden Niedergang der Medici. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Ihre Vorfahren schon Opportunisten waren.«

Valendrea erkannte ihre Auseinandersetzung als das, was sie tatsächlich war: Die beiden wichtigsten Konkurrenten um den Papststuhl standen sich Auge in Auge gegenüber. Ihm war vollkommen klar, dass Ngovi sein schwierigster Gegner sein würde. Dass der Erzbischof von Nairobi sich nicht aktiv um die Papstwürde bemühte, machte ihn nur umso gefährlicher. Wenn man ihn nach seinen Plänen befragte, wies der gerissene Hund alle Spekulationen mit einer Handbewegung zurück und berief sich auf seine Achtung vor Clemens XV. Valendrea ließ sich dadurch nicht in die Irre führen. Noch nie hatte ein Afrikaner auf dem Stuhl Petri gesessen. Was für ein Triumph das wäre. Selbst wenn Ngovi keinen persönlichen Ehrgeiz hegte, schlug sein Herz zweifellos für Afrika, und er machte kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass Afrika etwas Besseres verdient hatte als seine gegenwärtige Realität. Und was konnte man für eine bessere Ausgangsbasis haben, soziale Reformen voranzubringen, als als Oberhaupt der katholischen Kirche?

»Geben Sie es auf, Maurice«, sagte Valendrea. »Schließen Sie sich doch lieber der Siegerseite an. Das nächste Konklave werden Sie nicht als Papst verlassen. Das garantiere ich Ihnen.«

»Was mir mehr Sorge macht, ist, dass Sie Papst werden könnten.«

»Ich weiß, dass Sie den afrikanischen Block fest im Griff haben. Aber das sind nur acht Stimmen. Die reichen nicht, um mich aufzuhalten.«

»Sie könnten aber bei einer knappen Entscheidung zum Zünglein an der Waage werden.«

Es war das erste Mal, dass Ngovi von sich aus etwas zum Konklave sagte. War das eine Botschaft?

»Wo hält Hochwürden Ambrosi sich derzeit auf?«, fragte Ngovi.

Jetzt begriff Valendrea den Zweck des Besuchs. Clemens hatte Informationsbedarf. »Wo hält Monsignore Michener sich auf?«

»Wie ich hörte, befindet er sich im Urlaub.«

»Paolo auch. Vielleicht sind sie ja gemeinsam unterwegs.« Er kicherte sarkastisch.

»Ich hoffe doch, dass Colin seine Freunde besser wählt.«

»Richtig. Das hoffe ich auch für Paolo.«

Er fragte sich, weshalb der Papst sich Gedanken über Ambrosi machte. Vielleicht hatte er den Deutschen unterschätzt. »Wissen Sie, Maurice, das vorhin war nur ein Scherz, aber Sie würden wirklich einen ausgezeichneten Staatssekretär abgeben. Durch Ihre Unterstützung im Konklave könnten Sie sich dieses Amt vielleicht sichern.«

Ngovi saß ruhig da, die Hände unter der Soutane gefaltet. »Wie die sprichwörtliche Möhre, mit der man den Esel lockt. Wer gehört denn sonst noch so zu Ihren Grautieren?«

»Nur wer mir etwas zu bieten hat.«

Der Gast erhob sich von der Bank. »Ich rufe Ihnen hiermit die apostolische Verfassung in Erinnerung, die Wahlabsprachen ausdrücklich untersagt. Wir sind beide durch unser Bekenntnis gebunden.«

Ngovi ging Richtung Vorzimmer.

Valendrea blieb sitzen, rief aber dem Kardinal hinterher: »Ich würde nicht zu sehr auf dem Protokoll beharren, Maurice. Bald sehen wir uns alle in der Sixtinischen Kapelle wieder, und dann könnte sich Ihr Schicksalsblatt wenden. Wie, das hängt allerdings ganz allein von Ihnen ab.«

18

Bukarest, 17.50 Uhr

 

Als es klopfte, fuhr Michener zusammen. Außer Clemens und Tibor wusste niemand, dass er sich in Rumänien aufhielt. Und nicht einmal diese beiden hatten eine Ahnung, in welchem Hotel er abgestiegen war.

Er stand auf, ging zur Tür, machte auf und erblickte Katerina Lew. »Wie um alles in der Welt hast du mich gefunden?«

Sie lächelte. »Du selbst hast doch immer gesagt, die einzigen Geheimnisse des Vatikans seien die, die kein einziger Mensch kenne.«

Das hörte er gar nicht gerne. Das Letzte, was Clemens brauchte, war eine Reporterin, die über alles Bescheid wusste. Außerdem, wer hatte ihr eigentlich verraten, dass er Rom verlassen hatte?

»Das mit unserer Begegnung neulich auf dem Platz tut mir Leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.«

»Du bist also bis nach Rumänien gereist, um dich zu entschuldigen?«

»Wir müssen miteinander reden, Colin.«

»Jetzt ist nicht die richtige Zeit.«

»Man sagte mir, du hättest Urlaub. Das ist doch ein guter Zeitpunkt.«

Er bat sie herein und machte die Tür hinter ihr zu. Die Welt war geschrumpft, seit sie zum letzten Mal allein zusammen gewesen waren. Dann kam ihm ein beunruhigender Gedanke. Wenn Katerina so viel über ihn wusste, was musste dann Valendrea erst wissen? Er musste Clemens anrufen und ihn über die undichte Stelle im Papsthaushalt informieren. Doch dann fiel ihm wieder ein, was Clemens gestern in Turin über Valendrea gesagt hatte er weiß alles, was wir tun, alles, was wir sagen –, und da wurde ihm klar, dass der Papst schon Bescheid wusste.

»Colin, wir brauchen nicht so feindselig miteinander umzugehen. Ich verstehe inzwischen viel besser, was vor all diesen Jahren passiert ist. Ich bin sogar bereit zuzugeben, dass ich mich damals manchmal danebenbenommen habe.«

»Das ist mal was Neues.«

Sie reagierte nicht auf den Tadel. »Du hast mir gefehlt. Das ist der eigentliche Grund, aus dem ich nach Rom kam. Um dich zu sehen.«

»Und Tom Kealy?«

»Ich hatte ein Verhältnis mit Tom Kealy.« Sie zögerte. »Aber er ist nicht du.« Sie trat näher. »Ich schäme mich nicht, dass ich mit ihm zusammen war. Tom hat einer Journalistin in seiner Lage viel zu bieten, weißt du. Da lässt sich viel draus machen.« Sie hielt seinen Blick fest, wie nur sie es konnte. »Aber ich muss etwas wissen. Warum warst du beim Tribunal? Tom sagte mir, dass der Privatsekretär des Papstes sich normalerweise nicht mit so was abgibt.«

»Ich wusste, dass du da sein würdest.«

»Hast du dich gefreut, mich zu sehen?«

Er wägte seine Antwort ab und entschied sich schließlich für: »Du sahst nicht so aus, als ob du dich freutest, mich zu sehen.«

»Ich habe einfach nur versucht, deine Reaktion einzuschätzen.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du selbst überhaupt nicht reagiert.«

Sie trat von ihm weg und zum Fenster. »Das mit uns beiden war damals etwas ganz Besonderes, Colin. Es ist sinnlos, das abzustreiten.«

»Es bringt auch nichts, es wiederaufzuwärmen.«

»Das wäre das Letzte, was ich will. Wir sind beide älter geworden. Und hoffentlich klüger. Können wir nicht einfach Freunde sein?«

Er war im päpstlichen Auftrag in Rumänien unterwegs. Und war jetzt in eine äußert emotionale Diskussion mit einer Frau verwickelt, die er einmal geliebt hatte. Hatte der Herr beschlossen, ihn erneut zu prüfen? Er konnte nicht bestreiten, dass es tiefe Gefühle in ihm weckte, einfach nur in ihrer Nähe zu sein. Sie hatten ja tatsächlich etwas ganz Besonderes miteinander geteilt. Sie hatte ihm zur Seite gestanden, als er sich mit seiner schmerzlichen Herkunft auseinander setzte. Als er sich fragte, was wohl aus seiner Mutter geworden war und warum sein leiblicher Vater ihn im Stich gelassen hatte. Mit Katerinas Hilfe hatte er viele dieser Dämonen gebannt. Doch inzwischen hatte er neue Probleme. Vielleicht war es an der Zeit, Frieden mit seinem Gewissen zu schließen. Das konnte bestimmt nicht schaden.

»Das fände ich schön.«

Sie trug eine eng anliegende schwarze Hose, die ihre schlanken Beine betonte. Dazu passend ein Jackett mit Fischgrätmuster. Eine schwarze Lederweste verlieh ihr den Look der Revolutionärin, als die er sie kannte. Keine verträumt schimmernden Augen. Sie stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Vielleicht zu sehr. Doch tief in ihrem Inneren gab es echte Gefühle, und die hatten ihm gefehlt.

Einen Moment lang fühlte er sich seltsam erregt.

Ihm fiel die Zeit vor vielen Jahren ein, als er sich in die Alpen zurückgezogen hatte, um einmal in Ruhe nachdenken zu können. Damals hatte sie auch so vor seiner Tür gestanden und ihn nur noch mehr verwirrt.

»Was hast du in Zlatna gemacht?«, fragte sie. »Man erzählte mir, dieses Waisenhaus sei eine traurige Einrichtung. Und dass ein Priester sie leitet.«

»Du warst da?«

Sie nickte. »Ich bin dir gefolgt.«

Wieder eine irritierende Neuigkeit, doch er ging nicht darauf ein. »Ich habe mich mit diesem Priester unterhalten.«

»Kannst du mir erzählen, worüber?«

Sie klang interessiert, und er hatte das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden. Vielleicht konnte sie ihm ja helfen. Doch er musste vorsichtig sein.

»Vertraulich?«, fragte er.

Ihr Lächeln war tröstlich. »Natürlich, Colin. Vertraulich.«

19

20.00 Uhr

 

Michener nahm Katerina mit ins Café Krom. Davor hatten sie sich zwei Stunden lang unterhalten. Er hatte ihr knapp erzählt, wie Clemens XV. sich in den letzten Monaten verändert hatte und warum er selbst nach Rumänien gekommen war. Er verschwieg nur, dass er Clemens Brief an Tibor heimlich gelesen hatte. Abgesehen von Kardinal Ngovi gab es niemanden, mit dem er über seine Sorgen hätte sprechen können. Und selbst gegenüber Ngovi hielt er Schweigen für ratsamer. Die Bündnisse im Vatikan kamen und gingen. Die Freunde von heute konnten schnell die Feinde von morgen sein. Katerina war mit niemandem innerhalb der Kirche verbündet und wusste recht gut über das dritte Geheimnis von Fatima Bescheid. Sie erzählte ihm von einem Artikel, den sie im Jahr 2000, als Johannes Paul II. das Geheimnis veröffentlichte, für eine dänische Zeitschrift verfasst hatte. Er handelte von einer religiösen Splittergruppe, die das dritte Geheimnis für eine apokalyptische Vision hielt, in deren komplexer Metaphorik die heilige Jungfrau das Ende der Welt eindeutig ankündigte. Katerina hielt die ganze Meute für verrückt, und in ihrem Artikel zog sie über den Wahnsinn derartiger Sekten her. Doch nachdem Michener Clemens Reaktion in der Riserva beobachtet hatte, war er in seinem Urteil verunsichert. Er hoffte, dass Andrej Tibor Klarheit schaffen würde.

Der Priester saß an einem Tisch beim Fenster. Draußen war es neblig, und Passanten und Autos waren in ein goldenes Licht getaucht. Das Bistro, das im Herzen der Stadt, nahe der Piaþa Revoluþiei lag, war jetzt, am Freitagabend, gerammelt voll. Tibor hatte sich umgezogen und trug nun statt der schwarzen Geistlichentracht Jeans und einen Rollkragenpullover. Als Michener ihm Katerina vorstellte, stand er auf.

»Ms. Lew ist meine Sekretärin. Ich möchte, dass sie alles mitschreibt.« Michener hatte zuvor beschlossen, dass Katerina Tibors Antwort mithören sollte, doch es schien ihm ratsamer, über ihre Identität nicht die Wahrheit zu sagen.

»Wenn der Privatsekretär des Papstes es so wünscht«, erwiderte Tibor, »kann ich das wohl kaum in Frage stellen.«

Der Tonfall des Priesters war ungezwungen, und Michener hoffte, dass seine frühere Bitterkeit nicht wiederkehrte. Tibor winkte die Kellnerin herbei und bestellte noch zwei Bier. Dann schob der alte Priester einen Umschlag über den Tisch. »Das ist meine Antwort auf Clemens Frage.«

Michener ließ den Brief liegen.

»Ich habe den ganzen Nachmittag über meine Antwort nachgedacht«, erklärte Tibor. »Und ich wollte ganz genau sein, darum habe ich sie aufgeschrieben.«

Die Kellnerin stellte zwei Krüge mit Dunkelbier auf den Tisch. Michener trank einen kleinen Schluck Schaum ab. Katerina ebenso. Tibor war schon bei seinem zweiten Krug, und der erste stand leer vor ihm auf dem Tisch.

»Ich habe lange nicht mehr an Fatima gedacht«, bemerkte Tibor leise.

Katerina mischte sich ein. »Haben Sie lange im Vatikan gearbeitet?«

»Acht Jahre, sowohl unter Johannes XXIII. als auch unter Paul VI. Dann kehrte ich in die Mission zurück.«

»Waren Sie wirklich dabei, als Johannes XXIII. das dritte Geheimnis öffnete?«, hakte Michener nach, vorsichtig, um nicht zu verraten, dass er Clemens Brief gelesen hatte.

Tibor sah lange unbewegt aus dem Fenster. »Ja, ich war dabei.«

Michener wusste, wonach Clemens Tibor gefragt hatte, und bohrte weiter. »Hochwürden, der Papst macht sich große Sorgen. Ich weiß nicht, was ihn beunruhigt. Könnten Sie mir da helfen?«

»Ich kann seine Beunruhigung verstehen.«

Michener bemühte sich, locker zu wirken. »Könnten Sie etwas konkreter sein?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Es ist jetzt vier Jahrzehnte her, aber ich verstehe es immer noch nicht.« Beim Sprechen blickte er verunsichert weg, wohl ungewiss, wie weit er sich vorwagen konnte. »Schwester Lucia war eine fromme Frau. Die Kirche ist übel mit ihr umgesprungen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Katerina.

»Rom hat dafür gesorgt, dass sie ein abgeschiedenes Leben führte. Vergessen Sie nicht, 1959 kannten nur Johannes XIII. und sie selbst das dritte Geheimnis. Dann ordnete der Vatikan an, dass nur ihre nächsten Familienangehörigen sie besuchen durften und dass sie über die Erscheinungen Stillschweigen bewahren müsse.«

»Aber sie war doch dabei, als Johannes Paul das Geheimnis im Jahr 2000 veröffentlichte«, entgegnete Michener. »Sie saß mit auf dem Podium, als der Text in Fatima für alle Welt vorgelesen wurde.«

»Damals war sie schon über neunzig. Man hat mir erzählt, dass sie schlecht hörte und auch nicht mehr gut sah. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass man ihr verboten hatte, über die Erscheinungen zu sprechen. Sie hat keinen Kommentar abgegeben. Gar nichts dazu gesagt.«

Michener trank noch einen Schluck Bier. »Finden Sie das Verhalten des Vatikans denn wirklich problematisch? War es nicht vernünftig, dass man Lucia vor den ganzen Irren beschützte, die sie mit Fragen löchern wollten?«

Tibor verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Sie sind ein Gewächs der Kurie.«

Michener nahm diesen Vorwurf übel, weil er ganz und gar nicht stimmte. »Mein Papst ist kein Freund der Kurie.«

»Der Vatikan verlangt absoluten Gehorsam. Andernfalls droht die Exkommunikation. Wir müssen tun, was man uns aufträgt. Schwester Lucia war eine treue Dienerin. Sie hat getan, was man ihr auftrug. Glauben Sie mir, Rom wollte um jeden Preis verhindern, dass sie der Weltpresse Rede und Antwort stand. Johannes hat ihr befohlen zu schweigen, weil ihm keine andere Wahl blieb, und seine Nachfolger haben es ihm nachgetan, weil auch sie keine Wahl hatten.«

»Meines Wissens haben sowohl Paul VI. als auch Johannes Paul II. sie besucht. Johannes Paul hat sie sogar vor der Veröffentlichung des dritten Geheimnisses konsultiert. Ich habe mit Bischöfen und Kardinälen gesprochen, die an dem Vorgang beteiligt waren. Sie hat die Niederschrift als ihre eigene bestätigt.«

»Welche Niederschrift?«, fragte Tibor.

Sonderbare Frage.

»Wollen Sie etwa behaupten, dass die Kirche bei dieser Marienbotschaft gelogen hat?«, fragte Katerina.

Tibor griff nach seinem Glas. »Das werden wir niemals erfahren. Die gute Nonne, Johannes XXIII. und Johannes Paul II. weilen schon lange nicht mehr unter uns. Außer mir ist keiner mehr am Leben.«

Michener beschloss, das Thema zu wechseln. »Dann erzählen Sie uns, was Sie wissen. Was geschah, nachdem Johannes XXIII. das Geheimnis gelesen hatte?«

Tibor lehnte sich in dem wackligen Eichenholzstuhl zurück und schien interessiert über die Frage nachzudenken. Schließlich antwortete der alte Priester: »Einverstanden. Ich werde Ihnen erzählen, was geschehen ist.«

 

»Können Sie Portugiesisch?«, fragte Monsignore Capovilla.

Tibor blickte von seinem Platz auf. Er arbeitete jetzt seit zehn Monaten im Vatikan, doch bisher hatte noch niemand aus dem dritten Stock des apostolischen Palasts das Wort an ihn gerichtet. Und schon gar nicht der Privatsekretär Johannes XXIII.

»Ja, Eminenz.«

»Der Heilige Vater braucht Ihre Hilfe. Würden Sie bitte Stift und Schreibblock mitnehmen und mich begleiten?«

Er folgte dem Monsignore zum Lift und fuhr schweigend mit ihm in den dritten Stock hinauf, wo man ihn in die Wohnräume des Papstes führte. Johannes XXIII. saß hinter einem Schreibtisch. Vor ihm stand eine kleine Holzschatulle, deren erbrochenes Wachssiegel auf dem Deckel lag. Der Papst hielt zwei beschriebene Blätter in der Hand.

»Hochwürden, können Sie das hier lesen?«, fragte Johannes.

Tibor nahm die zwei Blätter entgegen und überflog das Geschriebene, ohne es in sich aufzunehmen. Er wollte nur prüfen, ob er die Sprache verstand. »Ja, Heiliger Vater.«

Ein Lächeln trat in das rundliche Gesicht seines Gegenübers. Genau dieses Lächeln hatte die Katholiken der ganzen Welt begeistert. Il Papa Buono der gute Papst nannten die Medien ihn, eine Bezeichnung, die der Papst sich gerne gefallen ließ. Während der langen, schweren Krankheit von Pius XII. waren die Fenster des päpstlichen Palasts dunkel verhängt gewesen. In symbolischer Trauer hatte man die Vorhänge zugezogen. Jetzt aber waren alle Läden weit geöffnet, und die italienische Sonne flutete herein, als Zeichen für alle, die den Petersplatz betraten, dass der ehemalige Kardinal von Venedig eine neue Lebendigkeit anstrebte.

»Würden Sie sich bitte hier ans Fenster setzen und eine italienische Übersetzung anfertigen«, bat Johannes. »Schreiben Sie sie bitte genau wie das Original auf zwei getrennte Seiten.«

Tibor brachte fast eine Stunde mit der Übersetzung und ihrer Überarbeitung zu. Das Original war von einer unverkennbar weiblich wirkenden Hand in einem altmodischen Portugiesisch verfasst, das um die Zeit der Jahrhundertwende gesprochen worden war. Wie Völker und Kulturen, so waren auch Sprachen einem Wandel unterworfen, doch Tibor hatte eine gründliche Ausbildung genossen, und so war die Aufgabe relativ einfach für ihn.

Johannes schenkte ihm unterdessen wenig Aufmerksamkeit und plauderte leise mit seinem Sekretär. Als Tibor fertig war, reichte er dem Papst die Übersetzung. Er beobachtete Johannes Reaktion bei der Lektüre der ersten Seite. Nichts. Dann las der Papst die zweite Seite. Es folgte ein Moment der Stille.

»Das betrifft nicht meine Papstzeit«, erklärte Johannes leise.

In Anbetracht des Textes empfand Tibor diese Äußerung als merkwürdig, doch er sagte nichts. Dann faltete er jede Übersetzung mit ihrem Original zusammen, so dass zwei getrennte Papierpäckchen entstanden. Kurze Zeit saß der Papst schweigend da, und Tibor rührte sich nicht. Dieser Papst, der erst seit neun Monaten auf dem Stuhl Petri saß, hatte schon jetzt einen tiefen Wandel in der katholischen Welt bewirkt. Tibor war unter anderem deshalb nach Rom gekommen, um bei den Veränderungen mitzuwirken. Die Welt war bereit für etwas Neues, und wie es schien, hatte Gott die Möglichkeit dafür geschaffen.

Also führte Johannes die Fingerspitzen seiner zusammengelegten Hand an die Lippen und wiegte den Oberkörper vor und zurück. »Hochwürden, bitte geben Sie mir und Gott Ihr Wort, das, was Sie gerade gelesen haben, niemals zu enthüllen.«

Tibor verstand, wie wichtig diese Bitte war. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Heiliger Vater.«

Johannes sah ihn mit seinen entzündeten Augen durchdringend an. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, und er kämpfte gegen das Bedürfnis an aufzuspringen.

Der Papst schien seine Gedanken zu lesen.

»Seien Sie versichert«, flüsterte Johannes kaum hörbar, »dass ich den Wünschen der Jungfrau nach Kräften entsprechen werde.«

 

»Ich habe nie wieder mit Johannes XXIII. gesprochen«, erzählte Tibor.

»Und es hat Sie auch kein anderer Papst kontaktiert?«

Tibor schüttelte den Kopf. »Keiner, bis heute. Ich habe Johannes mein Wort gegeben und es gehalten. Bis vor drei Monaten.«

»Was haben Sie dem Papst geschickt?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nicht im Einzelnen.«

»Vielleicht möchte Clemens nicht, dass Sie es wissen.«

»Dann hätte er mich nicht zu Ihnen geschickt.«

Tibor deutete auf Katerina. »Möchte er auch, dass sie Bescheid weiß?«

»Ich möchte es«, erklärte Michener.

Tibor betrachtete ihn mit strenger Miene. »Leider kann ich Ihre Frage nicht beantworten, Monsignore. Von dieser Botschaft wissen nur Clemens und ich, und so soll es bleiben.«

»Sie sagten eben, Johannes XXIII. hätte nie wieder mit Ihnen gesprochen. Haben Sie versucht, sich Ihrerseits an ihn zu wenden?«, fragte Michener.

Tibor schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Tage später berief Johannes das Zweite Vatikanische Konzil ein. Ich erinnere mich gut an diese Ankündigung. Sie kam mir wie eine Antwort vor.«

»Möchten Sie das näher erläutern?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«

Michener trank sein Bier aus und hätte gerne noch eines bestellt, nahm sich aber zusammen. Er betrachtete einige der Gäste und fragte sich, ob sie sich wohl für dieses Gespräch interessierten, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. »Und was war, als Johannes Paul II. das dritte Geheimnis enthüllte?«

Tibors Miene verhärtete sich. »Was soll da gewesen sein?«

Michener hatte es allmählich satt, dem Mann die Würmer aus der Nase zu ziehen. »Die Welt kennt inzwischen die Worte der Jungfrau.«

»Man weiß, dass die Kirche es mit der Wahrheit manchmal auf ihre eigene Weise hält.«

»Wollen Sie etwa sagen, dass der Heilige Vater die Welt belogen hat?«

Tibor antwortete nicht sofort. »Ich weiß es nicht. Die Jungfrau ist wieder und wieder auf Erden erschienen. Man sollte meinen, dass wir die Botschaft allmählich kapiert haben.«

»Welche Botschaft? Ich habe die vergangenen zwei Monate jede Marienerscheinung, die in den letzten zweitausend Jahren aufgezeichnet wurde, studiert. Jede scheint eine einzigartige Erfahrung darzustellen.«

»Dann haben Sie nicht genau genug hingeschaut«, erwiderte Tibor. »Auch ich habe die Erscheinungen jahrelang studiert. In jeder ist die Aufforderung enthalten, nach dem Willen des Herrn zu handeln. Die Jungfrau ist die Botin des Himmels. Sie führt uns und berät uns weise, wir aber sind zu dumm, auf sie zu hören. In der Neuzeit hat der Fehler mit La Salette begonnen.«

Michener kannte die Erscheinung von La Salette, einem kleinen Bergdorf in den französischen Alpen, bis ins Detail. Im Jahr 1846 hatten zwei Hirtenkinder, ein Junge namens Maxim und ein Mädchen namens Mélanie, angeblich eine Vision gehabt. Der Vorfall ähnelte in vieler Hinsicht der Erscheinung von Fatima Kinder bei der Herde, ein Licht, das vom Himmel herabkam, und das Bild einer Frau, die mit ihnen sprach.

»Soweit ich mich erinnere«, bemerkte Michener, »empfingen die beiden Kinder Geheimnisse, die schließlich aufgezeichnet und Pius IX. vorgelegt wurden. Die Seher veröffentlichten später ihre eigene Version. Der Vorwurf der Beschönigung wurde erhoben. Für viele war das ein Stein des Anstoßes.«

»Wollen Sie behaupten, dass es zwischen La Salette und Fatima eine Beziehung gibt?«, fragte Katerina.

In Tibors Miene zeichnete sich Verärgerung ab. »Ich behaupte überhaupt nichts. Der Hochwürdige Herr hier hat Zugang zu den Archiven. Kann er eine Beziehung bestätigen?«

»Ich habe mich mit den Erscheinungen von La Salette befasst«, antwortete Michener. »Nach der Lektüre der Geheimnisse gab Pius keinen Kommentar ab und verbot ihre Veröffentlichung. Und obwohl die Originaltexte im Verzeichnis Pius IX. aufgeführt sind, befinden die Geheimnisse sich nicht mehr im Archiv.«

»1960 habe ich dort nach den Geheimnissen von La Salette gesucht und schon damals nichts gefunden. Doch es gibt Hinweise auf ihren Inhalt.«

Michener wusste genau, wovon Tibor sprach. »Ich habe die Berichte von Zeugen gelesen, die anwesend waren, als Mélanie die Botschaft niederschrieb. Sie fragte, wie man unfehlbar, besudelt und Antichrist schreibt, wenn ich mich recht erinnere.«

Tibor nickte.

»Pius IX. hat uns selbst ein paar Hinweise gegeben. Nach der Lektüre von Maxims Botschaft sagte er: Hier haben wir die Aufrichtigkeit und Unverfälschtheit eines Kindes. Nach Mélanies Botschaft rief er jedoch aus: Ich habe weniger von offener Gottlosigkeit zu befürchten als von der Gleichgültigkeit. Nicht ohne Grund nennt man die Kirche streitbar, und ich bin ihr Anführer.«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, sagte Tibor. »Mélanie war erbost über die Reaktion des Papstes. ›Dieses Geheimnis sollte dem Papst Freude bereiten‹, erklärte sie. ›Ein Papst sollte gerne leiden‹.«

Michener fiel ein, dass es damals einen Erlass der Kirche gegeben hatte, der den Gläubigen jede Diskussion über die Erscheinungen von La Salette unter Androhung von Sanktionen untersagte. »Hochwürden, La Salette wurde niemals für so glaubwürdig gehalten wie Fatima.«

»Weil die Originaltexte der Seher verschwunden sind. Wir können nur noch spekulieren. Aufgrund des Verbots der Kirche wurde das Thema nicht mehr diskutiert. Unmittelbar nach der Erscheinung sagte Maxim, die Botschaft der Jungfrau verheiße für manche Menschen Gutes und für andere etwas Schlechtes. Genau dieselben Worte verwendete Lucia mehrere Jahre später in Fatima: ›Für manche gut. Für andere schlecht.‹« Der Priester leerte seinen Bierkrug. Das Bier schien ihm zu schmecken. »Maxim und Lucia hatten beide Recht. Für manche gut, für andere schlecht. Es wird Zeit, die Botschaft der Madonna endlich zu hören.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Michener genervt.

»In Fatima wurde der Wille Gottes klar und deutlich ausgesprochen. Das Geheimnis von La Salette habe ich nicht gelesen, doch ich kann mir den Inhalt denken.«

Michener hatte die Rätsel satt, beschloss aber, den alten Priester reden zu lassen. »Ich weiß, was die Jungfrau im zweiten Geheimnis von Fatima über die Weihe Russlands sagte und über die schrecklichen Dinge, die geschehen würden, wenn Russland nicht geweiht würde. Das ist zugegebenermaßen eine konkrete Anweisung …«

»Und doch«, unterbrach ihn Tibor, »hat bis zu Johannes Paul II. kein Papst die Weihe vorgenommen. Erst 1984 wurde Russland von allen Bischöfen der Welt unter Leitung des Papstes geweiht. Und sehen Sie doch mal, was von 1917 bis 1984 passiert ist. Der Kommunismus ist aufgeblüht. Millionen Menschen sind gestorben. Rumänien wurde vergewaltigt und ausgeplündert. Was hatte die Jungfrau gesagt? Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird vieles erdulden müssen, und zahlreiche Nationen werden zugrunde gehen. Und das alles nur, weil einige Päpste ihre eigenen Wünsche über Gottes Willen stellten.« Tibor machte keinen Versuch, seinen Zorn zu verbergen. »Und dann, innerhalb von sechs Jahren nach der Weihe Russlands, ist der Kommunismus gescheitert.« Tibor massierte sich die Stirn. »Noch nie hat Rom eine Marienerscheinung förmlich als Offenbarung anerkannt. Bestenfalls wird eine Erscheinung als Privatoffenbarung eingestuft. Die Kirche will nicht zugeben, dass Visionäre etwas Wichtiges zu sagen haben.«

»Aber das ist doch nur vernünftig«, entgegnete Michener.

»Ach ja? Die Kirche erkennt an, dass die Jungfrau erschienen ist, sie ermutigt die Gläubigen, an das Ereignis zu glauben, wertet aber alles ab, was die Seher sagen? Sehen Sie da nicht einen Widerspruch?«

Michener antwortete nicht.

»Denken Sie es einmal zu Ende«, fuhr Tibor fort. »Seit dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 wird der Papst bei Verkündigung einer Glaubenswahrheit als unfehlbar betrachtet. Was würde wohl mit dieser Vorstellung geschehen, wenn man plötzlich den Worten eines einfachen Hirtenkindes mehr Gewicht beilegte?«

So hatte Michener die Sache bisher nie betrachtet.

»Die Lehrhoheit der Kirche würde enden«, erklärte Tibor. »Die Gläubigen würden sich anderswo Führung suchen. Rom wäre nicht mehr der Mittelpunkt. Das aber konnte man nicht zulassen. Die Kurie muss unter allen Umständen weiter bestehen, egal um welchen Preis. So war es immer.«

»Aber Hochwürden«, warf Katerina ein. »Die Geheimnisse von Fatima nennen konkrete Orte, Daten und Zeitspannen. Russland und der Papst werden namentlich erwähnt. Es ist die Rede von Papstattentaten. Lässt die Kirche da nicht einfach nur Vorsicht walten? Diese so genannten Geheimnisse unterscheiden sich so gründlich vom Evangelium, dass man sie durchaus berechtigt als verdächtig einstufen könnte.«

»Ein berechtigter Einwand. Aber wir Menschen neigen dazu, etwas, womit wir nicht einverstanden sind, einfach zu übergehen. Vielleicht waren da aus Sicht des Himmels konkretere Anweisungen nötig. Diese konkreten Details, die Sie erwähnten.«

Michener sah die Erregung in Tibors Gesicht. Seine Hände umklammerten nervös den leeren Bierkrug. Es folgte ein kurzes, angespanntes Schweigen, dann beugte der alte Mann sich vor und deutete auf den Umschlag.

»Sagen Sie dem Heiligen Vater, er soll der Madonna gehorchen. Er soll weder diskutieren noch ihren Befehl missachten, sondern ihren Auftrag einfach ausführen.« Seine Stimme klang flach und ausdruckslos. »Sagen Sie ihm, dass wir beide, er und ich, uns andernfalls sehr bald im Himmel wiedersehen, und dann erwarte ich, dass er die Schuld auf sich nimmt.«

20

22.00 Uhr

 

Michener und Katerina traten aus der Metro und gingen aus der U-Bahnstation in die frostkalte Nacht hinaus. Vor ihnen lag der ehemalige Königliche Palast Rumäniens, dessen bröckelnde Fassade von Natriumdampflampen gelblich erleuchtet war. Die Piaþa Revoluþiei erstreckte sich in alle Richtungen, und auf dem feuchten Kopfsteinpflaster wimmelte es von Menschen in dicken Wollmänteln. Dahinter kroch der Verkehr durch die Straßen. Die kalte Luft roch nach Abgasen und kratzte Michener im Hals.

Er beobachtete, wie Katerina den Platz aufmerksam betrachtete. Ihr Blick heftete sich auf das ehemalige Zentralkomitee, einen monolithischen Klotz aus stalinistischen Zeiten, und er sah, dass sie den Balkon ins Auge fasste.

»Von dort hat Ceauºescu in jener Nacht damals seine Rede gehalten.« Sie zeigte nach Norden. »Ich stand da drüben. Das war vielleicht ein Ding. Dieser aufgeblasene Sack stellte sich einfach da ins Licht und behauptete, alle hätten ihn lieb.« Das Gebäude ragte finster vor ihnen auf. Offensichtlich war es nicht mehr wichtig genug, um beleuchtet zu werden. »Fernsehkameras haben die Rede aufgezeichnet und im ganzen Land live übertragen. Er war mordsmäßig stolz auf sich, aber auf einmal skandierten wir alle:Timiºoara, Timiºoara.«

Michener wusste Bescheid über Timiºoara, eine Stadt im Westen Rumäniens, wo ein einzelner Priester endlich den Mund aufgemacht und Ceauºescu öffentlich verurteilt hatte. Als die regierungstreue rumänisch-orthodoxe Kirche den Priester abrief, kam es im ganzen Land zu Aufständen. Sechs Tage später brach vor Ceauºescus Augen auf der Piaþa Revoluþei die Hölle los.

»Du hättest Ceauºescus Gesicht sehen sollen, Colin. Es war dieser Moment seiner Unentschlossenheit, dieses sichtbare Erschrecken. Erst da wurden wir richtig aktiv. Wir durchbrachen die Polizeiabsperrung und dann führte kein Weg mehr zurück.« Ihre Stimme wurde leiser. »Irgendwann kamen die Panzer, dann die Wasserwerfer und schließlich die Gewehrsalven. In jener Nacht habe ich viele Freunde verloren.«

Er stand da, die Hände in den Manteltaschen vergraben, ein Atemwölkchen vor dem Mund, und ließ ihr Zeit sich zu erinnern. Er wusste, dass sie stolz war auf ihr Mitwirken bei dem Aufstand. Er war auch stolz auf sie.

»Es ist gut, dass du wieder bei mir bist«, sagte er.

Sie wandte sich ihm zu. »Du hast mir gefehlt, Colin.«

Er hatte einmal gelesen, dass es in jedem Leben mindestens einen Menschen gibt, der einen so tief und nachhaltig berührt, dass man sich in Zeiten der Not daran erinnern und so verlässlich Trost finden kann. Für ihn war dieser Mensch Katerina. Und es beunruhigte ihn, dass weder die Kirche noch Gott ihm ähnliche Gefühle vermitteln konnten.

Sie rückte ein wenig näher. »Was Hochwürden Tibor da gesagt hat, dass der Papst der Aufforderung der Madonna nachkommen soll. Was hat er damit gemeint?«

»Wenn ich das nur wüsste.«

»Du könntest es in Erfahrung bringen.«

Er wusste, was sie meinte, und zog den Umschlag mit Tibors Antwort aus der Manteltasche. »Ich kann ihn nicht öffnen. Das weißt du doch.«

»Warum denn nicht? Wir können den Brief einfach in einen anderen Umschlag stecken. Clemens würde es gar nicht merken.«

Doch Michener reichte der Verrat, den er begangen hatte, als er am Nachmittag Clemens Brief gelesen hatte. »Aber ich würde es wissen.« Er wusste, wie hohl das klang, steckte den Umschlag aber trotzdem wieder ein.

»Clemens hat sich einen treuen Diener herangezogen«, merkte Katerina an. »Das muss man dem alten Knaben lassen.«

»Er ist mein Papst. Ich schulde ihm Respekt.«

Ihre Lippen und Wangen verzogen sich. Diesen Gesichtsausdruck kannte er. »Wirst du dein Leben im Dienst von Päpsten verbringen? Und was ist mit dir selbst, Colin Michener?«

In den letzten Jahren hatte er sich diese Frage selbst oft genug gestellt. Was war mit ihm selbst? Würde das Birett der Höhepunkt seines Lebens sein? Würde er sich damit begnügen, sich im Glanz der purpurroten Robe zu sonnen? Männer wie Hochwürden Tibor zeigten, wie ein Priester wirklich leben sollte. Es war ihm, als spürte er wieder die sanften Berührungen der Kinder und atmete den Gestank ihrer Verzweiflung ein.

Schuldgefühle stiegen in ihm hoch.

»Du solltest wissen, Colin, dass ich mit niemandem über diese Angelegenheit sprechen werde.«

»Tom Kealy eingeschlossen?« Diese Frage war heraus, bevor er sich auf die Lippen beißen konnte.

»Eifersüchtig?«

»Sollte ich das sein?«

»Ich muss wohl eine Schwäche für Priester haben.«

»Ich würde nicht zu sehr auf Tom Kealy bauen. Mir scheint, dass er zu der Sorte gehört, die gleich bei den ersten Schüssen Reißaus nimmt.« Er sah, dass ihre Züge sich verhärteten. »Ganz anders als du.«

Sie lächelte. »Ich stand mit hundert anderen vor einem Panzer.«

»Bei dieser Vorstellung wird mir flau. Ich fände es schrecklich, wenn du verletzt würdest.«

Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Noch mehr, als ich es ohnehin schon bin?«

 

Katerina ließ Michener allein in seinem Zimmer zurück und stieg die knarrende Treppe hinunter. Sie sagte, sie könnten morgen beim Frühstück vor seinem Rückflug nach Rom noch miteinander reden. Er war nicht überrascht gewesen, als er erfuhr, dass sie im Zimmer unter ihm wohnte. Sie hatte ihm verschwiegen, dass auch sie am nächsten Tag mit einem späteren Flug nach Rom zurückfliegen würde. Stattdessen hatte sie gesagt, sie wisse noch nicht, wohin sie wolle.

Allmählich bedauerte sie, dass sie sich auf Alberto Valendreas Angebot eingelassen hatte. Was als aussichtsreicher Karriereschritt begonnen hatte, war nun zum Betrug an einem Mann geworden, den sie noch immer liebte. Sie empfand es als schrecklich, Michener zu belügen. Ihr Vater würde sich schämen, wenn er wüsste, was sie so trieb. Auch dieser Gedanke bereitete ihr Probleme, denn sie hatte ihre Eltern in den vergangenen Jahren schon genug enttäuscht.

Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und trat ein.

Das Erste, was sie sah, war das Lächeln von Hochwürden Paolo Ambrosi. Sie erschrak, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. Diesem Mann zeigte man besser keine Angst. Tatsächlich hatte sie seinen Besuch ja erwartet, Valendrea hatte ihn schließlich angekündigt. Er hatte gesagt, dass Ambrosi sie schon finden werde. Sie schloss die Tür, zog den Mantel aus und trat zur Stehlampe neben dem Bett.

»Wollen wir das Licht nicht lieber aus lassen?«, fragte Ambrosi.

Ihr fiel auf, dass Ambrosi schwarze Hosen und einen dunklen Rollkragenpullover trug. Sein dunkler Mantel war aufgeknöpft. Nichts von seiner Kleidung ließ an einen Geistlichen denken. Sie zuckte mit den Schultern und warf den Mantel aufs Bett.

»Was haben Sie erfahren?«

Sie überlegte kurz und berichtete dann knapp vom Waisenhaus und Micheners Beunruhigung über Clemens Verhalten. Ein paar entscheidende Fakten verschwieg sie jedoch. Zum Schluss erzählte sie vom Treffen mit Hochwürden Tibor und gab die Warnung des alten Priesters bezüglich der Madonna wieder.

»Sie müssen herausfinden, was in Tibors Antwort steht«, sagte Ambrosi.

»Colin war nicht bereit, sie zu öffnen.«

»Finden Sie eine Möglichkeit.«

»Wie soll ich das Ihrer Meinung nach anstellen?«

»Gehen Sie hoch. Verführen Sie ihn. Lesen Sie dann den Brief, wenn er schläft.«

»Machen Sie das doch einfach selbst. Ich bin mir sicher, dass Sie sich mehr für Priester interessieren als ich.«

Ambrosi stürzte sich auf sie, legte die langen Finger um ihren Hals und riss sie aufs Bett. Seine Hände waren kalt und wächsern. Er setzte das Knie auf ihre Brust und drückte sie in die Matratze. Sie war überrascht, wie viel Kraft in ihm steckte.

»Im Gegensatz zu Kardinal Valendrea habe ich wenig für Ihre lockeren Sprüche übrig. Vergessen Sie nicht, dass wir hier in Rumänien sind, nicht in Rom. Hier verschwinden andauernd irgendwelche Leute. Ich möchte wissen, was Tibor geschrieben hat. Finden Sie es heraus, oder ich halte mich bei unserer nächsten Begegnung vielleicht nicht mehr zurück.« Ambrosi drückte das Knie noch kräftiger auf ihre Brust. »Ich habe Sie heute gefunden, und ich werde Sie auch morgen finden.«

Sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt, doch die Finger, die sich noch fester um ihren Hals legten, mahnten sie zur Vorsicht.

Ambrosi ließ sie los und ging zur Tür.

Sie fasste sich an den Hals, holte ein paar Mal tief Luft und sprang dann auf.

Ambrosi wirbelte zu ihr herum, eine Pistole in der Hand.

Sie blieb stehen. »Sie verdammter Gangster.«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Geschichte lehrt uns, dass die Grenze zwischen Gut und Böse fließend ist. Gute Nacht.«

Er machte die Tür auf und ging.

21

Vatikanstadt, 23.40 Uhr

 

Valendrea drückte gerade seine Zigarette im Aschenbecher aus, als es an die Tür klopfte. Seit einer Stunde war er völlig in einen Roman vertieft. Er liebte amerikanische Thriller. Sie waren eine willkommene Abwechslung von seinem Leben der sorgsam gewählten Worte und des strengen Protokolls. Immer wieder freute er sich auf seinen allabendlichen Rückzug in diese Welt geheimnisvoller Intrigen, und Ambrosi sorgte dafür, dass stets ein neues Abenteuer für ihn bereitlag.

»Herein«, rief er.

Das Gesicht des Hausdieners erschien in der Tür. »Eben erhielt ich einen Anruf, Eminenz. Der Heilige Vater ist in die Riserva gegangen. Sie wünschten, in diesem Fall informiert zu werden.«

Valendrea setzte die Lesebrille ab und klappte das Buch zu. »Danke. Sie können gehen.«

Der Hausdiener zog sich zurück.

Der Staatssekretär schlüpfte rasch in Hemd und Hose, zog ein Paar Turnschuhe an, verließ die Wohnung und ging zu seinem Privatlift. Im Erdgeschoss durchquerte er die leeren Korridore des Apostolischen Palasts. Die Stille wurde nur vom leisen Heulen der rotierenden Überwachungskameras durchbrochen, aber auch vom Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Terrazzo. Keiner würde ihn sehen der Palast war längst für die Nacht geschlossen.

Er betrat das Archiv, beachtete den Nachtpräfekten nicht weiter und nahm den kürzesten Weg durch das Labyrinth der Regale zum Gittertor der Riserva. In dem erleuchteten Raum stand Clemens XV. mit dem Rücken zu ihm, in einer weißen Soutane.

Die Tür des alten Schließfachs stand offen. Valendrea bemühte sich gar nicht, extra leise zu sein. Es war Zeit für eine Konfrontation.

»Kommen Sie herein, Alberto«, sagte der Papst, noch immer mit dem Rücken zu ihm.

»Woher wussten Sie, dass ich es bin?«

Clemens drehte sich um. »Wer denn sonst?«

Valendrea trat ins Licht. Es war das erste Mal seit 1978, dass er die Riserva betrat. Damals hatten nur ein paar Glühlampen den fensterlosen Raum erhellt, heute war er in Leuchtstofflicht getaucht. Dieselbe hölzerne Schatulle stand in derselben Schublade. Ihr Deckel war geöffnet, und es waren noch Reste des Wachssiegels zu erkennen, das er nach der letzten Öffnung ersetzt hatte.

»Man hat mir berichtet, dass Sie damals mit Paul hier waren«, bemerkte Clemens. Er zeigte auf die Schatulle. »Sie waren da, als er das Siegel erbrach. Sagen Sie mir, Alberto, war er geschockt? Hat der alte Trottel aufgeheult, als er die Worte der Jungfrau las?«

Valendrea gönnte es Clemens nicht, die Wahrheit zu erfahren. »Paul war mehr Papst, als Sie es jemals sein könnten.«

»Er war ein starrsinniger, unbeugsamer Mann. Er hatte die Chance, etwas zu bewegen, aber er ließ sich von seinem Stolz und seiner Arroganz leiten.« Clemens nahm ein Dokument in die Hand, das aufgefaltet neben der Schatulle lag. »Er hat das hier gelesen, aber er hielt sich für wichtiger als Gott.«

»Es war drei Monate vor seinem Tod. Was hätte er tun können?«

»Er hätte alles tun können, was die Jungfrau verlangt hat.«

»Was denn, Jakob? Was ist denn so wichtig? Das dritte Geheimnis von Fatima verlangt nur von uns, dass wir glauben und Buße tun. Wozu hätte es Paul veranlassen sollen?«

Clemens stand ihm noch immer hoch aufgerichtet gegenüber. »Sie sind ein großartiger Lügner.«

In Valendrea schoss die Wut hoch, doch er unterdrückte sie schnell. »Sind Sie verrückt geworden?«

Der Papst trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß über Ihren zweiten Besuch in diesem Raum Bescheid.«

Der Staatssekretär schwieg.

»Die Archivare führen genau Buch. Seit Jahrhunderten halten sie fest, wer wann diesen Raum betreten hat. Am 19. Mai 1978 waren Sie nachts in Pauls Begleitung hier. Eine Stunde später kehrten Sie noch einmal hierher zurück. Allein.«

»Ich war im Auftrag des Heiligen Vaters hier. Er hat es mir befohlen.«

»Daran hege ich keinerlei Zweifel, wenn ich bedenke, was damals in der Schatulle lag.«

»Er hat mich losgeschickt, um die Schatulle und die Schublade wieder zu versiegeln.«

»Aber vor dem Versiegeln haben Sie den Inhalt herausgenommen und gelesen. Wer könnte Ihnen deswegen einen Vorwurf machen? Sie waren ein junger Priester im Haushalt des Papstes. Ihr hochverehrter Papst hatte gerade die Worte einer Marienseherin gelesen, und diese hatten ihn garantiert aus der Fassung gebracht.«

»Das wissen Sie doch gar nicht.«

»Andernfalls war er dümmer, als ich denke.« Clemens Blick wurde scharf. »Sie haben den Text gelesen und dann einen Teil davon weggenommen. Früher lagen nämlich vier Seiten in dieser Schatulle. Zwei hatte Schwester Lucia geschrieben, als sie das dritte Geheimnis 1944 schriftlich festhielt. Und zwei stammten von Hochwürden Tibor, der den Text 1960 übersetzte. Doch nachdem Paul die Schatulle geöffnet und wieder versiegelt hatte, wurde sie erst 1981 erneut geöffnet, und zwar von Johannes Paul II. der damals das Geheimnis zum ersten Mal las. Das geschah in Gegenwart mehrerer Kardinäle. Deren Zeugnis bestätigt, dass Pauls Siegel ungeöffnet war. Ebenso bestätigen die Zeugen, dass in der Schatulle nur zwei Blatt Papier lagen. Das eine war Schwester Lucias Original, das andere Hochwürden Tibors Übersetzung. Als Johannes Paul im Jahr 2000 endlich den Text des dritten Geheimnisses veröffentlichte, lagen immer noch nur diese zwei Blatt Papier in der Schatulle. Wie erklären Sie das, Alberto? Wo sind die anderen beiden Seiten, die 1978 noch hier waren?«

»Sie wissen gar nichts.«

»Leider doch. Es gibt da nämlich etwas, was Sie nicht wussten. Der Übersetzer, Hochwürden Andrej Tibor, kopierte das komplette zweiseitige Geheimnis auf einen Schreibblock und fertigte dann eine zweiseitige Übersetzung an. Diese übergab er dem Papst, doch später fiel ihm auf, dass er auf seinem Schreibblock noch einen Abdruck des Textes besaß. Genau wie ich hatte er die ärgerliche Gewohnheit, beim Schreiben zu fest zu drücken. Er nahm einen Bleistift, schraffierte den Text, damit die Worte sich deutlicher abzeichneten, und übertrug ihn dann auf zwei Seiten. Auf der einen stand der ursprüngliche Text Schwester Lucias, auf der anderen seine Übersetzung.« Clemens hob die Hand mit dem Blatt. »Eine dieser Kopien habe ich hier. Hochwürden Tibor hat sie mir kürzlich geschickt.«

Valendrea verzog keine Miene. »Kann ich sie bitte sehen?«

Clemens lächelte. »Wenn Sie möchten.«

Valendrea nahm die Seite entgegen. Er befürchtete das Schlimmste, und sein Magen krampfte sich zusammen. Es war dieselbe eindeutig weibliche Handschrift, die er in Erinnerung hatte, ungefähr zehn Zeilen. Das Portugiesisch konnte er immer noch nicht lesen.

»Portugiesisch war Schwester Lucias Muttersprache«, bemerkte Clemens. »Ich habe Stil, Format und die Buchstaben von Hochwürden Tibors Reproduktion mit dem ersten Teil des dritten Geheimnisses verglichen, den Sie ja netterweise in der Schatulle zurückgelassen hatten. Sie stimmen in jeder Hinsicht überein.«

»Gibt es eine Übersetzung?«, fragte Valendrea. Er ließ sich seine Erregung nicht anmerken.

»Gewiss, und Tibor hat seine Kopie davon gleich mitgeschickt.« Clemens zeigte auf das Kästchen. »Aber sie liegt in der Schatulle. Wo sie hingehört.«

»Im Jahr 2000 wurden Fotografien der Originalschrift Schwester Lucias veröffentlicht. Dieser Tibor könnte einfach deren Stil nachgeahmt haben.« Er hob die Seite hoch, die er in der Hand hielt. »Das hier könnte eine Fälschung sein.«

»Wieso wusste ich nur, dass Sie das sagen würden? Es könnte sein, aber es ist nicht so. Und das wissen wir beide.«

»Deshalb sind Sie also immer wieder hierher gekommen?«, fragte Valendrea.

»Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?«

»Sie hätte das Ganze vergessen sollen.«

Clemens schüttelte den Kopf. »Das ist vollkommen ausgeschlossen. Hochwürden Tibor hatte der Reproduktion eine ganz schlichte Frage beigelegt: Warum lügt die Kirche? Sie kennen die Antwort. Die Kirche hat nicht gelogen. Als Johannes Paul II. den Text des dritten Geheimnisses veröffentlichte, wusste keiner außer Hochwürden Tibor und Ihnen, dass das nicht die ganze Botschaft war.«

Valendrea trat zurück, steckte eine Hand in die Hosentasche und zog ein Feuerzeug hervor. Er steckte das Dokument an und warf das brennende Blatt auf den Boden.

Clemens tat nichts, um ihn aufzuhalten.

Valendrea trat die glimmende Asche aus, als hätte er gerade eine Schlacht mit dem Teufel geschlagen. Dann heftete sich sein Blick auf Clemens. »Geben Sie mir diese verdammte Übersetzung.«

»Nein, Alberto. Die bleibt in der Schatulle.«

Er wollte den alten Mann beiseite stoßen und tun, was zu tun war. Doch in diesem Moment tauchte der Nachtpräfekt im Eingang der Riserva auf.

»Schließen Sie dieses Schließfach zu«, forderte Clemens den Aufseher auf, und der Mann führte die Anweisung eilig aus.

Der Papst ergriff Valendrea beim Arm und führte ihn aus der Riserva. Dieser hätte sich gerne freigemacht, doch da der Präfekt zugegen war, durfte er nicht unehrerbietig sein. Sobald sie draußen zwischen den Regalen waren und nicht mehr im Blickfeld des Präfekten, entzog er sich Clemens Griff.

»Ich wollte, dass Sie wissen, was Sie erwartet«, sagte der Papst.

Etwas beunruhigte Valendrea. »Warum haben Sie mich nicht daran gehindert, das Dokument zu verbrennen?«

»Es war die perfekte Lösung, nicht wahr, Alberto? Einfach die beiden Seiten aus der Riserva zu entfernen? Keiner würde irgendetwas davon mitbekommen. Paul lag im Sterben und würde bald in der Krypta ruhen. Schwester Lucia durfte mit niemandem reden und starb schließlich auch. Sonst wusste keiner, was sich in der Schatulle befand, außer vielleicht einem unbekannten bulgarischen Übersetzer. Doch 1978 war schon so viel Zeit verstrichen, dass dieser Übersetzer in Ihren Augen kein Problem mehr darstellte. Außer Ihnen würde niemand wissen, dass es diese zwei Seiten jemals gegeben hatte. Sollte aber doch jemand etwas mitbekommen, passiert es einfach immer mal wieder, dass Dinge aus dem Archiv verschwinden. Falls aber der Übersetzer auftauchen sollte, hätte er ohne die eigentlichen Texte keinerlei Beweis. Nur Gerede. Gerüchte.«

Valendrea hatte nicht vor, darauf zu antworten. Doch er wollte nach wie vor etwas wissen: »Warum haben Sie mich nicht daran gehindert, das Dokument zu verbrennen?«

Der Papst zögerte einen Moment lang und sagte dann: »Das werden Sie schon sehen, Alberto.«

Hinter ihnen schlug der Präfekt krachend die Tür der Riserva ins Schloss, und Clemens schlurfte davon.