DRITTES BUCH

Heimkehr

1

Ich war gegen Abend mit der Mama zu Kretzschmer in die >Krone< gegangen und hatte Zimmer gemietet. Zwei Zimmer, um ihn wegen der Hunde versöhnlich zu stimmen. Wir hatten es mit ihm ausgemacht, während wir unten in der Wirtsstube saßen, um unsere Erregung mit Steinhägern zu beschwichtigen und die Zeit totzuschlagen, bis um elf Uhr zwanzig Frauchens Zug kam. Kretzschmer hatte mit dem Daumen auf Cocki und Weffi gezeigt, die in friedlichem Verein mit Lux rund um unseren Tisch pennten.

»Das zweite Zimmer ist wohl für die Herren da?«

»Nein, für Frauchen. Außerdem kommt noch einer dazu!« sagte ich und sah ihm gerade in die Augen. »Unser Peterchen. Sie kennen ihn ja noch!«

»Und ob!« meinte Kretzschmer und sah wieder ziemlich grimmig drein.

»Stellen Sie sich vor«, sagte ich, »meine Tante in Bremen, bei der er jetzt war, verliert plötzlich die Nerven, steckt ihn in eine Kiste und schickt ihn hierher. Ist das nicht entsetzlich?«

Er machte ganz erschrockene Augen: »Ja, das kost’ sicher ‘ne ganze Menge! Aber schließlich — wenn Sie ihn jemandem mitgegeben hätten, hätt’s sicher noch mehr gekostet. Kinderbillett — auf die Entfernung!«

»Paul«, sagte ich (es war nach dem fünften Steinhäger), »du hast mich total mißverstanden. Du bist ein dürres, merkantiles Gemüt und wirst es bleiben. Du warst niemals Hund.«

Kretzschmer lehnte sich zurück, und sein Bäuchlein schüttelte sich vor Lachen. Dann wischte er sich die Tränen aus den Augen: »Merkantiles Gemüt — niemals Hund — warst du Hund?«

»Ja«, sagte ich, »ich war ein Hund, ein armer Hund sogar. Apropos Hund, mein Lieber. Ich bin erstens bereit, für meine Drei einen Extra-Pensionspreis zu zahlen, solange wir hier wohnen. Zweitens will ich nicht lange hier wohnen, damit ich mir nicht von einem gewissen Paul Kretzschmer und ähnlichen ulkigen Zeitgenossen dumme Gesichter schneiden zu lassen brauche. Ich meine — ich weiß gar nicht, was in euren Gehirnen vorgeht. Ihr seid doch darauf aus, Geld zu verdienen, und Geld verdient ihr, indem ihr es euren Kunden recht macht. Es sind auch faule Kunden dabei, natürlich, Leute, die sich mit der brennenden Zigarette ins Bett legen, die Handtücher mit Rasierklingen zerschneiden und bis vier Uhr morgens Radio spielen. Hat einer meiner Hunde jemals was bei euch dreckig gemacht, ein Stuhlbein angeknabbert oder das Bein an der Theke gehoben? Nein, das hat er nicht. Aber sobald ihr Hunde in euren Zimmern wißt, bekommt ihr so ‘ne Art Seelenblähungen, Krampfadern im Gehirn, oder was weiß ich.«

Er hob das Glas: »Na, nu komm mal wieder zu dir! Was willst du denn nun machen?«

»Ein Häuschen mieten, nicht zu teuer, aber ‘n nettes Häuschen, in ‘ner hübschen Gegend, vielleicht so hier nahebei, wo ich mit meinem Verein in Ruhe, und ohne daß mich jemand anmeckert, leben kann. Weißt du vielleicht so was?«

Er dachte nach. Es dauerte eine ziemliche Weile, wir lutschten derweilen noch zwei Steinhäger. Die Mama, die am Tisch sanft eingeschlummert war, wachte für einen Moment auf und sagte: »Achte auf deinen Blutdruck!« Dann schlummerte sie wieder ein.

Ich fuhr zusammen. Kretzschmers Nachdenken hatte aufgehört. »Tja«, sagte er, »da wäre das Jagdhaus vom Baron Uelzen, das liegt ganz dahinten, in der Schlucht am Rieß, sehr hübsch!«

»Ich will keine Bretterbude, ich will ‘n Haus!«

Kretzschmer sah mich empört an: »Ist ja auch keine Bretterbude! Fließendes Wasser, elektrisches Licht, Telefonanschluß.«

»Will kein Telefon.«

»Dann laß es bleiben. Außerdem hat’s ein Kachelbad, unten drei sehr hübsche Zimmer, oben noch ein ganz großes und eine kleine Küche mit allen elektrischen Schikanen. Keller ist auch da, für den Wein und die Kohlen.«

»Na und?« fragte ich mißtrauisch. »Warum wohnt dein Baron nicht selbst in diesem Prachtschloß?«

»Erstens, weil er noch ‘n viel größeres bei Hannover hat, und zweitens, weil er außerdem tot ist.«

»Tut mir leid«, sagte ich ohne jedes innere Gefühl. »Wieso?«

Paul hob feierlich den Finger: »Ein großartiges Ende. Er ist sozusagen mit fliegenden Fahnen vor dem Feinde gefallen.«

»Was denn? Ist schon wieder Krieg?«

»Er hat sich totgesoffen.«

»Das ist schön«, sagte ich, »für ihn — und für mich. Friede seiner Asche.«

»Friede!« sagte Paul feierlich, und wir stießen die Gläser aneinander.

»Na, und was ist mit dem Haus?« fragte ich dann.

»Ja, das soll ich vermieten, haben mir die Verwandten gesagt. Gar nicht mal teuer«, worauf wir uns in Details vertieften, bis ich mit Schrecken entdeckte, daß es noch fünf Minuten bis elf Uhr waren. Es erfolgte ein rasanter Aufbruch, ich feuerte alles in den Hintersitz, die Mama, Cocki, Weffi — dann fegten wir zum Bahnhof, und gerade lief der Zug ein.

Da war Frauchen. Sie sah schmal und im ersten Moment ganz fremd aus. Weffi sprang ihr bis zum Kopf, und Cocki ging auf dem nächtlichen einsamen Bahnsteig vor ihr in die Knie und hielt ihr den Po zum Klopfen hin.

»Ist das nicht fürchterlich mit Peterle?« waren ihre ersten Worte, als sie zur Besinnung kam.

Am nächsten Morgen standen wir schon um halb sieben auf dem Bahnsteig. Die Sonne ging gerade auf. Der Himmel färbte sich in einem seltsamen Grün, das langsam in Rot überging. Die Hunde hatten wir zu Haus gelassen. Wir schnatterten mit den Zähnen, teils vor Kälte, teils vor Aufregung, und sprachen kein Wort. Wie die Löwen hinter den Gittern gingen wir hin und her, aneinander vorbei. Schon dreimal hatten wir den netten jungen Stationsvorsteher gefragt, ob der Zug Verspätung habe. Auch hatten wir ihm erzählt, daß wir unser Peterle erwarteten. Er tat so, als ob es ihn interessiere.

Da endlich — ein ferner Pfiff! Wir rannten an das Ende des Perrons. Ein paar Krähen flogen mit schwerem Flügelschlag den Bergen zu. Jetzt ein kleines schwarzes Rechteck, wieder ein Pfiff. Und dann an uns vorbei — die Lokomotive, die klirrenden Wagen. Wir liefen mit. Da — der Packwagen!

Die Tür des Packwagens rollte auseinander, und ein Mann in einer schmuddeligen Eisenbahnerbluse stieg aus, in der linken Hand eine Thermosflasche und in der rechten ein Frühstückspaket. Wir redeten beide gleichzeitig auf ihn ein: »Wo ist der Hund? Schnell heraus mit dem Hund! Peterchen — ein kleiner Schwarzer — wissen Sie — eine Kiste — eine Kiste mit einem Hund!«

Er hob die Hände mit der Thermosflasche und dem Schnittenpaket: »Nu mal langsam, Leute, da is’ gar kein Hund!«

»Kein Hund??« Ich schrie es fast. Frauchen weinte schon: »Es muß ein Hund dasein!«

Er zuckte die Schultern, steckte das Frühstückspaket in die Tasche und stellte die Thermosflasche in den Wagen: »Können ja selber nachsehen!« Dann ging er mit dem Stationsvorsteher in den Wagen, und sie begannen allerlei Zeug auszuladen: ein neues Motorrad in Wellpappe, Kisten mit Käse, Kohl, Radioapparate, große grüne Flaschen in Körben, Stiegen mit Äpfeln und Birnen. Wir taperten derweil herum, kletterten an Kisten empor, rückten sie zur Seite, lasen fieberhaft Schilder — nichts. Der Mann sah wieder auf die Uhr: »Na — also?«

»Nichts«, sagte meine Gefährtin. Sie war blaß wie eine Wand, und die Arme hingen ihr herunter, als seien sie gebrochen.

»Aber er muß dasein!« erklärte ich wild. Und dann tat ich etwas völlig Verrücktes. Ich schrie: »Peter! Peterle! Wo bist du, Peterchen?«

Der Stationsvorsteher legte mir freundlich die Hand auf den Arm: »Na, na! Nutzt doch nichts! Dann wird er eben mit dem nächsten Zug...«

»Ruhig!« schrie Frauchen. »Moment mal! Peter!«

Und jetzt hörten wir es auch, ein leises Winseln, ganz aus der hintersten Ecke. Der Eisenbahner in der schmuddeligen Jacke sah noch mal auf die Uhr. Aber da waren wir schon zu dritt beim Abräumen. Er steckte schulterzuckend die Uhr ein und half mit. Ich weiß nur, daß meine Hand plötzlich blutig war, irgendein Draht..., daß meine Gefährtin aufschrie, weil ihr eine Kiste auf den Fuß fiel. »Langsam, langsam«, mahnten die Männer.

Und dann, ganz zuunterst, zwischen zwei Apfelsteigen und unter einem neuen Kinderwagen begraben, war eine Kiste, eine unwahrscheinlich kleine Kiste mit einem winzigen Gitterfensterchen. Ein verkrumpelter, schmutziger Zettel baumelte daran, kaum so groß wie eine Hand. Ganz unleserlich darauf geschrieben: >Lebendes Tier<. Ich riß die Kiste ans Licht, hinter dem Gitter erschien etwas — eine kleine Struppelschnauze, aus der es schwach winselte, ein paar Augen, riesengroß.

Jetzt hatten wir die Kiste auf dem Bahnsteig. Ein Schraubenzieher war plötzlich da und ein Hammer, wir wuchteten den Deckel hoch. Hinter uns fuhr der Zug ab. Ich fetzte die Bretter auseinander, brach Nägel ab, Frauchen griff hinein, hob Peter heraus, setzte ihn hin.

Und da stand er, ein kleines schwarzes, zerrupftes Jammergestell mit zitternden, dünnen Fliegenbeinen und Augen wie ein wahnsinnig gewordener Neger. Er stank, aber es störte uns nicht. Wir waren wie verrückt. Gibt es überhaupt ein Wort für die Gefühle, die uns alle drei beseelten?

Eine Weile blieb er so, auf wankenden Beinen. Geifer tropfte langsam aus seinem Schnäuzchen und rann den roten Bart entlang auf das graue Pflaster des Perrons.

Ich kniete mich vor ihn nieder und zog ihn an meine Brust. »Mein kleiner Odysseus«, sagte ich, »mein kleiner schwarzer Odysseus, du bist daheim!«

Und als ob er es verstanden, kam plötzlich Leben in ihn. Er riß den Kopf hoch, sah von einem zum anderen, und dann fuhr er aus meinen Armen und begann uns zu umrasen, immer schneller und schneller, mit einem seltsamen, hohen Quietschen. Wir sahen uns entsetzt an: War er wahnsinnig geworden? Hatte es noch zum Schluß in seinem armen kleinen Hirn Kurzschluß gegeben? Immer weiter raste er, immer weiter — und immer dieses furchtbare Geschrei — ein hoher, winselnder, gellender Ton. Schließlich aber begann er zu taumeln, kroch auf uns zu. Er lief zwischen uns ein wie ein sturmzerrauftes kleines Schiff, das — schon im Sinken — gerade noch den Hafen erreicht, und legte sich endlich auf den Rücken. Wir küßten seine schäbige Unterseite, wir legten seine Fliegenbeine an unsere Gesichter, und dann trugen wir ihn zum Wagen. Gerade, als ich Gas gab, kam der erste Sonnenstrahl hinter dem Dreitausender vor.

Als wir auf den Hof der >Krone< einfuhren, spielten Cocki und Weffi unter Aufsicht der Mama mit Lux. Als die Mama den Wagen sah, rannte sie darauf zu. Ein paar Sekunden später hielt sie Peterle in den Armen. Er schluchzte und leckte ihr das ganze Gesicht ab. Dann, als er an die Tränen geriet, die ihr aus den Augen liefen, hielt er inne und nieste ihr eine volle Ladung mitten ins Gesicht.

Cocki und Weffi ließen Lux stehen und kamen angetrabt. Die Mama setzte Peterchen auf die Erde, und er schoß wie ein Pfeil auf Cocki zu. Der stand, als sei der Blitz vor ihm in den Boden geschlagen. Seine Ohren waren nach vorn gestellt, die Augen noch halbmal so groß wie gewöhnlich: »Träume ich — kommt da ein Gespenst?« In der nächsten Sekunde war das Gespenst heran, fiel ihm um den Hals, leckte ihm Nase, Augen und Ohren, wand sich unter ihm durch und warf sich vor ihm auf den Rücken. Dabei stieß er kleine, winselnde Laute maßloser Zärtlichkeit aus. Die unendliche Sehnsucht vieler Ewigkeiten entlud sich. Er hatte ihn wieder, seinen Herrn und Meister!

Der Dicke besah sich gründlich die dürftige Unterseite, leckte dann anerkennend den kahlen Bauch und wedelte dazu mit dem Hinterteil. Es war ein gewaltiges Wedeln, wenn man bedenkt, daß er ja keinen Schwanz hat, sondern nur eine kleine, leere Tülle. Weffi derweilen stand neben dieser rührenden Gruppe und machte unentwegt Kniebeugen. Dabei gähnte er laut vor Aufregung. Schließlich, als sich Peterchen erhob, kam auch er heran, und die beiden berochen sich Schnauze an Schnauze. Beide wedelten, und schließlich richtete sich Weffchen an Peter hoch, den einen Arm ihm auf den Rücken legend, den anderen auf den Kopf. Er streichelte seinen Kopf mit einer rührenden Gebärde. Peter leckte ihm die Brust, und dann rannten sie alle beide auf uns zu. Wir streichelten sie und lobten sie, der Dicke kam auch angewatschelt, legte den Kopf auf die Erde und bot allen der Reihe nach sein hochgerecktes Hinterteil zum Klopfen an.

Schließlich kam auch Lux näher. Auf Peters Gesicht verschwand plötzlich die Gier, mit der er unsere Liebe aufsog. Er wurde sachlich und kurz, ging steif auf Lux zu und zeigte ihm einen Eckzahn: »Das ist hier ‘ne Familienfeier, verstehst du? Mach, daß du wegkommst!«

Lux, der sich des dunklen Leutnants des kleinen Löwen offenbar noch gut entsann, machte schweigend kehrt und ging in die Tiefe des Gartens.

Ich weiß kaum, wie dieser Tag eigentlich weiter verlief. Wir erzählten, wir aßen, wir gingen zum See und in den Wald. Aber wir taten es nur mechanisch. Selbst unsere so erfreulich und entscheidend veränderten Lebensumstände kamen gar nicht richtig an uns heran. Immer nur Peter.

War er wirklich wieder bei uns? War das Ganze nicht nur ein schöner Traum, aus dem es ein furchtbares Erwachen gab?

Peter selbst schien weit weniger bewegt. Er sauste mit den beiden anderen um die Wette, holte Stöckchen aus dem eiskalten Wasser, schüchterte die Dorfhunde ein und grub nach Maulwürfen. Nur daß er zwischendurch immer wieder zu uns kam und sich an unsere Beine drängte.

Am Nachmittag nahm ihn Frauchen vor und trimmte ihn. Er hatte sich in eine scheußliche grauschwarze Wollwurst verwandelt. Peter ließ die sonst so verhaßte Prozedur willig über sich ergehen und gab sogar keinen Mucks von sich, als er anschließend gebadet wurde und man seine blutig gekratzten Pfoten mit Salbe behandelte.

In der Nacht schlief Peter in meiner Kniekehle. Wir waren beide im Nu weg. Die Erschöpfung und Aufregung kamen nach. Aber gegen Morgengrauen wurde ich wach, weil ich fror. Ich knipste Licht an: meine Decke hatte eine Beule. Ich hob sie hoch, und da saß Peter mit riesigen Jenseitsaugen und zitterte. Ich streichelte sein Köpfchen, während es in meiner Kehle eng wurde: »Ist ja gut, Peterle. Ist ja alles gut. Du bist ja hier, bei Herrchen! Und du bleibst bei Herrchen, immer.«

Er leckte meinen Arm, seufzte ganz tief und brach dann wieder in meiner Kniekehle zusammen. Ich löschte das Licht. Durch die Läden kam ein fahler Schein. Frauchen da — Peter da — Geld da — und heute vielleicht ein neues Heim. Nicht zu fassen!

2

Mein Erwachen am anderen Morgen wurde dadurch herbeigeführt, daß mir der Dicke seine Tatze ins Gesicht haute. Voller Bedrückung und Angst fuhr ich hoch: Was war denn jetzt wieder passiert, und was war das für ein Zimmer?

Und dann brach die Gegenwart über mich herein mit einem Schwall blendenden Glücks. Der Dicke saß vor mir auf seinen Keulen und grinste über das ganze Gesicht, als wüßte er’s. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen, ich hörte die tiefen Atemzüge meiner Gefährtin, die noch im Erschöpfungsschlummer lag. Helle Sonne in meinem Zimmer. Wie spät war das eigentlich? Zehn Uhr. Jetzt nebenan ein Knarren und Gähnen, und es erschien Weffi im Türrahmen. Er reckte sich nach allen Seiten und war dann mit einem Satz auf meiner Bettdecke. Sofort geriet er jedoch ins Schwanken, denn unter der Decke wurde es lebendig — Peter! Weffi machte den Kopf schief und kniff in die Decke. Darunter knurrte es und biß zurück. Wie lange war es her, daß dieser Ulk zum letztenmal vorgeführt wurde? Hundert Jahre?

Dann saß ich auf dem Teppich und wühlte in meinem Hundegewudel, als sei es das erstemal. Arme, Hände und Gesicht hatte ich voll mit Pfoten, Bäuchen, Ohren, Schnuten und Zungen. Jeder bekam von mir seine Spezialliebkosung. Cocki wurde geklopft, Weffi auf dem rosa Kinderbauch gekratzt, und Peter bekam die Ohren geplättet. Dazu steckte er das Köpfchen zwischen meine Beine, und ich mußte dann seine dürftigen Ohrblättchen auf meinen Schienbeinen ausbreiten und unentwegt glattstreichen. Dazu brummte und schmatzte er zwischen meinen Waden.

In der Hellsichtigkeit dieser glücklichen Stunde sah ich mir meine drei an: Sie hatten fast die gleiche Größe, und auch die Grundkonstruktion war die gleiche. Aber welche Weite der Variationen bei der Ausführung! Cockis weiches Seidenhaar, lange Gehänge, breite Pfoten, starke Farben: Goldbraun und Weiß — barocke Fülle. Dagegen Weffis nervöse Drahtigkeit, ein groteskes, vibrierendes Persönchen von fast surrealistischer Komik — ein ganz moderner Hund. Und dann Peter, wie aus dunklem Eisen geschmiedet, die Schönheit und Tragik eines gestürzten Engels im Blick — ein gotischer Hund.

Drei Augenpaare sahen mich an, drei Seelen sprachen zu mir, drängten aus diesen Augen heraus. Wollten sie mir etwas mitteilen, ein großes Geheimnis vielleicht? Ich fühlte: wenn ich es lösen könnte, wäre ich dem Sinn allen Daseins sehr nahe. Aber die Wände unserer Körper standen zwischen uns und ließen nur ein Ahnen letzten Verstehens und tiefster Gemeinsamkeit wie einen fernen Glockenton durch die Mauern unseres Fleisches vibrieren.

Nach dem Frühstück fuhren wir mit Kretzschmer zum Rieß, dorthin, wo die Felsen immer näher aneinandertraten und schließlich eine Schlucht bildeten, in der nur noch die Eisenbahn, die Straße und der wilde Gießbach Platz hatten. Vor der Schlucht lag ein kleiner Hügel, und zu seinen Füßen hockten ein paar Hütten: eine Zwischenhaltestelle der Eisenbahn und ein Verkaufsstand.

»Da im Laden können Sie sich Milch, Brötchen und Kleinigkeiten holen«, sagte Kretzschmer, »und da«, er zeigte gegen den Hügel, »liegt das Jagdhaus.« Ich sah eine wunderbare, in der Sonne weiß schimmernde Villa mit einem sehr gepflegten Garten und großem Bassin.

»Na, das ist doch kein Jagdhaus, Menschenskind!«

Kretzschmer lachte: »Ist es auch nicht, ist ja auch nicht Ihr Haus. Das da gehört den Werneburgs. Er war früher Generaldirektor der Witzlinger Maschinenfabrik. Bißchen eigenartig. Die Frau ist ein lustiges Huhn, so eine von der Sorte, mit der man Pferde stehlen kann. Sehen Sie zu, daß Sie sich mit ihm auch gut stehen. Übrigens hat er auch zwei Hunde, zwei Foxl, wie Ihrer hier, Männchen und Weibchen.«

»Ach du lieber Gott!«

»Die raufen sich schon zusammen«, erklärte Kretzschmer großzügig, »und da ist Ihr Haus!«

Wir sahen weiter nichts als ein Stück Dach und einen großen Schornstein, die über einer kahlen, verwilderten Hecke emporragten. Als wir davor bremsten, entdeckten wir, daß es ein richtiges Blockhaus war, aus mächtigen schwarzen Hölzern gefügt, mit lustigen weißen Fensterrahmen darin. Das Dach hatte es tief ins Gesicht gezogen. Daneben stand ein Schuppen, der wohl als Garage diente.

»Großartig, was?« fragte Kretzschmer.

»Hm. Wird auch ‘n Schuhanzieher mitgeliefert?«

»Warten Sie gefälligst, bis Sie’s gesehen haben. Das ist nämlich innen größer als außen.«

»Eine Art Zauberschachtel also?«

»Genau das!«

Und genau das war es auch. Unten hatte es drei schöne Zimmer, ein Kachelbad und eine kleine Küche. Oben gab es noch ein ganz großes und ein kleines Zimmer. Durch die breiten Fenster kam viel Licht. Eine moderne Frischluftheizung war eingebaut. Der Preis erschien uns durchaus erträglich. Wir mieteten es auf Anhieb.

Ein paar hektische Tage folgten. Vertragsabschluß, Fahrten in die Stadt, um die Möbel zu holen, Ankunft der Möbel, Auspacken, Innendekoration. Und dann, eines Morgens, im späten November, saßen wir beim Frühstück oben im großen Zimmer und hatten ein neues Heim. Aus dem Heizungsschacht pustete wohlige Wärme, Frauchen las die Zeitung, ich trank gemächlich meinen Kaffee, die Mama ihre Schokolade, zwischen uns beiden parkten die Hunde. Peterle machte Männchen, Weffi rang die Ärmchen, und der Dicke haute uns abwechselnd die Tatze auf die Schenkel. Frauchen sah hinter der Zeitung vor:

»Füttere die Hunde nicht, Mami, sie sind alle drei schon zu fett.«

»Nur noch das eine, weil er so fleht.«

Nach einer Weile bemerkten wir dann, daß Frauchen dem Dicken hinter der Zeitung eine halbe Buttersemmel in den Rachen schob.

»Also los!« sagte ich.

Worauf die Mama und ich Peter und Weffi stopften. Frauchen ließ die Zeitung sinken, und alle drei sahen wir uns an. »Damals«, sagte sie, »unter der Linde, im Garten — das war das letztemal.«

Ich nickte: »Wir müssen sehr dankbar sein.«

»Ihr müßt euch dann auch umziehen!« sagte die Mama.

Ich sah sie an und bemerkte erst jetzt, daß sie außerordentlich feierlich angezogen war: hochgeschlossenes Kleid und oben am Hals die antike Brosche mit dem Ritter Georg.

»Was ist denn los? Irgend’ne Beerdigung?«

Sie sah mich aus ihren blassen Augen streng an: »Wir müssen heute früh drüben bei Werneburgs Antrittsbesuch machen!«

»Einen wie bitte müssen wir machen?«

»Einen Antrittsbesuch, du Wilder! Das macht man nämlich bei den Nachbarn. Ich habe gestern der Margot schon gesagt, daß wir zwischen zwölf und halb eins kommen, das ist die schickliche Zeit.«

»Na, entsetzlich! Und wer ist Margot?«

»Das Mädchen, Werneburgs Mädchen. Und die Hunde bleiben selbstverständlich hier«, fügte sie etwas unzusammenhängend hinzu.

»Macht man wirklich noch Antrittsbesuche?« wandte ich mich hilfesuchend an meine Gefährtin.

Aber ich fand keine Unterstützung. »Ja, das macht man. Du ziehst am besten den Dunkelgrauen mit den Streifen an und schwarze Schuhe (die gerade, die ich nicht leiden konnte).«

Um zwölf Uhr stand ich mit schwarzen Schuhen hinter der Gardine meines Zimmers und spähte zu dem anderen Haus hinüber. Es lag groß und abweisend in der fahlen Novembersonne. Die Mama erschien hinter mir im Mantel: »Also — fertig?«

»Da ist kein Schwanz zu sehen«, sagte ich mit einem schwachen letzten Versuch. »Um die Zeit fallen wir denen doch bestimmt ins Essen!«

Aber wir fielen keineswegs ins Essen. Ich hatte die Klingel drüben noch nicht berührt, als sich die Tür schon öffnete. An der Türklinke hing Margot, eine hübsche schlanke Sache mit Stupsnase, in Häubchen und Schürze. Wir legten in einer großen Diele ab und wurden dann ins Wohnzimmer geführt, wo schon ein Tischchen mit Vermouth, Cognac, Keksen, Zigarren und Zigaretten vorbereitet war und uns Frau Sibyl Werneburg begrüßte. Auch sie hatte ein Kleid mit hohem Kragen und Brosche, aber darüber ein pfiffiges Gesicht mit großen blauen Augen und braunem Wüschelhaar. Offenbar bedeutend jünger als ihr Mann, stellte ich fest, während ich mich über ihre Hand beugte.

»Willkommen in Wildwest!« sagte sie mit tiefer Stimme. »Nehmen Sie doch Platz. Mein Alter wird auch gleich kommen. Er mottet gerade die Schildkröten ein. So was übermannt ihn immer, wenn Besuch erwartet wird.«

»Schildkröten?« fragte ich verwirrt.

Sie schlug sich auf die Schenkel wie ein Dragoner und lachte schallend: »Da staunen Sie, was? Wir haben nämlich Schildkröten, zwölf Stück. Eine davon schon dreißig Jahre. Hochzeitsgeschenk. Darauf muß man kommen, was? Aber auf so was kommt er. Zum Herbst bringt er sie in den Keller und legt sie, in Gras gewickelt, auf einen Haufen. Da halten sie Winterschlaf.«

»Schildkröten!« sagte ich. »Ich hatte auch mal eine, als Junge, aber die war mir...«

Ich bekam von der Mama einen Tritt unter dem Tisch, aber Sibyl lachte mich freundlich an: »...zu stumpfsinnig, nicht wahr? Aber Sie irren sich, Sie sollten mal sehen, wenn die zur Paarungszeit lustig werden! Die Männer versuchen sich gegenseitig umzurennen, daß die Panzer nur so krachen. So viel Mühe«, sie warf einen Blick zur Mama hinüber, »geben sich unsere Herren der Schöpfung heute nicht mehr, nicht wahr? Und jede hat ihre Individualität«, wandte sie sich wieder zu mir. »Sie sollten mal Mäuschen sehen, das ist ‘ne Einzelgängerin, bleibt nie bei den anderen und kriecht immer in die äußersten Winkel. Damit wir sie überhaupt wiederfinden, haben wir den Panzer angebohrt, und mein Ferdinand hat einen Antennendraht ‘reingesteckt mit einem Fähnchen dran.« Sie hob das Glas: »Also — auf gute Nachbarschaft!«

»Auf gute Nachbarschaft!« sagte eine Stimme von der Tür her. Es war der Herr des Hauses, und er wirkte ungeheuer direktorial, um nicht zu sagen generaldirektorial, wie er da im Türrahmen stand. »Wir werden sie nämlich nötig haben, die gute Nachbarschaft«, sagte er, während wir anstießen, »wenn wir einschneien im Winter.«

»Schneien wir eigentlich tief hier ein?« fragte die Mama.

»Das ist Ansichtssache«, meinte die Werneburgerin. »Gewöhnlich gucken Sie noch mit dem Kopf ‘raus, wenn Sie aus dem Kino nach Hause kommen. Aber garantieren kann ich’s nicht. Vor zwei Jahren, bei dem großen Schneefall, hat man uns einen Tunnel schippen müssen, damit wir an unsere Haustür kamen.« Sie lachte gutmütig, als sie Mamas Entsetzen sah. »Aber es ist alles halb so wild. Wir haben so ‘n Geheimabkommen mit dem Enzinger, das ist der Fuhrunternehmer, der den Schneepflug hat und die Straße frei halten muß. Wenn man ihm ‘ne Flasche Schnaps gibt, macht er so ‘nen kleinen Schlenker in unseren Feldweg ‘rein — na, und den Weg ins Haus müssen Sie sich selber frei schaufeln. Sie haben ja ‘nen kräftigen Mann in der Familie.«

In diesem Augenblick erschienen die beiden Hunde, die als Tommy und Elfie vorgestellt wurden, Mutter und Sohn. Elfie war schon sehr, sehr alt. Ihre Äugelchen schimmerten bläulich, und sie rannte gegen ein Stuhlbein, als sie den Keks aus meiner Hand nehmen wollte. Tommy war sehr auf Draht und knurrte uns zuerst an. Aber zwei Minuten später saß er auf dem Schoß meiner Gefährtin, und nach weiteren fünf Minuten lag ich mit ihm auf dem Teppich und raufte um sein Bällchen. Der Werneburger hatte inzwischen die alte Elfie auf den Schoß genommen und redete ihr zärtlich ins Ohr.

»Er kämmt und badet sie selbst«, sagte die Werneburgerin, »das ist die einzige alte Dame, für die er sich interessiert. Sonst ist er mehr für jüngere Jahrgänge.«

Es war keine Rede von nach Hause gehen, man ließ uns einfach nicht. Wir mußten zum Essen bleiben, und nach dem Essen gingen Werneburg und ich mit seinen Hunden hinters Haus und tauschten unsere Witze. »Was machen denn eigentlich Ihre Hunde?« fragte Werneburg schließlich.

»Ach du liebe Zeit — die habe ich ja ganz vergessen. Ich glaube, die müssen auch mal ‘raus.«

»Dem Gebelle nach scheinen sie’s eilig zu haben«, sagte er. Und in der Tat, seit das eingeschlossene Trio drüben meine Witze erzählende Stimme vernommen, schien unsere Zauberschachtel von ihrem Gebrüll zu bersten.

»Lassen Sie sie doch einfach ‘raus«, sagte Werneburg, »und ich lasse unsere dazu, wird schon nichts passieren.«

»Lieber nicht«, sagte ich, »vielleicht morgen. Unser Weffi ist ja ‘ne gemütliche Nummer, und unser Peter ist immer ganz für sich. Aber bei Cocki weiß man nie — er ist Diktator von Beruf.«

»Gerade der ist mir am liebsten«, meinte Werneburg.

»Also, ich werde sie ‘rauslassen, aber bitte, behalten Sie Ihre beiden hier drin, sie sollen sich erst mal beschnuppern.«

»Gut.«

Ich ging ‘rüber und holte meine drei ‘raus. Sie stürzten sich sofort durch unsere Zauntür über die Straße und berochen sich mit den beiden Werneburg-Hunden durch den Zaun. Peter war gleich damit fertig, stellte sich neben mich und sah mich vorwurfsvoll an: »Wo bist du denn bloß so lange geblieben!«

Tommy kläffte Weffi an, der ihm darauf mit gezierter Gebärde die Pfote durchs Gitter steckte. Tommy roch an seinen albernen Steckkrallen, nieste, stellte sich dann schützend neben Elfie und zeigte Cocki die Zähne. Der Dicke war von der greisen Elfie völlig hingerissen und wedelte so, daß sein ganzes Hinterteil wackelte. Elfie ihrerseits schien seinen Reizen gegenüber keineswegs unempfindlich. Sie drängte jedenfalls ihr Hinterkastell ans Gitter, damit er es bequemer hatte. Tommy, von dieser mütterlichen Koketterie vollkommen verwirrt, machte dem Dicken eine tiefe Verbeugung, hob dann das Bein und spendierte ihm einen kurzen, herzlichen Strahl. Cocki beroch draußen auf dem Weg das Gebotene und erwiderte würdevoll in den Garten hinein. Dort berochen es Tommy und Elfie Kopf an Kopf.

»Na, das scheint sich ja zu machen«, meinte Werneburg. »Morgen müssen Sie den Dicken unbedingt frei laufen lassen.«

»Und wenn er nun zu Ihnen ‘rüberkommt?«

»Macht nichts, sie müssen sich sowieso aneinander gewöhnen.«

Als ich am nächsten Vormittag die Vorhänge zur Seite zog und zu Werneburgs hinüberschaute, ging er gerade in die Stadt. Aus irgendeinem Grunde nahm er die Hunde nicht mit. Sie blickten ihm durch den Zaun nach und gingen dann wieder an ihre Plätze: Elfte vor die Haustür und Tommy ans Bassin, das auf der höchsten Stelle des Gartens lag. Dort saß er, wie eine kleine Schildwache, und schaute um sich.

Die Stunden verrannen. Ich arbeitete an meinem neuen Buch und sah ab und zu durchs Fenster auf meine drei, die im hinteren Garten beschäftigt waren. Jawohl, wir hatten zwei Gärten. Ein kleiner lag vor dem Haus nach der Straße hin und ein größerer hinter dem Haus. Er fiel steil zum Gebirgsbach hin ab. Wie wunderbar übrigens dieser Bach war! Er schäumte zwischen riesigen bemoosten Steinen, und in seinem Bett lagen gestrandete Baumtrümmer, von Sonne und Wasser ausgebleicht, wie Knochen von Ungeheuern. Der Dicke watschelte gerade durch den Bach hindurch ans andere Ufer, wo, wie mir Werneburg gestern erzählt hatte, mitunter gewaltige Hirsche zur Tränke kamen. Weffi buddelte mit unermüdlichem Eifer ein Mauseloch auf und zerriß ab und zu mit dem Wolfsgebiß ein paar Wurzeln, die sich seiner Bergknappenarbeit in den Weg stellten. Peterle hatte sich offenbar vorgenommen, den Bach zu säubern. Er räumte einen Ast nach dem anderen weg und schleppte ihn mit ungeheurem Kraftaufwand ans Ufer. Schließlich wurde es ihm langweilig, er schüttelte sich, warf einen kurzen Blick zu mir herauf und legte sich dann, genau wie damals im großen Haus, auf die Schwelle, wo er Maniküre betrieb. Ab und zu blinzelte er traumverloren in die dünne Novembersonne.

Es war so wunderbar erholend, aus dem Fenster zu hängen und einfach all diese kleinen Dinge zu beobachten, die in tiefer Gemächlichkeit geschahen. Jetzt öffnete sich drüben bei Werneburgs die Tür, die niedliche Margot erschien und stellte den beiden Hunden ihre Freßnäpfe hin. Elfte tappte witternd auf ihren Napf zu, nahm ein paar Bissen und legte sich dann wieder hin. Auch Tommy kam, roch an seinem Napf, wich aber zurück und setzte sich wieder ans Bassin. Er sei ein schlechter Fresser, hatte mir Werneburg gestern gesagt, während wir am Bassin standen und er vergeblich versuchte, mir seine Karpfen und Goldfische in Freiheit dressiert vorzuführen. Sie blieben in dem trüben Wasser des Beckens unsichtbar.

Jetzt kam der Dicke wieder durch den Bach zurück. Er watschelte zunächst an Weffis Mauseloch. Der zeigte ihm stumm die Zähne. Der Dicke tat, als ob er das gar nicht bemerke, und steckte die große Pappnase in den Schacht. Anscheinend war aber nichts Gescheites drin, denn er sah Weffi nur kurz an (>du bist doch ein richtiger Trottel!<), ging dann zur Hausschwelle, wo er sich von Peter begrüßen ließ, und wuchtete schließlich durch die offene Tür über den Weg auf den Werneburgschen Garten zu. Sollte ich ihn zurückrufen? »Sie müssen sich sowieso aneinander gewöhnen!« hatte Werneburg gesagt. Also, mal sehen, was sich weiter tat. Der kleine Löwe beäugte zunächst den Zaun, ob man ihn vielleicht überklettern könne, aber der hatte ziemlich eklige Spitzen. Darauf begann er mit der Tatze an der Tür zu arbeiten und hatte sie natürlich in null Komma nichts auf. Tommy erhob sich von seinem Platz und ließ ein leises Knurren hören. In totaler Nichtachtung wandelte der Diktator über die Solnhofer Platten auf die Werneburgsche Haustür zu.

Und dann begann er den ganzen Laden zu übernehmen. Zunächst besprang er die greise Elfie, die ihm freundlich entgegenkam und sich von seinem männlichen Charme überwältigt zeigte. Tommy stellte sich daneben und sah es sich ratlos an. Nach Erledigung dieses Programmpunktes wandte sich Cocki nunmehr Elfies Freßnapf zu. Tommy fühlte sich jetzt wieder moralisch auf festem Grund und Boden und fletschte den Diktator mit einem bösen Knurren an. Cocki, ihn aus seinen blutunterlaufenen Säuferaugen beobachtend, leckte geruhsam den Schüsselrand leer, und dann, mit einer schattenhaften Bewegung, sprang er Tommy in den Nacken, packte ihn mit dem sicheren Griff des alten Raufboldes, haute ihn mit seiner Bullenkraft dreimal auf die Erde und schmiß ihn in einen abgeblühten Rosenstrauch, wo er winselnd liegenblieb. Darauf wuchtete er auf Tommys Napf zu, atmete auch dessen Inhalt ein und setzte zum Schluß, gewissermaßen als Siegel unter seine Eroberung, ein Denkmal auf die Werneburgsche Türschwelle.

In diesem Augenblick sah ich Werneburg heimkehren. Ich war ihm unbedingt ein Wort der Aufklärung schuldig und rannte schnell die Treppe hinunter. Als ich drüben am Zaun ankam, stand dort Cocki, sich völlig als Herr des nachbarlichen Grundstücks fühlend, und verwehrte mit gefletschten Zähnen dem Hausherrn den Eintritt.

»Nanu«, sagte Werneburg, »was ist denn hier los? Ach, da sind Sie ja! Was hat er denn, der Dicke?«

»Was er hat? Er hat von Ihrer freundlichen Erlaubnis Gebrauch gemacht, er ist ‘rübergegangen, hat sich die Tür aufgemacht, hat Elfie besprungen, Tommy ins Gebüsch geschmissen, die Näpfe leergefressen, Ihnen eine Wurst vor die Tür gelegt, und jetzt will er Sie nicht ‘reinlassen. Da haben Sie’s!«

Werneburg sah mich einen Moment verdutzt an, und dann brach er in ein homerisches Gelächter aus. Er lachte, daß ihm die Tränen herunterliefen. Dann beugte er sich zu Cocki nieder, nahm den dicken Kopf trotz der gefletschten Zähne in die Hand und knudelte ihn: »Cocki — nein, du bist großartig!« Der Dicke warf ihm einen Schelmenblick zu, ging vorn in die Beuge und hielt ihm das Hinterteil hin.

»Dicker«, sagte ich, »da hast du wieder mal Glück gehabt, daß du so ‘nen guten Onkel gefunden hast.«

»Na, erlauben Sie mal«, sagte Werneburg, »er ist eben ein ganzer Kerl, einer mit Ellbogen. So einer war ich auch mal, und ich war mir selber immer sehr sympathisch. Übrigens, ich hab’ dauernd unterwegs nachgedacht: den Witz mit dem Lederreisenden, den müssen Sie mir noch mal erzählen.«

3

Es verging eine Woche, und noch immer war der Winter nicht da. Die Wiesen lagen grün zwischen kahlen Sträuchern, sogar einzelne Blumen sprossen noch jetzt, am Beginn des Dezember, und der Waldenauer Heimatbote verfehlte nicht, diese Erscheinung unter Zitierung des Hundertjährigen Kalenders zu vermerken.

Jeder von uns sechsen begann, sich in dem neuen Lebenskreis einzurichten. Frauchen hatte schon eine Unmenge Leute aufgetan, die ich unbedingt kennenlernen mußte, aber nicht wollte. Außerdem graste sie die Waldenauer Geschäfte ab und entdeckte einige wirklich erstaunliche Gelegenheiten, wie Leberecht Pruchtdörflers >neu renoviertes< Warenhaus. Die Mama hingegen schwor auf Heitauers, das waren die Inhaber des Verkaufsstandes am Bahnhof. Sie bestand darauf, des Morgens Brötchen, Butter und Milch von dort zu holen, und bezog auch ihren Vermouth, ihre Blockschokolade und die Waldenauer Skandalchronik von dort. »Die Frau Heitauer hat gesagt...« Damit begann gewöhnlich ihr Frühstücksbericht.

Ich für mein Teil arbeitete an dem neuen Buch. Langsam, bedächtig und voll Genuß. Dazwischen legte ich große Pausen ein, in denen ich >Prächtig< reparierte oder an meiner Antenne bastelte. Es gelang mir, Australien und Indien auf Kurzwelle zu empfangen, und ich versuchte die holde Weiblichkeit dafür zu begeistern: »Hört euch das an — Australien!«

»Das quiekt ja so!« sagte die Mama.

»Quiekt! Ein kleiner Störsender! Was verlangst du auf zwanzigtausend Kilometer Entfernung? Wenn du hier ein Loch in die Erde bohrst und immer tiefer bohrst, so daß du auf der anderen Seite der Erde herauskommst, bist du in Australien!«

»Ich will aber nicht nach Australien und will auch kein Loch bohren«, sagte die Mama. »Mir genügen die Löcher, die du in deine Socken bohrst.«

»Na, wenn er doch Delhi hört!« meinte Frauchen versöhnlich.

»Das ist in Indien«, sagte ich, »das war gestern.«

»Oh! Und was ist das hier?«

»Australien. Davon rede ich doch die ganze Zeit!«

»Deshalb brauchst du mich doch nicht anzuschreien. Wovon redet der denn? Das ist doch Sport.«

»Ja. Kricket-Ergebnisse.«

»Das interessiert dich doch aber gar nicht!«

»Natürlich nicht. Aber es ist doch Australien.«

»Aha!« Die Gefährtin sah mich einen Moment prüfend an, und dann verbreitete sich ein gütiges, mütterliches Lächeln über ihr Gesicht: »Na, das ist aber schön!«

Schön! Als ob ich ein Säugling wäre, der an seinem großen Zeh spielt und >da — da — do< macht.

»Du könntest uns heute nachmittag in die Stadt fahren«, sagte die Gefährtin und hatte einen träumerischen Ausdruck im Gesicht. »Ich muß noch Schrankpapier kaufen, und dann will ich auch mal eine Tasse Kaffee und Kuchen haben und ein paar Journale lesen.«

In die Stadt fahren! Ich hatte an >Prächtig< ein Klappern entdeckt und den halben gestrigen Vormittag unter ihm auf dem Rücken liegend verbracht, um das Klappern zu finden. Schließlich glaubte ich auch es gefunden zu haben. Ein lockeres Spurstangengelenk. Es war mir auch gelungen, es abzumontieren, aber nun bekam ich es nicht wieder an, und ohne Spurstange kann man ja schließlich schlecht fahren.

»Wir sollten solche kleinen Strecken nicht fahren«, sagte ich. »Ein Spaziergang täte uns gut.«

»Ich muß mir erst ein Paar richtige Laufschuhe kaufen«, erklärte sie. »Wozu haben wir schließlich den Wagen? Oder ist was nicht in Ordnung?«

»In Ordnung? Natürlich in Ordnung! (Laufschuhe! Solange ich sie kannte, wollte sie sich die richtigen Laufschuhe kaufen, und dann waren es doch immer wieder welche mit hohen Hacken. Ich mußte schleunigst ins Städtchen und einen Mechaniker auftreiben.) Dann gehe ich jetzt mal ‘raus!«

Ich zog mich an, pfiff ohne Erfolg den Hunden und setzte mich in Marsch. Nach einigen Minuten schoß etwas Schwarzes von hinten an mir vorbei und schrumpfte in Sekundenschnelle zu einem Punkt zusammen. Dann kam der Punkt wieder zurück, verwandelte sich in Peter und sprang an mir hoch, so daß wir einen Moment Auge in Auge waren. »Ja, Fliegenbein, wo kommst du denn her?«

Wir wanderten nun Seite an Seite, und ich mußte daran denken, wie sehr sich Peter seit seiner Rückkehr verwandelt hatte. Er war noch immer Cockis zärtlicher Freund, küßte ihn, legte sich vor ihm auf den Rücken, wand sich unter seinem Hals durch. Aber er war nicht mehr sein Sklave. Ich dachte an eine kleine Szene, die ich vor ein paar Tagen beobachtet hatte, als die drei ihr Fressen bekamen. Wie üblich hatte der kleine Löwe seinen Napf mit der Präzision und Schnelligkeit eines Staubsaugers leergeatmet und nahm Kurs auf Peters Napf. Peter blieb ruhig liegen, aber er zeigte die Haifischzähne und stieß sein Bernhardinergrollen aus. Cocki stutzte, und zwischen den beiden gingen ein paar Blicke hin und her, zu denen nur noch die Worte fehlten. Peters Augen sagten: »Ich habe dich sehr lieb, das weißt du. Aber das gibt’s nicht mehr, das hat aufgehört!«

Und der Dicke, die eisernen Muskeln und die wilde Entschlossenheit seines Brüderchens abschätzend, erwiderte: »Na gut — wenn du meinst.« Er drehte sich um, und in seinem Gesicht waren richtige Kummerfalten: »So geht’s einem mit den Kindern, wenn sie erwachsen werden!«

Und gerade jetzt ein anderes Beispiel. Cocki hatte sich infolge eines momentanen Mangels an Bräuten auf die Jagd verlegt und schnüffelte emsig in den Felsen jenseits des Baches herum. Früher wäre Peter sein demütiger Schatten gewesen. Undenkbar, daß er sich von ihm getrennt hätte. Nun aber blieb er bei mir.

Wir kamen bei Heitauers vorbei, und ich mußte mit einem Lächeln an Weffi denken, der sich diese Ecke für seine Ausflüge gewählt hatte. Die Heitauer-Tochter, eine pausbäckige, steif bezopfte, elfjährige Angelegenheit namens Monika, war nämlich Besitzerin eines Drahthaarfoxls aus Stoff, den sie Weffi getauft hatte. Der lebendige Weffi hatte sich den nachgemachten zum Spielzeug ausersehen und besuchte ihn bei jeder Gelegenheit. Manchmal tat er so, als nehme er ihn ganz ernst, beroch ihn von vorn und hinten, kniete sich vor ihm nieder und bellte ihn an. Manchmal schleppte er ihn auch im Maul herum, und dann mußte man aufpassen, daß er sich nicht mit ihm in eine Ecke verzog und ihn auseinandernahm. Weffi — das ewige Kind!

Peter kam mit einer Runkelrübe an, und wir spielten Bällchen mit ihr. Dann ließ er sie plötzlich fallen, sträubte die Haare und drängte sich an mich. »Was ist denn los, Peter? Ach so, das Sägewerk, und da ist ja auch Harras!« Da stand er, im Tor des Werkes, ein riesiger Schäferhund, und duckte sich zum Angriff. Ich bückte mich nach einem Stein, worauf er knurrend in das Tor zurückwich.

»Komm schnell weiter, Peterle, ich hab’ was gegen Sägewerke.«

An der nächsten Ecke verschwand Peter von meiner Seite und bog in den Hof einer Metzgerei ein. Ich ging eine Weile weiter und blieb dann vor einem Radiogeschäft stehen. Als ich mit dem Schaufenster fertig war, fiel mir Peter ein. Noch nicht zurück?

Vielleicht sollte ich... Da kam er ja! Aber war er das? Ich erstarrte. Etwas Fürchterliches kam auf mich zu. Es war Peter, und doch war er’s nicht, denn aus seinem dunklen Köpfchen fletschten mir zwei Reihen riesiger breiter Zähne entgegen. Ein Ungeheuer! Tollwut? Aber wo hatte er denn die Zähne her? Da war er heran, und ich sah es: er hatte auf dem Abfallhaufen der Metzgerei ein Kalbsgebiß ergattert und es so gepackt, daß es aussah wie sein eigenes. Peter, mit vorgeschnalltem Kalbsgebiß, wandelte stolz an mir vorbei, den Hals affektiert gekrümmt wie ein Lipizzanerhengst bei der Hohen Schule. Vor dem Haus des Apothekers lag der alte Nanuk, eine Chow-Chow-Mischung. Als er das Gespenst auf sich zukommen sah, riß er vor Schreck oder Staunen den Rachen auf. Peter ließ das Gebiß fallen, Nanuk stand auf, beroch es, sah zu mir auf: »Ideen sind das!«

Dann kehrte er um und ließ sich wieder vor dem Laden niederfallen.

In der Stadt trieb ich einen Mechaniker auf und verabredete, daß er gleich herauskommen sollte. Er kam natürlich gerade, als wir Mittag aßen, und wurde von Cocki mit ungeheurem Gebrüll empfangen.

»Was will der eigentlich?« fragte Frauchen, während ich die Nase möglichst tief in den Suppenteller steckte.

»Will? Ach so. Hab’ ihn zufällig getroffen. Ins Gespräch gekommen. Als ich ihm erzählte, daß ich einen Sonderbau hätte, wollte er ihn sich mal ansehen.«

»Der klopft doch aber da!« sagte die Mama.

»Klopft? Klopft er?«

»Ja, er klopft«, sagte Frauchen und wechselte einen Blick mit der Mama.

»Na, laßt ihn ruhig klopfen. Ich hab’ ihn gebeten, mal gleich das Chassis zu kontrollieren. Vielleicht hat er was gefunden.«

»Wäre es nicht besser«, meinte die Gefährtin, »wenn du den Wagen immer gleich in die Werkstatt brächtest? So mußt du dem Mann auch noch den Weg bezahlen.«

»Mein liebes Kind«, erklärte ich freundlich, »das verstehst du nicht. Das Wesentliche ist, den Fehler zu finden. Und ich habe ihn gefunden. In der Werkstatt hätten sie zwei Stunden lang danach gesucht und ihn dann wahrscheinlich doch nicht gefunden.«

»Vielleicht war gar nichts dran kaputt«, meinte die Mama.

»Dann würde er nicht klopfen!« sagte ich voll gütiger Nachsicht.

»Da hat er recht!« sagte Frauchen. »Laß ihn ruhig seinen Wagen so’n bißchen kaputtmachen. Hauptsache, er ist bis nachmittags ganz.«

Ich seufzte und sah zur Seite, wo Peterchen saß und mich anblickte. Wir wenigstens verstanden uns.

Und dann, wenige Tage später, als ich des Morgens mein Fenster aufstieß, sah ich oben auf dem Berg frischen Schnee. Er reichte bis zur Waldgrenze. Der Winter hatte dem Berg die Tatze aufs Haupt gelegt. Bald würde er zu uns heruntersteigen.

Über mir wurde auch ein Fenster aufgestoßen, und der Kopf der Mama erschien.

»Sieh mal — da oben!« sagte ich. »Wie das glitzert! Wunderbar

— was?«

»Mir tropft jetzt schon die Nase, wenn ich dran denke.«

»Aber Pessimunkelchen, wir haben doch Kohlen.«

»Kohlen! Gestern hast du dir wieder die neuen Knickerbocker total eingedreckt, als du die Kohlen ‘raufgeholt hast. Ich habe die halbe Nacht daran ‘rumgescheuert.«

»Du hast schon ab zehn Uhr geschnarcht, aber ich breche, falls du es wünschst, trotzdem in Tränen aus.«

»Du bist und bleibst ein Ferkel!« Fenster zu.

Jemand kratzte mich am Bein: Cocki. Ich hockte mich nieder: »Ferkel hat sie zu mir gesagt, Dicker. Spricht so eine Mutter aus guter Familie zu ihrem erwachsenen Sohn?« Er hechelte, ging zur Tür und kratzte. Plötzlich waren auch Peter und Weffi da. Alle drängelten gegen die Tür.

»Nanu, Kinder«, sagte ich, »habt ihr’s denn so eilig?«

Ich band ihnen die Halsbänder um und ließ sie hinaus. Cocki watschelte jedoch nicht wie sonst zu Werneburgs hinüber. Er blieb mitten auf dem Weg stehen und hob die große Pappnase witternd in den Wind. Dann setzte er sich nach der Straße hin in Bewegung, schnüffelte dort wieder herum und wackelte weiter.

»Cocki«, rief ich, »warte — komm zurück!« Er warf mir einen Blick zu und setzte sich in Galopp. Peter sah ihm nach und setzte sich dann auch in Trab. »Bleib du wenigstens hier!« rief ich ihm nach. Er zauderte einen Moment, dann sah er mich bedauernd an: »Tut mir leid, aber es ist wirklich sehr wichtig!« Er fegte hinter Cocki her.

Weffi, der Hanswurst, mußte natürlich auch mitsausen und schrie Peter einige Bemerkungen ins Ohr. Peter blieb stehen, fuhr fauchend wie eine Schlange herum, packte Weffi am Ohr und beutelte ihn durch: »Du machst mich noch wahnsinnig, es ist ja nicht zum Aushalten!« Dann galoppierte er wieder, die Nase tief am Boden, hinter dem Dicken her.

Weffi kam traurig zurück und stellte sich mit eingezogenem Schwänzchen vor die Tür. Ich holte ihn ‘rein. Er blutete und sah mich betrübt an: »Sie wollen mich nicht!«

»Na«, sagte ich, während ich ihm den Biß auswusch, »wenn du aber auch allen in die Ohren schreist und in die Schuhe beißt und so. Mit mir kannst du’s ja machen, aber du findest nicht noch mal so ‘nen alten Esel, der sich alles von dir gefallen läßt.«

Er seufzte.

»Du brauchst gar nicht so zu seufzen«, sagte ich. »Die sind sicher zu so einem blöden Weib gelaufen. Da versäumst du gar nichts. So, jetzt das linke Beinchen auch kämmen. Was haben die denn davon? Sitzen vor irgendeinem Haus, verkühlen sich den Po und knurren sich an. Na, und? So, jetzt noch die Äugelchen!«

Zum Frühstück keine Spur von Cocki und Peter. Ihre Milchnäpfe blieben unberührt, und Weffi soff sie alle beide leer, voller Stolz, Herr aller drei Näpfe zu sein und sogar den des kleinen Löwen leeren zu dürfen.

»Möchtest du dich nicht mal um die beiden kümmern?« fragte, die Mama. »Wer weiß, wo sie sind! Sie können ja an große Hunde geraten sein und irgendwo zerbissen herumliegen! Auch kann ein Auto sie überfahren haben, sie sind doch noch gar nicht an den Verkehr gewöhnt! Und es sind doch jetzt sicher schon viel mehr Wagen da wegen des Schnees oben in den Bergen!«

»Den beiden Strolchen passiert nichts!« sagte ich männlich und würdevoll. Aber in meinem Innern hatte ich auch etwas Angst, wie ein Hundevater sie immer empfindet, wenn sein Verein nicht komplett ist. Ich ließ den Kleinen daheim, nahm die Leinen der beiden anderen und wanderte dem Ort zu. Nach einigen vergeblichen Streifzügen hörte ich es vielfach bellen. Ich bog in die kleine krumme Gasse hinter der Kirche ein, und dort, vor dem Pfarrhaus, saßen sie, inmitten einer großen Versammlung. Die Tagung galt ganz offenbar der strubbeligen schwarzen Schäferhündin des Pfarrers, die auf den Namen Nausikaa hörte. Ganz vorn, in der ersten Reihe, saßen die großen Hunde: die schwarzweiße Dogge vom Fleischer Wörle, der böse Wolfshund Harras vom Sägewerksbesitzer, daneben noch zwei Airdales, ein Dobermann und mehrere großgeratene Mischungen, die meisten von ihnen offenbar unter der Mitarbeit des Apotheker-Chow-Chow Nanuk entstanden. Diese Großen bildeten einen Verein, der im Laufe der Zeit eine strenge Rangordnung unter sich entwickelt hatte und nichts anderes neben sich duldete. Der einzige, der darin aufgenommen wurde, war, wie üblich, Cocki. Übrigens — wie ich mit Schmunzeln beobachtete — ein ungewöhnlich sanfter und charmanter Cocki, der diese Ehre sichtlich zu schätzen wußte und es als Eintrittspreis zuließ, daß die Großen ihn unter sich herumreichten, indem sie zum Zeitvertreib seine molligen Hüften umarmten.

In der zweiten Reihe saß allerhand kleineres und mittleres Zeug, ein Goldterrier, drei Foxl, die Bracke vom Förster Huber und fünf weiße Spitze. Auch Peter war darunter, aber während die übrigen sich mit der zweiten Reihe zufriedengaben, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, neben Cocki zwischen den Großen zu thronen. Das gelang ihm jedoch nicht. Zähnestarrende Riesenrachen fuhren ihm entgegen, und einmal veranstalteten Harras und der Dobermann direkt eine Treibjagd auf ihn. Nur seine phantastische Schnelligkeit bewahrte ihn vor einer schweren Züchtigung. Er blieb mit pumpenden Flanken und hechelnder Zunge weit hinten stehen und starrte aus heißen, wilden Augen auf den Kreis.

Ich ging auf ihn zu. »Komm, Peterle«, sagte ich, »gehen wir! Laß doch die Dussel hier sitzen!«

Aber er sah mich nur kurz an: »Das verstehst du nicht!« Dann machte er kehrt und schnürte, wie an der Leine gezogen, gegen den Marktplatz ab. Nanu, was sollte denn das? Aber zunächst mußte ich den Dicken abschleppen.

Das war leichter gedacht als getan. Der kleine Löwe zeigte nicht die geringste Neigung, sich von Nausikaas holden Düften zu trennen. Er spielte regelrecht Haschemich mit mir, zum großen Gaudium der Dorfjugend, die sich allmählich angesammelt hatte.

Ich hielt erschöpft und verärgert inne, wischte mir den Schweiß von der Stirn und war schon entschlossen, wegzugehen und der Versammlung ihren Lauf zu lassen. Da plötzlich sah ich etwas — und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Aus der Kirchgasse hervor brachen Peter und ein Hund, der auf den Namen Ratzi hörte und auch so aussah. Er war etwas ganz Niedriges, Dackel-beiniges, hatte vorn eine lange dünne Schnauze wie ein Ameisenbär und hinten einen riesigen dicken Schwanz, den er meist waagerecht hielt.

Es gehörte zu den Veränderungen, die sich an Peter seit seiner Heimkehr zeigten, daß er sich einen Hundefreund außerhalb des Hauses angeschafft hatte, und zwar eben diese Spitzwurst. Ratzi war, genau wie Peter, ein ausgesprochener Charakter und kommandierte eine ganze Schar kleiner Hunde im Ort. Darunter waren mehrere Dackel, Langhaardackel, Rauhaardackel, normale Dackel, Scotch-Terrier und die üblichen Promenadenmischungen, alles Parterreakrobaten wie er selbst. Er hielt seine Bande mit scharfen Bissen eisern im Zug. Sie unternahmen gemeinsame Raub- und Streifzüge, und ich sah sie oft über eine Straße kreuzen oder auf einem Stoppelfeld zusammen nach Mäusen graben, Peter immer neben Ratzi. Unter all diesem kurzbeinigen Gewimmel wirkte er wie der Storch im Salat. Das Verhältnis der beiden Freunde war ausgesprochen kollegial, ritterlich und beruhte offenbar auf einer tiefen gegenseitigen Wertschätzung. Peter tastete Ratzis Herrschaft nicht an, und Ratzi seinerseits war stolz auf seine engen Beziehungen zu einem Hochbeinigen.

Auch jetzt hatte die angespitzte Ratziwalze Mühe, mit Peters Getänzel Schritt zu halten, aber sie war wie aus Eisen und ihre Schnauze eine grimmige Nadel. Ihr Gefolge, bestehend aus fünfzehn Parterreakrobaten, bildete eine richtige Schlachtordnung in Form eines altgermanischen Stoßkeils und brach so in den Ring der großen Hunde ein. Die wollten die Eindringlinge zunächst mit warnendem Knurren und ein paar rüden Bissen abtun. Aber da hatten sie nicht mit Ratzi und seiner Bande gerechnet. Harras und der Dobermann, die sich am herrischsten gebärdeten, hatten plötzlich überall nadelscharfe Zähne an Bauch und Pfoten, und Peter gar hing an der Lefze von Harras, festgebissen wie eine Schlange. Der schüttelte ihn mit einem Ruck ab, aber im nächsten Augenblick saß ihm Ratzi am Hinterbein, und die weißen Spitze zwickten ihn in die Weichen und schrien ihm die Ohren voll. Das Ganze war ein wilder Knäuel. Die Schlachtordnung der Großen geriet ins Wanken, und sogar die Tigerdogge des Fleischers rückte brummend zur Seite, als Ratzi sie in den Schwanz zwickte. Nach fünf Minuten hatte sich die Gemeinde neu gruppiert. Die Großen saßen an beiden Flügeln, dumm und bedeppert dreinschauend und sich verschiedene Körperteile leckend, und in der Mitte, maßlos aufgebläht von Triumph, saßen Ratzi, Peter und die Parterreakrobaten. Cocki beschnüffelte sie ziemlich verblüfft alle der Reihe nach. Ratzi knurrte, aber Peter leckte Cocki die Schnauze und sah dann Ratzi an: »Der gehört zu mir!« Ratzi wedelte darauf einmal mit dem Riesenschwanz und rückte etwas zur Seite. Peter auch. Der Dicke machte eine höfliche Verbeugung, wobei er die Zunge im Rachen rollte, nahm aber den Platz nicht an. Das war unter seiner Würde. Statt dessen watschelte er um den Pfarrhof herum an den Hintereingang und maß den Zaun mit prüfendem Blick: Vielleicht ging es hier, wenn man auf den kleinen Vorsprung kroch und dann oben zwischen die Pfosten sprang?

Ich drehte mich um und wanderte langsam heim. Auch mal ganz schön, so ohne Hunde zu gehen. Jetzt erst, da ich nicht nach den geliebten Strolchen zu spähen brauchte, drang die ganze gewaltige Schönheit dieses Landes auf mich ein. Der Berg hatte sich einen dicken Wolkenhut aufgesetzt, die Zacken des Dreitausenders flammten wie Kristall, und die Schlucht wirkte wie der Eingang zur Unterwelt. Da lag ja auch mein Häuschen, unsere kleine schwarze Zauberschachtel. Die Mama legte gerade ein paar abgezogene knallrote Betten aus dem Fenster und unterhielt sich mit Frauchen, die vor dem Haus am Vogelhäuschen bastelte. Ein Krähenschwarm pumpte mit schwerem Flügelschlag darüber weg gegen den Wald.

4

Am nächsten Morgen stand eine klare Helle im Raum. Ich ging ans Fenster — Schnee! Die ganze Landschaft verzaubert. Die kleine Tanne in der Ecke hatte schon dicke Patzen auf ihren Zweigen. Der Rasen war verschwunden, der zottige Wald ein Wunder aus Rauhreif, und noch immer fielen die Flocken.

Als ich mit den Hunden hinausging, waren sie außer sich vor Freude. Schnee hatten sie schon immer als etwas ganz besonders Ulkiges und speziell für sie Ausgedachtes empfunden. Weffi kam von meinen Schuhen überhaupt nicht los. Er umkreiste mich wie eine Hornisse und hatte mir schon zweimal die Senkel aufgezogen. Zwischendurch verschlang er jedesmal mit einem albernen Haps einen ganzen Haufen Schnee.

»Laß das!« sagte ich immer, denn erfahrungsgemäß ging es ihm auf die Blase und im weiteren Verlauf der Entwicklung auf den Teppich. Der Dicke wälzte sich. Die Tatzen hoch in der Luft, rutschte er wollüstig geschlossenen Auges einen Abhang hinunter. Peter sauste. Er schrumpfte in Sekundenschnelle zu einem schwarzen Punkt zusammen, fuhr dann in ein Tannendickicht, daß eine ganze Wolke von Schnee aufstieg, riß blindwütig einen Zweig ab und kam damit angerast. Plötzlich war noch jemand bei uns: Tommy. Er hatte sich unter dem Gartenzaun durchgequetscht und fragte ganz ergeben und bescheiden, die Ohren steif nach hinten gelegt, ob er mitmachen dürfe. Peter inspizierte ihn. Er ließ es geschehen, das linke Vorderbein höflich erhoben. Peter drehte ab und sauste wieder davon: »Na, meinetwegen!« Tommy fegte hinter ihm her. Sie hatten Freundschaft geschlossen und sausten nun Seite an Seite dahin wie zwei Rennpferde, so eng, daß sich ihre Flanken im Sprung berührten.

Wir machten einen weiten Spaziergang. Es ging sich so schön in dem sanften Niedergleiten der Flocken. Da war ja schon das Sägewerk und auf der anderen Seite die Holzhütte des Bahnhofs. Im Eingang zum Sägewerk erschien ein großer Schatten: Harras, der Wolfshund. Der kleine Löwe watschelte direkt auf ihn zu. »Cocki«, rief ich, »komm her!«

Er dachte natürlich nicht daran, hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Bein ausgerechnet an einem Bretterstapel innerhalb des Geländes zu heben. Mit gesträubtem Nackenhaar stakste Harras auf ihn zu. Ein Stein — wo war ein Stein? Ich grub verzweifelt im Schnee. Da war einer, Gott sei Dank! Ich griff danach, aber es war ein gefrorener Pferdeapfel. Immerhin. Harras wußte es ja nicht. Ich nahm das Gebilde und holte gewaltig damit aus. Aber Harras ging dieses Mal nicht weg, sondern wendete mir mit einem dumpfen Knurren den Kopf zu. In diesem Augenblick kamen die drei anderen angetobt, voran Peter, das Haifischgebiß entblößt. Auch Tommy machte mit und zeigte seine mächtigen Foxlhauer. Sogar Weffi vergaß einen Moment sein Schneegefresse und gesellte sich den anderen zu. Der Große sah sich von vier Schnauzen umzingelt und machte steifbeinig knurrend kehrt. Er warf einen schrägen, bösen Blick auf den Dicken: »Na warte, wenn wir uns mal allein treffen!«

Auf dem Rückweg sah ich die Werneburgerin, die sich gerade von der Mama verabschiedete und ein Tütchen in der Hand hielt.

»Wo bleibst du denn?« rief die Mama. »Der Kaffee ist fertig! Wir hatten schon Angst!«

Die Werneburgerin kniff ein Auge zu: »Nichts wie Sorgen hat man mit den Männern.«

»Wieso denn?«

»Meiner liegt im Bett und niest. Heute morgen hat er entdeckt, daß sein Karpfenteich zufriert. Er ist ‘reingestiegen mit bloßen Füßen, um seine Karpfen zu fangen und für den Winter einzupacken.«

»Einzupacken?« wiederholte ich fassungslos. »Die auch?«

»In der alten Badewanne im Keller. Schlimmer als zehn Säuglinge. Ich habe mir eben etwas Hustentee geborgt von Ihrer Mama.«

Ich arbeitete bis zum Mittag. Nach dem Essen kümmerte ich mich um >Prächtig<. Ich fuhr in die Stadt und ließ ihm Frostschutzmittel einfüllen. Dann stellte ich ihn wieder in seinen Schuppen, zog mir zwei Pullover an und darüber den Monteurskittel, ließ mir von der seufzenden Mama zwei Eimer heißes Wasser aushändigen und wusch ihn. Als ich gerade mittendrin war, rollte eine schwere schwarze Limousine in die Einfahrt, und heraus kletterte Paul. Ich stürzte auf ihn zu und vergaß vor Begeisterung, den Schwamm aus meiner Hand zu legen, bevor ich ihm die seine schüttelte.

»Pfui Teufel«, sagte er, »das nächstemal nehme ich ‘nen Blinddarm in die Hand!«

Auf der anderen Seite kroch Josef grinsend hinter dem Steuer vor und kam um den Wagen herum. Paul sah an mir vorbei auf >Prächtig<: »Aha, da ist er ja! Josef, geh mal hin und sieh nach, ob dieser Amateur ihn auch richtig pflegt!« Er wandte sich zu mir: »Und du hättest mir auch nicht gleich, nachdem du wieder ein Krösus bist, das Geld für den Wagen zu überweisen brauchen.«

»Na, erlaube mal, das war doch das wenigste, was ich tun konnte, dafür daß du...«

Er mimte den Erstaunten: »Dafür daß ich was? Du bringst mich um meinen Zinsgewinn! Deswegen habe ich ja die ganze Sache mit dir gemacht. Da ist ja dein unglückliches Weib!« Er grinste mich an: »Übrigens, ehe ich’s vergesse, ich habe noch jemanden an Bord!«

Die Tür auf der anderen Wagenseite öffnete sich, und wer erschien, in einem prächtigen neuen dunklen Mantel mit einem schicken Hütchen? Mathilde!

»Mach den Mund zu, es zieht«, sagte Paul.

»Ja — aber — das verstehe ich nicht.«

Er gab meiner Gefährtin, die sich zu uns gesellt hatte, einen Begrüßungskuß und legte ihr den Arm um die Schulter: »Die gute Agathe hatte einen Schlaganfall vor sechs Wochen. Ich habe sie in einem netten Heim untergebracht. Sie ist einigermaßen zufrieden. Vierzehn Tage später kam zufällig Mathilde zu mir, um nach deiner Adresse zu fragen. Da haben wir uns gleich geeinigt, nicht wahr, Mathilde?«

»Ja, Herr Professor! Guten Tag, gnädige Frau, guten Tag, Herr Bentz!«

»Sie schwärmen ja den Professor noch immer an, Mathilde!« sagte ich. »Verliert sich denn nicht sein günstiger Eindruck bei näherer Besichtigung?«

Sie reichte mir beide Hände: »O nein! Ich bin ja so glücklich! Was machen denn meine Hündchen? Ich habe gehört, daß Peterle...«

»Also, ich gehe erst mal ‘rein«, sagte Paul und verschwand, von meiner Seite. Große Empfangsszene an der Haustür unter Mitwirkung der Mama und aller drei Hunde. Mathilde war derweil in die Garageneinfahrt getreten: »Paß auf, daß du dich nicht schmutzig machst, Josef«, sagte sie. »Ich habe dir die andere Hose erst gestern wieder mit Fleckwasser sauber gemacht. Ja, Peterle, da bist du ja, mein Liebling.« Und damit wurde sie in den Sog der allgemeinen Begrüßung gerissen.

Ich war mit Josef allein. »Na, na, Josef«, sagte ich, »gestern schon die Hose sauber gemacht — ziemlich verdächtiger Tonfall!«

Er sah mich schief von unten an, nahm die Mütze ab und kratzte sich den Kopf: »Ja — ich weiß noch nicht so richtig. Andererseits — so ‘n oller Junggeselle ist auch nix Gescheites. Was meinen Sie?«

»Ich meine gar nichts, mein Lieber, ich erkläre mich neutral. Einerseits sind Sie Leidensgefährte oder wenigstens im Begriff, es zu werden, andererseits schätze ich die gute Mathilde sehr.«

Er sah mich an und nickte: »Mm — mm — sie schätzt Sie auch, und ich bin ja nun ‘n Laie auf dem Gebiet, ich meine so mit Ehe und so. Warum lappt sie mich eigentlich immer so an und behandelt mich wie ‘nen kleinen Jungen? Gehört das dazu?«

»Nicht unbedingt, Josef. Aber ich werde sie fragen.«

Er erblich: »Aber sagen Sie bitte nicht etwa, daß ich...«

»Aber Josef! Erstens habe ich’s ja mit angehört, und zweitens: wenn Sie jetzt schon solche Angst haben, was für eine Angst werden Sie erst nachher haben, wenn’s kein Zurück mehr gibt? Kaufen Sie sich gleich zur Hochzeit ‘n bißchen billiges Geschirr und werfen Sie das gelegentlich gegen die Wand oder auf den Fußboden. Das verschafft Respekt.«

Drinnen hatte man sich inzwischen beruhigt. Es roch nach Kaffee, Paul schleppte Stühle von unten nach oben, Mathilde schnitt in der Küche Kuchen, wurde aber dann von der Mama hinausbefördert: »Das wäre ja noch schöner, Mathilde, hier sind Sie jetzt Gast!«

Auf diese Weise waren Mathilde und ich plötzlich in der Bibliothek allein. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit den dreien, die ihr nicht von der Seite wichen. Weffi sprang auf ihren Schoß, der Dicke hatte die Tatzen auf ihre Knie gelegt und hechelte sie albern an, und Peterle saß neben ihren Knien und machte Männchen. Sie streichelte seinen Kopf: »Ach, mein kleiner Affe, ich habe ja gehört — mit der Kiste — na, furchtbar! Wie lange ist er denn schon wieder hier?«

»Na, so drei Wochen werden’s wohl sein. — Ich habe Sie fast nicht wiedererkannt, Mathilde!«

Sie lächelte verschämt und warf mir von unten einen neckischen Blick zu: »So?«

»Ja, Mathilde, und ich muß sagen, ich fühle mich etwas enttäuscht und gekränkt! Ich hatte gedacht, Sie würden mir nachtrauern. Aber kaum sind ein paar Monate vergangen — nehmen Sie sich statt meiner gleich zwei Männer! Den Professor fürs Ideale und den Josef — scheint ja ziemlich ernst zu sein!«

Sie sah schnell auf: »Ja — glauben Sie? Hat er was zu Ihnen gesagt?«

»Und ob ich glaube, Mathilde! Wissen Sie, schon damals, als wir das Haus aufgeben mußten, habe ich mir das gewünscht!«

Sie sah mich verblüfft an: »Schon damals?«

Ich nickte: »Nur — seien Sie do ‘n bißchen nett zu ihm!«

»Das bin ich doch! Oder nicht?«

»Sie könnten netter sein. Es wirkt nicht gut, wenn Frauen ihre Männer in Gegenwart anderer ermahnen und von Flecken in Hosen großes Gedöhns machen.«

»Hat er Ihnen das etwa gesagt?«

»Nein, Mathilde, das war nicht nötig, ich habe ja schließlich einige Praxis.«

Ihr Blick wurde neugierig, während sie wiederum verschämt lächelte: »Ach ja — richtig! Ja, was würden Sie als Mann denn nun erwarten, das man zu Ihnen sagt?«

»Na — Schnuckiputzi, zum Beispiel!«

Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an: »Schnuckiputzi!«

»Ja, Schnuckiputzi. Denke ich mir sehr nett. Es würde mir gefallen, außerdem verpflichtet es zu nichts.«

»Aber ich kann ihm doch nicht so meine — meine...«

»...Liebe zeigen? Warum nicht?«

»Aber das geht doch nicht, dann gewöhnt er sich doch dran, und dann glaubt er, er kann...«

Ich nahm ihre Hand und kam mir ungefähr zweihundert Jahre alt vor: »Mathilde! An Liebe gewöhnen sich nur schlechte Männer, und das ist Josef nicht. Gute Männer können von dem Artikel nicht genug bekommen. Und außerdem will ich Ihnen mal was sagen: Ich persönlich mach’ mir nix aus den sogenannten herben Frauen. Wenn ich die Wahl hätte zwischen solch einer Frau, die mir sozusagen erst auf dem Sterbebett gesteht, daß sie mich wirklich geliebt hat, mich aber während des ganzen sonstigen Lebens piesackte, und einer anderen Frau, die das ganze Leben lang reizend zu mir ist und mir auf dem Sterbebett gesteht, daß sie sich eigentlich nichts aus mir gemacht hat — wenn ich also, wie gesagt, die Wahl hätte zwischen den beiden, würde ich die zweite nehmen.«

Sie legte die Hand vor den Mund: »Das würden Sie? Tatsächlich?«

»Ja, Mathilde, das würde ich. Es kommt schließlich auf die Summe des Glücks an, die ein Mensch erfährt, und die ist im zweiten Fall bestimmt größer.«

»Ja, aber wie soll ich ihn denn — behandeln? Schließlich bin ich doch kein junges Mädchen mehr und er kein Jüngling! Wir können uns doch nicht so albern haben!«

»Liebe ist niemals albern, Mathilde, und wenn sonst alle anderen darüber lachen und es albern nennen. Der da droben, der lacht nicht drüber, seien Sie sicher, der schmunzelt höchstens und freut sich. Und was die Behandlung angeht — das ist ganz einfach. Behandeln Sie ihn doch wie ‘nen Hund!«

»Wie ‘nen Hund?«

»Ja! Zum Beispiel wie Peterchen da! Wenn Sie dem schon so viel Liebe schenken, wieviel verdient da erst der Mann! Kraulen Sie ihm auch’s Köpfchen, bedauern Sie ihn, wenn ihm was weh tut, machen Sie ihm gutes Essen, nehmen Sie ihn an Ihr Herz, wenn er Kummer hat. Wir Männer sind arme Hunde, denken Sie dran, Mathilde!«

Beim Kaffee schwätzten wir uns alle zusammen gründlich aus. Die Erinnerungen an das alte Haus wurden aufgewärmt und an die Menschen von damals. Paul lehnte sich stöhnend zurück, er sah so richtig zufrieden aus:

»Kinder, ich platze! Drei Windbeutel — na, Servus.« Er sah sich um: »Tja, wenn ich das hier so sehe — ich könnte eigentlich auch mal was für mich tun.«

»Und warum tust du’s nicht?« fragte meine Gefährtin.

»Ja, warum?«

»Der Unentbehrlichkeitsfimmel, nicht wahr? Alle seid ihr unentbehrlich! Dabei ist jeder entbehrlich.«

Er sah sie nachdenklich an: »Wenn ich das nur bestimmt wüßte, mein Kind! Gewiß ist jeder im großen und ganzen zu entbehren. Aber es gibt so ‘ne Art — wie soll ich sagen — relative Unentbehrlichkeit. Mach hopp, Peter!« Er strich mit dem Finger die letzten Schlagsahnereste vom Teller, und Peter, der ihm auf den Schoß gesprungen war, zutschelte sie mit halbgeschlossenen Augen. »Ja — die relative Unentbehrlichkeit! Nimm mal an, ich komme für drei Tage hier heraus, und in der Zeit wird ein Fall eingeliefert, den nur ich hätte retten können. Es gibt solche Fälle ab und zu, nicht sehr oft, aber es gibt sie — leider.«

»Und wenn du nun krank wärst?« fragte die Gefährtin.

»Das ist was anderes, dann könnte ich tatsächlich nicht.«

»Demnach kannst du also niemals Urlaub machen.«

»Doch — dann besorge ich mir einen Vertreter, der den Aufgaben gewachsen ist. Ich kann nur nicht so ein verlängertes Weekend machen, das geht eben nicht. Es gibt halt so’ne und solche Berufe, bequeme und unbequeme. Die bequemen kann man ausziehen wie ‘nen Mantel, in die Garderobe hängen und vergessen. Die unbequemen stecken einem im Fleisch wie ‘ne Harpune, und die Leine kann noch so lang sein — man hängt dran und kommt nie los. Für alles muß man eben bezahlen, und wer klug ist, findet sich damit ab und versucht nicht daran zu zerren.« Er hob Peterchens Kopf gegen sein Gesicht: »Du verstehst mich! Kerlchen, du hast ja noch tollere Augen bekommen als früher! Die Majestät des Leides! Was hast du eigentlich abzubüßen, verwunschene Seele, hm? Auf jeden Fall machst du es mit Grazie. — Ja, Kinder, jetzt, wo Mathilde bei uns ist, könnte ich ihn nehmen!«

»Ja, aber jetzt kriegst du ihn nicht«, sagte ich, »jetzt bleibt er bei uns — bis daß der Tod uns scheidet.«

»Amen!« sagte Mathilde und sah sich erschrocken um. Wir lachten.

»Das ist mir so ‘rausgerutscht«, entschuldigte sie sich, »weil ‘s der Herr so feierlich gesagt hat!«

»Trösten Sie sich, Mathilde«, sagte ich, »mir ist’s auch so ‘rausgerutscht. Manchmal sagt man ja so was, als ob ein anderer aus einem spricht.«

Nach dem Kaffee ging ich mit Paul vors Haus. Die Sonne stand neben dem Dreitausender und tauchte den Waldhang jenseits des Gießbaches in ihr schräges Licht, das schon voll blauer Töne war. Es taute gewaltig, und im Himmel standen die Föhnfahnen.

»Jetzt müßte ich eigentlich fahren«, sagte Paul.

»Unsinn! Ruf doch an, ob was los ist.«

»Na schön.«

Während er telefonierte, kam Josef zu mir, der wieder an >Prächtig< gebastelt hatte.

»Is’ recht, daß Sie den Professor hierbehalten!« sagte er. »Der macht sich ja rein verrückt, und es ist ihm so gut, wenn er mal ‘n bissel ‘rauskommt!«

»Wie ist denn Trächtig« in Schuß?« fragte ich.

»Wer?«

»Ach so — ich meine, der Wagen!«

Er zwinkerte mich an! »>Prächtig<! Der Name stimmt. Mir tut’s leid, daß wir ihn weggegeben haben. Unser Neuer ist ja moderner,

da gibt’s keinen Zweifel, und auch stärker und schneller. Aber trotzdem — der hier ist so einer, in den man sich verliebt.« Worauf wir uns in die Vorzüge der Graphitbeimischung zum Motoröl vertieften.

Dann kam Paul wieder: »Also, bis nach dem Abendbrot! Was machen wir jetzt?«

»Ich würde sagen, wir gehen spazieren!« meinte ich. »Da über die kleine Brücke, den Hang hinauf. Komm erst noch mal ‘rein, wir ziehen uns hohe Stiefel an, denn es taut.«

Bei dem Wort >spazieren< waren wie durch Zauberei alle drei bei uns. Sie drängelten sich mit uns so ungestüm in die Haustür, daß Paul über den Dicken stolperte und um ein Haar auf die Nase gefallen wäre. Drinnen beim Stiefelanziehen gaben sie derartig an, daß wir kaum weiterkamen. Weffi zog immer wieder die Senkel auf, der Dicke riß uns die Stiefel aus der Hand oder er legte sich so über unsere Hände, daß wir keinen Knoten machen konnten. Hatten wir ihn schließlich fertig, zog ihn Weffchen wieder auf. Peterle wechselte von einem zum anderen, machte am Knie Männchen und tippte mit den Fliegenbeinen. Zwischendurch knurrte er die beiden anderen unwillig an: »Hört endlich auf mit dem Quatsch, sonst werden wir hier nie fertig!«

Paul richtete sich schließlich ächzend auf, seine Augen waren hell und die Krähenfüße ganz verschwunden. Er lachte: »Ich habe nie gewußt, daß Stiefelanziehen so eine lustige Sache ist!«

Als wir ein paar Minuten später jenseits des Baches den Höhenweg hinaufpusteten, spann er das Thema weiter: »Ja, es ist unglaublich, was einem so ein Tier bedeuten kann. Ich höre es immer wieder von meinen Patienten, besonders von denen, die unter Druck leben. Was meinst du denn dazu, du schreibst doch über Tiere?«

Ich starrte auf den dunklen Waldboden, der schon wieder unter dem Schnee vorkam: »Manchmal bin ich im Zweifel, ob ich recht daran tue, das Tier den Menschen noch näherzubringen, als es ihnen sowieso schon ist. Wenn mich so der graue Wolf beißt — gewöhnlich nachts um drei —, dann frage ich mich, ob unsere Tierliebe nicht im Grunde nur Schwäche ist. Wer mit seinen Mitmenschen nicht fertig wird, flüchtet sich zum Tier, das ihm nicht widersprechen kann und sein Sklave ist. Vielleicht sollte man im Gegenteil den Menschen diesen Weg verrammeln, diesen Weg der Schwäche, damit sie gezwungen sind, sich mit ihren Mitmenschen zusammenzufinden oder sie wenigstens zu verstehen.«

Paul blieb mit vorgeschobener Unterlippe stehen und stocherte mit seinem Stock nachdenklich in einem Häufchen frischer Wildlosung. Dann schüttelte er energisch den Kopf: »Bin ich ein Schwächling, wenn ich ein Tier den Menschen vorziehe oder es ebenso liebe wie einen nahen Menschen? Ich glaube nicht. Sieh dir doch mal große Menschen an — Bismarck, Byron, Schopenhauer, Friedrich den Großen. Friedrich der Große wollte bei seinen Windspielen begraben sein, und ich halte es für eine ganz üble Sache, daß man ihm diesen Wunsch nicht erfüllt hat! Byron ließ seinem Neufundländer die Grabschrift setzen: >Er hat alle Tugenden der Menschen ohne ihre Fehler.< Na, und denke an das, was Schopenhauer schrieb: »Woran sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke des Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Mißtrauen schauen kann.< Das waren doch alles keine Schwächlinge, oder?«

Wir stiegen langsam bergauf, einen Serpentinenweg. Über uns begann Fels, der Weg war völlig schneefrei und von den langen Schatten der Bäume übermalt. Unten lag die Zauberschachtel, schon ganz winzig. Cocki und Peter, die sich schon vor ein paar Minuten dünnegemacht hatten, trotteten gerade als zwei Punkte am Haus vorbei, Richtung Braut. Nur Weffchen tippelte mit uns, ab und zu einen Haps Schnee fressend.

»Du meinst, sie waren keine Schwächlinge?« fragte ich. »Man muß das, glaube ich, präziser ausdrücken und sagen: In einer bestimmten Schicht ihres Wesens waren sie keine. Wir alle sind doch sozusagen mehrere Menschen, die zwar den gleichen Körper als Wagen für ihre Erdenfahrt benutzen, aber im Grunde gar nichts miteinander zu tun haben. Wenn Bismarck ein großer Staatsmann war und Friedrich der Große außerdem ein großer Feldherr und Schopenhauer ein großer Philosoph — deshalb haperte es doch bei allen dreien ganz offensichtlich mit der Menschenliebe! Also könnte man sagen: eine der Persönlichkeiten, die in ihnen hausten, war doch schwach und flüchtete sich zum Tier. Übrigens — da wir gerade davon reden — fällt mir auf, daß die großen Menschenliebenden und Religionsstifter offenbar überhaupt keine Beziehungen zum Tier hatten!«

Paul blieb wieder stehen, beugte sich nieder und klopfte Weffi, der ihm einen Tannenzapfen hinwarf: »Und trotzdem! Man sollte keinem den Weg zum Tier versperren, gerade den Schwachen nicht, den Gescheiterten, den Enttäuschten. Wie viele würden ohne ihr Hündchen oder ihre Katze oder ihren Papagei einfach im Abgrund der Verzweiflung ertrinken. Das Tier hält sie in der Liebe! Das allein rechtfertigt alles.« Er richtete sich auf, sah mich an und kniff das eine Auge zu: »Ich kenne dich, du Halunke! Im Grunde bist du ganz genau der gleichen Ansicht! Du wolltest nur, daß ich dir die Argumente liefere und für dich sozusagen die philosophischen Kastanien aus dem Feuer hole!«

Ich grinste. Weffi wurde unruhig, hob schnüffelnd die Nase und hüpfte dann uns voraus auf die nächste Wegkehre zu.

Wir gingen langsam weiter. »Hast du mal«, sagte ich nach einer Weile, »über die merkwürdig prominente Rolle nachgedacht, die das Tier in den Mysterien aller Völker spielt? Nicht nur als Opfer, sondern als göttliches Wesen! Die tierköpfigen Götter der Ägypter, die heiligen vier Tiere in der Spitze der christlichen Himmelshierarchie, die heilige Schlange, die heilige Kuh der Inder — das ist mehr als Flucht zum Tier, das ist vielleicht so was wie — Rückerinnerung.«

»Du meinst, weil wir mit dem Tier den gleichen Ahn haben?«

»Das und noch viel mehr. Ich denke an unsere viel früheren Ahnen.«

»Und wer soll das sein?«

»Na, wenn wir mal als gegeben annehmen, daß wir uns vom Tier durch die höhere Intelligenz unterscheiden, dann sind unsere Ahnen die jeweils intelligentesten unter den Tieren gewesen, die erste Zelle, die auf den Gedanken kam, sich zu spalten, das erste Wassertier, das aufs Land kroch und seine Kiemen in Lungen umbildete!«

»Möglich, hört sich ganz passabel an. Aber ich glaube, es war was anderes, was die alten Völker dazu brachte, Tiergötter über sich zu setzen. Denke daran, daß alle Entwicklung Spiralform aufweist: wir gehen immer wieder durch dieselben Stadien, wenn auch auf einer höheren Ebene. Wir tragen alle die Sehnsucht in uns nach der Einfalt und Unverstelltheit des Tieres, nach der Ungebrochenheit seiner Gefühle, nach seiner fraglosen Einfügung in das Schicksal. Und je differenzierter wir sind, je nervöser, hysterischer und verzettelter, desto stärker wird diese Sehnsucht nach der Einfalt, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn du die Aufgabe hättest, eine Weltgeschichte in zwei Sätzen zu liefern, könntest du schreiben: >Der Weg der Menschheit führte von der monumentalen Einfachheit und Einheit der Frühzeit zur immer größeren Differenzierung der Zivilisation.< Stimmt’s?«

»Ja. Und der zweite Satz?«

»Den würde ich so formulieren: >Und dieser Weg wird vielleicht eines Tages auf einer höheren Ebene zurückbiegen zu einer neuen Einfachheit und Einheit, zu einer strengeren, monumentalen Formung unseres Lebens, des einzelnen Lebens wie des gemeinsamen.< Hm?«

»Gar nicht schlecht für einen Chirurgen. Aber solche Formulierungen haben den Nachteil, daß...«

Paul legte mir die Hand auf den Arm: »Du, sieh mal, was hat denn der Weffi da vorn?«

Wir beschleunigten unsere Schritte, und da lag, jammervoll hingestreckt, am Rande des schmalen Steiges eine große Hirschkuh. Sie wirkte so unversehrt und lebendig, daß ich mich niederbeugte und nach ihrem Herzschlag fühlte. Paul schüttelte den Kopf: »Sie ist tot, wenn auch noch nicht lange.«

Wir standen und starrten sie an. Die schönen großen Augen sahen gebrochen ins Leere, die Zunge hing seitwärts heraus.

»Vielleicht hat sie Durst gehabt und Schnee gefressen«, sagte ich. »Ein Förster hat mir mal erzählt, daß sie daran sterben. Ein anderer hat’s allerdings bestritten.«

Weffi beroch sie vorsichtig, das eine Füßchen hochgehoben, als traue er ihrem Tod nicht. Er sah sie sich ganz genau an, schnupperte an ihren Hufen, an ihrer Schnauze.

»Wir wollen ihn an die Leine nehmen«, sagte Paul.

Ich tat es. Dann drehten wir schweigend um.

»Wenn das so ist mit dem Schnee«, meinte Paul nach einer Weile, während wir abwärts schritten, »dann hat es sich bestimmt sehr gequält, ehe es vorbei war. Armes Tier!«

Ich nickte: »Das ist etwas, was ich überhaupt nicht verstehe. Warum müssen sich diese unschuldigen Wesen so quälen? Für uns, die wir schuldig sind, uns schuldig machen müssen, wie wir uns auch drehen und wenden, mag der Todeskampf so eine Art Bezahlung sein, Buße. Besser, als wenn’s uns im nächsten Leben angekreidet wird. Aber ein unschuldiges Tier! Wenn ich sie manchmal so sterben sehe, so ein armes kleines Käferchen, das ein Ameisenlöwe in seinen Sandtrichter herunterzieht. Man muß sich das bloß vorstellen: Du gehst spazieren und freust dich deines Lebens, und plötzlich fährt unter dir aus dem Erdboden heraus eine furchtbare Zange, gräbt sich in deinen Leib und reißt dich allmählich herunter. Oder wenn ich so eine Katze sehe, die eine noch quiekende Maus in ihren Fängen hat und erst mal eine Weile mit ihr spielt, bis sie sie totbeißt — da komme ich nicht mit, Paul. Da ist auch etwas nicht in Ordnung, das lasse ich mir nicht ausreden. Etwas stimmt nicht mit dieser ganzen Welt und mit unserem ganzen Leben.«

Wir gingen schweigend weiter. Der Himmel über den Felsgiganten begann in Purpur zu flammen. Unten war schon wieder das Dach des Häuschens zu sehen. Aus dem Schornstein fächerte blauer Rauch und verschwebte in der Dämmerung, die aus den schwarzen Wänden der Tannen kroch. Pauls Augen gingen zu den Felsspitzen in das Abendrot. Die Furchen des Leides auf seinem Gebiet waren nun wieder ganz deutlich.

»Ja«, sagte er schließlich, »es kann nur so sein, daß wir ‘s eben nicht richtig sehen. Wir sehen doch überhaupt nichts richtig! Alle unsere Sinne täuschen uns. Denke nur an die Perspektive, denk an die Atomstruktur der Dinge — es ist alles ganz anders, als wir es wahrnehmen. Warum sollte es mit dem Leben und seinen Gesetzen nicht auch so sein? Vielleicht brauchen wir Leid und Qual für die Aufgabe, die uns gestellt ist, genauso notwendig wie Luft und Brot und Wasser — und Freude!« Er sah noch immer an mir vorbei in die Himmelsglut: »Weißt du — es mag dich erschrecken —, aber manchmal, wenn ich einem Sterbenden seine letzten Minuten leichter mache, frage ich mich, ob ich recht handele, ob ich nicht einem höheren Willen ins Handwerk pfusche und ob dieses Häufchen Mensch, das da vor mir wimmert, nicht gerade diese Qual braucht, um noch irgendeine letzte Reife, eine letzte Erkenntnis dadurch zu erlangen. Ich helfe trotzdem, aber ich habe mitunter das verdammte Gefühl, daß es nur Egoismus ist, was ich da praktiziere, weil ich es selbst nicht mit ansehen kann, wie der da vor mir sich quält.«

»Das ist schon ziemlich nahe am letzten Abgrund, nicht wahr?«

»Ja.«

Wir standen wieder vor dem Häuschen.

»Wo sind denn eigentlich die beiden anderen?« fragte Paul.

»Wahrscheinlich bei Fräulein Braut. Das ist augenblicklich die Schäferhündin vom Pfarrer.«

Paul sah auf die Uhr: »Wie weit von hier?«

»Viertelstunde — zwanzig Minuten höchstens.«

»Wollen wir hingehen? Ich will doch noch was von meinem Peter haben.«

»In Ordnung. Schleppen wir sie ab.«

Auf dem Wege erzählte ich ihm von Peter und seinen Wandlungen. Wie er sich gegen Cocki behauptete, den Weffi erzog und sich mit Ratzi verbündete, um der Braut zu huldigen.

»Mit einem Wort«, sagte Paul, »das Leid hat ihn zum Mann gemacht. Da siehst du’s wieder.«

Vor dem Pfarrhaus herrschte nur wenig Betrieb. Der Schneematsch hatte wohl die meisten vertrieben. Aber Cocki und Peter und Ratzi saßen noch mit ein paar anderen da. Peter kam auf uns zu, leckte uns die Hand und steckte Paul den Kopf zwischen die Knie. Er hob ihn hoch.

»Sieh dich vor«, sagte ich, »er macht dir den ganzen Mantel dreckig.«

Paul steckte die Nase in die graue Stirnlocke: »Das ist uns ganz wurscht, nicht wahr, Peter? Und was mir Herrchen alles von dir erzählt hat! Du bist ein Mann geworden und hast sogar noch eine Braut bekommen. Hast wohl selber nicht mehr geglaubt, daß du zu guter Letzt noch mal so ‘n richtiger kleiner Hundehund werden würdest!«

Peter sah ihn mit großen glänzenden Augen an und hechelte.

»Klingt ja scheußlich, Paul«, sagte ich, »wie ‘ne Grabrede.«

Er setzte Peter schweigend auf die Erde und legte ihm die Leine an. Als er sich wieder aufrichtete, war er sehr ernst, schüttelte den Kopf: »Ja, ich weiß nicht, was das ist. Gerade jetzt wieder hab’ ich es gespürt — es ist etwas über diesem kleinen Kerl — so was Dunkles, Tragisches. Wahrscheinlich alles Unsinn. Komm, Peter, wir haben einfach Hunger. Weiter gar nichts.«

Ein halbe Stunde später saßen wir alle zusammen beim Abendbrot. Cocki und Weffi schnarchten, nachdem Mathilde sie abgetrocknet hatte, auf der Couch. Peterle schwelgte in Mathilde. Er hatte seinen Kopf zwischen ihre Knie gerammt und ließ sich von ihr die Ohren plätten. Paul hob das Rotweinglas gegen die Lampe, drehte es hin und her, trank es dann genüßlich aus: »Das war auf das neue Heim!« sagte er und lächelte uns an. »Kinder, ihr sitzt im Paradies, wißt ihr das eigentlich?« Er sah auf die Uhr: »Na, dann werden wir mal. Mathilde! Josef!«

Draußen am Wagen legte er mir den Arm um die Schulter: »Das war mal wieder so ein richtig schöner Tag. Alles drin.«

»Komm bald wieder«, sagte ich.

»Ich denke gar nicht dran. Los, Josef, Abfahrt! Der Kerl verführt einen ja direkt!«

Als der Wagen anfuhr, steckte er noch mal den Kopf heraus: »Paß auf meinen Peter auf!«

5

Allmählich, aber unaufhaltsam, näherte sich das Weihnachtsfest. Innerhalb des Häuschens spürte ich schon die Vorbereitungen. Nach einem uralten Familienrezept wurde der Lebkuchenteig eingeknetet. Das Dreigespann wich der Mama nicht von der Schürze, weil ab und zu Mandeln und Rosinen heruntertropften. Alle drei fraßen sie leidenschaftlich. Die Gefährtin schnürte unzählige Pakete, während die Mama außer dem Pfefferkuchenkneten auch mich persönlich aufs Korn nahm. Sie zwang mich auf die Couch nieder, ich mußte die Schuhe ausziehen, dann auch die Strümpfe, und dann begann sie mir Maß zu nehmen. Wo ich doch so furchtbar kitzelig an den Fußsohlen bin! Wenn sie mit dem Ballen fertig war und an die Fußspitze kam, hatte sie das Ballenmaß schon wieder vergessen, dann fiel ihr das Notizbuch herunter, und dann ging die ganze Sache wieder von vorn los.

»Du, jetzt langt’s mir aber!« sagte ich. »Was soll das alles?«

»Große Überraschung!«

»Soll ich mal raten?«

»Nein!«

Am Abend des Tages, während wir lesend um das Radio saßen, sah sie mich über die Brille streng an: »Der Winter hier wird schlimm!«

»Na, bisher hat er sich ganz manierlich benommen.«

»Das kommt erst! Warte mal, im Januar und Februar! Da reichen normale Strümpfe für deine Knickerbocker gar nicht aus! Da müßte man so richtige Schafwollstrümpfe haben, selbstgestrickte! Würde dich so was freuen?«

»Nein.«

»Pfui, du bist gemein«, sagte Frauchen.

Ich lachte und hob Mamachens Gesicht, das sich in erhabenem Kummer gesenkt hatte, an der Nase hoch: »Glaubst du das?«

»Dir ist alles zuzutrauen.«

»Mamachen«, sagte ich feierlich, »Schafwollstrümpfe sind schon immer der Traum meines Lebens gewesen.«

»Wasserabstoßende!« sagte die Mama.

»Wieso? Schwitzt man so drin?«

»Unsinn. Weil der Schnee taut, sobald du ins Zimmer kommst!« Sie sah auf und in die dunkle Ecke: »Was hat er denn?« Peterchen, der bis dahin als friedlicher Kringel auf der Couch lag, hatte den Kopf gehoben. Er sah sie ernst an, dann stellte er die Ohren hoch und horchte.

»Vielleicht ist jemand draußen!« meinte Frauchen.

»Wer soll denn draußen sein?« fragte ich.

Ich legte seufzend mein Buch weg, stand auf und ging zur Tür. Das Holzpferd war gleich herunter von der Couch, machte »Weff-weff!« und suchte an meinen Pantoffeln vergeblich nach Senkeln. Mit dumpfem Plumps war auch der Dicke herunter. Ich ließ sie heraus.

Halber Mond über dem Gebirge, jagende Wolken. Dann wußte ich, wonach Peter gehorcht hatte: der Föhn! Er orgelte in der Ferne, kam heran. Die ganze Nacht war jetzt voll Brausen, die Bäume knarrten, der Schnee wurde hochgerissen zu tanzenden Säulen, der Mond verschwand. Aus der rauchigen, unendlichen Schwärze wirbelte es nieder, blitzte zehntausendfach im Schein der Ecklampe am Haus. Die Hunde konnte ich nicht mehr sehen. Nur ab und zu hörte ich einen von ihnen in der Nähe schnaufen oder sich schütteln. Bergwinter! Unsere kleine Zauberschachtel voll Licht und Wärme auf dem Grunde des Luftozeans und darüber vier-, fünftausend Meter nächtlichen Schneesturms. Ich fühlte, wie eine tiefe, angenehm gruselige Erregung mich ergriff.

Am nächsten Morgen überredete ich meine Gefährtin zu einer Expedition. Wir wollten oberhalb der Schlucht entlanggehen.

»Vielleicht finden wir noch etwas Holz«, sagte ich. »Wenn der Schnee noch höher wird, werden wir keins mehr holen können.«

Das war natürlich nur ein Vorwand. In Wirklichkeit wollte ich einfach sehen, was es da oben gab. Wir zogen uns Schaftstiefel an und stampften los. Der Schnee ging schon bis zu den Knien. Die drei waren erst drauflos getobt, aber nach ein paar Sprüngen reichte ihnen der Schnee bis über den Rücken. Sie standen verdutzt. Dann kehrten sie um und trotteten hinter mir her. Vorneweg ging nun ich als Schrittmacher, in der Rinne hinter mir Peter, Weffi und Cocki, zum Schluß Frauchen, die fortgesetzt behauptete, es sei doch viel einfacher, auf der Landstraße zu gehen, wo schon der Schneepflug durchgefahren war.

Aber ich wollte nicht klein beigeben, obwohl mir sehr bald der Schweiß herunterlief und die Schenkel weh taten. Als wir die erste Felsterrasse hinter uns hatten, ging es sich leichter. Der Schnee wurde dünner, weil der Sturm ihn da oben weggeblasen hatte. Die ganze Welt um uns war ein Zauberreich. Die Latschenkiefern und die jungen Tannen hatten sich dicke weiße Handschuhe angezogen und alle erdenklichen Formen von Schneehüten auf den Kopf gesetzt. Manche sahen aus wie spitze Zwergenhüte, andere wie Barette, wieder andere wie Federhüte: die reine Wintermodenschau! Unter uns sickerte der schneeverschüttete Bach durch die Schlucht. Die Hunde waren hinuntergeklettert. Cocki und Weffi waren in dem Eisgeglitzer kaum noch zu unterscheiden. Nur das schwarze Peterchen konnten wir erkennen, wie es unten am Bach entlangkraxelte und sich ab und zu schüttelte, wenn eine Tanne ihre Schneelast auf ihn ablud.

»Laß uns doch mal auf den Vorsprung da gehen«, meinte die Gefährtin, »vielleicht sehen wir von dort besser, wo die beiden anderen sind.«

Der Vorsprung war eine schöne Kuppe mit ganz glattem Schnee, der in tausend Diamantfarben sprühte. Im Augenblick jedoch, als sie ihren Fuß daraufsetzen wollte, schrie unten Peter gellend! Ich hatte ihn nur einmal so schreien hören, als wir ihn aus der Kiste befreiten. Jetzt stand er da am Bachrand, die Vorderfüße auf den Fels gestemmt, den Kopf zu uns heraufgereckt, und schrie, herzzerreißend, in namenloser Angst. Wir sahen uns an — da war doch was nicht in Ordnung!

»Schnell«, sagte ich, drehte mich um und rannte zurück. Frauchen folgte. Wir schlidderten die Felsen hinunter, indem wir uns einfach aufs Hinterteil setzten und mit den Händen an Baumwurzeln festhielten. Endlich waren wir unten. Aber es war nichts! Peter war gar nicht, wie ich befürchtet hatte, irgendwo eingeklemmt oder hatte sich gar etwas gebrochen. Er kam uns entgegen, sprang an uns hoch, leckte unsere Hände, schien außer sich vor Glück, uns bei sich zu haben.

»Na, du bist ja gut, Peterle«, sagte Frauchen. »Holst uns hier ‘runter, und dann ist gar nichts! Was war denn los?«

Sein Kopf ging nach oben, er zog unseren Blick mit dem seinen nach.

»Merkwürdig«, sagte ich. »Was er wohl hat? Was ist denn da oben, du kleines, dummes Schaf? Da ist doch gar nichts!«

Aber dann sah ich es plötzlich. Das, worauf wir treten wollten, die schöne glatte Kuppe, war ein Schneebrett, das über dem Abgrund hing. Zwischen zwei verkrüppelten Tannen hatte es sich gebildet, die ihre Schlangenhälse weit über den Fels hinaushängten. Wäre Frauchen oder auch ich daraufgetreten, so wären wir beide in den Abgrund gestürzt, würden hier unten irgendwo liegen — bei Peterle.

Wir sahen uns schweigend an, und jeder fand, daß das Gesicht des anderen in der Farbe sich nicht sehr viel vom Schnee unterschied. Ich nahm Peterle hoch und küßte ihn auf sein nasses Köpfchen: »Danke schön!«

»Ich auch!« sagte Frauchen und küßte ihn ebenfalls. Dann gingen wir schweigend und in Gedanken heim.

Und dann kam eines Tages der Weihnachtsbaum, am nächsten Tag die Glaskugeln, das Lametta und die Gans, die wir in den >Eisschrank< legten. Unser Eisschrank war das Badezimmer, das nur ein einfaches Fenster hatte. Die Hunde waren mindestens so aufgeregt wie wir. Weffi fraß Lametta und übergab sich auf den Teppich. Kaum war es weggewischt, fraß er schon wieder Lametta. Die Mama schimpfte.

»Nimm’s ihm nicht übel«, sagte ich, »er ist ein Augentier.«

»Er ist ein Hammel!« erklärte sie.

Er sah von einem zum anderen, als habe er es verstanden. Dann blickte er sich unruhig nach den beiden anderen um und verschwand in Richtung Badezimmer.

»Was machen die denn da?« fragte die Mama. »Sieh doch mal nach!«

Ich ging auch ins Badezimmer. Da standen sie alle drei und leckten die Weihnachtsgans, immer abwechselnd, am Po.

Schließlich war es Heiliger Abend. Es gab für mich selbstgestrickte Schafwollstrümpfe von der Mama, Bücher, Zigarren und Schnaps. Die Mama bekam Konfekt, Vermouth und ein neues Dirndl, Frauchen einen elektrischen Toaströster, Parfüm und einen Plattenspieler mit Schubert-Platten. Für jeden der Hunde gab es eine Wurst, eine dicke Polnische, die sie sofort auffraßen. Wir hatten viele Briefe. Stefan und Renate kündigten ihren Besuch an. Auch Gutknechts hatten geschrieben: sie hätten sich mein neues Buch gekauft, wie es uns denn ginge — das erste Weihnachten ohne uns...

»Wie rührend!« sagte die Mama und schnitt eine Grimasse.

Ich warf den Brief ins Feuer.

Dann gingen wir noch alle sechs spazieren. Am Vormittag hatte ich zur Feier des Tages den ganzen Weg bis zur Landstraße freigeschippt. Das machte sich jetzt bezahlt. Der Frost zog an. Der Schnee quietschte unter den Füßen. Drüben bei Werneburgs brannten auch schon die Lichter.

Wir wanderten bis ins Städtchen. Auf dem Marktplatz stand ein ganz großer Baum mit elektrischen Kerzen. Kein Mensch zu sehen. Nur die Gesichter der Häuser blickten uns an wie gute alte Freunde. Alle hatten weiße Pudelmützen auf, und alle Holzbalkons waren mit glitzernden Schneegirlanden dekoriert. Es war, als ob man in einer altvertrauten lieben Stube stände.

Hinter den Fenstern brannten die Lichter an den Bäumen, und oben zogen weiße Lämmerwölkchen durch schwarzblauen Sternenhimmel. Riesenhaft die Berge ringsum. Ihre uralten Gesichter so nah, daß man dachte, man brauche bloß die Hand auszustrecken, um ihre Runzeln und Eispyramiden berühren zu können.

Unsere drei hatten sich verkrümelt und überall ihre Initialen in den Schnee gezeichnet. Dann waren sie wie auf ein geheimes Kommando plötzlich alle wieder da.

»Wollen umkehren«, sagte Frauchen, »nach Hause.«

Weffi und Peter hatten sofort begriffen und sausten los. Nur Cocki schnitt ein Gesicht und latschte mißmutig hinterher.

»Was hat er denn?« fragte Frauchen. »Er war überhaupt den ganzen Abend so komisch! Hat seine Wurst genommen und ist gleich zur Mama ins Zimmer gekrochen!«

»Er muß doch Höhle spielen!« sagte ich.

»Oder es ist ihm übel«, meinte die Mama. »Das kann ja nett werden, da werde ich wohl den Heiligen Abend mit dem Scheuerlappen beschließen müssen.«

»Keine Angst, Pessimunkelchen«, sagte ich, »wenn er sich überfressen hätte, wäre es ihm längst aus dem Gesicht gefallen.«

Während des Heimweges erwogen wir die verschiedenen Vorgänge, die sich eventuell in Cockis Gedärm ereignen könnten. Aber zu Hause schien er alles vergessen zu haben. Er hupfte mit den zweien auf die Couch und übernahm den Baß in ihrem Schnarchkonzert.

»Ach, laßt uns doch noch mal die Kerzen anzünden«, meinte Frauchen.

»Wozu?« kritisierte die Mama. »Sie sollen doch noch zu Silvester brennen!«

»Ich kaufe neue, Mami.« Und damit steckte ich die erste Kerze an.

»Kaufen — kaufen! Es kann nicht genug gekauft werden, bis dann wieder...«

In diesem Augenblick wurde ich auf Cocki aufmerksam. Er stand tiefgekränkt von der Couch auf, machte uns mit einem Säuferblick nieder und watschelte ab.

»Da!« sagte die Mama. »Jetzt geht’s los! Paßt auf — ich glaube, ich höre ihn schon rülpsen!«

Ich ging hinterher. Er lag nebenan in meinem Zimmer auf der Couch und sah mich böse an.

Ich machte die Tür hinter mir zu: »Was ist denn, kleiner Löwe?«

Sofort legte er sich auf den Rücken, hechelte und tatzte nach meinem Gesicht. Eigenartig! Die Mama kam hinterher: »Na?« Im Augenblick, als sie die Tür öffnete, wälzte er sich wieder herum und schnitt ein Gesicht. Da kam mir eine Idee...

»Augenblick!« sagte ich, ging ins Nebenzimmer, nahm eine Kerze aus dem Halter und brachte sie herein. Im Nu war er von der Couch, verschwand darunter und knurrte wütend.

»Das Feuer!« sagte ich. »Er hat Angst vor dem offenen Feuer! Der Urinstinkt des Wildhundes!«

Die Mama blies schnell die Kerze aus.

»Nun bist du doch zufrieden«, sagte ich zu ihr, »kein Scheuerlappen am Heiligabend!« Ich ging wieder ins Wohnzimmer, blies die Kerzen aus und schaltete das Licht wieder ein. Gleich war Cocki wieder da und schubste Peter und Weffi zur Seite, die vor der Mama hockten und mit Pfefferkuchen und Marzipankartoffeln gefüttert wurden.

»Noch mehr Kundschaft?« fragte sie. »Das kostet mich ja die ganze Weihnachtsschüssel, ihr Lümmels! Na, da hast du auch — schling nicht so, Peter. Noch was? Macht nichts, wenn euch übel wird. Dafür ist Weihnachten. Außerdem ist mir auch schon übel.«

Dann setzten wir uns noch in die Ecke ans Radio. Ich machte meine frisch geschenkte Cognacflasche auf, und wir gingen ihr zu Leibe. Die Gefährtin seufzte: »Voriges Jahr, da waren wir noch im großen Haus und ahnten nichts.«

»Möchtest du es eintauschen gegen dieses hier?« fragte ich.

Sie schwieg und schien sich nicht ganz einig, was sie sagen sollte.

»Ich möchte nicht tauschen!« erklärte die Mama kategorisch. »Außerdem müssen wir dankbar sein.«

»Ja«, sagte ich, »das müssen wir!«

Frauchen nickte und streichelte Peterchens Kopf: »Auch du mußt dankbar sein, Peterle! Denke mal —wenn du noch bei Tante Helene wärst!«

»Wir müssen auch Tante Helene dankbar sein«, sagte die Mama. »Sie ist ein guter Mensch und wollte uns helfen.«

»Sie hat uns geholfen«, sagte ich, »und deshalb wollen wir auf sie trinken!«

Frauchen hob das Glas: »Trotz der Kiste, in die sie unser Peterle steckte!«

»Von euren Trinksprüchen hat sie nichts«, erklärte die Mama, »schreibt ihr lieber einen Brief.«

»Gut«, sagte ich, »machen wir — morgen.«

Die Affenaugen Peters sahen uns der Reihe nach ernst an. Dann gingen sie über uns hinweg, weiteten sich zu zwei Sonnen und starrten in die dunkle Ecke des Weihnachtszimmers. In diesem Augenblick spürte ich, daß dieses kleine Leben da wie auf Schienen lief. Es kam aus dem Dunkel und rollte einem Ziel zu, das sein eigenes war, ganz sein eigenes.

Die Mama gähnte, dann stieß sie mich in die Seite: »Red nicht soviel, Moltke, es ist ja nicht auszuhalten!« Sie gähnte wieder: »Die alte Henne flattert jetzt auf die Stange!«

Auch Frauchen gähnte: »Wir sollten morgen irgendeinen Ausflug machen, daß man mal was anderes sieht.«

»Schön«, sagte ich, »machen wir! Schlaft wohl, alle miteinand! Und — war’s denn nun einigermaßen schön?«

»Sehr schön!« kam das Doppelecho zurück.

Als ich allein war, zog ich mein Messer heraus, schnitt zwei große Zweige vom Tannenbaum, hängte reichlich Lametta drüber und schlich mich dann mit ihnen hinunter. Gerade als ich aus der Haustür trat, kam die Stimme der Mama von oben: »Was machst du denn da!?«

Ich blickte hoch: der Schloßgeist im Nachthemd, rechts und links von ihr zwängten sich drei Hundeköpfe durchs Fenster. Die drei schienen einen Moment zu zaudern, ob sie mit mir kommen oder sich weiter von der Mama füttern lassen sollten.

»Ach — ich weiß, was du willst!« sagte die Mama, und wie sie da so auf mich heruntergrinste, konnte ich sie mir lebhaft als dreizehn- oder vierzehnjährige Göre vorstellen.

»Behalte den Zoo oben«, sagte ich, »den kann ich jetzt nicht gebrauchen!« Dann nahm ich Kurs auf die Garage.

Der Weg war schon wieder bis zum Knie zugeschneit. Ich mußte erst schaufeln, damit ich die Tür aufbekam. Von drinnen blinkte mir >Prächtig< entgegen. Ich klemmte ihm den einen Zweig hinter das Kühlergitter und klopfte ihm die Haube: »Dank dir schön, >Prächtig<, daß du uns überall hingeschleppt und schließlich hierhergebracht hast! Du warst wirklich mein gutes Omen!« Ich steckte den anderen Zweig dazu: »Und das hier ist für Muckelchen! Es ist für dich gestorben, vergiß das nicht! Ich werde dich auch nie vergessen, mein Muckelchen!«

Silvester kam. Es war alte Tradition bei mir, den Beginn des neuen Jahres mit der Explosion des größtmöglichen Kanonenschlags zu begrüßen. Ich ging deshalb mit den dreien ins Städtchen, um ihn zu kaufen. Dort war gewaltiger Betrieb, die >Krone< von mindestens hundert Autos umzingelt, Sportfexe und Schihaserl in allen Ausführungen. Ich traf den Arzt, einen früh ergrauten Endvierziger asketischen Aussehens, der das übrige Jahr hindurch meist in seinem Garten arbeitete, wenn nicht mal eine Entbindung oder ein beim Mähen angeschnittener Körperteil dazwischen kamen. Jetzt strahlte er, und seine Augen leuchteten vor Saisongier: »Stellen Sie sich vor: allein heute morgen vier Bein- und zwei Armbrüche! Laufen Sie auch Schi?«

»Eben deshalb nicht.«

In zwei Lebensmittelgeschäften stauten sich die Menschen, als ob es was geschenkt gäbe. Sie kauften Gänseleberpastete und Sekt wie ich meine Frühstückssemmeln an der Bahnhaltestelle. Auch zahlreiche Hunde wimmelten herum. Pudel mit langen Hosen, Sealhams, die mit ihren Stummelbeinen wie die Raupen durch den Schnee krochen, schnaufende Pekinesen, unendlich aristokratische Barsois, gefährlich aussehende Boxer. Alles quirlte durcheinander, wurde gerufen, an den Leinen gezerrt, biß sich, hob rundherum die Beine. Meine drei wußten gar nicht, wo sie mit dem Riechen und Quittieren beginnen sollten.

Ich erwarb beim Papierhändler meinen Kanonenschlag. Es war ein wirklich prächtiges Ding und wog beinahe ein viertel Pfund. Äußerlich sah es aus wie ein lackierter Pferdeapfel mit einer bedrohlich kurzen Lunte. Nach längeren Überlegungen nahm ich noch eine an einem Stock befestigte Raketenwurst mit, die laut Beschreibung in der Höhe bunte Kugeln entsenden und mit einem Knall ihr Leben aushauchen sollte. Dann holte ich mein Dreigespann aus seinen diversen Hundekränzchen weg und steuerte wieder meiner Zauberschachtel zu. Ich war froh, daß ich den Rummel hinter mir hatte.

Wir aßen Karpfen mit Meerrettich und hielten uns mit einiger Mühe bis Mitternacht wach. Um zehn Minuten vor zwölf machte ich mich an die Öffnung der ersten Sektflasche. Wie üblich hagelte es gute Ratschläge von beiden Seiten:

»Nimm doch die Zange für den Draht!« sagte Frauchen.

»Paß auf, der Korken wird gleich in die Fensterscheibe fliegen!« meinte die Mama. »Dreh dich hier ‘rum!«

Ich tat es, die Flasche zwischen die Knie geklemmt und mit dem Finger an dem Draht drehend, der natürlich abbrach.

»Jetzt zielst du direkt auf mich!« sagte die Mama und hängte sich eine Serviette über den Kopf.

Frauchen kam mit der Zange, und der Draht wurde entfernt. Dann klappte ich die beiden Bügel hoch, schnitt mich in den Finger, als ich sie vom Korken abheben wollte, und begann mit der Serviette an dem Korken zu drehen. Er rührte sich nicht.

»Du wirst ihn abdrehen!« sagte die Mama.

»Gib mal her!« sagte die Gefährtin.

»Ich hole derweilen den Korkenzieher«, sagte ich, »falls du ihn abdrehst!«

»Ich drehe ihn nicht ab«, sagte sie.

Als ich mit dem Korkenzieher wiederkam, war sie schon ganz blau im Gesicht, so hatte sie an dem Korken gedreht.

»Wenn ihr so weitermacht, ist Silvester, und ihr bastelt noch immer an dem Ding!« sagte die Mama. »Nehmt doch die andere Flasche! Außerdem wirst du dir eine Blutvergiftung holen, dein Finger blutet ja noch immer.«

Ich steckte den Finger in mein Weinglas.

»Der schöne Weißwein!« sagte sie nun.

»Zur Desinfektion!« erklärte ich mit einiger Schwierigkeit. »Ich denke, ich soll was gegen die Blutvergiftung tun!«

In diesem Augenblick gab es einen Knall, der Korken ging von selbst los, sauste gegen die Decke, prallte davon ab und landete auf Cockis Pappnase. Der Dicke, der schon bei dem Knall zusammengefahren war, sauste wie ein angestochener Eber zur Tür und kratzte wie wild daran. Weffi griff sich schnell den Korken und stellte sich hinter Cocki an. Peterle trabte an die überquellende Flasche und steckte vorsichtig seine kleine knallrote Zunge in den Schaum.

»Die armen Hunde! Laß sie doch ‘raus!« sagte die Mama.

Ich machte die Tür auf, Cocki und Weffi preschten hinaus, blieben aber draußen wie angewurzelt stehen: es schoß gewaltig hinten im Städtchen. Dann begann es zu läuten. Ich wurde von innen gerufen. An der Schwelle fiel ich über Peter, der gerade auch hinaus wollte, und rutschte so mit einer Bauchlandung ins neue Jahr. Wir stießen miteinander an, dann griff ich mir meine Artillerie und eine Schachtel Streichhölzer und ging hinaus.

»Laß doch das!« sagte die Mama. »Die armen Tiere!«

»Die sind gar nicht zu sehen«, sagte ich von außen und machte die Tür hinter mir zu. Neben mir ein Schatten: Peterle.

»Na«, sagte ich, »geh lieber weg, Fliegenbein.«

Aber er wich nicht von meiner Seite. Mit großen glänzenden Augen beobachtete er, wie ich zunächst den Holzstock der Rakete in den hartgefrorenen Schnee steckte und sie dann anzündete. Tatsächlich ging das Ding los, entsandte auch programmgemäß ein paar bunte Kugeln und endete mit einem Knall. Der Knall war etwas kümmerlich, aber immerhin! Peter hatte sich neben mir in den Schnee gesetzt und mit schiefem Kopf die Sache beobachtet.

»Na, war das schön?« fragte ich ihn. Er wedelte.

»Jetzt paß auf!« sagte ich. »Jetzt kommt der Kanonenschlag! Hoffentlich machst du dir nicht in die Hosen wie die beiden anderen Feiglinge. Wo sind die überhaupt? Na, ist ja egal. Also paß auf, jetzt lege ich das Ding hier in den Schnee, und dann zünde ich’s an, und dann rennen wir beide ganz schnell weg, denn die Lunte ist verflixt kurz!«

Ich verbrauchte mit zitternder Hand zehn Streichhölzer. Das elfte zündete. Ich drehte mich um: »Komm Peter!« schrie ich. »Schnell!« — und raste weg. Zwölf Schritte bis zum Haus.

Peter? Ach — da war er ja. Ich starrte auf die Stelle, wo der Kanonenschlag lag. Jetzt müßte es ja längst soweit sein. Nichts. Neben mir öffnete sich das Fenster. Frauchens Kopf erschien. »Na, wann geht’s denn los?«

»Hätte längst losgehen müssen!«

»Vielleicht ist die Lunte ausgegangen.«

»Vielleicht.«

»Wo ist denn Peter?«

Peter? Ich sah seine Gestalt undeutlich neben meinem rechten Fuß. Er lag im Schnee und knabberte in der Gegend seiner Vorderpfoten herum. Dann stand er auf, trat in den Lichtschein aus dem Fenster und warf mir das, woran geknabbert hatte, vor die Füße! »Wuff!« sagte er ermunternd. Ich beugte mich herunter: es war — der Kanonenschlag!

»Peter«, stammelte ich entsetzt, »wenn der losgegangen wäre!«

Er machte Männchen. Neben Frauchens Kopf erschien der der Mama: »Um Gottes willen! Ich hab’s ja immer gesagt!«

Ich reichte mit der Hand ins Fenster: »Gebt mir mal schnell die Cognacflasche!« Dann packte ich Peter am Kragen, hob ihn ins Zimmer, nahm meinen Kanonenschlag, säuberte ihn vom Schnee und überlegte.

»Schmeiß bloß das gräßliche Ding weg!« sagte die Gefährtin.

»Nein!« erklärte ich mit der Hartnäckigkeit des ziemlich Angesäuselten. »Wenn das nicht knallt, haben wir kein Glück im neuen Jahr. Gebt mir mal Papier.«

Von drinnen erklärte man, daß man mir kein Papier geben wolle.

»Außerdem sollst du nicht kokeln«, beharrte die Mama. »Kleine Jungs, die kokeln, machen nachher ins Bett.«

»Dann hole ich’s mir eben selber!« sagte ich wütend, ging auf die To, rollte die halbe Rolle ab, packte meinen Kanonenschlag darin ein, ging damit zum Zaun und zündete das Ganze an.

Der Donnerschlag war wirklich prächtig. Noch prächtiger aber war das Echo, das unvermutet durch die Nacht von den Bergen widerhallte. Die ungeheuren Berge warfen es zwischen sich hin und her, bis es schließlich nach Österreich hin in den Schluchten erstarb. Es war mir, als habe die Natur mein Opfer angenommen.

Dann fielen mir Cocki und Weffi ein. Wo steckten die bloß? Ich holte mir die Taschenlampe und leuchtete im Schnee umher. Da sah ich Cockis breite Tatzenabdrücke, die zur Garage führten. Die Tür stand halb offen. Ich fand die beiden in >Prächtig<. Sie waren durch das offene Fenster ‘reingekrochen, und der Lack wies ein interessantes Kratzmuster auf. Innen lag der Dicke mürrisch auf dem Hintersitz, seine Augen reflektierten goldtopasfarben. Neben ihm, hoch aufgerichtet, saß das Holzpferd und wackelte mit den Hosen. Beide hatten die Schnauzen auf und hechelten. Ich küßte sie auf die Schnuten: »Prost Neujahr! Und nun seid nicht so albern, es knallt ja nicht mehr!«

Ich nahm das Papp-Pferd auf den Arm und stieg aus: »Komm, Dicker, es gibt Fresserchen, Schokolade, Oma hat Schokolade!«

Er rührte sich nicht. Ich streckte die Hand aus, er fauchte.

»Aber du kannst doch nicht die Nacht über im Wagen bleiben, du erfrierst ja!« Ich mußte die Leine holen und ihn daran aus dem Wagen zerren. Drinnen kassierte Cocki die Schokolade, warf einen scheelen Blick auf die zweite Sektflasche und verkroch sich dann nebenan unter meiner Couch. Peterle ging wieder an die Sektpfütze und leckte sie auf. Dann setzte er sich vors Radio, warf den Kopf in den Nacken und sang mit. Weffi saß mit schlotternden Hosen auf Mamas Schoß. Wir zündeten, da der Dicke ja nicht dabei war, noch einmal die Kerzen an, dann gähnten wir alle der Reihe ‘rum, pusteten nach einer Weile die Kerzen wieder aus und gingen zu Bett.

So hatte das Jahr doch noch gut geendet, und was dazwischen lag, war nur noch wie ein böser Traum.

6

Im Januar ging der Winter zur Großoffensive über. Es heulte, fauchte, brüllte und schüttete Schnee rund um das Haus herum, drei Tage und drei Nächte lang, ohne aufzuhören. Am ersten Tage hatte ich mich noch ins Städtchen gekämpft und allerhand Eßwaren zusammengeholt. Am zweiten Morgen bekam ich schon die Türen nicht mehr auf und mußte aus dem Fenster kriechen, was nicht besonders schwer war, da der Schnee genau bis zu den unteren Fensterbrettern reichte. Draußen aber stand ich bis zur Brust drin. Ich hangelte mich mühsam bis zur Haustür, wo ich nach längerem Gewühle im Schnee Schaufel und Schieber fand und erst mal die Haustür freilegte. Damit war zunächst auch nicht viel gewonnen, denn nun stand ich in einem kleinen Schacht, der mir genau bis an den Kopf reichte.

Ich fluchte anstandshalber, aber im Grunde war ich glücklich. Wütende Naturgewalt hat mich immer glücklich gemacht, wie alles, was aus der Natur kommt. Dann begann ich zu überlegen: Spazierengehen war ausgeschlossen. Na schön, blieben wir in unserem Knusperhäuschen. Irgendeine Gefahr war nicht vorhanden: zu essen hatten wir, zu heizen auch. Aber meine drei!

»Na, das ist ja eine schöne Bescherung!« sagte die Stimme der Mama hinter mir in der Haustür.

»Wieso? Ist doch herrlich! Ich komme mir vor wie dieser Kerl da im Märchen, der sich durch einen Schlagsahneberg essen mußte.«

»Es war Pudding!« sagte sie streng. »Außerdem — wo soll ich den Mülleimer hinschütten? Wir können uns doch nicht den ganzen Dreck vor die Nase legen!«

»Ich grab’ dir schon ein Loch, mein Pessimunkelchen!«

»Und wenn nun jemand von uns eine Blinddarmentzündung kriegt, und man muß den Arzt holen?«

»Sehr einfach, dann telefonieren wir.«

»Und möchtest du mir mal sagen, wie der Arzt dann hierher kommen soll, wenn kein Weg ist und er im Schnee ersäuft?«

»Dagegen gibt’s ein ganz simples Mittel.«

»So! Und welches?«

»Man bekommt keine Blinddarmentzündung. Und nun gib mir mal den Mülleimer.«

Ich stach einen Kubikmeter Schnee aus, schüttete das Müllzeug hinein und schippte wieder zu. Dann sah ich gerade über den Schneeberg drüben bei Werneburgs Margot, den Hausgeist.

»Margot«, schrie ich, »was macht ihr denn mit den Hunden?«

Ihr über den Schnee aufragendes Brustbild antwortete, daß es dieses nicht wisse.

»Passen Sie auf, Margot«, schrie ich zurück, »wir graben von beiden Seiten, bis wir zusammenkommen, dann haben wir einen Korridor, da drinnen können sie’s machen!«

»So lange können die armen Tiere nicht warten«, erklärte die Mama, »ich lasse sie schon immer ‘raus!«

»Aber nicht durch die Tür, da sind sie mir beim Schippen im Weg!«

Ich ging ins Haus, bekam Cocki beim Kragen, stemmte schwer keuchend seine achtundvierzig Pfund und setzte ihn vom Fenster aus auf den Schnee. Er ging unter wie eine bleierne Ente, und es war nicht das geringste mehr von ihm zu sehen.

»Schnell! Er erstickt!« schrie die Mama.

»Blödsinn, über sich hat er ja Luft.«

Ich grub mich bis zu ihm hin, und da saß er, einen Meter tiefer, völlig schneeverkleistert und verdattert. Ich reichte ihn wieder hinein und legte dann los. Nach drei viertel Stunden knallte meine Schaufel auf eine andere: Margot! Wir schüttelten uns die Hände, trampelten den Korridor fest, und dann wurden von beiden Seiten die Hunde in den Schneetunnel gelassen. Zunächst alberten sie miteinander herum und taten alles andere, nur nicht das, was sie sollten. Dann ging die alte blinde Elfie in die Knie, und das brach endlich den Bann, indem es die vier Männer ermutigte, das Resultat zu begutachten und zu quittieren. Margot und ich erwarteten beiderseits, auf unsere Spaten gestützt, die Ergebnisse. Als sie schließlich eingetreten waren, warfen wir sie oben auf den Schnee. Dann wurden die beiden Vereine wieder zurückgebracht, und ich machte mich daran, nunmehr den Garageneingang freizuschaufeln.

An diesem zweiten Tag kam auf der Straße noch der Schneepflug. Aber am dritten Morgen kam auch er nicht mehr durch. Im Radio hörte man von steckengebliebenen Zügen, gesperrten Straßen, abgeschnittenen Ortschaften. Es war direkt aufregend und gab der Mama Stoff zu Prophezeiungen von großartiger Düsternis. Während der ganzen Zeit buddelte ich. Ich grub eine Ausfahrt bis zur Landstraße und trampelte einen Pfad bis zum Bach hinunter. Gemeinsam mit Herrn Werneburg legten wir eine breite Bahn bis zu den Felsen hinter seinem Haus an, wo der Grund anstieg und weniger Schnee lag. So war auch das Problem des Hundeauslaufs gelöst. Wir taten das alles mit vielen fachmännischen Bemerkungen und sorgenvoll gefurchten Stirnen, aber zwischendurch streiften wir uns mit gewissen Seitenblicken und wußten sehr wohl, welches Glück uns da geschenkt worden war: als erwachsene Männer noch mal so richtig buddeln zu können wie Anno dazumal auf dem Sandplatz.

Am vierten Tag endlich hörte es auf zu schneien. Strahlendes Wetter! Die gesamte Belegschaft beider Häuser trat an und schippte zum soundsovielten Male die Ausfahrten bis zur Straße frei. Auf besagter Straße fuhr auch wieder der Schneepflug, und so konnten wir denn endlich wieder in die Stadt, wo man überall am Werke war, mit Riesenschaufeln und genauem Abstechen von Schneekuben, die dann aufeinandergeschichtet wurden. Allmählich streckte das Leben wieder seine Adern und Fühler durch die weiße Wüste. Dieses erstaunliche, unbezwingliche Säugetier Mensch hatte wieder einmal über die Natur triumphiert!

Cocki benutzte diese Situation, um sich eine neue Braut zuzulegen. Am Morgen des fünften Tages war er verschwunden und blieb es. Die Mama gab von Stunde zu Stunde düstere Prophezeiungen von sich, während Frauchen und ich diese brüsk von der Hand wiesen, um so brüsker, je mehr auch wir allmählich Angst bekamen. Peter hatte ihn diesmal nicht begleitet. Er hatte sich einen Lieblingsplatz ausgesucht, einen kleinen Hügel jenseits der Bahn, wo im Sommer Himbeeren und Brombeeren zwischen jungen Fichten und alten Baumstümpfen wuchsen. Durchs Fenster sah ich ihn als schwarzen Punkt dort drüben im Schnee herumstaksen. Er witterte, träumte und buddelte abwechselnd. Unser kleiner Sonderling.

Cocki erschien auch nicht zum Mittagessen. Ich entdeckte, daß ich dringend etwas in der Stadt besorgen müsse, holte meine beiden anderen zusammen und wackelte mit ihnen los. Kaum war ich außer Sichtweite der Zauberschachtel, als ich mich hinkniete und den beiden erzählte: »Sucht Brüderchen!« Worauf Weffi in den nächsten Schneehaufen sprang, ein Maul voll nahm, nieste und dann ein Loch zu graben anfing.

»Such Cocki, Peter!« sagte ich. »Der Weffi ist ja wieder zu dumm. Such Cocki! Wo ist Cocki?«

Peter hob den Kopf, sah um sich, dann rannte er weg, trabte die Schneemauer an der Seite der Straße auf und ab, fand schließlich einen Stock, der etwas hervorragte, zerrte ihn mit ungeheurer Kraftanstrengung heraus und warf ihn mir vor die Füße. Ich zog ihn mit dem Stock an mich heran, drehte ihm seine Beute aus den Zähnen und nahm ihn dann an den Vorderpfoten: »Jetzt hör mal zu: Cocki! Wo ist Cocki?«

Er verknuckelte ergeben die Ohren, er wand sich, als ich ihn losließ, unter meinen Knien durch — aussichtslos. Ich wanderte seufzend weiter. Vor mir her rauften sich die beiden um den Stock. Sie zerrten aus Leibeskräften an beiden Enden, und zweimal bekamen sie es tatsächlich fertig, daß er mir zwischen die Beine geriet und ich auf die Nase fiel.

In der Stadt waren alle Hunde, die man sich wünschen oder nicht wünschen konnte, nur nicht Cocki. Ich fragte an der Tankstelle, in beiden Lebensmittelgeschäften und schließlich auch in der Drogerie bei Herrn Zimmermann, mit dem mich besonders enge Bande verknüpften, weil wir gemeinsam meine Filme entwickelten und vergrößerten. Er glaubte sich zu entsinnen, daß er Cocki habe vorbeimarschieren sehen: »Da seitwärts ‘raus, nach dem Kirchhof zu, aber da können Sie nicht hin, da liegen nur noch die Einödhöfe. Der kommt schon wieder!«

Am Abend kam er tatsächlich wieder. Er wurde überschwenglich begrüßt, alle Vorwürfe erstarben angesichts der Tatsache, daß er uns mit seinem Wiedererscheinen beehrt hatte. Er sah uns ziemlich mürrisch an, soff einen halben Eimer Wasser, fraß sein Mittagessen auf, enterte dann die Couch, deckte sich mit den Ohren zu und begann zu schnarchen.

Am nächsten Morgen war er wieder weg. Diesmal regten wir uns bedeutend weniger auf.

»Na ja«, sagte Frauchen, »das dauert so die üblichen neun Tage, und dann wird der Herr ja geruhen, seine häuslichen Gewohnheiten wiederaufzunehmen.«

Wir saßen beim Mittagessen, draußen glitzerte die Sonne auf dem Schnee, Peterle und Weffi machten Männchen und kassierten ihren Anteil, glücklich darüber, daß er infolge Cockis Abwesenheit erheblich größer ausfiel. Plötzlich hob Peter den Kopf. Er rannte zum Fenster, richtete sich auf, schnupperte und winselte.

»Da ist wer!« sagte die Gefährtin.

»Hoffentlich kein Besuch!« meinte ich. »Ich bin so schön müde und möchte jetzt schlafen.«

Peter winselte weiter. Ich stand auf, guckte aus dem Fenster — nichts.

»Vielleicht will er ‘raus!« meinte die Mama.

»Unsinn, die waren doch den ganzen Vormittag draußen.«

Jetzt wurde auch Weffi aufmerksam. Er rannte an die Tür und blieb dort mit schiefem Kopf stehen. Peter stellte sich neben ihn.

»Es ist vielleicht doch jemand da!« sagte die Mama.

»Das müßte direkt ein Zwerg sein«, sagte ich, »ich habe doch eben ‘rausgeguckt, es war niemand da!«

»Moment mal«, sagte Frauchen, »ich habe was gehört.«

Wir horchten. Und dann hörten wir es: ein ganz merkwürdiges Geräusch, ein heiseres Röhren und Quietschen.

»Komisch!« sagte die Mama. »Was kann das sein?«

»Wird ein Fensterladen im Wind sein«, sagte ich.

»Nein«, meinte Frauchen, »seid doch mal ruhig!«

Wieder dieses Röhren. Oder war es nicht eher ein Röcheln, ein Ächzen? Ich stand auf und ging zur Tür. Und da lag Cocki! Oder vielmehr das, was von ihm übrig war, ein zerfetztes, röchelndes Bündel. Von ihm weg ins Freie führte eine Blutspur, die von den beiden anderen aufgeregt beschnüffelt wurde. Dann rannten sie wieder zu ihm hin und berochen ihn, und dann legte sich Peter neben ihn auf die Hinterkeulen, hob den Kopf und stieß ein seltsames Heulen aus. Es lief mir kalt über den Rücken. Ich kannte diesen Ton. Er hatte ihn schon einmal vor Jahren hervorgebracht, als Cocki auf den Tod erkrankt war. Ich drehte mich um: »Schnell!«

Die Mama stand da, die Hände vor dem Mund: »Um Gottes willen — er stirbt!«

Frauchen rannte schon nach Verbandzeug.

»Mach schnell Wasser heiß!« sagte ich zur Mama. Ich fühlte, wie sich in meinem Innern etwas verschloß. Der übergroße Schmerz kapselte sich ein. Es war ganz leer und hart in mir, als ich mich niederbeugte und vorsichtig den kleinen Löwen aufhob. Sein Rücken war ein einziger Blutmatsch, die dicken Pfoten baumelten jämmerlich herunter, auch aus seiner Schnauze rann Blut. Er stöhnte, als ich ihn anhob.

Die nächste Stunde waren wir damit beschäftigt, zu säubern, Haare wegzuschneiden und Blut zu stillen. Er hatte mehr als zwanzig schwere Bisse und war buchstäblich zerfetzt worden. Zwei Tage lang kämpfen wir um sein Leben, zwei Tage und zwei Nächte, und während dieser ganzen Zeit wich Peterle nicht von seiner Seite. Wann immer er konnte, leckte er ihm die Wunden, winselte leise vor sich hin, als ob er es sei, der die Schmerzen hatte. Des Nachts drängte er sich an ihn, als wolle er ihn mit seinem Körper wärmen. Er fauchte Weffi an, wenn der an dem kranken Löwen schnuppern wollte.

Am dritten Tage endlich stand Cocki auf. Er taumelte zwar und fiel gleich wieder hin, aber es war doch wenigstens das erste Lebenszeichen. Er soff Milch und fraß am Abend etwas Schabefleisch. Und dann, ganz allmählich, ging es aufwärts. In seine Augen, die ganz matt und flach gewesen waren, kam wieder Feuer. Sein Zahnfleisch färbte sich dunkel. Die Hitze aus der Nase verschwand.

Draußen waren noch immer strahlende Tage. Mittags schien die Sonne unglaublich heiß, aber sobald sie hinter den eisgepanzerten Riesentürmen versunken war, stürzte sich der Frost auf uns. Er stieg aus der Erde, er wallte aus dem Bach, er senkte sich aus der millionenfach schimmernden Sternenpracht nieder, streng und hart und königlich, als wisse er, daß er die paar trügerischen warmen Mittagssonnenstrahlen nachzuholen habe. Unter diesem Wechsel der Temperatur begannen rings um das Häuschen die Eiszapfen zu wachsen. Erst bekam die meterhohe Schneedecke auf dem Dach rundherum eine lustige gezackte Silberborte. Dann wurden aus den Zacken Dolche, dann Lanzen, die zur Erde niederstießen, und schließlich bohrten sie sich als arm- und schenkeldicke Säulen in den Bodenschnee. Zwischen ihnen und der Hauswand entstand so rings um das Häuschen eine Wandelhalle.

Wenn ich aus der Stadt kam und die Sonne auf das Häuschen schien, war es nun wirklich eine Zauberschachtel. Die Riesenberge ringsum, der millionenfach sprühende und schillernde Schnee in seiner weißen Jungfräulichkeit, darin das kleine Kästchen, von strahlenden Silbersäulen vergittert, mit dem qualmenden Schornstein obendrauf. Ein Märchen der Wirklichkeit.

Wenn ich dann näher kam, sah ich sie alle drei vor dem Haus zwischen den Eiszapfen sitzen. Sie mußten nämlich jetzt zu Haus bleiben, wenn ich in die Stadt ging, weil der kleine Löwe noch nicht richtig laufen konnte und sich so grämte, wenn man ihn zurückließ.

Übrigens hatte mich in der Stadt eine Frau angesprochen. Sie wohnte in einem Haus, das zum Sägewerk gehörte: »Ach, grüß Gott!« hatte sie gesagt. »Wie geht es Ihrem Hund? Dem mit den langen Ohren? Ist er tot?«

Ich blieb erstaunt stehen: »Der Cocki? Nein — aber woher wissen Sie?«

Sie trat an mich heran, sah sich um und flüsterte dann: »Ich hab’s gesehen! Ich wohne da hinten in dem kleinen Häuschen am Sägewerk, wissen Sie. Aber verraten Sie mich nicht, sonst liefert uns der Wildgruber, der wo die Säge hat, kein Abfallholz mehr zum Heizen. Der hat schon zweimal zahlen müssen, der Wildgruber, wegen dem Harras. Das ist der reine Teufel, dieser Köter! Vier Hunde hat er schon umgebracht, aber der Wildgruber kauft ihm keinen Beißkorb! Es freut ihn sogar, glaub’ ich. Ich hab’s mit angesehen: Ihr Hund ging vorbei, Harras bellte ihn von drinnen an. Der Cocki blieb stehen und bellte auch. Da war der Harras mit einem Satz auf einem Bretterstapel und dann vom Stapel über den Zaun und dann — es war fürchterlich! Erst hat er sich gewehrt, Ihr Kleiner, wie wild, aber was wollte er denn machen! Und dann, als er sich schon gar nicht mehr wehrte und nur noch jammerte und schrie wie ein Mensch, hat Harras noch immer gebissen und ihn geschüttelt. Als er ihn liegenließ, dachten wir, er wäre tot. Der ganze Schnee um ihn ‘rum war ein Blut und wurde immer noch röter! Ich wollte ihn erst ‘reinholen, aber mein Mann sagte: >Laß ihn liegen, das geht uns nichts an. Wir wollen in nichts ‘reinkommen.< Wir sind nämlich Flüchtlinge«, fügte sie leise hinzu.

»Es geht ihm besser«, sagte ich, »er ist schon fast wieder gesund.«

Das blasse Gesicht der Frau rötete sich: »Ach, das ist schön! Sie verraten mich nicht?«

»Nein, bestimmt nicht!«

Es ging gegen Ende Januar. Die Tage rannen nur so dahin, und meine Arbeit wuchs. Cocki war schon wieder sehr munter und grub hinten im Garten die Gänge auf, die sich ein Wiesel gebaut hatte. Mitunter tauchte es in seinem weißen Winterpelz wie ein Blitz aus dem Schnee auf, äugte zu Cocki herüber und stürzte sich dann in den nächsten Gang. Cocki Witterte, stemmte sich durch den Schnee heran wie ein Dampfer mit Bugwelle und grub nunmehr auch diesen Gang auf.

Peter hatte die Wache bei Cocki schon lange aufgegeben und buddelte auf seinem Lieblingshügel. Weffi war meist in der Bahnhofsbude und spielte mit Monikas Stoffhund. Manchmal ging er auch zu Werneburgs, um Tommy und Elfie zu besuchen.

An einem der letzten Januarabende, als ich noch mal mit den dreien draußen war, hatte der Mond zwei Ringe, einen ziemlich dicht in seiner Nähe und dann noch einen großen, ganz-weit außen. Die Berge schienen so nah und gewaltig, daß sie mich fast erdrückten. Mein Herz schmerzte, und in meinem linken Arm stach es. Morgen würde wohl das Wetter Umschlägen. Auch Peterle sah gegen den Himmel, knuckelte bedenklich das linke Ohr und warf mir einen Blick zu: »Du, das gibt was!« Dann war er weg, hinter dem Dicken her.

Wo war der überhaupt? Ich knipste die Taschenlampe an, aber in dem hellen Schneelicht war sie fast unwirksam. Schließlich sah ich weit hinten, nach dem Sägewerk zu, einen Moment zwei rosenrote Lichter aufblitzen, Cockis Augenreflexe: er war im Abmarsch auf seinen Erzfeind Harras! Na, das konnte ja nett werden!

Ich setzte mit großen Sprüngen hinterher, jedesmal bis über die Knie versinkend. Gott sei Dank kam Cocki viel schwerer vorwärts, er hatte zu den hundert oder hundertfünfzig Metern zehn Minuten gebraucht, ich schaffte es in der Hälfte, holte ihn schließlich keuchend ein und kriegte ihn am Kragen: »Du bist wohl nicht gescheit? Hast du noch nicht genug vom letztenmal?«

Er knurrte böse und schmiß sich auf den Rücken. Ich hob ihn an den Hinterbeinen hoch und gab ihm einen Klaps. Peter, das ganze Gesicht weiß gepudert, sah mit schiefem Kopf zu und schien nicht ganz einverstanden zu sein.

»Du wenigstens solltest vernünftig sein!« sagte ich.

Etwas stupste mich in die Kniekehlen, es war Weffi. Ich leuchtete zu ihm herunter, er stand da, wedelte, schlotterte mit allen vier Beinen und winkte mit den Augen, die im Schein der Lampe grün aufflammten, nach Hause. Vor allzuviel Natur, besonders bei Nacht, hatte er Angst.

Wir bummelten heim. Es war schwer, sich von der finsteren Majestät dieser Winternacht loszureißen, und ich stand noch eine ganze Weile vor dem Haus. Leise Musik von drinnen. Dann öffnete sich die Tür, und ein goldenes Rechteck stieß über den aufflammenden Schnee. In der Tür die Silhouette der Mama: .

»Hannes?«

»Ja, hier bin ich.«

»Was machst du denn da draußen?«

»Seh’ mir alles an.«

Auch sie schaute jetzt umher: »Wunderbar!«

»Glücklich?«

»Ja! Brrr — ist das aber kalt! Komm bloß ‘rein, du holst dir was! Sind die Lümmels auch dabei?«

»Ja, alle drei. Paß auf, wenn du sie morgen früh ‘rausläßt, der Dicke hat schon wieder Gelüste. Er war auf dem Weg zum Sägewerk.«

»Das kann ja nett werden! Der lernt’s auch nie,«

»Das hat er mit uns gemeinsam. Wir machen auch immer wieder dieselben Dummheiten.«

»Du vielleicht. Komm ‘rein.«

In der Nacht schlief ich erst gar nicht und später wie ein Stein. Schließlich träumte ich, ich läge in einem Ruderboot. Jemand kam herangeschwommen und begann das Boot zu schaukeln. »Hören Sie doch auf mit dem Quatsch!« sagte ich. Dann wurde ich wach. Es war schon ganz hell. Frauchen stand an meiner Couch und schüttelte mich.

»Was ist denn los? Schon so spät?« Dann sah ich ihr Gesicht und richtete mich mit einem Ruck hoch: »Was ist passiert?«

»Du mußt dich gleich anziehen«, sagte sie, »Cocki ist der Mama durchgebrannt, Richtung Sägewerk, die beiden anderen auch!«

Ich glaube, ich habe mich noch nie in meinem Leben so schnell angezogen. Dann stampfte ich den Spuren nach, daß mir der Schweiß die Stirn herunterfloß. Der Himmel war diesig, die gedämpfte Helle stach in die Augen. Die Spuren führten über den Weg und dann quer über die weite, tief verschneite Wiese, an Peterles Hügel vorbei, direkt auf das Sägewerk zu. Ein Wunder, daß die drei das überhaupt geschafft hatten, aber der Schnee hatte sie wohl getragen, er war leicht verharscht. Mein Gewicht hielt er leider nicht aus, und ich brach dauernd ein.

Jetzt hörte ich es von fern bellen. Das war Cocki! Nun die gellende Trompete Weffis und dann der schwere Baß eines großen Hundes — Harras! Darauf ging alles in einem wütenden Geknurre und Getobe unter.

Da links, ungefähr zwanzig Meter vor mir, vor dem Zaun des Sägewerks war der Schnee in Bewegung. Kleine Wolken stoben hoch, ab und zu erschienen dunkle Körper. Das Gefauche, Gejaule und Gekreische stieg noch immer an. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, meine Knie zitterten. Natürlich hatte ich einen Stock vergessen. Nicht mal eine Leine hatte ich mit! Den Wolfshund am Halsband kriegen und unter den Schnee drücken oder ihn an den Hinterbeinen packen, hochwerfen und die Hinterbeine auseinanderreißen! Das hatte mir auch mal jemand als Rezept empfohlen.

Endlich war ich heran. Erst hatte ich lauter dunkle Flecke vor den Augen durch die Anstrengung und Aufregung. Dann aber sah ich: es war nicht nötig, Harras festzuhalten. Sie machten ihn fertig, zu dritt! Er hatte sie wohl kommen sehen und war ihnen vom Bretterstapel über den Zaun weg entgegengesaust. Durch seine Schwere war er aber in dem verharschten Schnee eingebrochen, während meine leichte Kavallerie um ihn herumsauste wie ein Hornissenschwarm.

Peter hatte sich an einem seiner Ohren «festgebissen und hing dort wie festgeklebt. Der Dicke kroch ihm gerade auf den Rücken und packte ihn dann im Genick. Der Wolfshund warf sich auf die Seite, an der Peterchen hing, und drückte ihn unter den Schnee, so daß er loslassen mußte. Auch Cocki flog zur Seite und brach mit den Hinterpfoten ein, aber im Nu war er wieder hoch. Der große Wolfshundrachen fuhr ihm entgegen, aber der kleine Löwe war schneller. Er stieß von der Seite gegen die fauchende Schnauze und biß sich in Harras’ Lefze fest. Jetzt war auch Peter wieder hoch und nahm sich das schon blutende Ohr aufs neue vor. Harras drehte ab und watete brüllend und winselnd auf seinen Zaun zu. Da kam Weffi zum Zuge und packte ihn an dem buschigen Schwanz. Er schien den Schwanz für eine Art Schlange mit Puscheln zu halten, die da hin und her fuhr und ganz zweifellos zu seinem persönlichen Vergnügen geschaffen war. Herrlich, da hineinzukneifen und mit seinen mörderischen Zähnen fest zuzubeißen. Und vor allem: der Schwanz biß nicht zurück! Harras schrie, fuhr schließlich herum und pflügte auf Weffi zu. Aber der tänzelte zur Seite und kläffte ihn aus sicherer Entfernung an. Peter hatte sich derweilen eine ganz besondere Sache ausgedacht. Er tauchte in den Schnee herunter, daß er ganz darin verschwand, und kurz darauf zog Harras mit einem Jammerschrei seinen linken Vorderfuß hoch. Ganz mit Schnee verkleistert hing Peter dran, während Cocki ihm jetzt an die Kehle fuhr und Weffi sich wieder den Schwanz vornahm.

Allmählich tat mir Harras leid. Aber was sollte ich machen? Ich versuchte, den einen oder anderen meiner drei zu fassen, aber ebensogut hätte ich nach Flöhen in einem Heuhaufen jagen können.

Auf dem Bretterstapel standen ein paar Arbeiter. Sie lachten. Harras schien auch bei ihnen nicht sehr beliebt zu sein. Dann wandelte sich ihre Haltung, Herr Wildgruber persönlich erschien: »Halten Sie zum Donnerwetter Ihre Hunde fest!«

»Kaufen Sie zum Donnerwetter Ihrer Bestie einen Beißkorb!« sagte ich. »Sie wissen ganz genau, daß er meinen Hund beinahe totgebissen hat. Jetzt kriegt er die Prügel, die er verdient.«

»Ich komme gleich zu Ihnen heraus!«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden.«

Das schien ihn zu ernüchtern. Ich merkte, wie er mich abschätzte und daraufhin der Partie wohl nicht ganz sicher war. Er wandte sich statt dessen an seine Arbeiter: »Zieht ihn ‘rauf! Was steht ihr da ‘rum?«

Inzwischen hatte sich Harras bis an den Zaun geschleppt. Zwei Holzknechte griffen herunter, packten ihn am Kragen und hievten ihn hoch. Erst als er oben über den Zaun kippte, ließen meine drei nacheinander los. Peter mußten sie ihm von der Pfote abreißen. Aber sie feuerten ihn mir über den Zaun zurück, ohne ihm etwas zu tun.

Dann wurde ich von allen dreien maßlos begrüßt. Jeder wollte geklopft sein, sie waren ganz außer sich und fauchten sich vor Erregung gegenseitig an. Ich teilte ein paar stark gebremste Anstandsklapse aus und trieb sie dann vor mir her: »Jetzt aber marsch nach Hause!«

Am Kampfplatz war noch einmal großer Aufenthalt. Der ganze Schnee war rot. Es wurde geschnüffelt. Peter fraß den blutigen Schnee und verdrehte die Augen.

»Marsch, ihr Banditen!« sagte ich und schob sie mit dem Stiefel weiter.

Dann, als wir weiter weg waren, nahm ich sie mir vor und untersuchte sie. Alle drei waren blutig, aber es klebte meist nur an den Haaren und war von Harras. Bloß der Dicke hatte eine frische Schramme an der Schnauze und Peter einen Biß im Nackenfell. Es störte sie alle beide nicht im geringsten.

»Also weiter!« sagte ich und stand wieder auf. Ich war plötzlich sehr müde. Der Schreck kam nach. Aber wir hatten ja nun Zeit. Ich stapfte auf meinen eigenen Spuren zurück, die drei zuckelten hinter mir drein. Die Luft hatte sich erwärmt, die Harschdecke war getaut, und so fiel es ihnen jetzt schwerer. Besonders Cocki brach dauernd ein. Von Peters kleinem Hügel her kam es plötzlich milchig angekrochen, dann heulender Sturm aus der Schlucht hervor, fauchend, brüllend, in das Gesicht beißend, Flocken wirbelnd.

»Los, los!« drängte ich. Aber es ging nicht so schnell. Der Dicke war gestrandet. Er schleppte wohl gut drei, vier Kilo Schnee mit sich weg, der in dicken Klunkern in seinen Zotteln baumelte. Ich versuchte die Klumpen abzureißen, er quietschte. Dann versuchte ich sie aufzubrechen, aber sie wurden durch den Druck nur noch härter. Es war eine Sauarbeit. Ich hatte wohl vier, fünf Minuten zu tun, bis ich ihn wieder klar hatte. Inzwischen pfiff und heulte es unentwegt um mich herum. Keine drei Schritt mehr zu sehen.

Aber noch hatte ich ja die Richtung zum Haus einigermaßen im Gefühl, außerdem war meine Spur noch sichtbar. Ich stampfte weiter. Cocki und Weffi hinter mir her. Peter, dem es zu langsam ging, überholte mich und hüpfte vornweg, ein kleiner schwarzer Punkt, der sich nach wenigen Metern in dem brüllenden Schneesturm verlor. Ich schrie — er tauchte wieder auf, sah mich fragend an: »Warum kommt ihr nicht? Schnell, es wird brenzlig!«

Aber es ging eben nicht schneller, sondern immer langsamer. Nach fünf Minuten hatte der Dicke schon wieder Reifenschaden. Auch Weffi saß auf dem Hinterteil und riß sich Schneeklümpchen aus dem Fell. Als ich ihn ansah, hob er die Vorderpfote und winselte.

»Jetzt gib nicht so an, du Flasche!« sagte ich. »Sieh dir den armen Cocki an, der kann überhaupt nicht mehr weiter!«

Ich brach wieder faustgroße Schneeballen von Cockis Zotteln. Er leckte mir die Hand und hechelte schwer. Dann krochen wir weiter, aber als ich mich jetzt mit schmerzendem Rücken umsah, die erstarrten Finger zwischen den Zähnen wärmend, wußte ich nicht mehr, wo ich hergekommen war. Vor und hinter mir war die Spur verweht. Ich drehte mich um — nichts! Eingesargt in eine brüllende Schnee- und Eishölle.

Aber das war doch lächerlich! Ich war doch höchstens zweihundert Meter vom Haus entfernt! Wie hatte ich denn gestanden? Ich sah auf meine Füße hinunter. Aber ich war so viel hin und her getrampelt, daß auch daran nichts mehr zu erkennen war. Ich schrie: »Hallo!« aber ich wußte gleich darauf, daß das Unsinn war. Nicht drei Meter weit würde man mich hören.

Allmählich ging mir auf, daß unsere Lage keineswegs unbedenklich war. Wenn ich jetzt die falsche Richtung einschlug und zum Beispiel parallel zur Straße ging, konnte ich stundenlang so laufen und kam immer weiter ab. Weffi richtete sich an mir hoch und wollte auf den Arm.

»Sei vernünftig«, sagte ich, »das geht jetzt nicht. Wo ist denn Peter?«

Da kam er gerade wieder an, erst in nächster Nähe erkennbar: »Ja, wollt ihr denn nicht endlich kommen?«

Ich stampfte aufs Geratewohl weiter. Die Minuten schienen Ewigkeiten, während sich die Kälte durch meinen Mantel grub. Und dann brach Cocki zusammen. Er legte sich einfach in der Schlucht, die ich in den Schnee getreten hatte, auf den Bauch und gab auf. Seine Augen sahen mich traurig an: »Es ist aus, mein Lieber. Daran kannst auch du nichts mehr ändern! Außerdem ist mir’s egal.«

Etwas stupste mich an, ich drehte mich um. Peterle. Er richtete sich an mir auf und winselte nun auch. Peterle! Das war die einzige Rettung! Ich kniete mich zu ihm nieder und streichelte sein Köpfchen: »Hör zu, Fliegenbein, du bist doch gelandegängig. Paß mal jetzt gut auf, Peterle, gut aufpassen! Such Oma! Oma hat Schokolade! Such-such-such, Oma — Schokolade!«

Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich, er setzte ab, witterte in den Wind, und dann begann er davonzutraben, im rechten Winkel von der Bahn, die ich eingeschlagen hatte. Hoffentlich war seine Witterung richtig. Alles hing jetzt von seinen Sinnen ab. Ich nahm den Dicken hoch und stampfte hinter Peter her. Auch meinen Fersen folgte der schlotternde Weffi so dicht, daß ich ihn manchmal trat.

Während ich mich keuchend mit dem kleinen Löwen schleppte, dachte ich: Das kann doch nicht das Ende sein, das ist doch unmöglich! Außerdem wäre es albern, hier vor meiner Haustür, mitten im zivilisierten Land, in einer kleinen Schneebö zu krepieren.

Ich wurde müde, gar nicht unangenehm. Aber das war ja gerade das Gefährliche. Peter? Er war weg. Auch das noch! Ich schwang den Dicken auf meinen Rücken, hielt die Tatzen mit beiden Händen fest und beugte mich tief herunter, um in den fauchenden weißen Schleiern, die an meinen Knien vorbeischossen, vielleicht noch Peterchens Spuren zu entdecken. Der Schweiß lief mir hinter die Brillengläser, ich sah fast nichts mehr. Ich ließ den Dicken in den Schnee fallen, riß die Brille ab und suchte im Mantel nach dem Taschentuch. Es ging schwer mit den klammen Fingern. Da hatte ich’s, aber im Moment, als ich es hochhob, riß es mir der Sturm weg, und es verschwand in Sekundenschnelle aus dem Bereich meiner kurzsichtigen Augen. Die Brille mit dem Schal wischen! Ich band ihn mir ab — innen war er noch einigermaßen trocken. Endlich hatte ich das Glas sauber und setzte es auf, aber es beschlug sofort wieder. Der Dicke lag bewegungslos vor mir im Schnee und sah mich an. Hinter mir kratzte Weffi. Er hatte Bismarck-Augenbrauen aus Eis und hechelte. Immerfort wollte er auf meinen Arm. Da sah ich durch meine beschlagenen Gläser einen Lichtschein, ein kleines gelbes Pünktchen, das eine kreisende Bewegung vollführte. Jetzt — ein ganz schwacher Laut. Ich schrie aus Leibeskräften. Zwischendurch versuchte ich wieder die Brille zu putzen. Dann riß ich den Dicken hoch, warf ihn mir über die Schulter, bückte mich noch einmal, nahm Weffchen unter den Arm und wankte dem Licht entgegen, immerzu rufend. Die Mama, Frauchen und ich stießen fast mit den Köpfen aufeinander.

»Wo bleibst du denn, um Gottes willen!« sagte die Mama. »Peter ist gekommen und hat gewinselt!«

»Ja, er hat uns richtig geholt!« sagte Frauchen. »Ich dachte mir schon, daß du’s schwer haben würdest mit den dreien. Du trägst sie ja — sind sie verletzt?«

Ich starrte sie an: Verletzt? Ach so — die Beißerei! »Ach, das war ganz harmlos, wenigstens für unsere. Dem Harras haben sie es tüchtig besorgt.«

»Ja, warum bist du denn dann nicht gekommen?« fragte die Gefährtin.

Ich genierte mich zu sagen, daß ich die Richtung verloren hatte, überhaupt klang das alles jetzt unwahrscheinlich, und ich schämte mich meiner Angst.

»Cocki hatte Reifenschaden«, sagte ich. »Wie weit haben wir denn bis zum Haus?«

»Na, es ist doch gleich hier«, sagte Frauchen und drehte sich um. Aber es war nichts zu sehen.

»Kommt bloß zurück!« meinte die Mama. »Und das nächstemal nimmst du Leinen mit!«

»Natürlich«, sagte ich. »Was ist mit dem Kaffee?«

»Wir haben ihn warm gestellt«, meinte Frauchen. »Komm, gib mir mal den Weffi, ich werde ihn tragen. Ach, das arme Jungchen, ganz vereist!«

»Und der Dicke erst!« sagte die Mama. »Warum hast du ihm denn nicht die Klumpen abgemacht?«

»Ich hab’s versucht, drei- oder viermal. Aber dann — dann habe ich ihn lieber getragen.«

Ich nahm ihn von der Schulter herunter: »So, und jetzt watschel mal wieder ‘n bißchen!«

Etwas Schwarzes schoß gegen mein Gesicht, als ich mich niederbeugte: Peterle. Ich zog ihn an mich. »Danke schön!« sagte ich ihm leise in sein Knuckelohr. »Danke schön, Peterle! Du hast uns zum zweitenmal gerettet!«

7

Nach dem Mittagessen dieses Tages (es war ein Samstag) hupte es. Wir stürzten zu sechst ans Fenster. Drüben bei Werneburgs erschien man zu dritt (er, sie und Tommy). Na, wie das so eben in der Einöde ist.

Ein Wagen war von der Landstraße in den kleinen Feldweg abgebogen, der zu unseren beiden Häusern führte. Der Wagen schlingerte zwischen den hohen Schneemauern hin und her, als ob er nicht genau wüßte, auf welcher Seite er hineinrennen sollte. Schließlich entschied er sich für die linke Seite, rannte hinein und blieb stehen. Die Tür (die rechte) öffnete sich, und aus derselben quollen nacheinander der Pudel Willibald, Stefan, Renate und ein Riesenmöbel von Schäferhund. Bei seinem Anblick stellte mein gesamter Verein die Sirenen an. Dann war der Dicke vom Fenster weg gleich an der Tür, Peter neben ihm und Weffi dahinter. Ich machte das Fenster auf. Renate, ganz in Pelz vermummelt, winkte: »Hallo! Da seid ihr ja!«

»Ach, um Gottes willen!« sagte die Mama. »Jetzt kommt dieses Zigeunervolk!«

»Renate!« schrie ich zurück. »Paß auf den Schäferhund auf!«

»Warum denn?«

»Meine drei haben gerade heute vormittag einen auseinandergenommen. Sie sind noch so schön in Schwung!«

»Ach was«, sagte sie, inzwischen herangekommen und nun direkt unter dem Fenster stehend, »der ist harmlos! Den haben wir in Pension, von Salzers. Das ist Fi, Abkürzung für >Fröhlicher Idiot<.«

»Wieso?«

»Na, das ist so ‘n netter Hammel, Salzers nennen ihn so.«

Ich sah mir den fröhlichen Idioten an. Er war noch jung, höchstens ein Jahr, ganz rasserein auch nicht. Er hatte so komische Puschelohren. Aber ein Idiot — keineswegs. Gut waren diese Augen, mit denen er zu mir heraufsah, herzensgut, von iener liebevollen schüchternen Einfalt, die ich manchmal auch in Weff-chens Augen las.

»Wollen’s versuchen«, sagte ich, ging zurück und machte die Tür auf. Während das Menschenvolk die üblichen Begrüßungen austauschte, beobachtete ich die Hundelei. Meine drei stürzten sich sofort auf Fi, wobei sie wie auf ein schweigendes Kommando ihre Gefechtsstellungen einnahmen: der Dicke direkt vor seiner Schnauze, Peterle mit Höllengefunkel in den Augen am Hals und Weffi am Schwanz.

Fi sah sich einen Moment um und zog sofort die Quadratwurzel aus der Situation, indem er den Dicken über die Stirn leckte, Peter die Pfote hinreichte und sich, als das den finsteren Ernst des Teams nicht lockerte, schlicht auf den Rücken legte. Zwischen meinen dreien ging ein Blick hin und her: Flasche! Darauf besichtigte man gemeinsam den Bauch der Flasche. Cocki ging dann gelangweilt weg und nahm Kurs auf Willibald, Peter folgte ihm. Willibald, der die ganze Schneemauer entlang die Spuren der drei quittiert hatte, schien zunächst keineswegs gewillt, den kleinen Löwen als Herrn anzuerkennen, sondern zeigte ihm ganz unmißverständlich einen schneeweißen langen Hauer. Als aber an seinem Hinterteil Peter auftauchte, wurde ihm unheimlich. Er ging auf Stelzen noch einmal zur Schneemauer und hob das Bein. Es war eine reine Höflichkeitshandlung. Diese wurde von Cocki und Peter mit gebührendem Ernst gewürdigt und dann ihrerseits gegengezeichnet. Darauf setzte sich das Trio mit dem nunmehr völlig gezähmten Willibald in der Mitte gegen den Werneburgschen Garten hin in Bewegung. Zaunschwierigkeiten bestanden ja nicht mehr, da die obersten Spitzen des Werneburgschen Zauns ungefähr einen halben Meter unter Schneehöhe lagen. So konnte man denn völlig ungehindert dem Gast die Hauptsehenswürdigkeit vorführen, nämlich die Düfte der greisen Elfie. Willibald zeigte sich höflich interessiert, obwohl doch ihm als Großstädter der Duft eines so einzelnen und noch dazu alten weiblichen Wesens keineswegs imponieren konnte.

Weffi derweilen hatte mit Fi Freundschaft geschlossen. Es war eine Liebe auf den ersten Blick zwischen zwei total Harmlosen. Weffi führte das Riesenmöbel zum Mülloch, wo sie gemeinsam die Reste des Freitagfisches ausgruben, als Kostbarkeit vor das Fenster schleppten und sich darauf wälzten.

»Werdet ihr wohl, ihr Ferkel!« schrie ich.

Sie sprangen zurück, setzten sich beide gegen die Hauswand und ließen meine Strafpredigt über sich ergehen. Unter dem Anhauch meiner Donnerstimme neigte sich Fi schuldbewußt zur Seite, Weffi machte neben ihm sitzend die Bewegung mit, und so neigten sie sich nebeneinander, zwei schräge Kavaliere. Ich ging schnell weg und lachte mich hinter der Ecke erst mal aus.

Es wurde ein reizender Nachmittag. Die Gefährtin konstruierte in der Liliputküche schnell einen Apfelstrudel, die Mama stürzte nach oben und zog sich das schwarze Kleid und die Brosche mit dem Heiligen Georg an der Kette an. Renate fand alles himmlisch, und Stefan erklärte, daß er unbedingt das Haus zeichnen müsse. Ich beruhigte ihn:

»Laß doch, später! Wir haben uns ja so viel zu erzählen!«

»Also später!« sagte er. Dann sah er sich um: »Ganz schön eingepuppt hast du dich hier, du Hund, du verdammter! Warum sitzen wir eigentlich in der Stadt herum, Renate, wenn es so was gibt?«

»Weil du’s ohne deine Kneipen und deine Verrückten nicht aushältst«, erklärte sie mit der Aufrichtigkeit der hartgeprüften Künstlerfrau.

»Ist das nicht entsetzlich?« fragte Stefan. »In einem solchen Augenblick mir so etwas zu sagen, wo ganz neue Visionen mich zu überwältigen beginnen! Komm her, Weib, schau aus dem Fenster! Sieh dir das an, da gegenüber! Die Sonne! Diese Scheinwerfer, die sie gegen das dunkle Gewölk da wirft!« Plötzlich wurde er ganz aufgeregt: »Sieh doch bloß — nein, das mußt du sehen — sind das Berge? Nein! Komm doch mal her, Hannes!«

Ich trat ziemlich gelangweilt hinter ihn, aber dann stutzte auch ich. Denn was sich da abspielte, war wirklich ein seltsames Naturschauspiel. Die schräge Sonne, die gegen den Dreitausender strahlte, ließ den Schatten der ungeheuren Türme gegen das Gewölk fallen, so daß, in die Wolkenwand gezeichnet, die gigantische Gebirgssilhouette noch einmal erschien, als seien es zwei hintereinanderliegende Gebirgszüge.

Lange standen wir schweigend.

»Das habe ich auch noch nicht hier gesehen«, sagte ich schließlich. »Du hast Glück, Stefan, typisches Anfängerglück, sozusagen.«

Er legte mir den Arm um die Schultern: »Na, siehste! Ich brauche bloß zu kommen! Das müssen wir begießen!«

Die Weiblichkeit gestattete sich einen schüchternen Hinweis darauf, daß es ja schließlich erst Nachmittag sei. Ich jedoch, in dem Gefühl, durch ein weiteres männliches Wesen Verstärkung bekommen zu haben, hob die Falltür zum Keller auf. Wir kletterten hinunter, wateten über die Eierbriketts und holten uns einige Flaschen aus der Ecke neben dem Brennholz.

Vor dem Abendessen gruben wir den Wesselyschen Wagen aus der Schneemauer. Dann aßen wir, fünf Menschen und fünf Hunde, aßen und tranken, redeten alle durcheinander und spielten Radio.

Nach dem Abendessen gingen Stefan und ich mit fünf Hunden spazieren, und dann wurde allmählich die Frage des weiteren Verlaufs akut.

»Ihr werdet doch nicht jetzt, mitten in der Nacht, noch zurückfahren?« fragte die Gefährtin.

Ich durchschaute ihre schwarze Seele. Sie wollte nur den Gedankenkomplex >Rückfahrt< wachrufen, wurde aber zu ihrem gut verborgenen Entsetzen ernst genommen. Stefan sah Renate an:

»Sie hat recht! Jetzt über das Glatteis, die ganze Strecke zurück — ausgeschlossen!«

Renate umarmte Frauchen: »Das ist lieb von dir! Er fährt ohnehin so schlecht!«

»Du fährst vielleicht besser?« fragte er rollenden Auges.

»Nein, Liebling, noch schlechter. Und darum bleiben wir auch hier.«

Der Mama fiel der Unterkiefer herunter, aber sie beherrschte sich meisterhaft. Dann tranken wir noch eine Weile weiter. Stefan verlangte schließlich stürmisch nach Papier und Bleistift und zeichnete. Es war die Impression unseres Hauses, wie ich Gott sei Dank von ihm wußte. Wir lobten das Werk ungeheuer. Die Mama, die damals beim ersten Ausbruch Stefanscher Schaffenslust das Porträt der Hunde für ein Haus gehalten hatte, versuchte es diesmal wettzumachen. Sie riß plötzlich, von drei großen Himbeergeistern beschwingt, das Blatt an sich und betrachtete es lange und wohlgefällig.

»Na??« fragte Stefan und kroch beifallslüstern fast auf sie herauf.

»Sehr gut«, sagte sie lobend, wenn auch etwas undeutlich. »Nur der Schwanz...«

»Was für ‘n Schwanz?« fragte Stefan verdutzt.

»Na, der Schwanz von Peter ist nicht ganz getroffen. Er ist doch krumm, und hier ist er gerade.«

»Es ist der Schornstein«, sagte Stefan dumpf. »Das Ganze ist doch euer Haus. Sehen Sie denn das nicht, Mamachen?«

Die Mama, in deren Augen ich ein verräterisches Glänzen sah, strich ihm über das spärliche Haar: »Sie sind doch sonst so ‘n netter Junge! Haben Sie früher mal normal gezeichnet?«

Stefan seufzte und trank. Ich wechselte schnell das Thema.

Schließlich ging’s ans Bettenmachen. Stillschweigend beließ man der Mama ihr Zimmer. Renate und Frauchen verkrochen sich in Frauchens Schlafzimmer. Stefan und ich sollten uns meine Couch teilen.

»Schnarchst du eigentlich?« fragte ich ihn.

Er legte feierlich die Hand auf seine Brust: »Ich? Na, erlaube mal!!«

»Er schnarcht wie ‘ne Brettsäge!« rief Renate von nebenan. »Wenn er anfängt, hau ihn auf den Bauch. Davon wacht er zwar nicht auf, aber er wird dadurch weicher, und du kannst ihn auf die Seite wälzen!«

Ich sah mir die Couch an: »Wie wollen wir denn nun schlafen? So nebeneinander?«

Stefan kratzte sich den Kopf und musterte mich: »Schwierig! Wir sind beide ziemliche Brocken! Ich will dir was sagen: du schläfst mit den Füßen nach dem Fenster und ich umgekehrt.«

Stefan fand diese Idee überwältigend komisch, blies den Rest des Himbeergeistes aus und intonierte dann Wagner.

Vor seinem leicht vibrierenden Mezzosopran verkroch sich Fi eingeschüchtert unter den Tisch, Cocki knurrte, Willibald sprang auf die Couch und roch Herrchen am Mund, Weffi machte Männchen, und Peter kratzte drüben an der Schlafzimmertür. Er fühlte sich dem Gesang offensichtlich nicht gewachsen. Ich machte brüsk die Schlafzimmertür auf. Drinnen war ein »Huch« und »Mach zu!« und ein Gewudel von allerhand Nachthemden.

»Hört mal zu«, sagte ich mit etwas holpriger Zunge, »wenn wir beiden Kerls uns hier schon gegenseitig auf den Wecker fallen müssen, könntet ihr wenigstens den Zoo übernehmen!«

»Nein!« sagte Renate. »Behaltet ihr sie ruhig. Bei euch mufft es sowieso.«

»Dann nehmt wenigstens Peterchen!«

»Nein!« Die Tür wurde mir vor der Nase zugemacht. Von oben erschien die Mama im Schlafrock mit aufgedrehten Locken: »Ich werde Cocki und Weffi nehmen!«

Blieben uns also Fi, Willibald und Peter.

»Ich will dir was sagen«, sagte ich zu Stefan, »ich nehm’ mir mein Kopfkissen und meine Decke und lege mich auf die Erde.«

»Gute Idee! Willibald schläft sowieso in meinem Arm.«

»Na schön.«

Ich richtete mein Erdlager, Peterchen kroch unter meine Decke und annektierte die Kniekehlen. Fi irrte eine Weile herum. Erst versuchte er die Couch zu entern, da knurrte ihn Willibald an. Dann nahm er Kurs auf mich, worauf ihn Peter anknurrte. Endlich klinkte er sich die Schlafzimmertür auf und wälzte sich dahinein.

»Raus!« ertönte es zweistimmig, und Fi flog wieder in unser Zimmer zurück.

Ich schloß die Tür und haute mich wieder hin. Stefan gähnte und knipste das Licht aus. Es war ein paar Minuten still.

Fünf Minuten später setzte Stefan die Brettsäge in Bewegung. Ich richtete mich auf und haute ihn auf den Bauch. Er lachte blöde. Nach zwei Minuten schnarchte er weiter. Ich richtete mich wieder auf und haute ihn wieder auf den Bauch. Diesmal kicherte er: »Renatchen, laß das!«

Ich ließ mich zurückfallen und zog mir die Decke über die Ohren. Fünf Minuten. Rrrrrrrrr-pschschschschsch — da war er wieder. Ich richtete mich erneut auf und stieß diesmal mit dem Kopf gegen den Tisch. Dann überlegte ich. Ich konnte doch nicht die Nacht als Stehaufmännchen verbringen. Ich knipste Licht an, langte schläfrig gegen mein Bücherregal und wählte aus der untersten Reihe drei Bände Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Faust und Italienische Reise. Zunächst feuerte ich die Italienische Reise gegen Stefan ab. Er hörte, getroffen von der Weltliteratur, zu schnarchen auf. Dafür fuhr Willibald hoch, sprang mit dem Goetheband in der Schnauze von der Couch, legte ihn mir hin und wollte offensichtlich Bällchen spielen. Als ich nicht reagierte, begann er den Deckel anzuknabbern. Ich gab ihm einen Katzenkopf und feuerte ihn zu Stefan auf die Couch zurück. Peterchen richtete sich auf und fletschte die Zähne gegen ihn. Ich gab auch Peterchen einen Katzenkopf und verstaute ihn wieder in meinen Kniekehlen. Eine Weile war Ruhe. Dann begannen Stefan und Willibald zweistimmig zu schnarchen. Peterchen in meinen Kniekehlen träumte, vom Harraskampf oder einer Hasenjagd, es wurde nicht ganz klar. Jedenfalls zuckte er mit den Pfoten und knurrte.

Ich setzte mich verzweifelt wieder auf und knipste erneut das Licht an. Die Tür öffnete sich, und es erschien Renate.

»Na? Geht’s?« fragte sie.

»Nein.«

Sie öffnete ihre Hand und hielt mir zwei kleine Würste hin: »Ohropax!« sagte sie. »Ich nehm’s auch gleich.«

»Renate«, sagte ich, »du bist ein Engel!« Und dabei umfing ich ihre Knie.

»Du!« sagte sie. »Danach ist mir gar nicht! Ich bin nämlich müde. Steck dir das in die Ohren und damit Feierabend! Nein — nicht so! Was hast du denn für komische Ohren! Du mußt dir das zurechtschneiden, damit’s richtig ‘reinpaßt. Hast du ‘ne Nagelschere?«

»Im Bad.«

»Also los.«

Wir gingen ins Bad und schnitten die Ohropaxe zurecht. Plötzlich war Frauchen hinter uns: »Was macht ihr denn da?«

»He?« fragte ich (ich hatte schon die Ohropaxe im Ohr).

»Sieht er nicht aus wie ein Schaf?« sagte sie zu Renate. »Hoffentlich wird er später nicht schwerhörig.«

Das hörte ich, trotz Ohropax: »Geh du gefälligst in deinen Korb«, sagte ich, »und laß ‘nen alten Mann schlafen.«

Wir wanderten zu dritt zurück. Ich kroch wieder unter meine Decke, die Weiblichkeit marschierte in ihre Kabine ab, Peterchen kuschelte sich in meine Kniekehlen, und dann, als ich gerade am Einschlafen war, legte sich etwas quer über meine Brust. Eine Zentnerlast. Fi!

»Na, das geht aber wirklich nicht!« sagte ich und wälzte ihn wieder herunter. Er wurde albern und haute mit den Pfoten nach meinem Gesicht. Peter richtete sich auf und knurrte ihn an. Stefan war mit seiner Säge an einen Knorpel gekommen. Es quiekte und kratzte. Unerträglich heiß in dieser Bude! Ich stand auf, zog meinen Schlafrock an und öffnete das Fenster. Wenn bloß die Nacht erst vorbei wäre!

Plötzlich aber sah ich etwas, daß mir der Atem stockte und im Nu alle Müdigkeit verflogen war: Auf dem breiten Felsbuckel hoch oben war wohl am Tage der Schnee unter der Sonne geschmolzen und jetzt wieder gefroren. Jedenfalls lag da droben ein breiter Silberschild, hell aufflammend unter dem schrägen Mond. Darüber ein schwarzblauer Nachthimmel mit Sternengestäube und rings die eisgepanzerten Wächter, umwunden von opalenen Wolkenschleiern.

Etwas stieß mich an. Peterle. Ich hob ihn hoch und setzte ihn aufs Fensterbrett. »Siehst du, mein kleiner Junge, der Silberschild! Da kommen die Seelen von allen guten Menschen und Hündchen hin und tanzen unter dem Mond.« Er legte den Kopf schief und starrte mit riesigen Augen auf das Phänomen. Dann drängte er sich noch näher an mich, und ich kratzte ihn auf der Brust. So blieben wir lange, lange Zeit, und ich werde dieses Beisammensein mit ihm nie in meinem Leben vergessen. Niemals.

Schließlich begann ich zu frieren. Peterle auch.

»Dann wollen wir mal!« sagte ich und hob ihn auf die Erde. Dort hatte sich Fi auf mein Lager geflegelt. Ich zog die Decke hoch, daß er auf die Seite fiel. Dann arrangierte ich mich, mit Peterle in den Kniekehlen. Im Augenblick als ich einschlafen wollte, war Fi wieder da. Er leckte mein Gesicht und mauzte.

»Na, meinetwegen!« knurrte ich und nahm ihn in den Arm. Er seufzte glücklich und begann gleich einschlafend zu schmatzen. Dabei roch er nach ranziger Bouillon. — Immerhin besser als der Kerl da auf der Couch. — Das war mein letzter Gedanke, ehe auch ich absegelte.

8

Am nächsten Morgen war ich als erster wach. Ich brauchte eine ganze Weile, um herauszufinden, warum unmittelbar vor meiner Nase ein Stuhlbein stand. Dann stellte ich fest, daß ich auf der Erde lag. Ach, richtig! Vor dem Kamin lag sehr malerisch Fi. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß er in der Nacht Stellungswechsel vorgenommen hatte. Er war munter, machte ein Auge auf und bürstete den Teppich mit dem Schwanz. Das war auch nötig, denn alles lag voll Asche und abgebrannten Streichhölzern. Jetzt wurde auch Peterle wach. Als ich mich auf den Rücken wälzte, legte er sich auf meine Brust, umarmte mich und gab mir Küßchen. Ich richtete mich auf und sah Willibald und Stefan auf meiner Couch. Stefan hatte sein Gesicht mir zugewandt, er sabberte aus dem linken Mundwinkel, und ab und zu zischelte es. Der linke Arm hing auf die Erde herunter. Er war ganz weiß und quabbelig und voller kleiner Sommersprossen. Ich studierte ihn eine Weile und wunderte mich über Renates Geschmack.

Dann, als ich mich ins Bad schlich und dort in den Spiegel sah, studierte ich mich selber: auch nicht viel besser! Ich sah mich um: der Badewannenrand war ungeheuer belebt. Ich sah unbekannte blaue und rosa Seifläppchen, daneben eine Schachtel Hautcreme und einen ebenfalls unbekannten Lippenstift. — Renate! dachte ich zärtlich und stellte mir verschiedenes vor. Daneben sah ich zwei weitere Seiflappen, einen fremden Rasierpinsel und einen ebenso fremden Rasierapparat und bemühte mich, diese Utensilien möglichst zu übersehen. Ich ging dazu über, die Spuren der Nacht zu beseitigen und das alte Schlachtschiff wieder irgendwie herzurichten, als mich plötzlich etwas ans Bein stieß. Peterle!

»Ja, was machst du denn hier? Ich hab’ dich doch gar nicht mitkommen hören!«

Er sprang auf den Thron und machte dort Männchen.

»Was willst du denn, kleiner Leierkastenaffe? Raus? — Gäßchen? — Nein? Esserchen? Auch nicht?«

Er sah mich nur an. Also Liebe! Ich kniete mich vor ihn und krabbelte ihn auf seinem schäbigen Bauch. Er schloß die Augen, bis sie nur noch schmale Schlitze waren, und stieß ein wohliges kurzes »Ö-ö-ö-ö« aus.

»Ist ja auch doll«, sagte ich, »so ‘n Gewimmel, was? Wir haben gar nichts mehr voneinander. Aber laß man! Die fahren ja weg. Hoffentlich heute. Und dann machen wir mal einen Spaziergang, ganz allein, ohne die beiden anderen Rowdies. Und dann graben wir ein Stückchen aus und spielen damit. Ich werfe es, und du bringst es wieder, und wenn ich’s nehmen will, dann hältst du’s fest, und wenn ich das Stöckchen hochhebe, dann hängst du dran, und dann setze ich dich hin, und dann machen wir ein wunderbares Zottellottelottelottelottel!«

»Ö-ö-ö-ö«, machte er, während ich ihn dauernd weiterkrabbelte. Dann bumste es gegen die Tür, und eine verrostete Männerstimme brummelte irgend etwas vor sich hin.

»Schade, Peterle«, sagte ich.

Die Stimme hinter der Tür fragte, ob ich mich nicht, zum Donnerwetter, etwas beeilen könnte.

»Geh hinters Haus, sieht kein Mensch«, antwortete ich.

Die Männerstimme erwiderte, sie dächte gar nicht daran, und ob sie das geträumt habe oder ob wirklich im Kohlenkeller noch eine Flasche Helles sei. Ich sagte, während ich mein Kinn einseifte, das wüßte ich nicht, worauf die Männerstimme erklärte, dann würde sie die >beiden Hühner da nebenan< aufscheuchen, damit sie, zum Donnerwetter, Kaffee machten.

Nach fünf Minuten war er schon wieder da: »Nu laß mich doch mal ‘rein! Will mir wenigstens die Zähne putzen!«

Ich riegelte auf, und ein sehr verkaterter und mißmutiger Stefan schob sich herein. Er roch nach Bier, schubste mich vom Waschbecken weg, griff nach Zahnbürste und Glas und verzog sich damit in den Hintergrund, wo er ungeheuer zu krächzen und zu spucken begann. Peterle, der sich unter das Waschbecken geflüchtet hatte, machte bei jedem Krächzer einen schiefen Kopf.

Ich drehte mich zu Stefan um: »Spuckst du immer in die Badewanne?«

Er richtete sich auf und kniff die Augen zusammen: »Ist das die Badewanne? Na, wenn schon!« Damit drehte er beide Hähne auf, und Peter schoß wie eine Rakete aus der Tür.

Stefan sah mich über beträchtlichen Augensäcken düster an: »Was deine Mutter da gestern gesagt hat — ob ich auch normal zeichnen kann...«

Ich wandte mich diskret ab und begann meine Glatze aus dem Vorrat seitlicher Bestände zu verdecken: »Na, und?«

»Ich kann.« Er rülpste gewaltig. »Ich habe sogar — erst vor kurzem — auch in öl...«

Ich drehte mich erstaunt wieder um: »Und das zeigst du mir nicht?«

Er riß entsetzt die Augen auf, packte mich am Arm und flüsterte: »Impressionismus — reiner Impressionismus — hätte ein früher Liebermann sein können. Kannst du dir das vorstellen?«

»Natürlich kann ich mir das vorstellen. Sogar viel besser als deine Kringel und Dreiecke.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter: »Sag mal, Alter, glaubst du eigentlich an dieses Zeug?«

Er bemühte sich krampfhaft, Entrüstung zu zeigen: »Glauben! Du redest wie ‘n Backfisch. In dieser Sphäre sind Gefühle bewußt ausgeschaltet, hast du das noch immer nicht begriffen? Hier, in dem Bereich der reinen Farben und Formen, vermählt sich die Malerei der Mathematik. Na, habe ich das nicht klassisch ausgedrückt?«

»Gott sei Dank hast du’s überhaupt nicht ausgedrückt. Ich lese nämlich auch die Tribüne und da hat sich’s der Maxwell-Phillips, dieser widerliche Obersnob, abgequält.«

Sein Blick wich und ging an mir vorbei: »Du kannst nur verdienen, wenn du so malst, wie es die Ober- und Untersnobs wollen.« Und als ich nichts sagte: »Ich hab’ mal dran geglaubt — äh — ich meine, ich bin mal aus Überzeugung diesen Weg gegangen.«

»Und jetzt?«

»Jetzt kann ich natürlich nicht ausbrechen.«

»Du würdest also lieber so malen, wie du es siehst!«

Er versuchte ironisch zu sein: »Mit Gefühl.«

»Sobald die Kunst nicht mehr im Gefühl wurzelt, ist sie keine Kunst mehr.«

»Woher hast du denn das geklaut?«

»Brauch’ nicht zu klauen, weiß jedes Kind. Beantworte gefälligst meine Frage.«

Er kratzte sich unschlüssig seine Stoppeln, dann grinste er mich plötzlich an, und ich hatte die Stimme der Mama im Ohr: »Sie sind doch sonst so ‘n netter Junge!«

»Ja, ich würde gern, hol’ dich der Teufel! Wie komme ich eigentlich dazu, vor dir meine Eingeweide umzukrempeln?«

»Wahrscheinlich, weil du einen Kater hast. Nach dem Frühstück hättest du’s nie zugegeben.« Ich drehte mich wieder um und verlegte noch einige meiner Haare auf die Kopfmitte.

Er räusperte sich: »Hm. Wahrscheinlich. Du!«

»Ha?«

»Weißt du, was ich mache, wenn ihr mal aus eurem Knusperhäuschen zu mir zu kriechen geruht?«

»Na?«

»Dreh dich zum Donnerwetter um, wenn ich mit dir rede.«

Ich drehte mich um. Er packte wieder meinen Arm und hatte ganz helle Augen: »Ich male Peter! Richtig! Wir legen ein Spitzlicht von hinten auf seine graue Locke. Das Gesicht im Schatten — nur zwei Reflexe in den Augen. Das macht die Tragik und die Einsamkeit in ihm noch deutlicher. So als ob er in einer Vision sein eigenes Schicksal sieht. Furcht — verstehst du? Wovor fürchtet er sich eigentlich, der Kleine?«

Etwas legte sich mir beklemmend aufs Herz. Ich versuchte es abzuschütteln. »Eigentlich nur vor Lastwagenrädern, noch von damals her, von dem Unfall.«

»Mm — das große Rad — Rad der Wiedergeburt — man könnte es vielleicht symbolisch andeuten.«

»Um Gottes willen keine Symbolik! Male, zum Donnerwetter, male, was du siehst. Jede Symbolik, Stefan, ist schon wieder...«

Die Tür wurde aufgerissen, und eine sehr empörte und sehr niedliche Renate stand vor uns: »Na, das ist doch die Höhe! Kunstgespräche vor der Badewanne. Und wir treten seit einer halben Stunde von einem Bein aufs andere. Raus mit euch! Außerdem ist das Frühstück fertig!«

Die nächste Stunde verlor sich im allgemeinen Gewühl von Menschen und Hunden. Manchmal war es so arg, daß ich dachte, das Haus müßte auseinanderplatzen. Schließlich waren alle gewaschen, satt und rauchten. Stefan erklärte, er wollte jetzt nach Salzburg oder Innsbruck fahren. Ich sah aus dem Fenster: »Sieh dich vor, es ist Eisnebel, wahrscheinlich alles gefroren und tiefe Spurrinnen!«

Er habe Gefrierschutzmittel und Schneeketten, erwiderte er stolz.

»Die Schneeketten nutzen dir bei Glatteis einen Dreck«, sagte ich. »Mach sie lieber ab und fahr langsam.«

»Ach, nutzt ja auch nichts«, sagte Renate. »Meine einzige Hoffnung ist, daß er Glück hat, weil er nichts vom Autofahren versteht.«

Ich fand, daß das Gespräch eine bedrohliche Wendung nahm, indem die Gefahr bestand, daß Stefan vielleicht Angst bekam. Ich hatte die beiden schrecklich gern, aber ich fürchtete, daß das alles noch etwas zuviel für Frauchen sei. Außerdem drängte es mich zu meiner Arbeit.

Frauchen schien dasselbe zu fühlen: »Wir holen unseren Wagen ‘raus und fahren vor euch her bis zum Bahnhof«, sagte sie. »Von da geht’s schnurgerade zur Autobahn.«

Allgemeiner Aufbruch. Willibald war sofort bei Wesselys im Wagen. Aber mit Fi war es schwierig, denn Peter und Cocki hatten ihn vor und schwelgten in >Schäferhund mit Angst<. Man sah nur irgendwo draußen gegen Peterchens kleinen Hügel hin eine Schneewolke, aus der ab und zu ein paar Beine und ein paar Köpfe vorschauten. Sie tunkten ihn gewaltig ein. Schließlich wurde er aber doch herbeigezaubert, abgerieben und dann in Stefans Wagen gequetscht. Beide Wagen sprangen sogar an, und wir brachten die Wessely-Fuhre bis zum Bahnhof, von wo die Straße zur Autobahn nicht mehr zu verfehlen war.

Dann teilte sich unser Verein. Der Dicke machte auf der Hinterhand kehrt und verschwand in Richtung einer neuen Braut. Der Gefährtin fiel ein, daß sie noch etwas aus der Drogerie holen könne. Es war Sonntag und kurz vor zwölf, Zimmermann würde gerade noch geöffnet haben. Während sich Herrn Zimmermanns Ladentür bimmelnd hinter ihr schloß, bummelte ich, da mich die Kälte biß, mit Peter und Weffi nach der Brücke zu. Es war sonst ein schöner, breiter Weg, aber jetzt war er eng, weil rechts und links mannshohe Schneeberge aufgeschichtet lagen. Die Laterne an der Ecke guckte gerade mit dem Glasgehäuse daraus hervor, und auf dem Kopf hatte sie ein fesches Schneebarett.

Plötzlich kam in ziemlicher Fahrt über die Brücke ein Lastauto auf uns zu, so in dem Tempo >Immer fröhlich drauflos, die anderen werden schon ausrücken<. Ich winkte dem Wagen. Da ging er endlich mit der Geschwindigkeit herunter, fuhr aber weiter auf uns zu. Ich konnte gerade noch meine beiden Kleinen einfangen, quetschte mich halb sitzend in den Schnee und zog sie an den Halsbändern zwischen meine Knie.

Und da, als der Wagen langsam an uns vorüberfuhr, erwachte in Peter das Entsetzen vor dem großen Rad. Er begann sich wie wild unter meinem Griff zu bäumen, das Halsband riß, er drehte sich um, sauste unter den Wagen, und das Hinterrad fuhr über ihn weg.

Irgend jemand schrie gellend auf. War ich es? Peter? Ein anderer Mensch? Im Moment, als es geschah, schnappte in mir wieder jenes geheimnisvolle Relais ein, das unsere Seele vor dem Letzten, dem tötenden Schmerz, schützt und alles ganz fern und unwirklich erscheinen läßt.

Das Peterle lag da äußerlich völlig unverletzt. Es richtete sich auf, aber nur mit dem Vorderkörper, und versuchte sich in Sicherheit zu bringen, indem es den gelähmten Hinterkörper gegen den Straßenrand schleifte. Weffi, vollkommen verwirrt und rasend durch das Geschehene, stürzte sich auf ihn, ich stürzte mich auf Weffi, da bekam mich Peter in der Kniekehle zu fassen und biß sich in seiner Todesangst an meinem Bein fest. Ich rutschte aus, fiel auf die Seite. Da waren auch viele Leute um mich herum, plötzlich auch Frauchen. Es war alles so unvorstellbar, so furchtbar unwirklich wie damals bei dem Autounglück. Frauchen stand da wie eine Wachsfigur, den Mund offen. Jetzt wankte sie, und die Leute rechts und links griffen nach ihr.

Ja, was war denn? Sicherlich nur ein schlimmer Traum, Ich fühlte ja meinen Körper gar nicht, also tatsächlich ein Traum. Ich brauchte nur die Augen zu schließen und meinen Willen anzuspannen, um aus diesem Gräßlichen herauszubrechen und in der Wirklichkeit zu erwachen.

Ich schloß die Augen, aber jetzt fühlte ich meinen Körper. Mein Bein schmerzte, und in der Hand, auf die ich mich stützte, begann die Kälte des Schnees sich bemerkbar zu machen. Man griff mir unter die Arme, half mir. Nein — nicht — laßt mich noch — ich will nicht — ich kann nicht. Ich öffnete die Augen. Die mitleidigen Gesichter über mir.

Ich sah zur Seite. Da lag es, da lag Peterchen. Die Augen aufgerissen, die Zunge hechelnd, Blut um den Bart. Blut? Ich hoffte, daß es meines war. Der Hinterkörper leblos, flach auf den Schnee gepreßt.

Ich sah wild um mich. Herr Zimmermann in seinem weißen Kittel war da und führte die Gefährtin gerade in seinen Laden. Eine fremde Frau stützte sie von der anderen Seite. Frauchen wehrte sich, wollte zu Peter zurück.

»Eine Decke! Jemand muß eine Decke bringen. Er kann doch nicht so auf dem Schnee liegen.« War das meine Stimme, dieses rostige Krächzen? Ich kniete mich wieder neben Peterchen und streichelte ihn. Er war ganz still, sah mich nur an. Jemand brachte eine Decke. Unendlich vorsichtig hob ich Peterle hoch und legte ihn darauf. Er winselte leise. Dann schwieg er wieder.

Das, was von mir übrig war, handelte ganz mechanisch. Ich hinkte zu Herrn Zimmermann herein. Er telefonierte schon nach dem Tierarzt. Der war nicht da.

»Aber es muß doch ein Tierarzt irgendwo sein!« schrie ich.

Er sah mich mitleidig an: »In Dengelstedt. Dr. Obermeir, ein guter Arzt. Aber es sind zehn Kilometer von hier! Die Straßen vereist!«

»Das ist mir ganz egal!«

Frauchen stand totenblaß am Ladentisch und sagte kein Wort. Wir blickten uns an und schauten dann gleich wieder angstvoll auf den Drogisten. Endlich bekam er Verbindung, sprach, wandte sich dann zu uns. Ja, Dr. Obermeir sei gerade noch da, ja, er warte auf mich, müsse dann allerdings bald weg.

»Los!« sagte ich zu Frauchen. »Ich hole schnell den Wagen.«

Der Drogist zeigte auf den Fußboden, wo neben meinem linken Schuh rote Flecken waren: »Aber erst verbinde ich Sie!«

Ich ließ es fiebernd vor Ungeduld geschehen. Es war ein schwerer Biß, stellte Zimmermann fest. Ich müsse baldmöglichst zum Arzt. Ich sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. Dann hinkte ich schnell hinaus und holte den Wagen. Wir faßten zu viert die Zipfel der Decke und hoben Peterle vorsichtig auf den Hintersitz. Er stöhnte leise, aber dann lag er wieder ganz still. Weffi blieb bei dem Drogisten.

»Vielen Dank, Herr Zimmermann«, hörte ich mich sagen. »Wenn Sie Cocki irgendwo sehen, nehmen Sie ihn fest und behalten ihn auch bei sich.«

Er nickte: »Gut, fahren Sie vorsichtig!«

Ich fuhr ganz langsam. Wir sprachen kein Wort und horchten nur nach hinten. Ab und zu drehte sich Frauchen um und flüsterte ein paar Worte.

Der Waldweg bis zur Autobahn war tief ausgefahren. Immerzu mußte ich bremsen, weil große Huckel kamen. Bei jedem Huckel krampfte es sich in mir zusammen, weil ich an Peterles Schmerzen dachte. Wenn wir doch bloß erst auf der Autobahn wären! Da, endlich, die Abzweigung. Aber auf der Autobahn war es noch schlimmer. Sie war spiegelblank mit tiefen Furchen. Weiße Nebelschwaden darüber. Die Scheiben waren sofort mit Eisblumen bedeckt. Die Wischer rutschten wirkungslos darauf hin und her. Ich konnte nichts mehr sehen, kurbelte das Fenster herunter und schaute mit zusammengekniffenen Augen seitwärts heraus. Er mußte leben — ich mußte ihn retten — es konnte doch nicht sein... Der schwere Wagen schlingerte, rutschte und tanzte. Ab und zu klammerte sich Frauchen an mich. Das schlimme war, daß sich jetzt der Biß bemerkbar machte. Mein Bein wurde steif und schmerzte. Jedesmal, wenn ich die Kupplung trat, tat es höllisch weh. Aber was war das alles gegen das eine, Unfaßbare, Grauenvolle — mein kleines Wesen da hinter mir, mein schwarzer Odysseus — war er dazu heimgekehrt? Das kannst du doch nicht zulassen, Gott!

»Paß auf!« schrie meine Gefährtin.

Da war die steile Abfahrt nach Dengelstedt. Wir kamen ins Rutschen. Ich versuchte gegen die Böschung zu steuern. Das Steuer drehte sich leer. Ich bremste — kein Erfolg. Handbremse als letztes. Der Wagen drehte sich herum und stand mit dem Hinterteil zur Fahrtrichtung. So rutschte er weiter, aber Gott sei Dank jetzt gegen die Böschung. Ganz wenig Gas — scharf rechts einschlagen. Die Steuerung griff. Jetzt wieder scharf links und zurück — jetzt wieder vor. Und nun — weiter. Das Peterle hatte einmal aufgewimmert. Die Gefährtin schluchzte leise vor sich hin. Es war wie das Stöhnen eines angeschossenen Tieres. Nach einer Viertelstunde waren wir bei dem Tierarzt.

Er legte die Decke mit ihrem furchtbaren Inhalt vorsichtig auf den Operationstisch, zog Peterles Augenlider herauf, sah sich sein Zahnfleisch an, machte ein bedenkliches Gesicht.

»Eine schwere innere Blutung.«

»Gibt es denn gar kein Mittel? Es muß doch ein Mittel geben! Er hat doch gar keine Verletzung!«

Der Mann sah mit einem traurigen Blick von einem zum anderen, seufzte dann: »Ich werde ihm eine Spritze geben — um die Blutung zu stillen«, fügte er hastig hinzu.

»Hat sie denn schon mal geholfen?« stammelte Frauchen.

»Ja, mitunter. Manchmal stockt dadurch die Blutung, und nach einiger Zeit absorbiert der Körper dann das schon ausgetretene Blut. Hauptsache, das Tier bleibt ganz ruhig, ohne jede Bewegung, ohne jede Aufregung.«

Er gab die Injektion. Peterle rührte sich nicht. Er lag auf der Seite, das eine Vorderbein angekrümmt, als ob er laufe. Seine Augen wichen nicht von mir. Sie waren ganz groß, fast schwarz. Ich hatte sie niemals so schön gesehen. Der Arzt brachte ein Körbchen, ich legte Peter hinein.

»Am besten dorthin — an den Ofen«, sagte der Arzt, »damit er es warm hat, Wärme ist sehr wichtig. Warten Sie, hier die zwei Decken legen wir noch drüber.«

Er sah auf die Uhr: »Jetzt fahren Sie am besten wieder heim. Ich habe noch einen schweren Fall in der Nachbarschaft.«

»Wann darf ich Sie anrufen?« fragte ich.

»In zwei Stunden.«

Frauchen und ich standen ratlos herum. Der Arzt zog sich an: »Also...« Er sah uns freundlich, aber ungeduldig an.

Wir beugten uns nieder und küßten Peterchen auf das Naschen. Es war ganz kühl. Dann gingen wir zögernd.

»Er war so ruhig«, sagte Frauchen dann im Wagen, »vielleicht schafft er’s. In der Stille und Wärme.«

Ich erwiderte nichts, starrte nur vor mich hin.

»Was macht dein Bein?« fragte sie nach einer Weile.

»Ist doch ganz egal.«

»Ich möchte wissen, was dein Bein macht.«

»Tut weh, ‘n bißchen.«

Die Tür des Doktorhauses ging auf. Wir fuhren herum und sahen ihn herankommen. Er winkte uns zu und ging zu seinem Wagen, der gegenüber stand. Meine Gefährtin rief ihn an und fragte ihn nach der Adresse eines Arztes für mich. Er gab sie.

»Noch eins, Doktor«, sagte ich. »Ist jemand bei Ihnen zu Hause?«

»Ja, meine Frau. Machen Sie sich keine Sorge. Es ist alles getan. Er braucht Ruhe.«

»Danke, Doktor.«

Beim Arzt mußten wir eine Weile warten. Dann sah er sich die Wunde an und wollte mir eine Tetanusspritze geben. Ich weigerte mich: »Ich bin schon so oft gebissen worden, Doktor. Wenn man da jedesmal eine Spritze gegeben hätte. — Aber, da ist etwas anderes: uns ist ein Hund überfahren worden.«

»Ein kleiner schwarzer«, sagte meine Gefährtin.

»Ja, eine Art Pudel, und der Tierarzt hat gesagt...« Ich schilderte ihm den Fall. Er hörte ungeduldig zu und erklärte dann steif, daß er sich kein Urteil erlauben könne.

»Der war böse, daß du dir die Spritze nicht geben ließest«, sagte Frauchen, als wir wieder unten im Wagen saßen. »Warum hast du eigentlich nicht?«

»Man darf nur zwei im Leben bekommen.«

»Na, und?«

»Von Peterle kommt mir nichts Böses. Und wenn selbst...«

»Jetzt hör aber auf, ja?«

»Entschuldige.«

»Schon gut. Was machen wir jetzt?«

Ich sah auf die Uhr: »Noch eine Stunde.«

»Wollen wir nicht schnell in ein Café gehen, eine Tasse trinken und bei Zimmermann anrufen, was mit den beiden anderen ist?«

»Nein.«

»Also, was dann?« fragte Frauchen.

»Wie? Ach so!« Ich sah sie an. Ihr Gesichtchen war ganz spitz und gelb, fast so wie nach dem Unfall. Es überfiel mich die Erinnerung an das, was sie alles erdulden mußte, den Unfall, den Zusammenbruch, die martervolle Kur, ihre Sorgen, daß sie uns nicht helfen konnte. Wieviel leichter hatte ich es gehabt! Ich zog sie an mich. Sie preßte ihren Kopf an meine Brust: »Ich hab’ so Angst!«

»Er wird’s schaffen. Cocki hat’s auch geschafft.«

»Meinst du?«

»Ja, man sollte vielleicht doch zu ihm fahren.«

»Das kannst du doch nicht. Es ist Sonntag, und wir müssen froh sein, daß der Arzt uns überhaupt drangenommen hat.«

»Dann stellen wir uns vors Haus und warten, bis er zurückkommt.«

»Aber erst telefoniere ich der Mami!«

»Gut.«

Wir fuhren zu einem Café. Es schien eine Ewigkeit, bis sie wieder herauskam: »Alle lassen grüßen. Die Werneburgs waren auch ganz außer sich. So gute Menschen. Er ist extra in die Stadt gegangen und hat unsere beiden von Zimmermann heimgeholt.«

Wir fuhren zum Tierarzt zurück und hielten vor seinem Haus. Ich stellte das Radio an: Regierungskrise in Frankreich. Börsenschwäche in Wallstreet. — Gab es das noch, diese andere Welt? Auf jeden Fall war es ganz gleichgültig, was in ihr geschah. Ich knipste wieder aus. Die Kälte begann in den Wagen zu kriechen und uns zu beißen.

»Wenn er nun schon längst zurück ist?« fragte ich.

»Er wollte zwei Stunden bleiben.«

»Wenn er nun aber doch schon da ist!«

Wir sahen uns an. Ihr bleicher Mund zitterte: »Geh!« Unhörbar das Wort. Nur ihre Lippen formten es.

Ich stieg aus und hinkte durch den Garten an die Tür. >Dr. Obermeir, Tierarzt und Fleischbeschauer.< Ein weißes Emailleschild. Von der Emaille war oben ein Stück abgeblättert. Daneben hing ein Notizblock mit einem Bleistift. Wohl damit man eine Bestellung hinterlassen konnte. Gute Idee. Warum klingelte ich eigentlich nicht? Es war, als hinge ein Zentner an meiner Hand. Dann drückte ich. Nichts.

Ich klingelte nochmals.

Endlich Schritte. Eine Frau in einer feuchten Schürze öffnete: »Bitte?« Es klang nicht sehr freundlich.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber ich habe vorhin... unser Hund ist uns nämlich überfahren worden, und der Herr Doktor hat gesagt...«

»Oh, der kleine, der da im Körbchen am Ofen liegt!«

»Ja, der kleine — Peter heißt er. Unser Peterle. Glauben Sie, ich könnte mal...«

Sie musterte mich mit einem merkwürdigen, etwas ängstlichen Blick: »Bitte, kommen Sie herein.« Dann band sie sich die Schürze ab. »Sie müssen entschuldigen, ich hatte gerade abgewaschen.«

»Ich mache Ihnen so viel Unruhe.«

»Oh, das macht nichts.« Sie legte die Hand auf die Klinke zum Ordinationszimmer: »Ich weiß zwar nicht, ob es meinem Mann recht ist, aber...«

Endlich ließ sie mich ein, blieb in der Tür stehen, die eine Hand in einer seltsam schüchternen Gebärde gegen die Brust erhoben.

Da vor dem Ofen stand unverändert das Körbchen. Das kleine Affenköpfchen schaute unter der Decke vor. Eine Weile stand ich davor und wagte mich nicht zu rühren. Das Zimmer schon halb dunkel. Fliegender Feuerschein aus dem Ofen. Er lag so still. Aber das war ja gut.

»Peterle«, flüsterte ich, »Herrchen ist ja wieder da.« Ich drehte mich um. Die Frau stand noch immer in der Tür.

»Er hat die Augen offen«, sagte ich leise, »und liegt ganz still!«

Sie stand da — unbeweglich — ohne Antwort. Durch das Halblicht des Zimmers kroch eine böse Furcht von ihr zu mir. Ich kniete mich vor das Körbchen. Seine Augen waren so merkwürdig — und er atmete doch auch gar nicht. Ich legte ganz leicht die Hand auf die Decke. Nichts. —

»Licht!« schrie ich. »Machen Sie doch schnell Licht!«

Ich riß die Decken zur Seite. Er lag da, wie wir ihn verlassen, das linke Pfötchen erhoben, als ob er laufe. Aber er war tot.

Die Frau hatte kein Licht gemacht, war statt dessen zu mir gekommen und hatte sich neben mich gestellt. Ich starrte an ihr empor. Aber ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Sie sagte etwas — was sagte sie? »Schon bald, nachdem Sie weg waren — alle paar Minuten nach ihm gesehen — eingeschlafen — das Beste für ihn.«

Ein Wagen draußen. Nun doch Licht. Der Arzt, Frauchen hinter ihm. Der Arzt wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau, kniete sich im schweren Pelz vor den Korb, setzte das Stethoskop an, schüttelte den Kopf. Frauchen riß den Mund auf, aber es kam kein Schrei heraus. Ich hatte sie im Arm, ihre Finger krallten sich in meinen Hals.

Aber schon hatte sie sich wieder gefangen.

Woher nahm sie die Kraft, dem Arztpaar zu danken?

Woher nahm ich die Kraft, mit der Decke im Arm zum Wagen zu gehen, mit der Decke, in der das Peterle lag, das jetzt so schwer erschien und so fürchterlich weich und nachgiebig?

Die Heimfahrt über die vereisten Straßen.

Das Häuschen — die Mama — die Werneburgs, die ihre Hilfe anboten — ein einziger Schreckenstraum, in dem sich Marionetten bewegten, Gespenster.

Ich weiß nicht, wie es kam, aber wir waren uns beide, Frauchen und ich, darüber klar, daß wir ihn noch in dieser Nacht begraben mußten. Und wir wußten auch wo: gegenüber auf seiner Lieblingshöhe.

Wir hüllten ihn in sein eigenes Deckchen, steckten uns sein Bällchen ein und packten die Schaufeln. Werneburg gab uns eine zweite Taschenlampe und eine Spitzhacke und nahm die Mama derweil zu sich herüber.

Wir stampften durch den Schnee. Über uns war es wolkenlos. Der Mond schien so hell, daß wir die Lichter gar nicht anzuknipsen brauchten. Wir brachen bis zu den Knien ein und keuchten schwer unter unserer Last, aber die Anstrengung tat uns gut.

Einmal leuchtete ich: eine Spur lief vor uns her, den Hügel hinauf. Vielleicht war sie noch von ihm? Oder von einem Fuchs?

»Wir müssen ihn tief legen«, sagte Frauchen mit einer ganz fremden Stimme, »damit ihn die Füchse nicht ausgraben.«

»Ja — natürlich.«

Endlich waren wir oben, und als wir all den Schnee sahen, zweifelten wir fast, daß es möglich sei.

Aber wir mußten ihn hier bestatten — und jetzt, da uns keiner sah außer den Sternen, jetzt in der Nacht, aus der er kam und in die er gegangen war. Es war wie ein Befehl in uns.

Wir stachen erst eine Weile mit den Spaten umher.

»Hier ist ein alter Baumstumpf«, sagte Frauchen. »Leuchte mal! Ja, siehst du, er ist innen hohl, da kommen wir leichter in die Erde. Und in die eine Wand, die noch steht, kann sich Peter so richtig einschmiegen.« Sie brach plötzlich ab.

Nach zwei Stunden hatten wir ein tiefes Grab gegraben. Wir knieten uns hin, ließen ihn vorsichtig in seinem Deckchen hinunter und legten einen Tannenzweig und sein Bällchen obenauf. Dann schaufelten wir zu und schlugen mit der Hacke so viele angefrorene Felsbrocken los, daß es uns ein ausreichender Schutz gegen das Raubzeug schien.

In unseren eigenen Fußtapfen stampften wir durch die klirrende Nacht heim. Die Mama war schon längst wieder daheim und erwartete uns oben an ihrem Fenster, aber sie kam in ihrem großen Herzenstakt nicht zu uns. Wir hörten nur ihr Bett knarren, als sie sich wieder hinlegte. Dann kam ihr Schluchzen, aber nur einen Augenblick. Sie hatte sich wohl schnell die Decke übers Gesicht gezogen.

Wo waren die Hunde? Wohl oben bei ihr oder noch bei Wer-neburgs. Gut jedenfalls, daß sie nicht da waren — wir hätten sie nicht ertragen können.

Ich schürte das Feuer, und dann begann die lange Nacht. Wir hockten nebeneinander angezogen auf der Couch und starrten aus dem Fenster. Der Hügel draußen unter dem Mond. Da oben auf dem Berg wieder der Silberschild. Was hatte ich da heute nacht Peterle gesagt, als wir ihn uns ansahen — von den Seelen, die dann oben tanzen? Merkwürdig! Plötzlich — ich war wohl einen Moment eingenickt — hörte ich eine Stimme ganz dicht an meinem Ohr, eine dringliche, eilige, warnende Stimme: »Paß auf meinen Peter auf!« Pauls Gesicht im Wagenfenster: »Paß auf meinen Peter auf!« Ich fuhr mit einem Schrei hoch. Frauchens Arm war um mich, ihre Hand über meiner Stirn. Ich erzählte ihr den Traum.

»Habe ich wirklich aufgepaßt?« fragte ich schließlich.

»Natürlich hast du das! Was solltest du anderes tun als die beiden Hunde an dich heranziehen?«

»Vielleicht hätte ich ihn einfach laufen lassen sollen, er war ja so flink.«

»Aber er konnte doch schlecht ausweichen in dem engen Weg! Grübele nicht. Es soll alles so sein!«

»Ja — vielleicht.« Ich richtete mich auf: »Aber das ist kein Trost.«

Wir traten wieder ans Fenster und sahen zu dem Hügel hinüber.

»Er sieht so nah aus«, sagte sie. »Wie weit mag’s sein von hier bis dort?«

Ich räusperte mich: »So zwei-, dreihundert Meter.«

Aber wir wußten, daß die Ewigkeit dazwischenlag, die ganze Ewigkeit.

»Leg dich jetzt hin«, sagte sie, »ich gebe dir zwei Tabletten und — zweifle nicht. Peterle grämt sich, wenn er es sieht.«

Da konnten wir endlich weinen.

Die Wochen, die Monate glitten, der Winter verging. Unser Schmerz blieb. Wir lebten, wir arbeiteten, wir lachten auch mitunter, aber immer schwang die Trauer um Peter unter dem allem, und sehr leicht, bei irgendeiner Erinnerung, konnte sie wieder zu wildem Weh aufflammen.

Jeden Tag gingen wir zum Hügel. Allmählich sank dort der Schnee in sich zusammen, und die Erde kam darunter vor, feucht und schwarz und ganz zerdrückt. Dann waren die ersten Schneeglöckchen da und die ersten Anemonen, und schließlich, mit einer wahren Explosion der unverwüstlichen Lebenskraft, bedeckte sich der ganze Hügel mit Blumen, die Armee der Insekten trat an, und die kleinen Tannen streckten grüne Händchen aus.

Eines Morgens hatte ich die Hunde mitgenommen und saß neben dem hohlen Baumstamm auf der Erde. Das Gebirgsmassiv türmte sich weiß und erhaben in den blauen Himmel, und auch die Vorberge hatten noch weiße Kappen auf. Der Himmel war von langen, gewellten Wolken durchzogen. Wie der Boden eines Meeres sah er aus. Eine Lerche stand schmetternd über der Wiese drüben, und neben mir brummelte eine Hummel.

Ich streichelte die sonnenwarmen Steine: »So schön hast du ‘s hier, Peterle. Ganz tief liegst du in den Blumen, die du doch so liebhattest, und Rehchen und Häschen springen über dein Grab.« Der Schmerz brach plötzlich wieder los und krümmte mich ganz zusammen. »Ach, Peterle«, ächzte ich, »sei froh, daß du’s hinter dir hast — dieses Leben. Es ist’s nicht wert.«

Ich starrte mit schwimmenden Augen um mich. Und da sah ich etwas ganz Seltsames. Cocki und Weffi waren erst in dem Gewirr von Gras, Felsbrocken und Tannen herumgestromert. Dann war es ihnen wohl zu langweilig geworden, und sie kamen zurück, um zu sehen, ob Herrchen denn noch immer auf der Erde hockte und mit jemandem sprach, den man nicht sah. Der kleine Löwe wuchtete auf mich zu, roch an dem Baumstamm und sah mich mit seinen goldenen Augen an. Und da kam Weffi nachgetänzelt, warf sich vor ihm nieder, wand sich unter ihm durch, küßte ihm Augen und Ohren und legte sich schließlich vor ihm auf den Rücken. Genau, wie es Peter getan!

Er wollte dem kleinen Löwen das Brüderchen ersetzen — daran gab es für mich keinen Zweifel!

Ein Schauer lief über meinen Rücken, und plötzlich, in einer blendenden Helle, hatte ich das Gefühl, es lüfte sich mir ein Zipfel des großen Weltgeheimnisses. Aus der ungeheuren Schrift, die den Sinn alles Lebens birgt, konnte ich ein Wort entziffern: Liebe.

Körper kommen und vergehen. Aber das Kostbarste, das sie tragen dürfen, solange das Leben sie erfüllt, die Liebe, sie bleibt. Sie wandert von Geschöpf zu Geschöpf, aber sie selbst ist ewig. Der Weg zu ihr ist das Leid. Er endet, wenn wir sie erreichen, und in ihr sind auch wir ewig.

Ich sah diesen Weg vor mir, gleich einer schnurgeraden weißen Straße, die in die Sonne mündete. Ein kleiner schwarzer Schatten trabte mir voraus. Jetzt wandte er sich nach mir um, und das Licht flammte in seiner silbrigen Stirnlocke:

»Kommst du bald, Herrchen?«

Dann trabte er weiter, auf langen, dünnen Fliegenbeinen. Bis er in dem großen Strahlen verschwand.

ENDE