ZWEITES BUCH

Odysseus

1

Die Übergabe der Schlüssel an den Hausbesitzer, der Abschied von Mathilde und die Abfahrt lagen erst drei Stunden hinter uns, aber es war schon wie ein Traum.

Wir fuhren nach Süden, immer auf die Berge zu.

Die Mama saß neben mir in Prächtig, dessen Inneneinrichtung momentan alles andere als prächtig war. Der Kofferraum an seinem Hinterteil war selbstverständlich bis zum Platzen vollgestopft. Außerdem erhoben sich auf den Hintersitzen zwei weitere Koffersäulen, die durch kunstvolle Verschnürung mit Wäscheleinen daran gehindert wurden, Peter und Cocki zu begraben, die in der Schlucht dazwischen gemeinsam auf einem Deckchen lagen. Das heißt, sie sollten es tun, aber es war seit Beginn unserer Fahrt ein ewiges Gedrängel und Rumoren gewesen. Schließlich hatte natürlich der Dicke gesiegt, und Peterchen hatte sich durch eine waghalsige Kletterpartie in ein Eckchen ganz hoch oben links neben dem Rückfenster verzogen. Manchmal, wenn ich einem Wagen vor mir Signal gab, sah ich im Rückspiegel seinen besorgten kleinen Affenkopf um die Ecke des Koffergebirges lugen, um festzustellen, was es da vorn gäbe. Wenn er sich dann beruhigt hatte, starrte er wieder zum Rückfenster hinaus.

Der Löwe hatte mehrfach versucht, sich zu kugeln, mußte sich aber überzeugen, daß er sich nicht in der Breite, sondern nur in der Tiefe ausdehnen konnte. So wählte er denn die Stellung >tote Padde<: die Hinterpfoten gerade weggestreckt, Bauchlage, Kopf auf den Vorderpfoten. Seine Knudeltatzen hingen in den Raum zwischen Vorder- und Hintersitzen hinunter, wo mein heißgeliebtes Radio und die bedeutend weniger geliebte Schreibmaschine sich mit Spirituskocher, Hundenäpfen, Bürolampe und Fotoausrüstung verhedderten. Cocki schnarchte nur sehr sporadisch. Die Mama, die alle Viertelstunden Situationsberichte über unseren Zoo herausgab, stellte fest, daß das >arme Tier< zwar ruhig liege, aber dauernd mit den Augen rolle, weil es offenbar der ganzen Sache nicht traue.

Weffi saß auf Mamas Schoß, weil er am wenigsten herumhampelte. Wenn nicht gerade eine Kuh oder ein Pferd in Sicht kam, die er mit reservierter Aufmerksamkeit betrachtete, hatte er seinen Schwanenhals über Mamis Schulter und drusselte, oder er kringelte sich auf ihrem Schoß zusammen und schlief dort ganz fest. Die Mama hielt seinem Gewicht heldenhaft stand. Ihre Beine steckten in einem Salat von Handtaschen, die mit Thermosflaschen, Toilettenzeug und der Nachlese des »zum Schluß beinahe Vergessenem vollgestopft waren. Wenn ich mal einen Moment zur Seite blickte, sah ich ihre runzlige Hand mit dem breiten Ehering in dem weißen Plusterfell Weffis liegen. Sie kraulte ihn sacht.

Der dicke Lastwagen vor mir fuhr endlich zur Seite. Ich trat den Gashebel herunter, und mit einem leisen Zischen schossen wir an ihm vorbei. »Prachtvoll!« sagte ich. »Hast du das bemerkt? Ein Sechs-Zylinder ist eben doch kein leerer Wahn. Viel höhere Elastizität. Ist es nicht ein Glück, daß wir diesen schweren Wagen haben?«

»Das hast du mir schon dreimal gesagt. Außerdem würde ich jetzt wieder langsam fahren. Davon abgesehen — wohin fahren wir eigentlich?«

»Also, paß auf. Wir fahren zunächst nach Waldenau. Das kenne ich von früher. Hübscher kleiner Ort in den Alpenvorbergen, ein Kilometer vom Riffelsee. Zwei Kinos, Bahn- und Autobusverbindung, nette Läden, ‘ne Menge alter Damen, mit denen du plaudern kannst.«

»Ich mach mir nichts aus alten Spinatwachteln. Das bin ich selber.«

»Na, es sind natürlich auch mittlere Kaliber da. Es gibt eine Menge schöner, bequemer Spazierwege, eine kleine Konditorei.«

»In die gehe ich nicht, das ist zu teuer. Wo wohnen wir?«

»Das wird sich herausstellen. Zunächst steigen wir in der >Krone< ab, das ist ein reizender, sauberer Gasthof, eigene Metzgerei, freundlicher Wirt. Kretzschmer heißt er.«

»Die werden uns gar nicht erst ‘reinlassen mit unseren dreien hier.«

»Nicht? Hach — es ist doch Saisonschluß! Die nehmen uns, und wenn ich einen Schimpansen auspacke, der Durchfall hat.«

»Na schön. Und da willst du bleiben? Das können wir doch gar nicht bezahlen!«

»Will ich ja auch gar nicht. Von dort schwärmen wir aus und suchen uns einen schönen Bauernhof in der Nähe, wo wir billig wohnen und uns das Essen zu Hause machen können.«

»Bauern vermieten nicht im Winter. Außerdem ziehen sie dir das Fell über die Ohren, wenn du mit diesem Klotz von Wagen vorfährst.«

»Das ist ‘ne Idee«, sagte ich versöhnlich. »Ich werde Prächtig eine Ecke davor parken und erst mal so hingehen. Außerdem ist ein Bauer, dem man mit Bargeld vor der Nase wedelt, zu allem fähig. Selbst zum Vermieten im Winter.«

Sie seufzte. »Na, du mußt es ja wissen. Ich sehe uns schon...«

»Ich weiß, wie du uns siehst, Hiobinchen. Wir enden, von allen verstoßen, in einer verfallenen Scheune, wo ich mir meine Unterhosen aus Schilf flechte und das Herdfeuer mit getrockneten Hundeköteln betreibe.«

»Spotte du nur! Hättet ihr sparsamer gelebt...«

»...dann hätten wir sieben Jahre nicht so nett gelebt, und die Erinnerung an ein schönes Leben ist das einzige, was einem nicht genommen werden kann. Na, was sagste nun?«

»Nichts.«

»Fein! Da tauchen schon die Berge auf. Sieh doch mal um dich. Was für ein herrliches Wetter, ein richtiger Indianersommer! Hier sind die Bäume übrigens noch ganz grün, nicht schon so gescheckt wie ihre armen Brüder in der Stadt. Und riechst du — Landluft — Dung!«

»Das ist Cocki. Er hat Ventilschaden. Möchtest du nicht mal halten?«

»Mitnichten. Sie sind, bevor wir abfuhren, alle drei in die Knie gegangen.«

Sie seufzte. Ich drehte das Radio an: »Mittagskonzert. Vielleicht spielen sie >Glühwürmchen<, dein Lieblingslied.«

Nach einer Viertelstunde erklärte sie: »Ich habe Hunger.«

»Du willst nur, daß der Dicke ‘rauskommt.«

»Nein, ich habe wirklich Hunger.«

»Na, schön, warte, bis wir da oben in den Wäldern sind.«

Ich vertröstete sie noch zwanzig Kilometer weit, bis sie erklärte: »Jetzt ist mir schon ganz übel vor Hunger!«

»Wir sind schon da. Schau mal, die schöne Wiese dort — und der Bach in der Mitte.«

Ich schwenkte in den Feldweg ein, der sich zu Füßen der Bergwiese dahinwand, und hielt. Weffi machte einen Raketenstart durch die halbgeöffnete Tür und riß mir fast die Nase ab. Peter sprang erst auf Cockis Rücken, dann auf Mamis Schulter und dann mitten in Weffi hinein, der seine Blechtrompete angestellt hatte und mit gellendem Weff-weff-weff den üblichen totalen Gedankenschwund bei mir erzeugte. Cocki wühlte sich zwischen den Koffern hoch, fiel kopfüber in den Spirituskocher, trampelte über die Schreibmaschine und stand schließlich auch im Freien. Weffi schrie ihm ins Ohr. Er schloß betäubt die Augen und galoppierte dann dem Waldrand zu, Peter folgte ihm. Weffi sah ihnen mit schiefem Kopf nach und raste dann hinter ihnen her. Ich seufzte erleichtert auf, breitete die Decke aus, die Mama holte Teller, Bestecke, kalte Buletten und eine Gurke hervor, und dann saßen wir uns gegenüber und aßen. Um uns blühten Herbstzeitlosen, der Sonnenschein, war schon etwas durchsichtig, aber noch warm, ein schwarzer Laufkäfer huschte durchs Gras, der Himmel war wie aus Seide mit zarten Föhnfahnen darin. Prächtig stand lang und dunkel auf dem Weg unter uns.

Wir aßen, langsam und mit Bedacht. »Schön, Mulleken?«

Sie nickte und sah mich freundlich an.

»Na siehste!« sagte ich, zündete mir eine Zigarre an und legte mich hintenüber in die Wiese.

»Wo sind eigentlich die Hunde?« fragte sie nach einer Weile.

»Werden schon kommen.« Ich starrte über die dunkle Waldmauer zur Linken. Die unteren, kahlen Äste standen alle genau waagerecht. Dahinter war es schwarz. Über der Waldmauer baute sich ein Wolkenturm auf. Er schien aus dicker weißer Sahne zu sein und hatte eine violette Schärpe um den Bauch. Davor kreisten mit Katzenmiauen zwei Bussarde.

Die Mama folgte meinem Blick: »Schlagsahne müßten wir uns aber doch mal leisten«, sagte sie. »Die ist vielleicht billiger auf dem Land.«

»Sicher.«

Hinter uns raschelte es im Gestrüpp. Ich drehte mich um und sah Weffis weiße Schnute. Er hechelte, seine Augen glänzten. »Aha, Nummer eins«, sagte die Mama und stellte ihm seinen Freßnapf hin. Er aber kam nicht so einfach aus dem Gesträuch. Irgendwo hakte es. Schließlich schoß er mit einem Ruck daraus hervor und blieb gleich darauf zitternd vor uns sitzen. Eine Brombeerranke steckte in seiner linken Pluderhose.

»Ach herrje!« sagte ich. »Geht’s nicht mehr? Reifenschaden? Na, komm her!« Ich beseitigte die Ranke und hielt sie ihm hin. Er mußte sie erst beriechen, ehe er glaubte, daß sie wirklich ‘raus war. Dann begann er langsam und bedächtig zu fressen.

In diesem Augenblick hörten wir im Wald Cockis tiefe Stimme und dazwischen den hellen Hetzlaut Peters.

»Ach, um Gottes willen«, sagte die Mama, »sie haben ein Tier!«

»Sie haben noch nie eines gefangen!«

»Aber wenn sie ein Jäger erschießt?«

»Wird kein Jäger da sein.«

»Warum pfeifst du denn nicht?«

»Hören sie nicht.«

»Dann werde ich sie holen!«

Sie machte Miene aufzustehen. Ich hielt sie fest: »Bleib sitzen — ich gehe, wenn’s dich beruhigt!«

Das Gebell kam auf uns zu. Ich stand auf. Es knackte im Wald. Und dann ereignete sich das Fabelhafte: Ein gewaltiger Hirsch, die vielendige Geweihkrone stolz erhoben, raste genau auf uns zu. Wir starrten ihm mit offenem Mund entgegen. Als er uns bemerkte, bog er ein wenig aus, höchstens einen halben Meter. »Weffi!« schrie ich. Der Kleine duckte sich neben seinem Napf, und dann brauste der Hirsch direkt über ihn hinweg. Die Erde zitterte, als sein mächtiger Leib an uns vorüberflog, und eine Sekunde lang fühlte ich ernst und ruhig seine wunderbaren dunklen Augen auf mir. Über die Straße — und weg, wie eine Vision.

»Weffi!« Er lag da, plattgedrückt, die Augen starr auf mich gerichtet. Ich stürzte mich auf ihn: »Bist du getreten, Kerlchen?« Aber es war ihm nichts passiert. Er stand auf, schüttelte sich, witterte hinter dem entschwundenen Hirsch her. Fünf Zentimeter neben seinem Freßnäpfchen war der tiefe Eindruck seines Hufes im schwarzen Wiesenboden.

Dann kam Peter auf der Fährte angeschliddert, die Nase tief am Boden. Er war es offenbar, der den Hirsch aufgestöbert hatte. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihn am Schlips zu kriegen und festzulegen. Er sah mich mit glänzenden Mörderaugen an: »Ein Wild — ein Riesenvieh — verstehst du denn das nicht?« Das dunkelrote Zungenläppchen war voll weißen Schaums.

Da kam auch der Dicke auf der Fährte angebraust, wurde gepackt und ebenfalls an die Leine gelegt. Dann erst konnte ich mich um die Mama kümmern. Sie saß noch immer wie versteinert, beide Hände vor dem Mund: »Um ein Haar«, stammelte sie, »um ein Haar! Halt bloß die beiden fest!«

»Mach’ ich. Sehr erschrocken?«

»Mir zittern noch alle Glieder. Da fehlte aber auch nicht ein Meter!«

Ich schob den beiden Jägern die Näpfe hin. Cocki begann sofort seine Portion einzuatmen, aber Peter wich davor zurück. Er wollte zunächst trinken. Ich nahm Weffis leeren Napf und holte Wasser aus dem Bach.

»Ja, siehste, so ist das Leben«, sagte ich dann. »Der reine Knallbonbon mit Überraschungen. Man überlebt zwei Revolutionen und zwei Weltkriege und wird dann beinahe auf ‘ner Wiese von ‘nem Hirsch überfahren. Apropos Hirsch — hast du gesehen, wie wunderbar er war?«

Sie blickte dorthin, wo er verschwunden war, und ihr schneeweißes Gesicht begann sich zu entspannen und zu röten: »Ja — wie so ‘n großes Segelschiff kam er an. Nein, Cocki, das gibt’s aber nicht!« Der Dicke hatte seinen Napf geleert und watschelte mit vorgestellten Ohren und gerunzelter Stirn auf Peter zu, der so schnell schlang, daß ihm die Augen vor den Kopf traten. Ich packte den Dicken am Kragen und warf ihn auf Gegenkurs: »Dein Napf war bis zum Rand voll, und eine Pauke hast du, daß du kaum noch laufen kannst!« Er sah mich böse an, wackelte zum Bach, legte sich mit dem Bauch hinein und löffelte das Wasser ins Maul.

»Er ist doch ein komplettes Ungeheuer!« sagte die Mama. »Und dann mit dem nassen Bauch wieder in den Wagen!«

Peter schniefte. Irgendwas mit seinem Napf ging nicht klar. Er hatte ein Reiskorn auf der Nase, sein Bart tropfte, und das Ganze sah mich an. Ich ging zu ihm und hockte mich neben den Napf: »Na, was ist denn jetzt schon wieder? Ach herrje, ein Stück Papier im Fresserchen. Na, das ist allerdings toll.« Ich nahm das Papier heraus, es war ein mit Tinte beschriebener Zettel, der wohl ursprünglich auf dem Napf gelegen hatte und beim Auspacken hineingerutscht war. Die Schrift war verwischt, aber noch lesbar: »Guten Appetit, mein Liebling, zum letztenmal. Mathilde.«

Da hätte es mich beinahe doch noch erwischt. Es schoß mir mit einem Ruck heiß in die Augen.

»Was ist denn das?« fragte die Mama.

Einen Moment war ich versucht, ihr den Zettel zu zeigen. Aber es würde nur alle Wunden wieder aufreißen. Sie hatte es schwer genug. Ich zerknüllte den Zettel in der Hand: »Ach, nur ‘n Stückchen Papier vom Einpacken.«

Zwei Stunden später schwenkte ich in den großen Hof der >Krone< in Waldenau ein. Mit Befriedigung stellte ich fest, daß nur zwei Gäste in der Glasveranda saßen. Die Garagen standen alle offen und waren leer.

Als ich gerade die Tür aufmachte und mein Zoo herausquoll, erschien steifbeinig ein großer Schäferhund. »Ruhig, Lux!« rief der Hausdiener Sepp, der langsam von hinten ankam.

Ja, mein Gott — der Sepp — den gab’s ja auch noch! Ein ganz seltsamer Bursche übrigens. Wie er so daherkam mit den Gamsledernen und dem großkarierten Hemd, darüber das scharfgeschnittene holzbraune Gesicht, den Jägerhut mit der Spielhahnfeder in den Nacken geschoben, daß das dicke, störrische Haar darunter vorquoll, war er ein großartiger Typ — der geborene Wilderer und Fensterlspezialist, sollte man meinen, von dem die Mädchen in zehn Kilometer Umkreis träumten.

Aber als er näher herankam, sah ich, daß die Falten um seinen Mund noch tiefer geworden waren, die Schläfen noch grauer, und in seinen Augen stand noch immer jenes seltsame, gefrorene Weinen.

Ja, der gute Sepp. War mal ein glücklicher Mensch gewesen, ein großer Bauer hier draußen mit einer jungen Frau, die er über alles liebte, und zwei netten kleinen Söhnen. Dann kam der Krieg. Er rückte bei den Gebirgsschützen ein und wurde in Rußland gefangen. Erst drei Jahre nach Kriegsschluß kam er heim, aus irgendeinem Lager ganz hinten in Sibirien, wo die Welt zu Ende ist und selbst das Leid im Schnee erstickt. Dafür, fand man im Ort, sah er eigentlich sehr gut aus. Ein zäher Bursche eben. Es war aber nicht nur seine zähe Gebirglernatur, die ihn erhalten hatte, sondern der Gedanke an die Frau und die Buben und den schönen Hof.

Ein paar alte Freunde holten ihn vom Zug ab und brachten ihn erst mal ins Wirtshaus. Aber er wolle doch heim, meinte der Sepp, und wo denn überhaupt die Lisi sei? Und die Kinder? Doch nicht krank? Er wollte sich aus ihren Armen loswinden, aber sie ließen ihn nicht, und als er an ihren Gesichtern sah, daß sie es gut meinten, wurde er sehr still. Im Wirtshaus erzählten sie ihm, daß seine Frau mit einem anderen auf und davon gegangen sei, ins Ausland. Den Hof habe sie verkauft und die Buben mitgenommen. Er könne prozessieren, wenn er wolle, habe der Rechtsanwalt Hochstetter gesagt, und er würde es sogar umsonst für den Sepp tun, weil er fand, daß es eine Schweinerei sei von der Frau.

Aber der Sepp prozessierte nicht, hielt sich nur eine Weile so ganz für sich. War oft im Wald. Von seiner Heimkehrerhilfe kaufte er sich ein kleines verfallenes Haus am Steinacker. Dort vertrank er den Rest der Unterstützung. Er trinkt noch immer seitdem, in Abständen, so alle paar Wochen mal. Und auch dieses gefrorene Weinen ist seitdem in seinem Blick.

Der dicke Kretzschmer, der Wirt von der >Krone<, nahm sich seiner damals an, gab ihm den Posten hier als Hausdiener und ließ ihm die Arbeit, obwohl er — wegen des Trinkens — in jedem Monat ein paar Tage nicht zu verwenden ist. Das sind dann seine schwarzen Tage, in denen es wieder über ihn kommt. In der übrigen Zeit macht er einen ganz merkwürdigen Eindruck. Er hat eine Art, daß niemand wagt, ihm dumm zu kommen, so, als kämen die Dinge dieser Welt überhaupt nicht mehr an ihn heran. Er schaut kein Mädel mehr an, und zu den Männern ist er nett, aber fremd. Das einzige Wesen, an dem er hängt und mit dem er oft redet, ist der Lux. Irgend jemand hat mal was vom >Adel des Leides< geschrieben. In der Beziehung ist der Sepp sicher ein Hochadliger.

Es half mir ein bissel, als ich all das überdachte, während er da auf mich zukam. Was war mein gegenwärtiges Pech gegen dieses Unglück? Was mochte in solch einem Manne Vorgehen, wenn er jeden Morgen an seinem eigenen Hof vorbei mußte und daran dachte, was dort einmal war? Dann schämte ich mich, daß ich es nötig hatte, mich an fremdem Leid aufzurichten.

Lux, obwohl von Sepp ermahnt, sah sehr ungemütlich aus und zog die Flappe hoch, als Weffi harmlos in die Gegend taperte und das Bein an seinem Privat-Eckstein hob. Aber da waren schon Cocki und Peter. Cocki schob sich dicht an den Großen heran und roch ihm an dem entblößten Eckzahn. »Wolltest du was Besonderes?« Peter stellte sich nur schweigend neben Lux’ Hinterkeule. Weffi hatte seine Quittung abgegeben, sah von einem zum anderen und postierte sich dann am Schwanzende des Schäferhundes.

Der Große steckte seinen Zahn wieder ein und sah sich unruhig um. Anscheinend rechnete er sich aus, wer ihn wohin beißen würde, wenn er seinerseits...

Sepp kraulte ihm mit einem kleinen Lächeln den Nacken: »Na, Lux? Das ist dir neu, was?«

Lux drehte sich ganz, ganz vorsichtig um, ging zu seinem Eckstein, beroch ihn angewidert und hob dann mürrisch das Bein. Cocki und Weffi folgten — aber Peter nicht. Er blieb immer auf der Wacht, die Augen dunkel und hart wie Steine: »Wenn sich die anderen auch gehenlassen — ich passe auf, daß du uns keine Tricks spielst!« Lux sah ihn besorgt an und ging weg. Da erst drehte sich Peter um und quittierte seinerseits.

Sepp schüttelte den Kopf, und in seinen Augen war eine Art Leben, als er mich ansah: »Na, so was habe ich noch nicht erlebt! Die sind vielleicht aufeinander eingeübt! Die reine Gangsterbande! Wissen Sie, ich habe neulich mal so was im Kino gesehen, >Auf dunklen Straßen< hieß es. Es war auch so ‘n Bandenführer, so ‘n gemütlicher Kraftprotz wie der Dicke hier und dann so ‘n Spielbubi wie der Weiße (der konnte aber ganz gefährlich Messer werfen) und dann so ‘n Dunkler, Merkwürdiger. Das war die Leibwache von dem Anführer. Der stand nur immer im Hintergrund und spielte so ‘n bißchen mit dem Revolver. Aber vor seinen Augen — da konnte man richtig Angst kriegen. Der war wie der kleine Schwarze hier. Wie heißt er denn?«

»Peter.«

Sepp kauerte sich nieder: »Na, Peter, komm mal her!«

Peter roch ihm an der Hand, machte ein paar unverbindliche Schwanzbewegungen und trabte dann hinter Cocki her in den Garten.

Sepp sah ihm anerkennend nach: »Der hat Charakter!«

Ich holte die Mama aus dem Wagen. Der Inhaber, Herr Kretzschmer, kam nun auch zum Vorschein und trug sein rundes Bäuchlein unter der Metzgerschürze heran. Begrüßung. Na, das sei aber nett und eine Überraschung, daß ich vorbeigekommen sei. Wo denn die Reise hingehen solle.

»Ach, ich denke, wir bleiben mal ‘ne Weile hier in der Nähe. Wie war denn die Saison?«

»Mies wäre geprahlt«, erklärte Kretzschmer. »Das ist die Mama? Küß die Hand, gnädige Frau! Also, da wollen Sie ein bißl hierbleiben!« Er bemerkte Weffi, der sich erwartungsvoll an ihm aufrichtete. »Ach, ist das ein liebes Hündchen!«

Cocki kam aus dem Garten angewatschelt und sah den Wirt mit den Augen des Großen Kurfürsten nach der Thronbesteigung an.

»Der ist aber schön!« sagte Kretzschmer. »Gehört der etwa auch Ihnen?«

»Ja, der ist auch lieb!« sagte ich mit Nachdruck. In diesem Augenblick erschien Peter. Er hatte einen anderthalb Meter langen Ast gefunden und warf ihn mir vor die Füße.

»Ja mei«, sagte Kretzschmer, »gehört der vielleicht auch Ihnen?«

»Ja«, sagte ich hastig, »der ist sogar der allerliebste von den dreien. Den haben alle immer ganz besonders gern, weil er so artig und so klug ist.« Ich schob meine Hand vertraulich unter den Metzger arm und sagte fröhlich: »Also, mein lieber Kretzschmer, wie wär’s mit einem schönen Abendbrot für uns, einem netten kleinen Wein dazu und zwei Zimmerchen für die Nacht?«

Kretzschmer, der noch immer von der Hundefülle verdattert war, kam nur langsam zu sich: »Wie? Ach so — ja — natürlich — Sepp, hilf mal beim Ausladen. Wo wollen Sie denn die Hunde lassen?«

Ich floß über von Wohlwollen und Fröhlichkeit: »Ach, die schlafen auf dem Boden. Jeder auf seinem Deckchen, das sind sie so gewohnt. Die Deckchen haben wir mit und die Freßnäpfe auch. Es geht alles wie am Schnürchen.«

Kretzschmer kratzte sich den Kopf: »Ja — ja, natürlich.« Ich nahm ihn um die Schulter und drehte ihn in Richtung Lokal: »Ja, das ist schlimm mit der schlechten Saison. Aber sehen Sie, was tut Gott? Er schickt Ihnen den guten alten Bentz mit der Mama — eventuell sogar für ‘ne ganze Weile. Dauergäste — Dauerkunden — kleines Pflästerchen für das arme Gastwirtsherz — haha! Wie geht’s Ihrer Frau?«

»Danke, danke.«

»Und die kleine Elsbeth?«

»Ich hab’ doch nur ‘nen Sohn, den Viktor.«

»Richtig — Viktor. Was machen seine Mandeln?«

»Mandeln? Er hat sich das Bein gebrochen, beim Schiläufen.«

»Richtig, richtig — alles in Ordnung? Na, ist ja fein!«

2

Ich erwachte davon, daß ein Huhn vor meinem Fenster eine lange Geschichte erzählte. Gaakgaakgaakgaak — Gök (Pause). Dann ganz schnell und in höchster Aufregung: Gückgückgückgückgöck — öhkeöhkeöhkeöhke — aaaoutüttütütütütütüt. Erst lachte ich und überlegte, worum es sich wohl handeln möge: dramatische Schilderung eines Regenwurmfanges oder Beschreibung des letztgehabten Eierlegens? Als ihre Erzählung sich zum zehntenmal mit Variationen wiederholte, begann ich diese hysterische Person zu verwünschen. Nach dem zwanzigstenmal war ich für einen Hühnermord reif. Ich stand auf und legte mich aus dem Fenster.

»Wirst du wohl!« zischte ich, um die Mama nebenan nicht zu wecken. Die Person legte kokett den Kopf schief: Gökökökök?

»Hältst du den Schnabel, Sauvieh?« (Alles gezischt.) Hinter mir war ein Geräusch. Peters Decke bewegte sich. Ein Affenkopf sah mich fragend an und riß dann sein Maul auf. »Du schläfst schön weiter, verstanden?« sagte ich, kniete mich neben ihn und zog ihm die Decke wieder über die Augen. Dafür war Weffi jetzt unter seiner Decke hoch. Er wollte sie abschütteln, was ihm aber nicht gelang, und wandelte blind mit langer Schleppe durch die Gegend, bis er an das Bett stieß. Ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte er einen Klaps weg und lag wieder in seinem Winkel. Der Dicke, der ohne Decke als Flunder auf den blanken Holzdielen lag, zog nur die lila Schlafhaut vom Auge und warf mir einen ernsten Blick zu.

Gökökökökököküüüüüüüüüahaha ahahahaha.

Himmelherrgottsflitzebogen! — Schmeißen! — Aber was? Ich sah mich wild im Zimmer um.

Gaakgaakduckeduckeduckeduckeduckeduckühühühühühühhhhh! — Ich raffte zusammen, was ich fand. Es war nicht viel: ein Radiergummi, meine Zahnpastatube und die Blechbüchse mit dem Flohpulver. Dann rannte ich ans Fenster — autsch, das war mein großer Zeh am Tischbein! Mit der Zahnpastatube erwischte ich sie am Flügel. Auahhgükgük! machte sie und sauste um die Ecke. Na also! Ich schloß die eine Fensterhälfte, gähnte und wandte mich um. Alle drei Hunde lagen in meinem Bett! Weffi mit züchtig gesenkten Wimpern auf meinem Kopfkissen, Peter zusammengekringelt in der Mitte. Er machte Augen wie der Negersklave aus Onkel Toms Hütte und wedelte schuldbewußt fragend mit dem Schwänzchen. Der Löwe hatte sich quer über das Fußende gelümmelt und blies die Flappe auf, während seiner großen Pappnase ein Baßschnarcher entrollte.

»Aber sonst geht’s euch gut?« fragte ich. »Darf ich auch noch da ‘rein?« Ich steckte die Nase in Weffis Fell. Er roch ganz heiß und etwas nach Brathuhn. Mir wurde so schön warm, und meine Gedanken verwirrten sich.

Gökökökökökökö-o-o-o-ookükükükükük-a-a-a-a-a-ah!

Da war sie wieder! Ich warf die Decke zur Seite, daß Peter und Weffi nach allen Richtungen spritzten, griff meine Pantoffeln und stürzte ans Fenster. Sie stand auf der Wiese mit schiefem Kopf und redete mit der Zahnpastatube! Ich verfeuerte meine Pantoffeln und zwang sie zum Rückzug. Der Bauer gegenüber warf jetzt seinen Traktor an, in Mamas Zimmer plätscherte Wasser, Peter und Weffi machten Dehnübungen und gähnten laut, der Dicke zerwühlte die Steppdecke. Als ich mich über ihn beugte, wurde er neckisch, tatzte nach meinem Gesicht und erwischte mich dann mit der dicken, langen Zunge quer über die Nase. Ich putzte ihm mit den Ohren die Augen sauber: »Na schön, Dicker, stehen wir auf. Das ist also der ländliche Friede.« Dann mußte ich mit bloßen Füßen über Flur und Treppen in die Wiese, um meine Utensilien zusammenzuklauben.

»Du wirst dir Rheumatismus holen oder einen Blasenkatarrh!« sagte die Mama über mir aus dem Fenster.

»Unsinn. Ich mache Kneippkur.«

Das Frühstück nahmen wir in der Glasveranda: Durchsichtkaffee, pro Nase zwei bleichsüchtige Schrippen und je eine Scheibe Brot, drei Butterkügelchen und einen Finkennapf mit Vierfruchtmarmelade — das Pfund für fünfundfünfzig Pfennig, wie die Mama feststellte. Während ich ingrimmig beschloß, das nächste Frühstück zumindest mit hinzugekaufter Butter zu beleben, beobachtete ich die Gäste. Es war ein älteres Ehepaar, er mit weißem Spitzbart und harten Augen, sie mit Korsett und gelbem Teint, das letztere wahrscheinlich eine Folge des Zusammenlebens mit dem Spitzbart. Beide hatten neben ihren Tassen Pülverchen stehen, die sie zwischendurch mit geschlossenen Augen einschlürften und mit Durchsichtkaffee hinunterspülten. Der Dicke pflanzte sich natürlich sofort neben sie und ermahnte den Spitzbart — als nichts herunterfiel — durch einen kollegialen Tatzenschlag auf den Oberschenkel. Vier Augen drehten sich empört in unsere Richtung.

»Pfui, geh da weg!« sagte der Spitzbart. Ich stand auf und nahm den Dicken am Kragen: »Entschuldigen Sie bitte!« Der Spitzbart knurrte etwas. Vielleicht hatte er auch nur aufgestoßen. Während ich Cocki in den Hof beförderte, hatte Peter sogleich seine Stelle eingenommen, hinter ihm Weffi, der die Hände rang. Sie flogen hinterher.

»Du hättest sie anlegen sollen!« sagte die Mama. »Draußen wird es eine Beißerei mit dem Schäferhund geben.«

»Glaube ich nicht.« Ich verschlang das Frühstück in Rekordzeit und ging dann in den Hof, um die Erinnerung an die unwiderruflich verflossenen Frühstücke unter der Linde mit Orangenmarmelade, unbegrenzter Butterzufuhr, schwarzem Kaffee und knusprigen Brötchen loszuwerden. Draußen war der Hundebetrieb in vollem Gange. Der nunmehr endgültig moralisch zusammengebrochene Lux stand ergeben da, Weffi hatte ihm die Ärmchen um den Hals geschlungen, der Dicke versuchte vergeblich, aber ingrimmig, ihn von hinten zu bespringen, und dasselbe versuchte Peter, einen Ausdruck fanatischer Lustigkeit in den Augen, von der Seite. Sobald der unglückliche Lux sich zu bewegen wagte, wurde er angeknurrt. Ich befreite ihn von seinen Plagegeistern und strich ihm über den Kopf: »Das ist lieb von dir, Lux, daß du ihnen nichts tust, Lux, sehr lieb von dir! Ein braver Lux! Die sind so dumm und klein, weißt du, die wissen das noch nicht, daß du ein so großer und ein braver und starker Hundemann bist! Braver Lux!«

Er sah mich prüfend an und begann dann zu wedeln. Ich kratzte ihn zur Entschädigung auf der Brust, holte dann die Leinen von oben und machte mich mit dem Trio auf den Morgenspaziergang.

Innerhalb von fünf Minuten hatte ich den Ortskern hinter mir und befand mich in einer Art ländlichem Vorort. Das Bemerkenswerteste an dieser Gegend schienen mir die Dunghaufen, die genau viereckig vor jedem Hof aufgeschichtet lagen. Von zweien holte ich Peterle herunter, als er gerade in schwärmerischem Vorausgenuß die Lefzen verzog und einen Katzenbuckel machte, um sich zu wälzen. Dann kaufte ich beim Krämer ein Glas Orangenmarmelade und ein halbes Pfund Butter und erkundigte mich nach der Zimmersituation. Zu meiner Bestürzung mußte ich feststellen, daß man sich keineswegs um späte Gäste riß. Vor allem hatten die meisten Zimmer keine Heizmöglichkeit. Im Winter hockte man in der Küche und schlief kalt.

»Familienleben im Frigidaire?« fragte ich. »Ist das nun Moral oder Hygiene?«

Der durch meinen Einkauf erwärmte Krämer lachte verschmitzt in seinen roten Schnurrbart: »Weder-noch — Geiz!«

»Ja, dann verstehe ich aber nicht, warum die Leute nicht was verdienen wollen!«

»Sie werden sie schon kennenlernen, wenn Sie länger hier sind. Verdienen wollen sie wohl, aber nichts dafür bieten.«

Ich verabschiedete mich hastig. Der Bursche war ausgesprochen depressiv. Wahrscheinlich alles übertrieben. Ich gelangte auf eine Art Dorfplatz. Die Häuser umstanden ein großes Wiesengeviert, durch das die Straße führte. Hübsche Häuser übrigens, malerisch. Eines vor allem war merkwürdig: bei allen hatten sich die Fassaden nach außen gewölbt. Ein junges Mädchen mit einer Harke über der Schulter kam an mir vorüber und sah mich mit jenem prüfenden Blick an, der männlichen Einzelwesen gemeinhin gespendet wird. Das ermutigte mich zu einer Konversation:

»Grüß Gott!« sagte ich.

»Grüß Gott!« erwiderte sie freundlich.

»Wohnen Sie hier?« Blödsinnige Frage, aber sie nahm es nicht übel, sondern zeigte nach oben gegen den Hügel: »Dort, im Meiler-Hof.«

»Aha, sehr hübsch. Überhaupt finde ich — ein reizendes Dorf!«

»Wenn man nicht drin leben muß — sicher.«

»Na, erlauben Sie, hier haben ja sogar die Häuser Kröpfe, ist das nicht gemütlich?« Ich erstarrte: sie hatte ja auch einen Kropf, wenn auch einen erst beginnenden. Doch abermals nahm sie es nicht übel. Sie schien eine Engelsnatur zu sein. Statt dessen kicherte sie: »Na, Sie sind aber ulkig!«

»Mag sein, für die anderen wenigstens. Sagen Sie, ich möchte hier gern zwei Zimmer mieten, für mich und meine Mutter«, fügte ich hastig hinzu, als ich sah, wie ihr Gesicht sich umwölkte. Das Gesicht klärte sich auf und nahm dann einen konzentriert nachdenklichen Ausdruck an, diesmal aber mit einer kommerziellen Unterschwingung.

»Ja — mei — wir hätten schon zwei Zimmer.«

»Na, großartig! Sind die heizbar?«

»Ja, das auch. Sind das alles Ihre Hunde?«

Ich fühlte, wie ich errötete: »Ja, das heißt, ich meine — natürlich. Aber sie sind alle drei sehr lieb und artig.«

Auf dem nächsten Misthaufen sah ich gerade Cockis Tatzen in der Luft herumfahren. Demzufolge wälzte er sich. Auf keinen Fall durfte sie das sehen. Ich griff hastig in meine Brusttasche, weil ich aus Erfahrung wußte, daß dies eine Bewegung ist, die das weibliche Auge unweigerlich fesselt. Sie versagte auch diesmal nicht. Jetzt hatte ich die Brieftasche in der Hand. Was konnte ich nun damit machen? Aha — Visitenkarte. Ich gab ihr eine Visitenkarte: »Der bin ich. Wann, denken Sie, könnte ich mir die Zimmer mal ansehen?«

»Über Mittag. Schlafen die etwa in den Betten?«

»Aber nein, ich bitte Sie! Wo denken Sie hin? Jeder hat sein Deckchen, und jeder schläft in seinem Eckchen, und es geht alles wie am Schnürchen!«

»Na schön, gegen Mittag, so um halb eins. Ich werde mit der Mutter reden.«

»Fein, sehr fein, mein Kind, sprechen Sie mit Ihrer lieben Mama. Grüß Gott!«

Sie schulterte die Harke und ging. Sobald sie außer Sicht war, griff ich mir den Dicken, rannte schnell zum Kaufmann zurück und erwarb noch ein Stück Kernseife. Dann wanderte ich eiligen Schrittes aus dem Dorf heraus, tunkte Cocki dort in den Bach und setzte ihn unter Kernseife. Die beiden anderen ergriffen sofort die Flucht und beobachteten die Exekution aus voller Deckung. Darauf Rückmarsch in den Gasthof mit einem empörten kleinen Löwen an der Leine, dem sich seine Kumpane naserümpfend fernhielten.

Beflügelt von der Unterhaltung mit dem blonden Mädchen, fand ich alles entzückend: die Dunghaufen, die Brunnen vor jedem dritten Haus (woraus ich andererseits hätte entnehmen können, daß es — zumindest in diesem Ortsteil — keine Wasserleitung gab), die tiefen Hofeinfahrten, die alten blechernen Handwerkszeichen über den Schuster-, Schneider-, Sattler- und Spenglerläden. Die Leute gingen so friedlich und geruhsam darin umher, sanften und gefälligen Charakters offenbar.

Beim Mittagessen im Gasthof waren wir wieder mit dem strengen Spitzbart-Ehepaar allein. Vorsichtshalber band ich diesmal alle drei Hunde an Stuhlbeine. Sie nahmen es mit melancholischer Verachtung hin, gähnten erst in alle Richtungen und begannen dann alle drei, sich gleichzeitig zu jucken. Es hörte überhaupt nicht auf. Mit verzerrten Lefzen schabten sie sich die Flanken, bohrten sich in den Ohren, wüteten unter ihren Armhöhlen und schlugen mit den Hinterkeulen einen Trommelwirbel. Es klang wie im Zirkus beim Trapezakt, wenn die Musik verstummt, die Leute Genickschmerzen vom Hinaufsehen kriegen und nur noch die Trommeln schnurren, damit man weiß, daß jetzt der berühmte Doppelsalto kommt. Spitzbarts unterbrachen ihr Menü und schauten steinernen Gesichts auf meinen dreizylindrigen Flohmotor.

»Was haben sie denn bloß?« flüsterte die Mama. »Das ist ja entsetzlich!«

»Von Lux übergestiegen!« flüsterte ich zurück. »Das sind die Dorfflöhe, zähe, ausgehungerte Burschen, die nach ihrer ewigen Schäferhunddiät jetzt endlich mal in frischem Stadthund schwelgen können!«

Wirt Kretzschmer kam und setzte sich zu uns an den Tisch. Ich lobte den Ort und seine Bewohner über alle Maßen. Er zeigte sich nur leicht gerührt, beobachtete derweilen die Hunde und warf einen besorgten Blick auf die Spitzbarts, die jeder ein Pülverchen genommen und sich schweigend in ihr Beefsteak vertieft hatten.

»Na, Ihren Verein da hat’s ja ordentlich erwischt!« sagte Kretzschmer.

Ich kniff ein Auge zu: »Nervöses Hautjucken — hahaha!«

»Ich habe da so ‘n Pulver«, sagte Herr Kretzschmer.

Ich schlug ihm auf die Schulter: »Wie wär’s mit einem Schnäpschen für uns beide? Pulver habe ich auch, mache ich gleich nachher. Kennen Sie den Witz von den beiden Flöhen, die aus dem Kino kommen: Der eine fragt den anderen: >Gehen wir zu Fuß oder nehmen wir ‘nen Hund?< Haha, wahnsinnig komisch, nicht wahr?«

Er ließ mich allein lachen und winkte nur der Bedienung, die zwei Schnäpse brachte.

»Und kennen Sie den anderen?« fragte ich, nachdem wir sie gekippt hatten. »Der eine Floh sagt zum anderen: >Du, ich hab’ im Toto gewettet. Wenn ich gewinne, kauf’ ich mir ‘nen eigenen Hund!< Köstlich, was?«

»Ja, köstlich«, sagte er mechanisch. »Was haben Sie denn nun vor, wollen Sie hierbleiben?«

Die Spitzbarts standen seufzend auf und gingen hinaus. »Sie kriegen noch den Nachtisch!« rief die Bedienerin und stellte zwei daumennagelgroße Puddings in knallroter Soße hin.

»Nein, danke«, sagte der Spitzbart, »wir haben keinen Appetit mehr.«

»Wissen Sie, mein lieber Herr Kretzschmer«, sagte ich, »ich habe da — haha — ein reizendes junges blondes Mädchen kennengelernt, die Tochter vom Meiler-Hof. Das ist da ganz weit draußen. Wie heißen denn die Leute?«

»Kajetan«, sagte Herr Kretzschmer. »Nehmen Sie noch einen?«

»Natürlich, mein Lieber, natürlich, auf einem Bein allein kann man ja nicht stehen, nicht wahr?« Die Mama sah mich ängstlich an. Ich fühlte, wie sie ausrechnete, daß wir für die vier Steinhäger schon ein gemeinsames Mittagessen hätten.

»Ja, eventuell ziehe ich auf die Dauer zu den Kajetans«, sagte ich. »Wie sind denn die Leute?«

»Hm...«, meinte Kretzschmer.

»Na, das ist fein«, sagte ich, »wir werden uns schon vertragen. So, Mamachen, ich denke, wir gehen erst mal hinauf und behandeln unsere armen drei hier mit Pulver, und dann machen wir einen Spaziergang zu den Kajetans. Ohne Hunde natürlich.«

Auf dem Zimmer panierten wir die drei mit Flohpulver, stellten ihnen Wasser hin und wanderten dann zum Meiler-Hof. Er lag oben am Hang, mit drei anderen Höfen zusammen, deren Vorderfronten ein offenes Rechteck bildeten. Vor jedem Hof stand ein Brunnen mit einer hölzernen Rinne, die in ein steinernes Bassin führte. Die Brunnen schienen sehr alt zu sein.

»Sieh mal«, sagte ich flüsternd, »die könnten noch aus der Römerzeit sein. Erinnern mich direkt an Pompeji. Ist das nicht großartig?«

»Also kein fließendes Wasser!« sagte die Mama. »Kann man hier auch nicht verlangen. Na, Hauptsache, es ist billig.«

»Das ist es bestimmt, Mamachen. Da wir unseren Wagen nicht mithaben, werden wir sicher ganz billig abkommen. Den Wagen bringe ich erst, wenn alles perfekt ist. Dahinten in der Scheune scheint noch Platz für ihn zu sein.«

Ein alter grauhaariger Bauer kam aus dem Haus und ging an uns vorbei gegen die Scheune.

»Ach, Verzeihung«, sagte ich, »sind Sie Herr Kajetan?«

Er blieb stehen und sah mich an. Er hatte ein schmales, feines, leidgeprüftes Gesicht. »Ja, das bin ich«, sagte er dann.

»Na, das ist ja großartig. Ihre Tochter hat Ihnen sicher erzählt, daß wir hier eventuell mieten wollen, für längere Zeit sogar.«

In sein Gesicht trat ein mitfühlender Ausdruck: »Sprechen Sie mit meiner Frau.« Er nickte uns zu und ging weiter.

Die Mama stieß mich an: »Der sieht aber sehr mitgenommen aus. Das wird ein schöner Drachen sein, die Alte. Wahrscheinlich so ein Zwei-Zentner-Weib, das ihm die Jacke vollhaut und ihn dann über die Wäscheleine hängt!«

»Du mußt nicht überall Gespenster sehen.«

Die Bäuerin war durchaus kein Zwei-Zentner-Weib, sondern eine rundliche Person mit tiefblauen Augen und fahlbraunem Haar. Gar nicht übel. Offenbar viel jünger als ihr Mann. Nur ihr Gesicht war so merkwürdig unbeweglich. Ich begann mit ihr zu verhandeln. Ja, die Theres hätte ihr schon erzählt.

Wir besichtigten die Zimmer. Sie waren niedrig und hatten Eisenstäbe vor den Fenstern.

»Das ist ja sehr interessant«, sagte ich, »das Haus ist wohl alt?«

»Ja, 1675.«

»Hochinteressant! Und Öfen haben Sie ja auch in beiden Zimmern.«

»Ja, wollen Sie denn auch im Winter bleiben?« fragte die Bäuerin fassungslos.

»Natürlich. Es gefällt uns hier so gut, hier gehen wir überhaupt nicht mehr weg, nicht wahr, Mama? Also — was hatten Sie sich denn gedacht, was der Spaß kostet?«

Die Bäuerin erklärte, sie hätte sich überhaupt nichts gedacht, und sie wüßte überhaupt noch gar nicht, ob sie eigentlich...

In diesem Augenblick erschien Theres: »Aber natürlich, Mutter«, sagte sie, »warum denn nicht? (Gute Theres!) Ja«, sagte die dann, »im Sommer kriegen wir zwei fünfzig pro Bett.«

»Na ja, im Sommer! Es handelt sich ja hier um eine monatelange Miete in einer Zeit, in der Sie sonst keine Einnahmen hätten.«

Theres gab zu, daß man unter diesen Umständen mit dem Preis zurückgehen müsse.

»Etwas!« sagte die Mutter aus dem Hintergrund.

»Wir sind keine Krösusse!« erklärte ich.

»Na, nu mal nicht so bescheiden!« sagte Theres. »Wer so’n schicken Sportwagen fährt und drei Hunde hat!«

Verdammt. Ich hatte den Geheimdienst des Dorfes unterschätzt.

»Ja«, sagte die Mutter, »das mit den drei Hunden...«

»Wir haben nämlich auch Hunde«, erklärte Theres, »zwei Spitze.«

»Das ist ja wunderbar!« sagte ich. »Vertragen werden sie sich bestimmt. Sie sind also Hundefreunde! Etwas Besseres kann man sich ja gar nicht wünschen!«

»Die Zimmer haben wir erst im vorigen Herbst ganz neu richten lassen«, sagte die Mutter. »Sie müßten natürlich achtgeben.«

»Also«, meinte die Theres, »vielleicht drei Mark pro Tag für jedes Zimmer.«

Die Mama erblich. »Das wären hundertachtzig Mark«, sagte ich, »dafür kriegt man in der Stadt eine Vier-Zimmer-Wohnung mit Zentralheizung und fließendem Wasser!« Die Mama war ans Fenster gegangen und machte es auf: »Nicht mal Doppelfenster«, sagte sie vom Fenster her, »da können wir uns ja bankrott heizen im Winter.«

»Also«, meinte ich, »ich will Ihnen was sagen: Hundert Mark. Das ist ein ganz großes Angebot. Licht und Bedienung inbegriffen. Heizmaterial halten wir uns selbst.«

Die beiden Frauen sahen sich an. Die Mutter zuckte die Schultern und ging aus dem Zimmer.

»Na schön«, sagte Theres.

»Und wo kann ich den Wagen hinstellen?«

»Der Vater wird in der Scheune Platz machen.«

»Fein, dann ziehen wir gleich morgen ein.«

3

Als wir am nächsten Morgen kamen, waren die Spitze da und empfingen uns mit wütendem Gekläff. Es waren Mutter und Sohn, wie sich später herausstellte, und man konnte sich aussuchen, wer unangenehmer war. Es war jene Art von Hunden, die nie ganz zutraulich wird, bei jeder Gelegenheit schreit, sich zwei Monate lang streicheln und füttern läßt und einem dann plötzlich in die Hand beißt. Wie man sieht — Hunde sind manchmal unheimlich menschlich.

Zwei Drittel meines Trios, das dem Wagen entquoll, hatten jedoch zunächst keinerlei charakterliche Bedenken. Der Löwe attackierte sofort die Spitz-Mutter. Als sie schnappte, wich er keineswegs kavaliersmäßig zurück, sondern stellte die Ohren nach vorn und knurrte aus tiefster Brust. Sie wich verdutzt in den Hausflur aus, worauf er triumphierend das Bein am Pfosten hob. Weffi hatte sich an Spitz junior attackiert, der ihm stumm die Zähne zeigte. Weffi wedelte, ging zur Seite und besprang ihn dann. Spitz junior schrie wie eine hysterische Jungfer und sauste hinter der Mutter her in den Hausflur. Weffi ging an den Pfosten und hob ebenfalls das Bein. Nur Peter hatte sich um die beiden weißen Staubwedel überhaupt nicht gekümmert. Statt dessen war er außen herum auf den Hof gegangen. Als ich mich nach einer Weile nach ihm umsah, roch er dort ganz artig am Hauklotz. Er sah mich freundlich an und wedelte kurz: »Ganz ulkig. Aber wann fahren wir heim?«

»Na, ist das nicht schön, Peterle?« fragte ich. »Sieh dir nur alles an!«

Er stelzte auf einen dicken Puter zu. Der Puter sträubte das Gefieder und kam bullernd auf ihn zugerauscht. Er sah aus wie eine Kriegskogge mit geblähten Segeln. Seine Schwungfedern schlugen Staub aus dem Boden.

Peter drehte ihm verachtungsvoll den Rücken, streifte mich mit einem traurigen Blick und drängte sich an mich, als ich wieder ins Haus ging.

Drin hatte die Mama schon eingeräumt. Ihre Kleider hingen im Schrank, und auf der Kommode standen die Familienbilder: Frauchen in einem Stilkleid (auf dem letzten Faschingsball aufgenommen), die Bilder der Großeltern und ich als Schafsgesicht.

»Erkundige dich doch mal«, sagte sie, »wo hier ein gewisses Örtchen ist.«

Ich vertraute mich Theres an.

Sie wies gegen den Hintergrund der Diele: »Durch die Tür da und dann links der nächste Raum.«

Gefolgt von Peter öffnete ich die erste Tür — und stand im Kuhstall. Sechs Kühe und davor nur ein enger Gang. Sie steckten schnaubend die großen Köpfe vor, und eine zupfte mich vertraulich am Ärmel. Peter fletschte die Zähne und drängte sich an mein Knie.

»Na na«, sagte ich, »die tun dir doch nichts. Das sind doch liebe, gute Tierchen, Kühchen — feine Kühchen. Ist das nicht großartig hier, Peterle? Wie das riecht!«

Also erste Tür links. Es war eine Brettertür, die schief in den Angeln hing und kein Schloß hatte. Ich öffnete sie — und stand im Hühnerstall. Ein halbes Dutzend dicke Hennen brüteten in Kisten, und ein paar junge saßen aus unerfindlichen Gründen jetzt schon, am Tage, auf der Stange. Na, und? Da sah ich in der Wand eine muschelförmige Nische und dahinein gebaut einen Bretterthron mit Deckel. Ich holte tief Atem, kehrte um und berichtete der Mama.

»Also du«, sagte ich, »dieses Örtchen, das ist allein die ganze Miete wert! Stell dir vor, du sitzt dort in einer muschelförmigen Nische, wie der Lorenzo de Medici von Michelangelo. Während der Sitzung kannst du dich mit den Hühnern unterhalten. Es sitzen immer ungefähr sechs Stück auf den Stangen. Abends mehr. Urgemütlich. Und im Winter sicher sehr warm, denn nebenan ist der Kuhstall. Durch den mußt du durch.«

»Ausgeschlossen!« erklärte die Mama (sie hatte ihr Leben lang eine panische Furcht vor Kühen gehabt).

»Also, jetzt sei nicht kindisch!« sagte ich.

Sie sah mich kläglich wie ein kleines Kind an: »Dabei muß ich mal so dringend!«

»Komm her, ich geb’ dir den Arm und bring dich bis zur Tür! Da hast du ja noch ein Stück Brot, nimm es mit und gib es den Kühen, damit sie dich kennen.«

Unter dem Druck der Verhältnisse brachte ich sie auch dazu, den Kuhreigen fütternd zu passieren. Sie konnte schließlich sogar Schnuten streicheln und verschwand ganz getröstet.

»Na?« fragte ich sie, als sie wiederkam.

»Entsetzlich!« sagte sie. »Und im höchsten Grade genannt!«

»Ach, du meinst die offene Tür? Die bringen wir gleich morgen in Ordnung.«

»Die habe ich gar nicht bemerkt«, sagte sie, »aber während ich da war, sah der Bauer zum Fenster herein! Das Fenster scheinst du gar nicht gesehen zu haben!«

»Na ja, auch nicht so schlimm. Schließlich müssen ja die armen Hühner irgendwo ‘rein und ‘raus.«

Sie seufzte: »Ach Junge, Junge — na, ich werde mal deine Wäsche einräumen.«

Ich ging zum Brunnen und starrte in das Wasser. Cocki und Weffi kamen geschäftig am Zaun entlang. Der eine der weißen Staubwedel stellte sie mit drohendem Knurren und richtete sich an Cocki hoch. Der sah mich fragend an: »Soll ich ihn fertigmachen?«

»Untersteh dich!« sagte ich. »Ihr macht mir schon Kummer genug. Alle mitsammen.«

Ohne sich um den hampelnden und knurrenden Staubwedel zu kümmern, sahen sich die beiden an, als ob sie fühlten, daß mein Kragen am Platzen war. Dann setzten sie ruhig ihren Marsch fort. Sie wenigstens schienen ein Einsehen zu haben.

Es ging eine Woche lang mit Ach ohne Krach. Wir begannen uns zurechtzufinden. Die Mama war besorgt wie immer, aber außerdem auch einigermaßen glücklich. Sie konnte ihre mütterlichen Instinkte nach allen Seiten hin grenzenlos entfalten. Jetzt war sie es, die das Trio morgens fertigmachte. Zu diesem Behuf brauchte ich bloß die Tür aufzumachen, und alle drei wackelten zu ihr herein, ohne mich weiter eines Blickes zu würdigen. Drüben bei ihr gab es gleich zu Anfang ein Plätzchen. Dann hörte ich, während ich mich rasierte, durch die Tür ihre Ansprache:

»So, Peterle, jetzt noch die Hosen — ja, ich weiß, es ziept. Den Bart noch mal. Mein Gott, Kerl, was hast du dir bloß wieder da ‘reingeklebt! Cocki, geh weg, dich habe ich doch schon zweimal gekämmt. Und nun Weffi — jetzt zappele nicht so — anderes Pfötchen — du Knudelschnute — (Kußgeräusch). Und nun das Hinterteil — na, ich habe schon mal was Saubereres in meinem Leben gesehen!«

Wenn sie mit den Hunden fertig war, hatte sie ihre ganz große Puppe zum Spielen, nämlich mich. Sie konnte nach Herzenslust über abgerissene Knöpfe kopfschütteln und seufzend früh ver-dreckte Manschettenränder konstatieren. Sie konnte mich ermahnen, nicht schon zum Frühstück eine dicke Zigarre zu rauchen und die ältesten Schuhe anzuziehen, wenn ich in den Wald ging.

Das tat ich jeden Morgen, immer in eine andere Richtung. Unten der See lag von riesigen Tannen umstanden, wie dunkelgrüne Jade in der blitzenden Septembersonne. Während meine drei die Fuchslöcher inspizierten, auf stets vergebliche Hasenjagd gingen oder nur so herumstöberten, konnte ich stundenlang sitzen und einfach über das Wasser starren. Ein Taucher mit gehörntem Köpfchen durchbrach den Jadespiegel, ein Fisch sprang, eine Libelle ging knisternd in die Kurve. Es war wie nach der Erschaffung der Welt.

Manchmal auch kletterte ich den Berg hinauf bis dorthin, wo die Felsen anfingen. Dabei mußte ich immer den Dicken bewundern. Hier machte er seinem Namen Springer-Cocker alle Ehre, indem er trotz seiner Molligkeit fast senkrechte Wände hinauf- und herunterturnte.

Zweimal übrigens, kurz hintereinander und gleich in den ersten Tagen, hatte ich da oben wunderbare Erlebnisse.

Einmal sah ich einen Steinadler, der aus den Tiroler Bergen herüberkam. Ich wußte sofort: das ist nicht etwa ein großer Bussard, sondern das ist er, der große Einsame, der König über Gipfel und Wolken. Riesenhaft und erhaben kreiste er mindestens zwei Minuten lang über mir im tiefen Himmel, bis er wieder in den Felszinnen verschwand.

Und dann, am nächsten Tag, als ich mich an die gleiche Stelle gehockt hatte, in der Hoffnung, er würde vielleicht wiederkommen, kollerte ein Stein von oben und sprang dicht an mir vorbei bergab. Ich zog den Kopf ein und sah nach oben. Da stand, vielleicht fünfzig Meter über mir, ein alter Gamsbock mit kohlschwarzem Bart. Er blieb dort unbeweglich, wie ausgestopft, und ich starrte ihn ebenso unbeweglich an und glaubte, daß ich träume. Nach einer Weile legte er den Kopf schief und horchte auf einen der Hunde, der nahebei im Geröll rumorte. Darauf kam in das Standbild Leben. Es setzte zierlich Fuß vor Fuß, ging auf einem handbreiten Grat um einen Felsturm herum und verschwand um die Ecke. Jetzt erst wagte ich, richtig zu atmen.

In mir war eine tiefe Dankbarkeit. Ich fühlte, wie sich die Wunden in meinem Innern zu schließen begannen und wie die Ahnung neuen Schaffenkönnens auf wuchs. Das Pech der vergangenen Monate hatte mich — das merkte ich erst jetzt — an der Wurzel getroffen und mein Selbstvertrauen erschüttert. Aus solchen Erlebnissen strömte es mir wieder zu. Ein dunkler Schatten über meinem Leben blieb Frauchens Schicksal.

Meine drei hatten sich schnell mit dem neuen Leben abgefunden, nur morgens beim Frühstück war mitunter ein Moment des Erstaunens. Sie sahen von einem zum anderen, als wollten sie fragen: »Nur zwei Stück? Wo ist der dritte, das Frauchen?« Im übrigen begannen sie ihren neuen Lebenskreis auszubauen. Dabei blieb jeder genau in seinem Stil. Weffi hatte sich wieder so was Junges zum Spielen gesucht, ein sechs Wochen altes Kätzchen, das ihm auf den Rücken sprang und ihm am Bart zauste, wofür er es mit der Pfote umwerfen und hin und her kugeln durfte. Sie spielten auch viel an unserem Zaun. Sie saß dahinter, fuhr mit der Tatze zwischen den Maschen heraus und gab Ohrfeigen. Er tat so, als ob er es ernst nähme, und ging in die Kniebeuge und kläffte. Es war ein Heidenspaß.

Cocki hatte sich an Kretzschmers Lux angeschlossen, und zwar wegen der dadurch abfallenden fetten Gasthofsknochen. Als geborener Opportunist hatte er dafür seine Diktatorinstinkte in Zahlung gegeben und Lux als den Stärkeren anerkannt. Ganz auf großer Hund machend, sah ich ihn mitunter im Gefolge von Lux geschäftig einherwatscheln. Er hechelte, denn er mußte für jeden Luxschritt auf seinen krummen Vorderbeinen mit den Gummikissen drei machen. Im Vorbeigehen warf er mir einen kurzen, ernsten Blick zu: »Du siehst, bin sehr beschäftigt!«

Das Peterle hatte sich an den alten Kajetan angeschlossen. Ihr Treffpunkt war der Hof mit dem Hauklotz. Dort pflegte der alte Bauer nach der Arbeit zu hocken, an einer Deichsel zu schnitzen, die Sense zu schärfen oder eine Harke auszubessern. Ich beobachtete die beiden manchmal aus dem Fenster. Kajetan rauchte, seinem Harem entronnen, ein Pfeifchen, dessen Düfte ein Rhinozeros chloroformieren konnten. Peter stakste im Hof umher, schnüffelte unter der Scheune nach Ratten oder setzte sich auch einfach neben Kajetan, der ihm die eisgraue Locke kraulte und leise mit ihm redete. Das tat er übrigens nie mit seinen beiden eigenen Spitzen. Die waren ja auch nicht seine Hunde, sondern gehörten den Weibern, und was denen gehörte, gehörte nicht ihm.

Es konnte geschehen, daß Peterle mich am Fenster bemerkte. Er sah kurz und vertrauend zu mir auf und wackelte einmal mit dem Schwänzchen, während die schwere braune Bauernhand merkwürdig zart über sein Köpfchen fuhr: »Du nimmst mir das doch nicht übel, nicht wahr? So ein netter Mann!«

Mit Kajetan spielte er auch Stückchen. Er konnte es mit ihm, denn hier war kein Weffi, der ihn störte. Er zerrte sich die längsten Exemplare aus dem Reisighaufen vor dem Kuhstall, warf sie vor Kajetan hin und forderte ihn mit einem kurzen »Wuff!« zum Spielen auf. Und Kajetan warf den Stock unermüdlich. Sie spielten streng nach Komment, bis zum Ende. Das heißt, jedesmal, wenn Peter den Ast wiederbrachte, biß er erst ein Stück davon ab, bevor er ihn Kajetan zum neuen Wurf überließ. Er fetzte, knurrte und spuckte Rinde, bis schließlich nur noch ein ganz winziges, total besabbertes und aufgeweichtes Stück übrigblieb.

Gewöhnlich hatte inzwischen der unfehlbare Sinn der Weiber wahrgenommen, daß der Vater mal einen Augenblick nicht mit nutzbringender Arbeit beschäftigt war. Man rief ihn. Der Schein auf seinem Gesicht erlosch. Er stand müde auf und ging hinein. Peterle sah ihm nach. Dann nahm er das Stockrestchen und vergrub es im Sand, indem er mit der Nase Erde darüber schob.

Der einzige Schatten auf Peterles Paradies war der Puter, der bei jeder Gelegenheit, besonders aber beim Stockspiel, in klirrender Wut und mit aufgeblasenem Kehlsack auf ihn zurauschte. Peterchen pflegte, auf seinem Stock liegend, den Alten fragend anzusehen: »Könnte man diesen Idioten nicht auseinandernehmen?« Aber der Alte schüttelte den Kopf: »Nein, nein, pfui! Darfst du nicht!« Worauf Peterle schweigend seinen Stock nahm und einen Meter weiterrückte, während der Puter schwelgend vor Triumph mit starr geschlagenem Rad abdrehte und zu seinen Hennen zurückrauschte: »Dem habe ich’s wieder gegeben!«

»Na, Mulleken«, sagte ich am Ende der ersten Woche, »geht’s denn nun einigermaßen?«

Sie sah schon bedeutend besser aus, voller im Gesicht und etwas gebräunt. Sie strich mir über den Kopf: »Ja, Junge, es geht ganz gut.«

Aber das war ein Irrtum. Es ging nicht gut. Und schließlich merkte ich, daß es gar nicht mehr ging. Dabei hatte ich mir alle Mühe gegeben und nicht unerhebliche Kapitalien investiert. Ich hatte dem Bauern seinen Lieblingstabak gekauft. Des ferneren war ich mit Theres im Kino gewesen und in die Kreisstadt zum Bauerntheater gefahren.

Der Kern des Widerstandes jedoch, den ich nicht knacken konnte, war die Mutter, jenes Wesen mit den dunkelblauen Augen, den fahlbraunen Haaren und den hilflosen Bewegungen. Es hatte nämlich außer dem schmalen Mund noch ein Herz aus Stein, ein Herz, das weder für den eigenen Mann noch für die Tochter, sondern nur für ihre beiden weißen Staubwedel von Spitzen schlug. Und die wußten es.

Ich kannte die Manieren meiner drei Rowdies und wußte, daß auch sie sehr verwöhnt und durchaus nicht fein waren, wenn sie sich’s irgendwie leisten konnten, besonders der Dicke. Aber ebenso muß ich berichten, daß sie sich um das Spitzduett sehr bald überhaupt nicht mehr kümmerten. Seit der Begegnung am Zaun gingen sie ihnen systematisch aus dem Wege. Weffi schwebte überhaupt über der ganzen Sache. Er ging völlig in seinem Kätzchen auf.

Das alles aber hinderte die Kajetanin mit dem Kinderblick nicht, unentwegt und zunehmend zu nörgeln. Sie pflegte bei geöffneten Fenstern und so, daß wir es hören mußten, Selbstgespräche mit den beiden Staubwedeln zu halten, ungefähr so: »Ach, ihr meine armen beiden Lieben! Was müßt ihr aushalten! In euer eigenes Haus lassen euch die bösen anderen nicht mehr ‘rein! Nicht mal in Ruhe fressen könnt ihr mehr! Aber Frauchen paßt auf, und Frauchen wird es bald ändern. Ja, ihr sollt sehen, meine Süßen, es dauert nicht mehr lange, dann seid ihr wieder allein hier und könnt machen, was ihr wollt!«

Sie hatte auch eine verdammte Manier, vor einer ihrer zweihundertneunundsiebzig Jahre alten Türschwellen stehenzubleiben und irgendeinen Kratzer darauf zu entdecken. Sie stellte sich davor in Positur und starrte gebrochen und beleidigt darauf nieder, bis sie sicher war, daß wir sie bemerkten. Dann hob sie mit eingekniffenen Lippen den Kopf und wandelte von hinnen.

Nach vierzehn Tagen hatte ich ihre Vorstellungen satt, besonders auch, weil ich bemerkte, wie die Mama darunter litt und schon wieder zusehends schmaler wurde.

»Müssen wir uns das eigentlich bieten lassen?« fragte ich sie eines Abends.

»Aber du kannst doch nicht...«

»Natürlich kann ich. Du ahnst ja gar nicht, was ich kann, wenn es um meine drei geht. Sie haben sich wirklich wie die Kavaliere benommen. Ungerechtigkeit hat mir schon immer einen verdammten Mumm gegeben.«

Ich stand auf und ging ins Nebenzimmer. Das sanfte Kieselherz saß am Fenster, mit seinen beiden Staubwedeln garniert. Sie kläfften mich heftig an.

»Grüß Gott, Frau Kajetan«, sagte ich und setzte mich ungeniert zu ihr aufs Sofa. »Wissen Sie, was ulkig ist?«

Sie hatte erst befremdet die Lippen eingekniffen, jetzt sah sie mich erstaunt an.

Ich fuhr in heiterster Manier fort: »Ulkig ist, daß man hundert Mark im Monat nimmt — natürlich nur beispielsweise — und dafür erwartet, daß die Gäste sich sozusagen in Luft auflösen und nur so unhörbar um die Ecken winseln, ohne ein Blättchen zu bewegen oder ein Kratzerchen aufs Schwellchen zu machen. Ich habe mir jetzt zum drittenmal Ihren Monolog angehört.« Ich sah ihren fassungslosen Ausdruck und fügte hastig hinzu: »Monolog ist nichts Unanständiges und nichts Beleidigendes. Monolog ist, wenn einer mit sich selber redet. In Ihrem Fall handelt es sich um eine Abart, nämlich, wenn einer so redet, daß es die anderen hören sollen. Warum sind Sie nicht längst zu uns gekommen und haben gesagt: >Herrschaften, es geht nicht.<? Dann hätte ich gesagt: >Liebe Frau Kajetan<, hätte ich gesagt, >nichts für ungut, hier ist die Miete für zwei Wochen. Wir steigen auf unseren Wagen und fahren ein Dorf weiter. Da finden wir bestimmt jemanden, der sich ausrechnet, daß sechshundert Mark für ein halbes Jahr ein Geschenk vom Himmel sind. Damit kann man zum Beispiel seiner Tochter einen Teil der Aussteuer kaufen oder sich einen Kühlschrank und ‘n neues Radio leisten — na, und so!< Ich schlage Ihnen also vor, wir trennen uns friedlich, sagen wir — morgen früh, und der Fall ist erledigt.«

In ihrem Gesicht zeigte sich Verwirrung. Die Aussteuer und der Eisschrank schienen gezündet zu haben. Aber ich ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen und klopfte ihr herzhaft auf die Schulter: »Also, liebe Frau Kajetan, wir sind vollkommen einig, machen Sie bitte die Rechnung fertig — und morgen früh!«

Wie schon so oft in ihrem Leben zeigte die Mama, was für ein großartiger Kerl sie ist: sie packte die halbe Nacht lang, ohne einen Mucks zu sagen.

Noch als wir am nächsten Morgen im Wagen saßen, versuchte Theres die Sache rückgängig zu machen:

»Die Mutter hat es doch nicht so gemeint!«

Ich war ein Ausbund an Heiterkeit: »Aber Theres! Wetten, daß sie’s hat? Nichts für ungut!«

In diesem Augenblick merkte ich, daß Peter fehlte.

»Ich habe ihn hinten auf dem Hof gesehen«, sagte Theres, »soll ich ihn holen?«

Ich stieg wieder aus: »Nein, lassen Sie nur, Theres, ich mach es schon.«

Er war tatsächlich auf dem Hof und beroch wie üblich den Hauklotz. »Na, Peterle«, sagte ich, »möchtest du nicht einsteigen? Es geht los! Oder wolltest du Papa Kajetan adieu sagen? Der ist heute schon ganz früh aufs Feld.«

Peter hob den Kopf und sah mich an, als wollte er sagen: »Also los, fahren wir!«

In diesem Augenblick brauste wie üblich der Puter auf ihn zu. Ich könnte drauf schwören, daß Peter ein Auge gegen mich zukniff: »Na, dann können wir dem ja mal unsere Meinung sagen!«

Er ging auf den Puter zu, ganz ruhig, Schritt vor Schritt. Dem Puter wurde ganz anders. Er ließ sozusagen die Luft aus seinem Ballon, wurde mit einem Ruck ganz schmal und drehte ab. Da war Peter wie ein Schatten hinter ihm her und nahm ihm den Schwanz ab. Ja, ich kann es wirklich nicht anders beschreiben: es war kein wütender Biß, kein Zuspringen — er nahm ganz einfach und ganz ruhig den Puterschwanz ins Maul und behielt ihn, während der Rest des Stänkers mit kläglich nacktem Hinterteil entschwand.

Peter legte mir den Puterschwanz vor die Füße und wedelte Beifall heischend. Ich würgte, daß mir die Halsadern schwollen, um nur nicht laut herauszulachen. »Peter«, sagte ich, während ich mich niederbeugte und ihn auf den Arm nahm, »du müßtest prämiiert werden. Und wenn ich mir vorstelle, was unser Kieselherzengel sagt, wenn er nachher seinen Puter ohne Schwanz sieht! — Vielleicht merkt sie dann, daß sie mir nicht ungestraft noch drei Mark für Schuppengarage und zwei Mark für Extralicht infolge Radiohörens aufgeknallt hat!«

»Und was soll jetzt werden?« fragte die Mama, als ich startete.

Ich sah mich in unserem kleinen Häuschen um, das wieder mal das einzige Dach war, das wir über dem Kopf hatten. Weffi auf dem Schoß der Mama machte einen langen Hals nach seinem Kätzchen. Er schien der einzige von uns zu sein, dem der Abzug leid tat. Cocki lag tief befriedigt in der Kofferlücke, und Peterle kauerte mit allen Zeichen der Erlösung und des Wohlbehagens wieder am Rückfenster.

»Ich will dir was sagen«, meinte ich zur Mama. »Ich lasse dich hier irgendwo in Waldenau bei netten Leuten — mit Weffi. Ein Hund geht, zwei sind schwierig, drei sind unmöglich. Ich werde versuchen, mit den beiden Rowdies ganz in deiner Nähe unterzukommen. Irgendwie werden wir uns schon durchschlängeln.«

»Was ist denn mit deinem neuen Buch?« fragte sie.

»Ich schicke es in drei Tagen ab.«

4

Wir fuhren zunächst wieder zur >Krone< zwecks Mittagessen und Konferenz mit Kretzschmer.

»Da seid ihr ja«, meinte er nur, als wir kamen. »Hab’ mich schon gewundert, daß ihr’s so lange bei denen ausgehalten habt.«

»Na«, sagte ich, »das hätten Sie mir nun wirklich als altem Freund und Kunden vorher sagen können!«

»Ich hab’ ja >Hm< gesagt«, verteidigte er sich, »als Sie mich danach fragten. Mehr als >Hm< dürfen Sie als Gastwirt in so ‘nem Fall und in so ‘nem Nest nicht sagen.«

»Schön. Kennen Sie vielleicht eine Familie ohne >Hm<?«

Er sah mich nachdenklich an, dann musterte er die drei, die mangels eines anderen Gastes um die Mama gruppiert saßen. »Mit dem ganzen Verein da?«

»Nein. Ich habe eingesehen, daß das nicht geht. Sie sind zu große Individualisten.«

Er legte den Kopf schief: »Was sind’s?«

»Individualisten. Gott sei Dank übrigens. Ich mag keine wohlerzogenen Hunde.«

»Hm!«

»Hm! Immer können Sie nur >Hm< sagen. Ich möchte jetzt mal was hören ohne >Hm<.« Dabei hielt ich ihm die Tasche mit den Brasil hin, die er immer besonders gern mochte. Er zündete sich mit Genuß eine an, blinzelte durch den Rauch: »Ja, unser Fotograf, der Renke, Arthur Renke, der kleine schmale Kerl mit der netten dunklen Frau — Sie kennen ihn auch...«

»Warten Sie mal — ja, das ist doch der, der über der Schmiede die zwei Zimmer hat — kleinen Jungen auch, nicht wahr, vier oder fünf Jahre?«

»Stimmt. Aber er wohnt nicht mehr über der Schmiede. Er wohnt jetzt unten am Anger nach dem Wald zu. Hat sich ‘n Haus gebaut, im Frühjahr. Na — und wie das so ist, ‘s Geld hat nicht gelangt. Der würde natürlich gern ‘n paar ruhige Mieter nehmen. Nur nicht mit Hunden. Darin sind die mit den neuen Häusern ja am schlimmsten. Aber vielleicht nehmen sie die Frau Mama mit dem kleinen Weißen hier!«

»Meinen Sie?«

»O ja, ich meine. Der Arthur ist nämlich gleich bei mir gewesen, nachdem ihr hier aufgekreuzt seid, und hat mir Vorwürfe gemacht, weil er mir doch die Postkarten vom Gasthaus so billig geliefert hat voriges Jahr. >Arthur<, habe ich gesagt, daß man, die werden bei den Kajetans nicht alt, und dann denk’ ich an dich.< Wenn Sie hinfahren — jetzt kriegen Sie ‘n gerade. Nachher ist er wieder im Pfarrhof. Er ist nämlich auch Mesner.«

Ja, so war das also. Man kommt als Fremder in so eine kleine Stadt oder ein Dorf, und man glaubt, daß man ganz allein ist und keine Seele sich um einen kümmert. Und dabei verfolgen hundert Augen jede Bewegung, und in den Berechnungen von Hunderten spielt man die Rolle einer Schachfigur, die mal hier und mal dort eingesetzt wird. Und das Ganze, das einem da gegenübersteht und einen umspinnt, ist ein hundertfach verschlungenes Netz von Verwandtschaft, Freundschaft und Geschäft. Erst nach Monaten kommt man so allmählich dahinter, aber es dauert Jahre, bis man ein Teil dieses Netzes ist — falls man Wert darauf legt und so lange aushält.

Die Sache mit Arthur Renke klappte. In einer Viertelstunde waren wir uns einig, und in einer weiteren Viertelstunde hatte ich die Mama in einem reizenden Zimmer mit einem urgemütlichen braunen Kachelöfchen etabliert. Ich verbot ihr, an den Wagen zu kommen und uns nachzuwinken, um ihr gutes altes Herz zu schonen. Als ich ihr Lebewohl sagte, saß sie in Renkens Wohnküche, Weffi auf dem Schoß, den fünfjährigen Gottfried, einen struppelhaarigen Schielebock mit Bleibrille, an ihr Knie geschmiegt. Alle drei aßen die Schnecken, die ich zum Nachmittagskaffee gestiftet hatte.

Dann rollte Prächtig davon. Der kleine Löwe hatte jetzt mehr Platz auf dem Rücksitz, und Peterle schwelgte auf der Leere des Vordersitzes neben mir. Mir aber war gar nicht wohl. Ich fror. So ganz mutterseelenallein, nur mit diesen beiden Hundekindern und völlig unzureichenden Kenntnissen in Haushaltsdingen — dazu nicht wissend, wo ich am Abend schlafen würde. Was hatte ich eigentlich verbrochen, daß mich das Schicksal so herumjagte!?

Hoi — das war ja ein ganz verdammtes Schlagloch. Entschuldige, Prächtig, ich fahre schon langsamer.

»Stephanskirchen« — hatte die kleine Frau Renke gesagt. »Fahren Sie erst nach Stephanskirchen und fragen Sie dort nach der Talmühle. Mein Vetter dort bringt Sie vielleicht unter. Er hat jetzt sicher keine Gäste mehr. Anselm Widderhals heißt er. Ungefähr vierzig Kilometer von Waldenau.« Anselm Widderhals — wie ein Mensch nur so heißen konnte! Klang wie Mittelalter. Wahrscheinlich so ein Büffel mit einer Matratze auf der Brust und einem breiten schwarzen Kinnbart.

Ja, also das Schicksal. Hm. Übrigens, eins war auffällig: Immer, wenn es sich an einem Hindernis verschlang und gewissermaßen einen Knoten machte, war es rückblickend zum Besten gewesen. Ja, es hätte eigentlich gar nicht anders sein können. Der es steuerte, wußte schon, was er tat. Nur ich hatte es nie begreifen können, hatte gezerrt und gezappelt, mich auf die Erde geworfen und schleifen lassen, wie Cocki, wenn ihn der Bock stieß. Wie wär’s, wenn ich endlich mal meine Vernunft gebrauchte und mich dem wohlmeinenden Schicksalssteuermann dankbar erwiese, indem ich ihm vertraute? Also, reiß dich zusammen, alter Kerl — wird schon schief gehen! Ich riß mich zusammen und tauchte wieder in der Gegenwart auf.

Der Weg führte genau ins Hochgebirge hinein, und wie ich so dahinrollte und es immer romantischer und gewaltiger wurde, vergaß ich sehr bald meine Verlassenheit. Erst ging’s durch dichte Wälder, zwischen denen der holprige Weg niemals trocken wurde. Einmal schnürte ein Fuchs vor dem Wagen vorbei. Peterchen hatte ihn sofort entdeckt, und minutenlang gellten meine Ohren von dem Doppelgebrüll der beiden.

Dann wurde der Wald ab und zu von großen Schlägen unterbrochen, auf denen die Brombeeren reiften. Allmählich wurde er lichter, die Bäume kleiner, und immer häufiger tauchten dazwischen Felsklötze auf. Wunderbar! In meiner neugewonnenen Zuversicht wurde ich übermütig und hielt, um Brombeeren zu futtern. Dabei mußte ich immer wieder diese Felsen anschauen. Sie brachen aus dem Moos wie die Rückenwirbel eines uralten Drachen. Cocki und Peter schnüffelten in den vielen Höhlen, die sie bildeten. Dann bekamen sie eine Spur und tobten weg. Ich saß am Wegrand in der schrägen Nachmittagssonne und döste vor mich hin. Plötzlich sah ich vor mir, in einem vorstoßenden Waldzipfel, etwas springen. Es war etwas Dunkles, das immer nur mit dem Rücken auftauchte. Ein Hase? Nein, zu groß und auch ganz andere Bewegungen, geschmeidige, wie eine kleine dunkle Welle oder eine Schlange. Jetzt schoß keckernd ein roter Blitz einen Baum hinauf. Kleine angerissene Rindenstückchen rieselten hinter ihm zu Boden — ein Eichhörnchen. Und da wieder das Dunkle, Große! Es kam jetzt aus dem Dickicht und stand windend am Fuß des Eichhörnchenbaumes: ein Marder, ein großer Marder! Noch nie hatte ich einen Marder so nahe gesehen.

Ich saß, hielt den Atem an und ärgerte mich, daß ich wieder mal die Kamera nicht zur Hand hatte. Welch gefährliche, böse Grazie in diesem Geschöpf, wie es da den Oberkörper schnuppernd hin und her bewegte und in geschmeidigen Sprüngen den Baum umtanzte! Jetzt hatte er die Spur — und wie ein Blitz schoß der dunkle Strahl den Baum hinauf. Oben flog das Rote aus dem Gipfel in den nächsten Baum, und da schoß auch schon der dunkle Blitz hinterher. Er flog zehn, zwölf Meter durch die Luft, gleich auf den übernächsten Baum. Angstvoller das Gekecker des Eichhörnchens. Die wilde Jagd verlor sich in den Wipfeln. Ich starrte ihr mit offenem Munde nach. Plötzlich Brechen von Gestrüpp, Hecheln. Meine beiden waren da, Peterle zuerst. Er richtete sich am Baum hoch, sah mich dann an: »Nichts zu machen!«

Er kam zu mir und setzte sich neben mein Knie. Der Dicke richtete sich auch am Baum auf, kratzte wütend mit den Tatzen, hockte sich dann auf die Hinterkeulen und schimpfte den Stamm hinauf.

»Na, Kinder«, sagte ich, »dann mal weiter.«

Ich hatte kaum die Wagentür auf, da waren sie schon beide drin. Ich brauchte keine meiner fürchterlichen, niemals verwirklichten Drohungen auszustoßen. Jetzt hatten sie nur noch mich und den Wagen — und eine Todesangst, daß sie diese beiden Zufluchten verlören.

Es ging noch immer bergauf. Der Wald verwandelte sich in Latschenkiefern, die niedrig und von den Fäusten des Höhenwindes verdreht auf Buckelwiesen wuchsen. Und da: in eine Mulde geduckt ein Gebirgsdorf, niedrig um die Zwiebelkirche geschart. Große Steine auf den grauen Dächern. Das mußte Stephanskirchen sein. Es war es auch. Ich ließ mir im Wirtshaus sicherheitshalber noch mal den Weg sagen. Er führte zwischen Kuhweiden hindurch, bis ich schließlich an einem kaum leserlichen Holzschild bremste: Zur Talmühle.

Ich ließ die Hunde im Wagen, als ich ausstieg, und nahm nur das Fernglas mit. Dann stieg ich noch zwanzig Meter höher bis an den Rand der Buckelwiese — und blieb überwältigt stehen. Vor mir ein tief eingerissenes Tal, durch das sich ein ziemlich reißender und breiter Bach wand, eher schon ein kleines Flüßchen. Daran lagen zwei Gehöfte. Hinter dem Tal stiegen wieder die Wiesen auf, und dahinter ragte das Hochgebirge. Was für ein Hochgebirge! Es schien zum Greifen nahe, obwohl es noch Kilometer entfernt war. Eine ungeheure, unabsehbare Wand steiler Felstürme, merkwürdig gewulstet und oben zusammengezwirbelt. Es schien mir, als habe in der Urzeit eine Riesenfaust sie aus der Erde herausgedreht und dann oben noch mal zu dritt und viert zusammengebogen, daß sich ihre Spitzen gegeneinander neigten. Schon auf der Hälfte der Wand, die durch abenteuerliche Scharten unterbrochen war, lag ewiger Schnee. Die obersten Spitzen ragten noch weit über die Wolkenkette hinaus, die langsam an ihr vorbeizog und deren Schatten den Fels darunter fast schwarz erscheinen ließ. — Die Burg des Bösen am Ende der Welt, schoß ein Gedanke durch mein Gehirn. Aber ich fürchtete ihn nicht. Ich genoß seine Schönheit. Ich habe die Natur niemals gefürchtet,

auch nicht in ihren wildesten Ausbrüchen. Nur das bewußt Böse fürchte ich, und das gibt es ja, Gott sei Dank, nur im Menschen.

Apropos Menschen: Ich nahm das Glas und sah mir erst mal die Situation da unten im Tal an. Aha: Das da war wahrscheinlich die Talmühle, die diesem komischen Anselmus Widderhals gehörte. Großes Haus, Scheune und Stall im Rechteck darangebaut. Der Bach floß unter dem Gehöft durch, wahrscheinlich durch so ‘ne Art Tunnel. Vor dem Haus, direkt am Weg, ein kleines Gärtchen mit bunten Blumen. Auf der Wiese davor allerhand Geflügel. Das erforderte ein paar Instruktionsstunden für meine beiden! Im Gärtchen bewegte sich ein junges Mädchen, blondes Haar in einer Zopfkrone. Jetzt trat jemand aus dem Haus über die Schwelle. Es war ein hagerer Mann in einer Unterjacke mit Hosenträgern, weißbestaubter Hose und Holzpantoffeln — Müller Widderhals sicher. Er rauchte eine Pfeife und sah in die Gegend. Das war vielversprechend: Leute, die sich selbst Ruhe gönnen und sich so, das Pfeifchen schmauchend, die Natur ansehen.

Da kam etwas über die kleine Brücke gelaufen: ein Hund. Konnte ein leicht vermantschter Schäferhund sein, irgendso ‘ne Mischung. Auf jeden Fall war’s ‘ne Komplikation. Der Hund hatte einen Stock im Maul, trabte auf den Mann zu und warf ihm den Stock vor die Füße. Der Mann nahm den Stock und schleuderte ihn. Also tierliebend. Das wiederum war besser.

Durch die klare Luft hörte ich jetzt deutlich das Wumm-wumm-wumm der Mühle. Aber kein Mühlrad war sichtbar. Natürlich nicht — wer hatte heute noch Mühlräder? Turbinen wahrscheinlich. Ich richtete mein Glas auf das andere Gehöft. Das war bedeutend größer und stattlicher. Große Bretterstapel davor und Berge von Kästen, deren frisches Holz honiggelb in der Sonne leuchtete. Jetzt auch der helle Schrei einer Säge. Aha! Das eine war eine Mehlmühle, das andere eine Sägemühle. Kein Hund auf der Sägemühle, nur ein paar Hühner. Tja, Hunde und Hühner mußte man überall erwarten.

Ich setzte seufzend das Glas ab, stieg wieder ein und ließ >Prächtig< langsam ins Tal hinuntergleiten. Als ich vor dem Haus hielt, trat der magere Mann, gefolgt von seinem Hund, an die Wagentür heran. »Aha, da sind Sie ja«, sagte er, »meine Base hat mir schon telefoniert.«

Die vom Hügel aus gesichtete Unterjacke war etwas schmuddelig, aber er hatte gute braune Augen. Die Haare auf dem Kopf bildeten einen ungekämmten Wirbel. Er war unrasiert und hatte eine leichte Stichflamme. Alles zusammen war mir ausgesprochen sympathisch. Ich wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick brausten zu beiden Seiten meines Gesichts Cocki und Peter durch das geöffnete Fenster und stürzten sich auf den Hund, der sie hochbeinig überragte und zunächst grimmig die Zähne entblößte. Meine beiden nahmen davon jedoch nicht die geringste Notiz. Cocki roch ihm in die Schnauze und stieß sein Bernhardinergrollen aus, Peter entblößte nur schweigend sein Haifischgebiß und steckte die Höllenlichter in den Augen auf. Dann legte er dem Großen die Arme um den Hals, während der Dicke ihn sich von hinten vornahm. An ihm entlangrutschend, prallten sie an seiner Mitte gegeneinander und fauchten sich an. Der Große, absolut nicht geachtet und als Gebrauchsgegenstand behandelt, sah uns ratlos und erstaunt an. Ebenso erstaunt war sein Herrchen. Es kratzte sich auf dem Kopf und sagte dann voll tiefer Verwunderung: »Jadaleckstmigleiamorsch!«

Ich dachte nicht länger darüber nach, an wen diese Aufforderung gerichtet war. Mir genügte, daß sie fiel, denn sie gilt in Bayern als Beweis dafür, daß es gemütlich wird. Der Mann sah mich an. »Zollo heißt er«, sagte er, noch immer ziemlich ratlos, und meinte damit seinen Hund, »sonst ist er nämlich sehr scharf und läßt so leicht keinen anderen Hund ‘ran!«

»Na, Hauptsache, sie vertragen sich«, meinte ich.

In der Tür erschien eine dicke Frau mit weißer Schürze und blauen Augen. Ich ging auf sie zu und schüttelte ihr die Hand: »Grüß Gott, Frau Widderhals — nehme ich wenigstens an!«

Sie nickte. Ich zeigte mich außerordentlich begeistert: »Also da schau, das ist die Mutti Widderhals. Kommt mal her, ihr beiden, sagt mal schön guten Tag.«

Die beiden dachten gar nicht daran. Der Dicke hatte Zollos Knochenlagerplatz entdeckt und war schon damit beschäftigt, die besten Stücke einzugraben. Peter musterte mit schiefem Kopf eine Truthenne, die feierlichen Schrittes an ihm vorbeiging. Offensichtlich erwog er, ob eine Schwanzdemontage notwendig sei.

»Zwei Stück?« fragte die dicke Frau und zog die Stirn in Falten. »Ich dachte, nur einer!«

»Ach geh, Alte«, sagte der Mann, »die sind richtig. Laß mal.«

In diesem Augenblick tat sich eine Tür zur Seite auf, und es entströmten ihr hintereinander drei weitere blonde Mädchen.

»Alles eigene Produktion?« fragte ich den Mann.

Anselmus kniff ein Auge zu: »Immer auf Jungen gearbeitet, und jetzt habe ich den Weiberstall am Hals! Also, hier die Älteste ist die Kathrein.« Das zuerst gesichtete Wesen mit der Haar kröne drückte mir fest die Hand und sah mich ebenso fest an. »Sie ist Hausschneiderin!« erklärte der Vater stolz. »Und das hier ist die Marianne.« Es war eine etwas schlankere und sanftere Ausgabe von Kathrein. »Sie macht mit der Mutter die Wirtschaft. Und das hier ist Zenzi. Sie soll mal ins Gymnasium und Klavierspielen lernen, und zeichnen kann sie auch sehr schön.« Zenzi hatte einen prachtvollen langen Zopf vorn über der Bluse und machte einen Knicks, als sie mir die Hand gab. Ihre Augen waren tiefblau.

»Und das hier ist Polli«, sagte abschließend der Vater und deutete auf etwas enorm Dickes, ungefähr Zehnjähriges mit Apfelbacken. Es schüttelte mir die Hand wie ein Ringkämpfer und grinste mich genauso verschlagen an wie der Vater. Der seufzte jetzt: »Also, da wollen wir mal ‘reingehen und über das Geschäftliche reden. Ihr ladet inzwischen aus! Und du, Mutter, bist wohl so nett und kümmerst dich um das Abendbrot für unseren Gast.«

Er führte mich in ein Eckzimmer, das die Spuren starker Benutzung zeigte, aber sonst blitzsauber war. Schöne Eichenmöbel. Sobald wir allein waren, grinste er mich wieder auf Gaunerart an, ging zum Schrank, holte eine dunkelgrüne Flasche ohne Etikett und zwei Gläser heraus und meinte: »Na, dann wollen wir mal erst!«

Wir stülpten die erste Serie. Mir blieb etwas der Atem weg.

»Gell, da staunst?« sagte er. »Selbstgebrannt, fünfzig Prozent. Na, noch mal, weil’s so schön war!«

Wir stülpten die zweite Serie. Die bekam mir schon bedeutend besser. Ich geriet in eine Art hellsichtigen Zustand, und ein ungeheurer Optimismus breitete sich in mir aus. Draußen war ein Geräusch. Er räumte schnell Gläser und Flasche weg und setzte sich mit Sorgenmiene an den Tisch. Kathrein erschien, schnupperte in der Stube umher und ging mit einem Lächeln in den Mundwinkeln wieder ‘raus. Beim Rausgehen strich sie dem Vater über den Kopf. So richtig nett. Nach fünf Minuten waren wir über alles einig, und eine Stunde später saß ich vor meinem Abendbrot im Wohnzimmer. Die Familie tafelte derweilen in der Wohnküche jenseits des Ganges. Nach drei Bissen nahm ich mein Bier und meine Aufschnittplatte und ging hinüber: »Das ist mir viel zu stumpfsinnig allein«, sagte ich, »darf ich bei euch...?«

Polli rückte beiseite, und ich quetschte mich an den Tisch. Drüben gab es Leberknödel. Ich tauschte von Polli zwei Stück gegen rohen Schinken und Käse ein, und dann futterten wir zufrieden wie eine glückliche Familie. Die Abendsonne warf roten Schein auf die Kuckucksuhr, die drei Hunde gingen einträchtig kassieren, im Hintergrund rumorten die Turbinen — ich kam mir vor wie der verlorene Sohn nach der Heimkehr.

Schließlich, als wir mittendrin waren, polterte es, und es erschien ein mächtiger Brocken von jungem Burschen. »Das ist der Matthias«, erklärte mir Meister Anselm, »unser Müllerbursch. Er bläst in der Trachtenkapelle!« fügte er stolz hinzu.

Matthias quetschte mir die Hand und sich selber dann auch noch an den Tisch. Nach dem fünften Leberknödel schien er einigermaßen in Fahrt zu kommen. Es waren aber keine weiteren mehr da, und so stillte ihn die Mutter mit drei kalten Kartoffelpuffern. Anschließend machte ich noch einen Abendspaziergang und fiel dann in ein großes Nußbaumbett. Von der Wand sahen mich Vater und Mutter Widderhals an, als Brautpaar. Er mit hochgedrehtem Schnurrbart, sie als Schmaltier mit Kränzchen. Koloriert. Mußte mal ein bildschönes Kind gewesen sein.

Ich hatte Peterchen und den Dicken vor den Augen Kathreins ostentativ auf ihre Deckchen gelegt. Natürlich wollten sie zu mir ins Bett, aber diesmal ließ ich es nicht zu. Es war so schön sauber und frisch hier und die Leute so nett. Wir einigten uns auf der Mitte, das heißt, sie schliefen auf dem Sofa unter dem Brautpaar.

Als ich aufwachte, war es neun Uhr fünfzehn, und die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich richtete mich auf und brauchte eine Weile, um mich zu orientieren. Die beiden auf dem Sofa schliefen noch wie die Säcke. Da ertönte ein schriller Trompetenton. Peter war sofort hoch und knurrte. Auch der Dicke hob den Kopf. Noch ein Ton. Er rutschte zum Schluß ab und ging mir in die Zähne. Ich stand auf und trabte ans Fenster. Auf der Bank vor dem Haus saß Matthias und blies. Neben ihm Zollo mit schiefem Kopf. Rundherum wanderte das Geflügel. Im Hintergrund grunzte etwas. In einer tollen Fahrt kam eine dicke Sau angeschossen, durchfuhr die auseinanderstiebende Geflügelwolke, stürzte auf die Wiese, blieb dort unvermittelt stehen, sah sich um, schlug einen Haken und war weg. Nur die Truthenne hatte ihre erhabene Ruhe bewahrt und sah ihr von der Höhe ihres Turmhalses verächtlich nach.

Wir turnten zu dritt. Dann machte ich die beiden zurecht, erntete mit dem Staubkamm zweiundzwanzig Zolloflöhe, wusch mich und zog mir was Nettes an, um Eindruck zu schinden. Außerdem fiel mir ein, daß Sonntag war. Während der ganzen Zeit übte Matthias >Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus<. Dabei blieb er immer an derselben Stelle stecken. Schließlich gab er es auf und überbrückte sie mit einem Triller, der aber auch zum Schluß abrutschte. Es war rührend und erschütternd zugleich. Als ich herauskam, erschreckte mich Anselmus mit einem blütenweißen Hemd, allerdings ohne Schlips und unten mit Pantoffeln. Er schob den Zigarrenstummel von der einen Mundecke in die andere, schüttelte mir die Hand und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Dort war das Frühstück gedeckt mit zwei großen, frischen Eiern und Blumen.

Im ersten Stock jetzt weibliches Gezeter. Er grinste und zeigte mit dem Daumen nach oben: »Sie haben Polli eingefangen und zum Kirchgang gewaschen, das hat sie nämlich nicht gern!«

Dann großes Gepolter, und herunter wälzte sich der weibliche Teil der Familie, voraus die Mama. Sie trug eine Art Zylinder, von dem zwei lange gestickte Bänder über ihre im Trachtenmieder gebändigte mütterliche Fülle hingen. Hinter ihr der gesamte Jungfrauenverein, freundlichen Gesichts und mich hoheitsvoll begrüßend.

»Kirchgang!« sagte Anselmus und drehte scheinheilig die Augen nach oben: »Ich muß leider in der Mühle bleiben!«

»Wenn du nicht die Ausrede hättest!« sagte Kathrein.

Als letzte kam Polli, noch vom Waschen her mit hängender Unterlippe. Als sie an mir vorbeiging, kniff sie kollegial ein Auge zu. Während sich die Familie einen Moment am Ausgang staute, kratzte sie sich ungeniert am Po. Etwas schien mit der Hose nicht in Ordnung zu sein. In der anderen Hand hatte sie dabei das Gesangbuch.

Nachdem der Harem in Richtung Kirche abmarschiert war, setzten wir beiden Männer uns nach Vertilgung des Frühstücks auf die Bank vor dem Haus. Ich schmiß die Zigarren und Anselmus zwei Schnäpse. »Finden Sie nicht, daß es schon ziemlich kühl ist?«

Vor uns breitete sich das Tal, ein wahrhaftiges Paradies. Kleine dunkle Tannen am gegenüberliegenden Hang, smaragdgrün davor die Wiese mit hohem Gras, der Glitzerbach dazwischen, dazu das Stampfen der Turbinen. Peter und Zollo spielten eine Runde Haschemich über die Wiese. Wie doch der Peter laufen konnte! Laufen? Ein Fliegen war es. Das hohe Gras der Wiese schlug über ihm zusammen. Von Zeit zu Zeit schnellte er sich wie ein Delphin daraus hervor, um — auf der Höhe des Sprunges sich umblickend — die Orientierung zu gewinnen. Jetzt war er aus der Wiese heraus und schnellte sich mit einem gewaltigen Sprung, die Beine wie ein Rennpferd nach hinten gestreckt, über den Bach.

»Donnerwetter!« sagte Anselmus anerkennend. Ich barst innerlich vor Stolz. Mein Peter! Dann setzte sich Zollo zu Herrchen, und Peter wanderte weiter über die Wiese, genau wie daheim vorsichtig die Beine zwischen den Blumen setzend und ab und zu einer verspäteten Biene nachschauend.

Und dann kam wieder die Sau. Sie näherte sich dem Stacheldrahtzaun der Wiese, ein gewaltiger, lehmbekrusteter Brocken mit Riesenohren, die ihm vor den Augen schaukelten. Jetzt hatte sie in der Nähe von Peter eine feuchte Stelle gefunden, die sie mit der Gummischeibe ihres Rüssels aufwühlte, wobei sie kurze, sachverständige Bemerkungen vor sich hin grunzte. Der kleine Löwe wurde aufmerksam, zumal sie Kurs auf seine Knochen nahm. Er ging ihr mit drohend gerunzelter Stirn entgegen, und Peter als sein Adjutant schnellte sofort an seine Seite.

»Na«, sagte ich besorgt, »hoffentlich tun sie dem Schwein nichts!« Ich wollte aufstehen, aber Anselm hielt mich fest: »Lassen Sie nur — passen Sie mal auf!«

Meine beiden waren jetzt auf zehn Meter an die Kotelett-Lokomotive heran. Cocki, siegessicher in der Erwartung, daß er sie wie alles andere Getier mit dem ersten Kriegsruf in die Flucht schlagen würde, brüllte sie an, und Peter röhrte pflichtschuldig mit.

Die Lokomotive hob den Kopf, und zwischen ihren enormen Schaukelohren erschienen zwei tief eingesunkene, verplierte wasserblaue und sehr unfreundliche Augen. Cocki brüllte wieder und fuhr auf sie los. Die Lokomotive machte eine schattenhaft schnelle Bewegung mit dem Kopf, worauf er in die Luft flog und sich zweimal überschlug. Er stand völlig verdutzt wieder auf und hatte gerade noch Zeit, sich durch einen Sprung in Sicherheit zu bringen. In der nächsten Sekunde brausten zwei Zentner Schweinefleisch mit gefletschten Hauern an ihm vorbei. Dann nahm die Lokomotive Peter aufs Korn, der mit eingeklemmtem Schwanz in die Wiese floh und in Sekundenschnelle zu einem Punkt zusammenschrumpfte. Die Sau beroch die Stelle, an der die Hunde gestanden hatten, und grub sie mit ihrer Scheibe um. Dann kroch sie unter dem Zaun durch, kam zu uns heran und rieb sich an unseren Knien. Anselm tatschte ihr auf den Rücken: »Na, Susanne?« Susanne roch an Zollo, der artig die Ohren nach hinten legte und auf jede Weise zu zeigen versuchte, daß er keinerlei bösartige Absichten habe. Dann trollte sie sich. Noch ihr Hinterteil mit dem kümmerlichen Ringelschwanz drückte vollkommene Beherrschung der Situation aus.

Erst nach einer ganzen Weile erschienen meine beiden. Sie waren ungeheuer artig, quetschten sich an meine Knie und warfen besorgte Blicke um die Ecke.

Anselm lachte: »Na, da seid ihr an die Unrechte gekommen, ihr Rowdys, was?« Er nahm die Ohren des kleinen Löwen und zerrte sie derb. Der Dicke reichte ihm eine Tatze, während Peterchen reserviert an seinem Hosenbein roch und dann Männchen vor ihm machte.

»Wollen Sie sich mal die Mühle ansehen?« fragte Anselm. Ich tat es. Mein Haupteindruck war, daß alles automatisch ging. Anselmus bestätigte das. »Den Rest macht Matthias«, erklärte er und grinste wieder mit jener Gaunerhaftigkeit, die, wie ich immer mehr fühlte, ein ganz und gar goldenes, weiches Männerherz verbarg. »Und ich passe so auf, daß alles in Ordnung geht.« Er haute mir auf die Schulter: »Man muß sich eben das Leben einrichten, so gut es geht.«

»Ich habe den Eindruck, daß Ihnen das gelungen ist«, erwiderte ich.

Dann machte ich einen langen Spaziergang mit den beiden, schrieb einen Brief an die Mama und einen an Frauchen und packte schließlich meinen Roman aus. Als ich das Papier auf den Tisch legte und den Füller daneben, hatte ich zum erstenmal seit den trügerischen Tagen in Waldenau das Gefühl: Es wird gehen, hier wird’s bestimmt gehen! Gleich fiel mir etwas ein, und ich schrieb in einem Ruck das letzte Kapitel, bis die Mannschaft vom Kirchgang zurückkam und Bratenduft das Haus durchwölkte. Wir aßen, bis wir nur noch stöhnten. Hinterher ging ich wieder in den Wald, Brombeeren pflücken. Am Abend feilte ich etwas am Roman, dann zog Anselmus mit mir in die Dorfkneipe, um mich dem Stammtisch vorzustellen. Am besten gefielen mir der bucklige Briefträger und der verwegen aussehende Filzer-Loisl, der sein Haus ganz oben am Hang hatte und voll lustiger Geschichten steckte. Beim Trinken behielt er das Federhütl auf. Die Hunde benahmen sich einigermaßen, und Anselm und ich gingen Arm in Arm heim. Ein schöner Abend. Schließlich fiel ich in mein Nußbaumbett und sagte laut in die Stille: »Kerl, geht’s dir gut! Du mußt dich ja schämen!«

Um acht, als wir drei erwachten und ich den Fenstervorhang zur Seite schob, stand draußen eine graue Wand: der erste Herbstnebel. Nach dem Frühstück brachte ich meinen Roman zur Post und wanderte dann so einfach ins Blaue hinein. Die große Nebelglocke, die über dem Tal hing, erleuchtete sich von innen her und wurde zu einer Alabasterschale. Dann begann es nach oben türkisblau und violett zu schimmern, und schließlich, mit einem Ruck, riß das Ganze auseinander, und die ineinandergekneteten dunklen Riesenschroffen des Dreitausenders ragten da oben in den seidigen Septemberhimmel.

Wir wanderten weiter bergab über die Forellenalm. Ich trank ein Glas Milch, Peterle machte drinnen im Haus bei Mizi, der Sennerin, Männchen, und Cocki brüllte die Kühe an. Die aber ließen sich keineswegs in die Flucht schlagen, sondern kamen mit gesenkten Hörnern auf ihn zu. Ich hatte mich auf einen Holzstapel gesetzt und sah mir dieses Theater an. Da flüchtete sich der Dicke auf meinen Schoß, und ich sah mich plötzlich von gehörnten Häuptern umzingelt, über deren Gedankeninhalt ich mir nicht ganz klar war. Unter anderem war ein junger Stier dabei, der einen recht unternehmungslustigen Eindruck machte. Aus seinem Schädelgehäuse wuchsen kurze, schwere Hörner, und meine stets bereite Phantasie malte sich aus, wie es sein mochte, davon bearbeitet zu werden. Ich rief nach der Sennerin, aber die war ja in der Hütte und hörte mich wohl nicht. Statt dessen kam Peterle heraus und sah sich suchend um. Ich rief abermals — da hatte er mich entdeckt. Er stutzte. Kühe waren ihm immer unsympathisch gewesen. Er wich ihnen stets in weitem Bogen aus. Jetzt stand er zaudernd da.

Der junge Stier streckte schnaubend den großen Kopf gegen mich. Der Dicke fletschte schweigend die Zähne, wagte aber nicht zu bellen, sondern preßte sich eng an mich. Er zitterte. »Na na!« sagte ich und krabbelte den Stier auf der Nase. Er senkte den Kopf. Ich wußte nicht, wollte er stoßen oder auch zwischen den Hörnern gekrabbelt sein. Ich nahm zunächst mal das letztere an und krabbelte ihn, worauf er mit den Vorderhufen auf die unterste Holzlage stieg und uns beiden nun noch näher war. Mir begann ganz ungewöhnlich mulmig zu werden, und ich verspürte ein gewisses Drängen in den Eingeweiden. »Höööh!« rief ich laut, wie ich es von den Hirten gehört hatte. Der Kreis der Kühe wich etwas nach außen. Aber der Stier rührte sich nicht.

»Mizi!« rief ich. »Mizi!« Keine Antwort.

Und dann plötzlich kam Peterle. Er stieß sein tiefstes Röhren aus und stürzte sich in den Ring der Kühe. Sie wichen zur Seite und senkten die Hörner gegen ihn. Aber er war wie ein Blitz unter ihnen und fuhr ihnen gegen die Schnauzen. Da gingen sie zur Seite, galoppierten davon und schlugen nach allen Richtungen mit den Hinterhufen aus. Darauf stürzte sich Peter auf den Stier und kniff ihn ins rechte Hinterbein. Das Riesenvieh war mit einem Satz vom Holzstoß herunter und ging auf Peter los. Aber ehe er noch die Hörner ganz herunter bekam, hatte er den kleinen schwarzen Hund wie eine Natter an seiner empfindlichen Schnauze hängen. Er brüllte kurz auf und hob den Kopf. Peter ließ sich herunterfallen und saß ihm nun wieder am rechten Hinterbein. Der Stier schlug aus, Peterchen flog wie ein Bündel weg und überschlug sich dreimal. Er hinkte, als er aufstand, aber er ging wieder zum Angriff vor.

Es war nicht mehr nötig. Der Stier trabte ärgerlich weg und begann in der Entfernung zu grasen. Peterle blieb stehen, das Schwänzchen jetzt gekrümmt, das linke Hinterbein hochgezogen. Ich kletterte von dem Holzstapel herunter. Mizi kam aus der Hütte: »Sie haben gerufen?«

Ich wollte ihr schon Peterchens Heldentat erzählen, aber dann dachte ich an die gebissene Schnauze des Stiers.

»Ich wollt’ nur zahlen«, sagte ich.

»Zwanzig Pfennig.«

»Servus, Mizi!«

»Pfüat di!«

Wir stiegen weiter bergab, bis wir außer Sicht waren. Dann setzte ich mich hin und lobte ihn maßlos: »Peterle, du bist ein Held, ein ganz richtiger, weil du doch solche Angst hattest und uns trotzdem zu Hilfe kamst! Ein Held ist, wer es trotzdem tut!« Dann massierte ich vorsichtig seinen Hinterschenkel. Als ich ihn auf die Erde setzte, ging’s schon wieder.

Nach einer halben Stunde waren wir bei den Brombeerhecken. Sie wuchsen am Rand der unteren Alm, dort, wo schon wieder der richtige Wald anfing. Es waren Riesendinger, kohlschwarz, eiskalt und wunderbar süß. Ich ging in die Hocke und futterte drauflos. Peterle hatte erst einen Maulwurfshügel aufgegraben, und der Dicke hatte das gleiche zwanzig Meter entfernt getan. Dann war er zu Peter herübergewatschelt und hatte ihn von seinem Loch vertrieben. Peterle kam mißmutig zu mir, das schwarze Naschen noch ganz mit Erde verkleistert, und setzte sich neben mich. Seine Augen beobachteten aufmerksam, wie ich die Beeren futterte. Dann legte er mir ein Fliegenbein aufs Handgelenk und streckte einmal kurz die Zunge heraus: »Laß mich mal kosten!«

Ich gab ihm eine Beere, er probierte sie einen Moment vorsichtig, dann schmatzte er sie mit selig geschlossenen Augen. Wieder das Fliegenbein: »Mehr, schmeckt gut!«

Ich schob eine ganze Fuhre nach. Er leckte sich genießerisch die Schnauzenwinkel, und der Saft lief ihm genüßlich in das rote Bärtchen.

»Mein Held«, sagte ich, »mein Fünfzig-Pfennig-Held, mein kleines, süßes Äffchen! Seit wann bist du denn unter die Vegetarier gegangen? Hier...«

Nach der fünften Lieferung stand er auf. Ich vertiefte mich weiter in die schwarze Pracht, bis ich nicht mehr konnte. Dann setzte ich mich auf einen Baumstumpf und sah um mich. In der Beuge des Stumpfes wuchs ein Fliegenpilz, knallrot mit dicken weißen Zuckerbrocken bestreut, wie aus dem Märchen. Was machte denn Peter da? Er stand im Brombeergesträuch, den einen Vorderfuß vorsichtig hochgehoben, wegen der Dornen, steckte sein Schnäuzchen ganz behutsam in das Gerank und fraß auf eigene Rechnung Brombeeren. Dabei klappte er die Lefzen hoch und zog sie ganz vorsichtig mit den Haifischzähnen von den Zweigen. Jetzt kam auch der Dicke, der ungefähr einen halben Meter tief in der Erde verschwunden war und das Herausgebuddelte sehr enttäuscht beschnuppert hatte. Er streifte mich mit einem kurzen Blick. Seit dem Erlebnis mit den Kühen war er etwas verlegen, als fühle er, daß seine Rolle dabei nicht gerade rühmlich war. Dann ging er zu Peter hinüber, sah ihm zu und begann schließlich auch Brombeeren zu fressen. Er tat es jedoch nicht so vorsichtig, sondern brach krachend in das Dornengesträuch, Ranken, die ihm im Wege waren, ärgerlich zur Seite tatzend. Dann schmatzte er wie ein Eber. Der rote Saft lief auch ihm an den Lefzen heraus.

Ich stand auf und trollte mich in den Wald. Sofort war Peterchen wieder bei mir. Er stelzte ernst an meiner Seite und sah zu mir auf: »Werde mal ‘n bißchen auf dich aufpassen, du scheinst es ja nötig zu haben!«

Die Tage verrannen golden und entrückt. Ich schrieb ein paar Briefe, fing eine Novelle an. Wenn ich müde vom Schreiben war, erkundete ich die Umgebung. Zum Sägewerk nebenan, das einem Herrn Hürzinger gehörte, ging ich aber nur, wenn ich Gocki von dort holen mußte. Die Atmosphäre drüben war abweisend. Es war wie ein fremdes Land, obwohl es nur ein paar Meter vor unserer Tür lag. Dagegen wuchs ich immer mehr mit den Widderhälsen zusammen. Die Mutter erzählte mir, daß ihnen vor zehn Jahren ein Sohn geboren wurde. Aber er starb bald. Ich sah sie an, wie sie da neben mir auf der Bank saß, ihr schönes, reines Profil von einem Schmerz überschattet, der im Laufe der Jahre zu einer erhabenen Trauer ausgeglüht war. Trotz der vier anderen Kinder war es also unvergessen, dieses kleine Wesen. Es lebte noch immer im Herzen dieser Mutter, lebte mit allem, was es hätte werden können, wenn der Tod es nicht so früh in seinen dunklen Mantel gehüllt und auf sein Geisterroß gehoben hätte. Die Kathrein fragte mich, ob sie den Matthias nehmen solle. Ein lieber Kerl sei er wohl und ein guter Arbeiter, aber ein halbes Jahr jünger. »Ich schlag nach der Mutter«, erklärte sie freimütig, »nach dem ersten Kind werd’ ich wahrscheinlich dick und nach dem dritten...« Sie seufzte, dann blickte sie mich mit den großen blauen Augen der Mutter an: »Es gibt viele Frauen — die meisten sogar —, die trösten sich dann, wenn der Mann nach anderen schaut, und sagen sich: Ich habe doch die Kinder! Aber ich nicht. Wenn ich einen Mann nehme, will ich ihn ganz für mich. Was hat’s denn sonst für einen Zweck?«

Ich entrang meinem Hirn einen Trost: »Vielleicht mag der Matthias aber gerade so was — hm — Molliges?«

Sie schürzte die Lippen: »Ach, was weiß denn so ein junger Kerl, was er mag! Auf jeden Fall werde ich mir meine Schneiderei halten, damit ich immer was Eigenes hab’.«

Marianne, die zweite, war bedeutend schlanker als Kathrein und hatte einen jungen Schreiner aus Stephanskirchen, der sonntags mit dem Motorrad kam. Ein mittelgroßer, drahtiger, dunkelhaariger und lustiger Bursche. »Die Mädels laufen ihm nach wie wild«, seufzte sie sich bei mir aus. »Möcht’ wissen, was er an mir hat!«

»Vielleicht liebt er Sie, Marianne?«

Sie sah mich erstaunt an: »Liebt?« Sie sann in die Ferne, und ich glaubte in ihrem Gesicht die Spuren aufkeimender zärtlicher Erkenntnis zu spüren. »Der Vater«, sagte sie, »könnte ihm das Holz drüben vom Hürzinger billig besorgen, und den Strom haben wir ja umsonst. Da könnte er hier seine eigene Schreinerei anfangen, und ich könnt’ der Mutter noch helfen.«

Ich belächelte meine romantische Phantasie. Die Ehe war hier etwas ganz anderes. Handfeste Verbindung von Interessen. Sehr genau schätzte man sich gegenseitig ab, und war’s nicht der, war’s eben ein anderer. Liebe? Aber war das vielleicht nicht viel gesünder, als wenn man mit einer Illusion anfing und in Enttäuschung endete? Wer, im übrigen, gab mir das Recht, anzunehmen, daß nicht trotzdem Liebe dabei war? Sie waren nur vorsichtiger mit den großen Worten, diese Menschen hier.

Die Zenzi, dreizehn Jahre alt, war ganz anders. Zierlich und schmal, wohl nach dem Vater geschlagen. Ihren Schwestern fühlte sie sich weit überlegen. »Die haben nichts als ihre Burschen im Kopf, die dummen Ziegen.« Worauf sie mir trotz aller Altklugheit auf den Schoß kroch und ihren Zeichenblock entfaltete. Was für schöne, lange Hände sie hatte! So leicht war sie auf meinen Schenkeln, so golden das Haar, etwas ins Bräunliche schimmernd, und ihre Wangen mit einem ganz leichten Flaum bedeckt, wie Pfirsiche. Der kindlich schmale Nacken unter dem schweren Zopf. Ein tiefer Zweifel und eine Sehnsucht wurden in mir wach: Wie wäre das, alter Junge, wenn du auch so was hättest, so ein kleines Wesen aus deinem Blut? Ich riß mich zusammen. Das Schicksal hat es dir nicht beschert. Hadre nicht schon wieder mit ihm! Sie zeigte mir ihr Lieblingsblatt, ein Porträt der einsamen Pute. >Agathe< stand darunter, und die Zeichnung war verblüffend echt in der Haltung. Zweifellos hochbegabt.

»Heißt sie Agathe?« fragte ich.

Sie sah mich erstaunt an: »Natürlich — wie sonst?«

»Natürlich«, sagte ich. Ich brauchte nicht einmal zu schwindeln. Agathe war der einzig richtige Name für diesen gravitätisch schreitenden Federturm, um den die Tragik der Kinderlosigkeit wehte. Schon wieder Kinderlosigkeit!

»Na, zeig mal das nächste«, sagte ich schnell.

Auch die Polli kroch gern auf meinen Schoß. Die Begegnung mit ihrem Innenleben war erholend unproblematisch.

»Was willst du denn mal werden?« fragte ich sie.

»Nix!« erwiderte sie fröhlich, während ihre Wurstfinger mit tiefschwarzen Nägeln an meinem Schlips zupften.

»Von nix kann man schlecht leben.«

»Ach, doch!« Sie dachte einen Moment angestrengt nach. »Vielleicht gewinn’ ich im Fußballtoto!«

»Spielst du denn?« (Blöde Frage.)

»Matthias spielt — für mein Taschengeld.«

»So. Na, und wenn du gewinnst?«

»Kauf’ ich mir ‘ne Konditorei!«

5

Und dann, eines Vormittags, brachte mir der bucklige Briefträger drei Briefe.

Der eine war von der Gefährtin. »Was ist mit unseren dreien?« schrieb sie. »Ich hätte gern einen von ihnen genommen, aber ich bekomme jetzt Extensionen, das heißt, ich werde unter den Armen aufgehängt, und ein dicker Masseur hängt sich unten dran. Alles mit dem Ziel, mein Rückgrat auszurenken und dadurch wieder in die richtige Form zu bekommen. Das ist ziemlich schmerzhaft und ziemlich anstrengend, und oft liege ich den ganzen Tag danach. So kann ich leider keinen der Hunde hernehmen, ganz abgesehen davon, daß die Hin- und Rückreise sehr teuer wäre.«

Der andere Brief war von Sophie aus München, einem älteren Mädchen, mit dem uns eine vieljährige Freundschaft verband. Sophies Tragödie bestand darin, daß sie einen Meter dreiundneunzig lang war und infolgedessen bis dato keinen Abnehmer gefunden hatte. Jedenfalls keinen, der ihr zusagte. Einmal war einer mit zwei Meter zehn gekommen, aber der hatte ein Leberleiden, lebte diät und war deshalb ständig schlechter Laune. Später war ein kleiner Ehrgeiziger, Dicker mit einem Meter zweiundsechzig aufgetaucht, aber das war ihr denn doch zu albern.

»Warum nimmst du ihn denn nicht?« hatte ich sie damals gefragt, brüderlich bedacht auf ihr Wohlergehen.

»Ich möchte nicht gefragt werden: >Was hängt Ihnen denn da an der Seite ‘raus — ach so, ist ja Ihr Mann!<« hatte sie erwidert.

Die gute Sophie — pflichtgetreu, ordentlich, sauber, ein unheimlicher Arbeiter und ein Mensch voll ätzender Selbstkritik, der ein besseres Schicksal verdient hätte. Sie habe, schrieb sie, eine neue Stellung in Bremen gefunden und gedenke, in Kürze dorthin zu übersiedeln. Wie es uns denn gehe. Sie habe sich oft Gedanken gemacht und so weiter und so weiter. Na ja, also schön.

Der dritte Brief war von der Mama: »Mein lieber Junge, es geht mir ja soweit ganz gut, aber leider kann ich nicht dasselbe von Weffi berichten. Das arme Tier geht vor Sehnsucht kaputt. Er frißt kaum und rennt auf jeden langen Lulatsch zu, weil er glaubt, Du bist es. Das Gesicht solltest du sehen, wenn er dann merkt, daß Du es nicht bist! Die Rippen stehen ihm schon heraus, und er ist so schwach, daß man ihn mit einem Finger umwerfen kann. Ich weiß nicht, was Du machen willst, aber Du mußt etwas für ihn tun. Komm her. Es umarmt Dich Dein altes Mulleken.«

Ich starrte auf diesen Brief und sah dann zum Fenster hinaus.

Was jetzt? Mit einem dritten Hund konnte ich hier unmöglich auftauchen. Den Dicken bei der Mama lassen? Dieser reine Jagdhund, dieser Oberbummler und völlig unzähmbare Diktator — mit der Mama?! Einer ging dabei sicher drauf, und zwar sehr schnell.

Erst mal hin, um mein Holzpferdchen zu retten. Während ich in aller Hast >Prächtig< klarmachte und die beiden auf dem Rücksitz verstaute, mußte ich unentwegt an Weffi denken. Da lebte das so mit seinen stillen braunen Äugelchen und Zottelbeinchen und seiner albernen Trompetenkläffe und sah aus, als könne es nicht bis drei zählen. Und läßt man’s dann mal allein, dann stellt sich heraus, daß es voller Liebe ist, voll so großer Liebe und Treue, daß es einfach daran stirbt. »Die Rippen stehen ihm schon ‘raus. Sein Gesicht solltest Du sehen.« Oh, ich sah sein Gesicht. Es schwebte immer vor meiner Motorhaube, schob sich zwischen mich und alle Schönheit, die sich im Dahinrollen immer neu und immer großartiger entfaltete.

Eine Doppelzeile von Lärchen schob sich einen goldfarbenen Hohlweg entlang. Er öffnete sich in eine Ebene mit den Riesentürmen des Dreitausenders im Hintergrund. Uns entgegen trieb man das Vieh von der Alm. Die Kühe mit bunten Bänderkronen zwischen dem Gehörn, die Leitkuh gar mit einem Goldgeflecht und Glöckchen. Schon immer hatte ich einen solchen Almabtrieb mal sehen wollen. Aber selbst davor schwebten die braunen Äugelchen, die nach mir Ausschau gehalten hatten, Tag und Nacht.

Als ich in Waldenau ankam und vor dem Haus bremste, hörte ich Weffi drinnen bellen. Dann kam er den kleinen Gartenweg zur Tür gesaust. Einmal stolperte er über seine eigenen Füße, so schwach war er. Auf meinen Schoß, mich abgeleckt! Er zitterte. Ich faßte ihn an — wirklich nur noch Knochen und Fell. »Mein Pferdchen«, sagte ich, »mein kleines weißes Pferdchen, ich schwöre dir’s, nie wieder trennen wir uns!«

Die beiden anderen, die zunächst auf der Straße herumgerochen hatten, kamen jetzt auch wieder an den Wagen. Er sprang von meinem Schoß und beleckte beiden das Gesicht. Ich fand ihre Wiedersehensfreude ausgesprochen mäßig.

Jetzt kam auch die Mama. Ich winkte ihr zu: »Bin gleich wieder zurück!« Dann fuhr ich zum Fleischer und kaufte ein halbes Pfund Schabefleisch.

Wir saßen in der Stube. Sie sah aus — nun, eben wie ein Raum, den die Mama bewohnt: unendlich sauber und ordentlich, auf der Kommode mein Schafsgesicht und über allem ein leichter Lavendelduft.

Weffi hatte das Schabefleisch auf einen Sitz verschlungen. Jetzt balancierte er auf meinem Schoß und stieß auf. Nun, da die erste Rührung und Freude vorbei waren, senkte sich wieder die dunkle Wolke ratloser Sorge auf mich nieder. Das Hauptthema. »Was machen wir mit den Hunden?« hatte ich noch nicht berührt.

»Es gibt merkwürdige Dinge«, sagte die Mama. »Sieh dir das mal an, das kam gerade heute früh, von Tante Helene aus Bremen.«

Tante Helene — mein Gott! Die jüngste Schwester meines Großvaters. Eine flüchtige Vision aus meiner Kindheit stieg in mir auf: ein Altfrauenheim, fast genauso pedantisch sauber, wie die Mama das ihre zu halten pflegte, eine große Keksbüchse aus Milchglas mit blauen Buckeln und einem silbernen Deckel darauf, in die ich greifen durfte, sooft ich wollte. Es waren immer kleine Rosinenkuchen drin und >Russisch Brot<. Ich futterte davon, als ob ich seit vierzehn Tagen nichts mehr zu essen bekommen hätte. Und dann war da noch eine Attraktion: die ausgestopfte Leiche ihrer Möpsin Bella unter einer Glasglocke. Ein richtiger Mops noch!

»Meine lieben Kinder!« schrieb sie in ihrer festen, noch völlig jugendlichen Schrift. »Ich habe mit tiefstem Bedauern davon gehört, daß Ihr gezwungen wart, Euer schönes Heim aufzugeben. Dabei mußte ich an die schönen Tage denken, die ich im vergangenen fahr bei Euch verleben durfte, und wie glücklich ich war, daß Ihr Eure uralte Tante nicht vergessen habt. Vor allem mußte ich an das Peterle denken, und wie schwer Ihr es haben werdet mit den drei Hunden. Schickt mir das Peterle, ich würde glücklich sein, es Euch für eine Weile aufzuheben.«

Ich sah die Mama an: »Ausgerechnet Peterle — der geht doch erst recht ein!«

»Das ist nicht gesagt«, meinte die Mama. »Er lebt doch immer so ganz für sich. Ich glaube, dieser Brief ist ein Schicksalswink.«

»Und wenn du nun Peterle nehmen würdest?«

Ihre alten Augen sahen mich bittend an: »Ich kann’s nicht. Es geht nicht. Erstens würde er dir nachlaufen, und selbst wenn er’s nicht täte — dieses lebendige Tier, ich kann ihn doch nicht dauernd an der Leine führen. Ich würde vor Angst umkommen. Nein — es geht wirklich nicht!«

Ich blickte wieder auf den Brief: »Ihr müßt eine schöne große Kiste nehmen mit großen Luftlöchern, innen legt Ihr ein Kissen hinein, und ich hole ihn dann am Bahnhof ab.«

»Kiste!« sagte ich. »Peterle in ‘ner Kiste! Kommt überhaupt nicht in Frage. Er wird ja wahnsinnig, dieses kleine Seelchen.« Ich biß mir auf die Lippe: Peterle. Er machte vor Mamas Kommode Männchen, weil es daraus nach Schokolade roch. Ich konnte ihn gar nicht ansehen. Aber was sonst? Vielleicht hatte die Mama recht? »Es müßte ihn jemand hinbringen«, sagte ich schließlich.

»Das sind tausend Kilometer!« meinte die Mama. »Hin und zurück kostet es mindestens zweihundert Mark!«

»Moment«, sagte ich. »Du — ich habe eine Idee! Sophie hat mir gerade heute geschrieben, sie wird nach Bremen versetzt und fährt noch diese Woche. Sie muß ihn mitnehmen.«

»Sie wird sich schönstens bedanken«, sagte die Mama, »einen Hund mitzuschleppen!«

»Der Teufel soll sie holen«, sagte ich, »wenn sie’s nicht tut! Ich rufe sie sofort an.«

Ich sprang auf, rannte zur Post und errettete dort den Waldenauer Postbeamten vor einem Gähnstarrkrampf. Einmarsch eines Kunden, dreier Hunde und ein Ferngespräch nach München — er wurde direkt hysterisch. Ich erwischte Sophie in ihrer Firma, und ihre tiefe Stimme klang mir wie Musik, als sie sagte: »Das ist aber fein, Hannes, daß du anrufst! Kinder — ich habe ja so ein schlechtes Gewissen gegen euch, aber hier mit meinem Stellungswechsel und alles zusammenpacken.«

»Kann ich verstehen, kann ich verstehen, mein liebes Kind. Außerdem kann ich dir Gelegenheit geben, dein böses Gewissen völlig zu besänftigen.«

»So?«

»Ja. Kannst du Peterle mit nach Bremen nehmen?«

»Peterle?! Außer dreiundachtzig Koffern und einer kompletten Zimmereinrichtung auch noch ein süßes kleines Hündchen?«

Ich schwieg und hörte, wie sie Atem holte. Dann, als ich weiterhin nichts von mir gab: »Hallo — bist du noch da?«

»Ja.«

»Entschuldige, ich mußte erst mal Luft holen. Warum soll ich ihn mitnehmen?«

»Weil ich mit den drei Hunden nirgends unterkomme und weil — wenn Weffi allein ist — und weil Tante Helene in Bremen ihn nehmen will — und — ach, Sophie, ich bin’s müde. Seitdem wir Pech haben, hat plötzlich keiner mehr Zeit und keiner mehr Lust, und keiner kann und jeder muß erst mal. Vergiß es.«

Einen Moment war es ruhig im Hörer. Dann kam wieder ihre Stimme: »Hauptsache, du vergißt, Hannes, daß ich einen Moment vergessen hatte, was ich euch alles verdanke. Mein Zug geht morgen früh um acht Uhr drei, bring mir Peterle um sieben.«

»Aber es soll kein Opfer sein, Sophie.«

»Ist es nicht. Im Gegenteil. Eine prächtige Gelegenheit, meinen inneren Schweinehund zu bekämpfen.«

»Also gut, morgen um sieben.«

Ich hängte auf und schickte noch ein Telegramm an Tante Helene, daß sie Peterle am nächsten Tag von der Bahn abholen könne. Nur nicht denken, nur nicht denken. Wie ein Schlächter kam ich mir vor, wie ein Verräter.

Ich schlief die Nacht über auf einem wie üblich viel zu kurzen Sofa bei den Renkens, Cocki und Weffi auf dem Teppich davor. Nur Peterle schlief bei mir, weil ich infolge der Kürze des Sofas sowieso die Kniekehlen eingeknickt hatte.

Ich schlief schlecht, nicht nur wegen des Sofas. Dieser kleine Kobold da hinter mir — nun kam gerade er weg. Mein Fliegenbein, mein Jenseitsauge, mein geliebter kleiner schwarzer Teufel. Aber was sonst? — Fällt dir denn gar nichts ein, du Idiot? schrie ich mich an. Aber es fiel mir nichts ein. Schließlich riß ich mich zusammen: Wenn du so weitermachst, kannst du kein Wort mehr schreiben, und dann ist’s erst recht aus. Vielleicht hielt sich das Peterle tatsächlich am besten eine Zeitlang allein. Es würde ja hoffentlich nicht lange dauern. Außerdem sollte man vielleicht auch nicht übersentimental sein. Ein Tierchen wächst überall dort an, wo man gut zu ihm ist, wo es sein Fresserchen und seine Höhle hat. Und wenn das nun alles nicht stimmte? Na, gut, dann würde Tante Helene es mir schon schreiben und ich holte ihn zurück. Über zweitausend Kilometer? Jawohl — über zweitausend Kilometer!

Ich stand wieder auf, holte mir Papier und schrieb folgenden Brief an Tante Helene:

»Liebe Tante Helene!

Ich danke Dir für Dein hochherziges Angebot, unser Peterle zu nehmen. Es ist schon etwas Merkwürdiges um so eine Familie. Gewöhnlich ärgert man sich über sie und über die verschiedenen Niederträchtigkeiten, die man sich so in aller Unschuld antut, weil man doch nun mal miteinander verwandt ist. Aber wenn’s mal ganz hart auf hart geht, dann funktioniert doch und bis zuletzt — die Familie. Wenn es wirklich eine ist.

Ich nehme also Dein Angebot an und komme damit zu Peter. Bitte, nimm es mir nicht übel, wenn ich Dir so eine Art Gebrauchsanweisung gebe. Aber es ist ja schon einige Jahrzehnte her, seit Dein Mops in die ewigen Jagdgründe übersiedelte. Außerdem gibt es für die Behandlung von Hunden keine allgemein gültigen Regeln. Ich meine damit weniger das Fressen und die Körperpflege als das Seelische. Hunde sind womöglich noch größere Individualisten als die Menschen, das heißt, sie sind meist ungebrochener in ihrer Eigenart, weil es bei ihnen keine so gleichmacherischen Dinge gibt wie Büro, Fließband, Politik oder Mode. Peter zumal ist der Individualist aller Individualisten. Manchmal glaube ich, er empfindet so stark, liebt so heiß, daß er Angst hat, in seinem eigenen Gefühl zu ersticken. Darum wundere Dich nicht, wenn er sich aus Deiner Umarmung plötzlich losreißt. Es ist nicht Lieblosigkeit. Genau das Gegenteil. Peter ist ein Lauftier. Du brauchst Dir nur seine langen, schlanken Beine anzusehen und seine harten Schenkel zu fühlen. Über eine Wiese dahinzufliegen, ist ihm Rausch und Erfüllung eines seiner großen Lebensgefühle. Führe ihn deshalb so wenig wie möglich an der Leine, laß ihn toben! Je mehr Freiheit Du ihm gibst, desto williger wird er zu Dir zurückkehren.

Versprich ihm nichts, was Du nicht halten kannst. Man soll einen Hund ebensowenig enttäuschen wie einen Menschen, denn seine Seele ist wehrloser und weniger geschützt, weil stärker im Glauben als die unsere. Sage ihm nicht: >Wir gehen aufs Gäßchen<, und laß ihn dann zu Hause. Erzähle ihm nicht: >Herrchen kommt!< und dann komme ich nicht.

Es wird sowieso schwer genug für ihn sein. Ich darf gar nicht daran denken und frage mich Tag und Nacht, ob ich richtig daran tue, gerade ihn wegzugeben, und ob ich die Zeichen des Schicksals, das mir jetzt gerade Deinen Brief schickte, richtig gedeutet habe. Wie wenig man doch im Grunde von den wesentlichen Dingen weiß und was für ein armseliger Hanswurst man ist, wenn’s drauf ankommt!

Nur eines weiß ich, daß Du mir helfen willst, und das ist schon sehr viel. Hoffentlich wird es Dir mit Peterles Zuneigung vergolten. Sei lieb zu ihm.

Dein ziemlich unglücklicher

Hannes.«

Ich starrte auf das Papier. Mein Herz klopfte. Peterle seufzte, stand auf, drehte sich einmal um sich selbst und fiel dann wieder in sich zusammen.

»Was machst du denn da?« fragte die Mama von ihrem Bett her.

»Gebrauchsanweisung für Peterle.«

Die Mama sah gegen die Zimmerdecke: »Er wird es schon gut bei ihr haben.«

»Ja — hoffentlich.«

»Bist du fertig mit dem Brief?«

»Ja — das heißt nein. Ich möchte noch so viel schreiben, aber mir fällt nichts mehr ein.«

»Dann mach das Licht aus — und wüte nicht auf dir herum.«

»Ja, Mama.«

Am nächsten Morgen fuhr ich ohne Weffi und Cocki, nur mit Peterchen in die Hauptstadt. Abschied? Es gibt keinen Abschied zwischen uns, Peterchen, höchstens den einen, der uns von allem trennt.

Er genoß die Fahrt auf dem Sitz neben mir. Aber ab und zu streifte mich sein fragender Blick, und als wir in die Stadt einfuhren, drängte er sich eng an mich. Er fühlte, daß irgend etwas nicht stimmte! Sophie war schon fix und fertig, als sie mir die Tür öffnete. Wie üblich war ich überwältigt von ihrer Größe, der Blässe ihrer schmalen Lippen und der Trauer in ihren Augen. Ich nahm sie in die Arme und drückte ihr ordentlich einen auf. Sie stieß mich von sich: »Gefährde nicht die mühsam errungene Selbstbeherrschung einer alten Jungfer! Peterle, mein kleiner schwarzer Floh — komm mal her!«

Peter fuhr in dem Lift ihrer Arme einen Meter dreiundneunzig Zentimeter hoch bis in den obersten Stock und bekam dort einen Kuß. Er drehte die Negeraugen heraus und machte den Kopf schief, als wolle er sagen: »Wenn ich von hier ‘runterfalle, bin ich erledigt.«

Sie war gerade mit dem Kaffee fertig. Ob ich auch noch eine Tasse wolle. »Nein, danke. Hier hast du seine Leine und hier ‘nen Maulkorb, manchmal sind sie auf der Bahn komisch damit und verlangen einen. Er ist zwar von Cocki und fällt ihm glatt über den Kragen, aber das macht nichts, Hauptsache, du kannst diesen Knipserseelen einen vorzeigen. Und hier hast du ‘ne Schlaftablette. Die gib ihm ein, bevor ihr abfahrt. Eine halbe genügt. Ich bin schon mit ihm unten so lange hin und her gegangen, bis sich Verschiedenes ereignet hat. Wenn er schläft, muß er nicht und hält vielleicht bis Bremen durch. Sonst gehst du eben auf ‘ner Station, wo ihr länger Aufenthalt habt, mit ihm ‘raus. Fresserchen braucht er nicht. Entweder schläft er, oder er ist so aufgeregt, daß er nicht frißt. Hier ist ein Brief mit der Gebrauchsanweisung für Tante Helene. Ich habe ihr schon telegrafiert, daß sie euch abholt. Hier ist sein Deckchen und sein Bällchen. Und hier ist das Geld für seine Kinderfahrkarte. So — und nun gehe ich schnell.«

Peter saß derweile auf ihrem Schoß und aß die übriggebliebene Hälfte einer Buttersemmel. Ich küßte ihn auf sein graues Löckchen.

»Nun mach schon, daß du ‘rauskommst!« sagte sie.

Als ich die Tür schloß, hörte ich ihre Stimme: »Nun bleib doch sitzen, Kerlchen, Herrchen kommt ja wieder!«

Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, daß man Ihnen so ganz langsam und gründlich einen Korkenzieher ins Herz dreht? Ich hatte es, als ich die Treppe hinunterging.