6

Und Peter? Das, was ich jetzt über ihn berichte, habe ich aus den Erzählungen Sophies, aus den Briefen Tante Helenes und aus dem rekonstruiert, was Peterle selbst mir in seiner eigenen Sprache übermittelte.

Die Tür hatte sich hinter Herrchen geschlossen. Peterle saß mit langem Hals, beide Ohren gespitzt und ganz steif. Dieses Wesen da, dieses Menschenungeheuer, hielt ihn fest. Seine Hände waren stark und lang, aber ihr Griff war nicht grob, gerade nur so kräftig, daß er genügte. Wenn sie einem über Kopf und Rücken fuhren und auf der Brust kraulten und die tiefe Stimme dabei ins Ohr sprach, tat es sogar etwas wohl. Man konnte vielleicht noch ein Stück Brötchen nehmen.

Eine zweite Tür war draußen zugefallen, die Ausgangstür, Herrchens Schritte konnte er hören, bis sie unten im Hausflur klangen. Sicher holte er nur was. Aber da fiel ja der Wagenschlag zu, jetzt das Schnurren des Anlassers, der Motor — Prächtig schrie sein Signal! Man war also abgegeben worden. Man war schon mehrmals abgegeben worden, ziemlich langweilige Sache gewöhnlich. Hoffentlich blieb er nicht so ewig!

Inzwischen mußte man höflich zu diesem großen Zweibein hier sein. Nicht gleich zu Anfang auf den Sessel springen. Am besten, man legte sich vor die Tür, damit es nicht etwa auch noch verschwand und man ganz allein war in dieser schon halb ausgeräumten fremden Höhle. Und da war auch so ein merkwürdig heller Fleck an der Wand, wie damals in der guten alten Höhle, als das Abenteuer begann. Auch ein Koffer war da. Alles sehr verdächtig. Vielleicht sollte man sich doch lieber auf den Koffer setzen? Irgendwas war hier nicht geheuer. Jetzt beugte die Fremde sich wieder aus Turmeshöhe zu einem nieder. Wieder ihre Hand: »Ja, du kommst ja mit, mein Äffchen!« Man wurde hochgehoben, an die Brust gedrückt, und es wurde wieder ins Ohr geflüstert: »Ach du kleines Wesen, schade, daß ich dich nicht behalten kann! Ich würde dich so schön zurechtmachen und feines Fresserchen besorgen und...« Sie seufzte: »Ach, so was haben, was einem ganz allein gehört, so was Kleines, Niedliches! Du dürftest auch bei mir im Bett schlafen! Aber — ist ja nicht mit drin!«

Peter fühlte die Zärtlichkeit in ihrer Stimme und leckte sie hinters Ohr. Sie war ganz gerührt und setzte ihn wieder hin. Peterle verstand sie ganz genau. Eine verwandte Seele! Auch er mußte ja den herzenden Armen Herrchens und Frauchens immer wieder schnell entrinnen, weil es ihn einfach überwältigte. Solche Liebe ist wie eine große Flamme — man kann sie immer nur ein paar Augenblicke aushalten.

Jetzt wurde man wieder an die Leine gelegt, der Koffer wurde in die Hand genommen, und es ging ‘raus. Na, Gott sei Dank! Das war ja mal wieder halb so schlimm gewesen. Unten stand sicher schon Herrchen. Auf der Treppe war noch sein Geruch, auch im Hausflur. Da links auf dem Pflaster war es übrigens sehr interessant, das mußte man schnell quittieren. Das lange Wesen rief etwas. Ein Auto kam und hielt, aber es war ein fremdes mit einem ganz fremden Mann vorn drin, der mit der Langen sprach. Er nahm den Koffer, tat ihn hinten ‘rein, und dann stieg man in das Auto. Das Ganze war gar nicht so übel. Man durfte neben der Großen sitzen, und Autofahren war ja schließlich immer interessant.

Wo aber war Herrchen? Sicher fuhr man zu ihm. Hauptsache, man verlor diesen Menschen nicht, der zu ihm hinführte. Man mußte sich eng an ihn drängen.

Es ging durch die Stadt. Interessant — man starrte aus dem Fenster, aber zu bellen brauchte man nicht, denn es war ja ein fremder Wagen. Nun hielt er. Man wurde an die Leine genommen, die Große stieg aus, ein Mann kam und nahm den Koffer. Es ging über den Bürgersteig, ein paar Stufen hinauf in eine große Halle, wo viele Menschen um einen herum waren und Karren mit kleinen Eisenrädern fuhren und alle Stimmen ein Echo hatten. Viele Füße um einen herum. Er drückte sich ängstlich an die Große. Sie beugte sich nieder und zog ihm ein scheußliches Ledergeflecht über den Kopf, das ganz, ganz fern nach Cocki roch. Sollte man sich dagegen sträuben? Aber die Hand der Großen streichelte ihn beruhigend: »Nur bis wir durch die Sperre sind, dann nehme ich ihn dir gleich wieder ab!«

Jetzt ging es wieder ein paar Stufen hinauf und dann an einem Mann vorbei, der in einer hölzernen Wanne saß und etwas Blankes in der Hand hielt. Er knipste damit ein Stück Papier, das ihm die Große hinhielt. Kaum war das überstanden, beugte sie sich nieder und nahm ihm den Maulkorb wieder ab. Da, wo sie jetzt waren, gab es noch mehr Geschrei und noch viel mehr Füße, nervöse Füße, die auf nichts achteten, am wenigsten auf einen kleinen Hund. Man mußte sich vorsehen, daß man nicht getreten wurde. Dann begann die Erde leise zu zittern. Man wurde wieder hochgehoben, das Zittern verstärkte sich. Da, wo zwei glänzende Eisenbänder sich in der Ferne verloren, tauchte etwas Schwarzes auf. Es kam schnell näher, wurde immer größer, immer furchterregender. Und da war es heran, fauchend und schnaubend und, — o Gott — diese Räder — diese Räder! Merkte sie denn das nicht? Räder — riesige Räder, wie damals, als das Entsetzliche geschah.

»Sei ruhig, Peterle!«

Ja, da sollte man ruhig sein, wenn die Gefahr so dicht an einem vorüberraste! Würde es jetzt gleich wieder krachen und splittern und alles mit Frauchens Blut voll sein? Wo war denn Frauchen? Jetzt eine Treppe hoch, eine komische Tür, sie klappte zur Seite, und drin war eine kleine Höhle mit zwei Sofas gegenüber, die ganz voll Menschen saßen. Die Fremde sagte etwas zu ihnen, und dann saß man endlich auf ihrem Schoß. Von gegenüber kam eine fremde Hand, und eine Stimme sagte: »Der ist aber süß! Gibt er auch Pfötchen?«

Blöder Kerl. Man mußte sich ganz eng an die Große pressen. Wann kam denn nun Herrchen? Was sollte das alles? Jetzt fing das Ganze sogar an zu rollen. Die Große machte ihre Tasche auf. Es roch plötzlich ganz prächtig nach Schokolade. Ja, tatsächlich Schokolade! Na, das konnte man mitnehmen. Was war denn das kleine Weiße, das sie da in die Schokolade hineinpreßte? Man mußte sehen, daß man es ausspuckte. Aber es ging nicht. Na, ‘runter damit! Es schmeckte bitter. Pfui Teufel, ja! Die Große stiftete noch ein Stück Schokolade, schnell hinterher damit! So — und nun weg vom Schoß und ‘raus! Genug von dem Trara. Nach Hause zu Cocki und Weffi. Wo waren die überhaupt?

»Nein, nein, Peterle«, sagte die Stimme, »komm, mach schön Hoppchen.«

Also schön, machen wir wieder Hoppchen. Übrigens war man plötzlich müde, ganz außer der Zeit. Dabei mußte man doch aufpassen, daß man Herrchen nicht verpaßte. Aber das andere war stärker. Ach, da mußte man — immer mehr gähnen. Wald — wieso denn plötzlich Wald? Und da — das Riesenvieh mit den beiden großen Ästen auf dem Kopf — Cocki, der blöde Kerl — er sollte ihm lieber den Weg abschneiden statt hinter ihm herzuhatschen. Jetzt die Wiese, auf der Herrchen mit der Oma saß. Hetzen, Laut geben, hetzen. Das schwarze Sofa, da war es ja wieder! Es war ja alles wieder gut! Man war daheim. Es war ganz aus Schokolade, das Sofa, die würde man später auffressen. Aber erst mußte man sich noch zusammenkringeln und eine Weile schlafen — viel schlafen — unendlich lange.

Als er wieder aufwachte, war ihm gar nicht gut, außerdem war alles höchst verwirrend. Gerade setzte man ihn wieder hinunter auf ein Steinpflaster. Die Sonne schien, und viele Schuhe, Röcke und Hosenbeine bewegten sich rundherum.

»Er ist noch ganz taumelig von der Tablette«, sagte die Stimme der Großen über ihm. Eine andere, fast noch tiefere weibliche Stimme dankte der Langen, daß sie diese Strapazen auf sich genommen habe. Peterle blickte verwirrt auf. Unten waren zwei Stiefel, bei denen das Oberleder infolge der dicken Füße über die Sohlen quoll, dann kamen zwei Beinsäulen in grauen Strümpfen, die wiederum über die Stiefelschäfte quollen, eine Wand von Rock, die sich über seinen Kopf nach vorn wölbte und von zwei mächtigen Busenhälften noch weiterhin überwallt wurde. Jetzt griff es nach ihm herunter, zwei weiche, fette Hände, die scheußlich nach Parfüm rochen. Er wurde an dem Bauch- und Busengebirge vorbei nach oben befördert und war nun Auge in Auge mit einem großen Menschengesicht, unter dem ein doppeltes Kinn hing. Jetzt kam der Mund auf ihn zu und küßte ihn auf die Stirn. Peter schloß betäubt die Augen.

»Mein armes liebes Kerlchen!« sagte die Stimme und zitterte. »Du sollst bei mir eine neue Heimat haben! Bald wirst du all das Häßliche vergessen haben, das du durchmachen mußtest!«

»Ich würde ihn erst mal ‘runtersetzen!« meinte die Stimme der Langen. »Ich glaube, er muß mal! Er hat ja seit neun Stunden nicht... Hier, in dem Brief von Hans steht alles — eine Art Gebrauchsanweisung, hat er gesagt!«

»Haben Sie nochmals vielen Dank für alles«, erwiderte die andere Stimme. Dann wurde er wieder hinuntergesetzt, und es war höchste Zeit.

Als er sein inneres Gleichgewicht wiederhergestellt hatte und die letzten Schleier der Betäubung wichen, war die Lange verschwunden. Er begann nach Herrchen Ausschau zu halten. Oder war man etwa zu Frauchen gefahren? Für irgend etwas mußte ja diese lange Fahrt und dieser dauernde Wechsel von Menschen gut sein. Das konnte doch nur bei seinen Göttern enden. Also, wo waren sie? Mal die Dicke fragen. Er richtete sich hoch, kratzte an der überhängenden Bauchwand und fügte ein freundliches Wedeln hinzu. Die Dicke hatte aber gerade keine Zeit zu antworten, denn es fuhr ein Auto vor und bremste. Wieder ein fremdes. Er wurde erneut hochgerissen: »Ach, mein Kerlchen, siehst du, du hast dich schon an mich gewöhnt, und du freust dich sogar schon! Na, paß mal auf, wie schön wir miteinander leben! Frauchen hat schon mal so ein liebes Hündchen gehabt, die liebe unvergeßliche Bella.«

Frauchen! Er machte den Hals lang und riß die Augen auf, aber er sah keines.

Wieder Autofahrt. Dieser Wagen und dieser Mann, das spürte Peter, fuhren nicht gut, nicht so gut wie Herrchen. Aber das war das kleinere Übel, und außerdem war ja alles ganz egal, denn am Ende dieser Fahrt mußte ja Herrchen stehen oder Frauchen oder alle beide. Er sah sie deutlich vor sich, wie sie sich mit ausgebreiteten Armen niederbeugten, und spannte schon seine Sehnen zum Freudentanz.

Der Verkehr wurde weniger dicht. Eine lange Straße mit alten Bäumen rechts und links. Jetzt schon einige grüne Flecke. Die Häuser wichen von der Straße zurück und wurden kleiner. Alles war so ähnlich wie in der Straße, die hinausführte zum großen alten Haus. Sollte etwa alles wieder ganz gut werden? Vielleicht, daß gar Mathilde das Näpfchen hinstellte und vorher das Halsband abnahm: »Damit ‘s dir besser bekommt, mein kleiner Liebling!«

Jetzt hielt der Wagen. Eine Villenstraße, ein eiserner Zaun, der auf Steinen stand. Die Steine rochen ganz interessant. Hinter dem Zaun war Wiese, eine überaus alberne Wiese, denn es war nur ganz kurzes Gras drauf und alles gleich hoch. In der Mitte von dieser Witzwiese stand ein nacktes kleines Menschenkind mit aufgeblasenen Backen. Aber es war aus Stein. Und hinten, unter einem Busch mit weißen Beeren, stand noch so was, ein Geschöpf, so hoch nur, wie er — Peter —, aber mit einer großen Zipfelmütze und einer dicken Nase. So eins hatte er überhaupt noch nicht gesehen. Es war bunt angemalt und auch aus Stein. Daneben waren zwei Stangen, auf denen bunte Glaskugeln steckten. Peter sah sich das alles mit schiefem Kopf und ratlosen Knuckelohren an, während das Gebirge noch mit dem Fahrer draußen sprach. Dann hob er das Bein und quittierte sowohl an der Putte wie an dem Zwerg. Hinter ihm knarrte die eiserne Gartentür: »Oh, oh, mein Kleiner, das dürfen wir aber nicht! Komm mal her — schnell ans Leinchen, immer schön auf dem Weg gehen, nicht wahr? Brave Hündchen gehen immer auf dem Weg.«

»Sei schön artig«, verstand Peter, »dann mache ich auch die Tür für dich auf, und dahinter stehen Herrchen und Frauchen!«

Es ging die Treppe hinauf. Er wedelte das Gebirge freundlich an, während es die Tür aufschloß. »Na ja, na ja, gleich, gleich«, sagte es über ihm wohlwollend. Diese Laute kannte er, das klang schon sehr nach Herrchen und Frauchen. Jetzt die Tür auf — er schoß hindurch in eine dunkle Flurschlucht. Es roch muffig. Rechts eine Tür: dahinter sicher! Er sprang hoch und drückte die Klinke nieder.

»Nein, was du alles kannst!« sagte das Gebirge. Er schoß hinein: ein hohes, helles Zimmer. Unter dem Tisch durch, an den Wänden entlang, mit einem Sprung aufs Sofa, hinter das Sofa — nichts. Er roch am Schrank, er schaute darunter — wieder nichts. Hinaus in die Küche. Auf dem blanken Boden rutschte er aus und schlidderte bis vor ein Näpfchen mit frischem Schabefleisch. Sehr hübsch, würde man später... Aber wo waren sie denn? Wieder zurück, durch Flur und großes Zimmer. Im Nebenzimmer? Aber auch dort war kein vertrauter Geruch. Trotzdem hinein. Ein breites Bett, eine Kommode mit Häkeldeckchen. Er richtete sich daran hoch. Da war ja noch ein Hund: ein Dicker mit vorquellenden Augen. Täuschung — es war was Scheußliches, ein Gespenst! Es hockte unter einer Glasglocke, und ein ganz feiner Kampfergeruch kam unter dem Glas vor, so daß er niesen mußte. Wieder weg — da war noch eine Tür, er sprang sie auf: ein Thron und eine Badewanne. Entsetzlich! Herrchen — Frauchen — ja, wo waren sie denn? Er wandte sich um. Da war das Gebirge hinter ihm: »Na, sieh dir nur schön alles an, mein Kerlchen, gefällt’s dir?«

Er richtete sich an dem Gebirge hoch, brannte seine Augen in diese blaßblauen Augen mit den Säcken darunter, die sich jetzt zu ihm niederneigten. Und dann fragte er sie, fragte sie ganz energisch: »Wuff? Wuff? Wo hast du meine Götter versteckt?«

Er wurde wieder hochgehoben und an den Busen gedrückt: »Du bist aber lustig! Na, warte, wir gehen nachher aufs Gäßchen! Aber erst muß Frauchen noch ein Täßchen Kaffee trinken, und wir werden unser Fleischerchen essen.«

Völliges Mißverständnis. Eine tiefe Hilflosigkeit überfiel ihn und die Ahnung der schrecklichen Wirklichkeit, daß dieser Weg nicht zu seihen Göttern führte, sondern weit weg, immer weiter in eine immer schrecklichere Ferne. Er zitterte.

»Habe ich dich gedrückt, Kleiner?« fragte das Gebirge. »Das wollte ich nicht!« Er wurde wieder hingesetzt, und nun stand er da, mit hängenden Ohren, eingezogenem Schwänzchen und den Augen eines sterbenden Niggers.

»Du hast sicher Hunger!« sagte das Gebirge. Es dröhnte in die Küche und rief ihn von dort. Traurig trabte er hinterher. Das Näpfchen wurde ihm hingeschoben, ein anderes mit Wasser daneben. Vor dem Fleisch zog er angewidert das Näschen kraus, das Wasser soff er gierig.

»Keinen Appetit, Liebling?« fragte das Gebirge. »Wirst noch zu aufgeregt sein, wir gehen erst mal ‘rein zum Kaffee!«

Kaffee? Das verstand er. Aber jetzt Kaffee? Sein untrüglicher Zeitsinn sagte ihm, daß das albern sei. Draußen erlosch ja schon der letzte Schein. Höchste Zeit, daß man die Götter fand! Vielleicht standen sie vor dem Zaun? Er sprang auf das Sofa und stellte die Vorderfüßchen auf das Fensterbrett.

»Oh, oh!« sagte das Gebirge. »Das gibt’s aber nicht!« Er wurde hochgehoben, ein rundes Kissen aus schwarzem Samt wurde mit dem dicken Fuß vorwärts geschoben, er draufgesetzt und gestreichelt: »Hier, das ist dein Kißchen!«

Er sah auf. Die blaßblauen Augen waren jetzt ziemlich hart. Also Vorsicht! Er roch an dem Kissen. Es stank nach Mottenpulver. Aber was sollte man machen? Es war ja auch alles ganz egal. Er drehte sich ein paarmal um sich selbst und legte sich dann hin, die Hinterläufe angezogen, die Vorderbeine herunterhängend, den Kopf drauf. Sprungbereit für die Sekunde, da es losging. Das Gebirge saß jetzt am Tisch, hob die Tasse zum Mund und schob dann ein großes Stück Kuchen nach. Alles ging unerträglich langsam. Jetzt brach sie ein Stück Kuchen ab und hielt es ihm hin: »Hier, mein kleines Reh, möchtest du nicht?« Er stand auf, roch an dem Kuchen, ging traurig wieder auf das Kissen und starrte sie von dort aus an.

»So klug bist du!« sagte das Gebirge. »Wir werden uns sicher vertragen.«

Und dann, nach einer Ewigkeit, als der Kuchen verschwunden war, stand sie auf und griff nach der Leine. Er tänzelte um sie herum, so daß es eine ganze Zeit dauerte, bis sie den Karabinerhaken durch die Öse bekam. Dann zerrte er sie los, daß sie fast hinfiel.

»Na, na«, keuchte sie glücklich, »du hast ja Kräfte! Später darfst du nicht mehr zerren, sondern mußt hübsch bei Fuß gehen. Das wirst du alles noch lernen!«

Er zerrte sie hinter sich her durch den Garten. Dort würde man ihn sicher loslassen. Aber er wurde nicht losgemacht, und es waren auch kein Herrchen und kein Frauchen da. Der Wind des späten September pfiff die Straßen entlang. Es lagen schon viele welke Blätter im Rinnstein. Er registrierte flüchtig die Eindrücke, quittierte einige, die ihm gefielen, und ging schließlich in die Knie. Als es geschehen war und er dachte, daß es nun richtig losgehe, wurde er wieder ins Haus zurückgezogen.

»So, das war aber ein feiner Spaziergang!« sagte das Gebirge. »Nun gehen wir auf unser Kißchen und unter unser Deckchen, und dann schlafen wir schön, und morgen machen wir einen großen Spaziergang.«

Sie brachte ihn in die Küche und legte ihn wieder auf diesen albernen Mottensamt. Wenigstens war sein altes Deckchen über ihm und sein eigener vertrauter Geruch um ihn. Es roch sogar nach Cocki, der sich ab und zu auf Peters Decke fläzte, um ihm zu zeigen, daß ihm auch die gehörte, wie alles andere. Cocki — wo bist du? — Und Weffchen? Wo seid ihr — Herrchen, Frauchen? Seid ihr denn alle untergegangen? Bin ich denn ganz allein? Was soll aus mir werden? Gibt es denn niemanden, der mir hilft? Man kann mich doch nicht vergessen — man kann doch nicht!

Er lag auf dem Kissen, den Kopf aus der Decke vorgestreckt, mit riesengroßen Augen und starrte auf das Küchenfenster. Draußen bewegte der Nachtwind die Zweige. Die Luft, die er durch die Fensterritzen blies, war fremd mit einem seltsamen salzigen Hauch darin. Das Ganze hier war ein schrecklicher Irrtum. Man mußte hier ‘raus. Aber man mußte es vorsichtig anfangen. Er wimmerte leise vor sich hin. Schließlich, nach langer Zeit, begann sein Bewußtsein zu wandern. Wum — wum — wum — da war es ja wieder, das große Turbinenherz, das durch das stille Haus schlug. Und drüben im Bett Herrchen. Er wälzte sich knarrend und hustend auf die andere Seite.

7

Langsam tauchte Peter aus den Tiefen des Schlafes. Warum war denn der Dicke so still? Gar kein Schnarchen?

Ach so. Da lag er ja in der Küche, auf diesem albernen Kissen. Kein Herrchen ihm gegenüber im Bett. Kein Zollo, der schon lange auf war und ein fragendes Wuff gegen das Fenster schickte: »Kommt ihr nicht bald ‘raus zum Spielen?«

Statt dessen Linoleum, Kacheln, Metall, ein Wasserbecken, in das ab und zu ein kümmerlicher Tropfen fiel. Das Schälchen mit Wasser neben dem Herd. Er soff es aus. Dann merkte er, daß er es eilig hatte, sprang hoch und klinkte sich die Tür auf. Er schnupperte im Flur herum. Da, hinter dieser Tür lag die Treppe, der Weg ins Freie, den man nur lange genug zu laufen brauchte, um wieder bei Herrchen zu sein und um zunächst mal Verschiedenes verrichten zu können. Aber um diese Tür aufzumachen, brauchte man das Menschengebirge, das hinter der anderen Tür dort herumrumorte. Er sprang hoch und klinkte auch diese Tür auf.

»Ei, wer kommt denn da?« fragte Tante Helene. »Guten Morgen, mein Herr, schön geschlafen?«

Peter wedelte verbindlich und setzte die Vorderpfoten geziert übereinander, als er auf sie zuschritt. Sie klopfte ihn: »Frauchen macht gleich Frühstück.«

Frauchen? Er drehte sich um und zog sie mit dem Kopf gegen den Flur. Sie begriff nicht. Er trabte wieder zurück und überwand sich sogar, ihre Hand zu lecken. Dann wieder in den Flur. Sie kam verwundert nach: »Was willst du denn? Was hast du denn da?«

Er kratzte an der Ausgangstür. Sie seufzte: »Ach so — na, da müssen wir wohl erst mal! Aber vorher muß ich mich anziehen, es ist schon kühl draußen und neblig, es kommt bald der Winter, Peterchen, und jetzt ist schon Herbst. Der ist traurig, weil es soviel Nebel gibt und die Blätter abfallen und immer alles feucht ist. Aber wir beide sind ja jetzt beisammen, nicht wahr? Ich habe ja wieder ein kleines Hündchen, einen kleinen Freund habe ich, einen kleinen Kavalier! So — jetzt noch die Jacke an und dann hier die Leine —, komm her, zurechtgemacht wird nachher, jetzt erst mal das Halsband — na, schön Stillstehen —, so, dann wollen wir mal!«

Es ging über den Kies auf die Straße. Wann kam denn nun der Augenblick, in dem er losgehakt wurde? Dieser Augenblick kam aber nicht, und man mußte froh sein, wenn man mit dem Nötigsten zu Rande kam. Sollte er es auf neckisch versuchen? So, wie es Weffi machte? Er begann in die Leine zu beißen und zu zerren.

»Laß das, Peter«, sagte die Stimme streng, »das macht mich nervös.«

Er ließ sofort die Leine los und trottete mit gesenktem Köpfchen neben ihr her. Seine Ohren wippten traurig. Dann ging er in die Kniebeuge. Kaum hatte er sein Geschäftchen erledigt, da ging’s schon wieder heim. Vor dem Hause gab es ein kurzes Zwischenspiel. Ein kleineres Gebirge, ganz in schwarze Tücher gewickelt und mit einer schwarzen Pudelhündin an der Leine, begegnete dem eigenen Gebirge, und beide blieben voreinander stehen:

»Na, wie geht’s denn, Frau Kapitän?« fragte Tante Helene.

»Na, man geht so eben längs durchs Leben, Frau Amtsrat.«

Tante Helene seufzte: »Tja, so plötzlich allein. — Ich habe das auch durchgemacht.« Sie sah auf die Pudelhündin herunter: »Was hat sie denn, die Asta, die is’ ja man ganz elend?«

Jetzt seufzte die Frau Kapitän: »Tja, wir hatten so große Sorge mit ihr. Als der Kapitän gestorben war, hat sie immer am Zimmer gekratzt, wo er aufgebahrt war, und schließlich haben wir sie ‘reingelassen. Da ist sie man aufs Totenbett gesprungen und war da nicht wegzubringen. Und wie wir denn mal den guten Ludwig beigesetzt hatten, da ist sie immer im Zimmer ‘rumgelaufen und hat ihn in allen Ecken gesucht. Und dann ist sie immer zu mir gekommen und hat mich angesehen. Angesehen — Frau Amtsrat, daß mir man immer die Tränen bloß ‘runtergelaufen sind! Und gefressen hat sie gar nix, und denn hat sie angefangen, sich das Fell auszureißen, bis es ganz blutig drunter war. Da sagt man immer: >Einer frißt sich vor Kummer auf< und denkt, es ist man nur so ‘ne Redensart. Die Asta hat’s wirklich versucht. Da haben wir den Arzt geholt, und der hat ihr ‘ne Spritze gegeben. Da hat sie zwei Tage geschlafen. >Sie muß über den Schock weg<, hat der Arzt gesagt. Als sie aufgewacht war, da hat sie dann ganz langsam angefangen wieder zu fressen, na, und jetzt geht’s wieder.«

»Aber das ist ja erschütternd, Frau Kapitän«, sagte Tante Helene und schluckte. »Ich hab’ ja gar nicht gewußt, daß das so schlimm war!«

»Ja, das war wohl schlimm«, sagte Frau Kapitän. Sie faßte Peter ins Auge: »Was ist denn das? Ist das Ihrer?«

»Meiner? Hm — na, nicht genau. Der ist von meinem Neffen, dem Schriftsteller. Peter heißt er.«

»Wer, der Neffe?« fragte die Frau Kapitän.

»Nein, der Hund. Ich hab’ ihn in Pension. Aber — vielleicht bleibt’s dabei.«

Peter beschnupperte derweilen Asta. Sie hatte kleine, fette Kringellöckchen, ähnliche Augen wie er selbst, ein starres Bärtchen rechts und links von der Schnauze und eine ganz hohe Tolle. Im übrigen machte sie furchtbar auf tugendhaft und schnappte nach seiner Schnauze, wenn er ihr zu nahe kam. Er wich aus, rollte galant die Augen und hielt ihr schließlich das Hinterteil hin. Sie legte sich auf den Bauch, wedelte und bellte ermunternd.

»Hübsch is’ er nich’«, sagte die Frau Kapitän, »büschen ruppig, noch?«

Tante Helene schniefte indigniert: »Er is’ man noch nicht gekämmt. Aber sehr artig ist er!«

Peter hatte inzwischen die Besichtigung des Vorderteils von Asta beendet und ging nun zum Hinterteil über. Asta drängte sich an Frauchen und zeigte ihm die Zähne.

»Ja«, sagte Frau Kapitän, »die is’ man grantig! Aber in zwei Wochen wird sie heiß, da müssen wir uns vorsehen!«

»Ich pass’ schon auf. — Na, denn schön’ guten Morgen, Frau Kapitän!«

»Guten Morgen, Frau Amtsrat!«

Asta sah sich im Abtraben noch einmal nach Peterle um. »Jetzt könnten wir vielleicht doch ‘n bißchen miteinander spielen«, sagte ihr Blick. »Dummes Frauenzimmer!«

Oben beim Frühstück bekam er ein Schälchen mit Milch und aufgeweichten Bröckchen darin. Er schlabberte vorsichtig um diesen Schlamm herum und legte sich dann vor den Napf, den Kopf auf den Beinen.

»Immer noch keinen Appetit?« fragte Tante Helene. »Na, das dauert drei Tage. Als ich damals nach Kissingen verreist war, weißt du, da mußte ich die arme Bella bei der guten Frau Zimt lassen, und die schrieb mir, daß die Bella auch drei Tage nichts gefressen hat, vor Kummer!« Sie seufzte: »Ja, so seid ihr, ihr kleinen Hündchen, viel besser als wir. Bei uns geht’s nicht so tief. Als der Kapitän, das Herrchen von der Asta, gestorben ist, vor zwei Wochen, da hat das Frauchen nachher im Restaurant nach dem Begräbnis ein großes Beefsteak mit Bratkartoffeln und Mischgemüse gegessen. Und hast du gehört, wie sie dich gleich schlechtgemacht hat? Eben erst eins draufbekommen und schon wieder giftig! >Ruppig, nöch?< Wer so ruppig ist wie die selber, die alte Krähe, sollte doch man ganz stille sein. Na, der Kapitän wird auch froh sein, daß er seine Ruhe hat. Ruppig! Du bist nicht ruppig, mein Peterle. Du bist schön. Und wenn’s keiner sieht — ich seh’s!« Peter wedelte matt, ohne den Kopf zu heben.

Zum Mittag wurde ihm wieder das Schabefleisch vorgesetzt. Er verschmähte es abermals, richtete sich nur am Wasserbecken hoch, bekam ein Schälchen und soff es gierig aus. Plötzlich ein Wagen draußen. Er raste an Tante Helene vorbei, über den Flur ins Wohnzimmer, auf das verbotene Sofa am Fenster — Herrchen! Aber der Wagen fuhr vorbei. Er war auch gelb und klein und nicht schwarz und groß. Peter knickte zusammen, als habe man ihm plötzlich die Sehnen durchgeschnitten, kringelte sich und seufzte.

»Nein, nein«, sagte die Stimme, »hier mußt du ‘runter, geh auf dein Kißchen!«

Er kringelte sich auf dem Kissen zusammen und döste. Sie legte ihm sein Tennisbällchen hin. Er machte nur ein Auge auf, sah es traurig an und schloß wieder das Auge. Dann endlich wurde die Leine geholt.

Diesmal ging es weiter, die Straße hinunter und den Wiesen zu. Er sah sie schon von weitem, und sein Herz schlug. Ununterbrochen redete es über ihm, mit der Geschwätzigkeit des einsamen Menschen.

»Also, das ist das Postamt, Peter«, sagte die Stimme, »da werde ich abends einen Brief an Herrchen hinbringen und ihm schreiben, wie artig du bist!«

Herrchen — durchfuhr es ihn wie ein Schlag. Er spitzelte die Ohren, wedelte und sprang an ihr hoch.

»Vorsicht, Peterle«, keuchte sie glücklich, »mein Mantel! Mein Gott, Junge, kannst du springen!«

Jetzt hatten die Häuser aufgehört, und die Wiese lag vor ihm. Sie sah zweifelnd zu ihm nieder: »Herrchen hat geschrieben, ich soll dich laufen lassen. Na, ob wir’s mal versuchen?« Sie bückte sich seufzend, wobei ihr Korsett bedrohlich knackte, und machte die Leine los. Im nächsten Augenblick war Peter weg und zehn Sekunden später nur noch ein schwarzer Punkt im Wiesengras. Endlich Freiheit!

»Peter!« kam die Stimme hinter ihm her. »Kommst du schnell her — Peter!«

Aber vor ihm war nur die Weite und unter ihm federnder Boden und Gras, das an seinen Flanken vorbeipfiff. Laufen, laufen, laufen. Er fand einen Bach, aus dem er soff. Dann weiter. Ein Stoppelfeld. Die Halme stachen in seine Pfötchen, aber er achtete nicht darauf. Da huschte eine Maus in ihr Loch. Er begann es auszugraben, sah sich um: Kam da nicht der Dicke, um ihn wegzudrängeln? Nein. Er grub weiter. Es roch immer stärker nach Maus. Hinter ihm waren Schritte. Es keuchte schwer, und dann war er wieder an der Leine.

»Aber Peter, wie kannst du so was tun, wie konntest du Frauchen solche Angst einjagen! Und ganz schmutzig hast du dich gemacht. Sieh mal, wie deine Nase aussieht — und deine Pfoten.«

Am nächsten Tag wurde er wieder nur an der Leine auf die Straße geführt und dann im Garten gelassen: »Herrchen hat mir geschrieben«, erklärte die Stimme über ihm streng, »daß du im eigenen Gärtchen nichts erledigst! Ich vertraue auf dich, Peter!«

Er sah mit eingezogenem Schwänzchen zu ihr auf. Sie nahm sein Bällchen aus der Tasche: »Na — nu spiel mal ‘n bißchen, mein Kleiner!«

Er nahm gehorsam das Bällchen und kauerte sich davor hin. Sie ging ins Haus. Er wartete ein paar Augenblicke, bis die Luft rein war, und begann dann den Garten zu untersuchen. Vorn waren Steine und darauf das eiserne Gitter. Das ging nicht. Da, die Tür! Er sprang hoch und drückte die Klinke nieder. Aber die Tür ging trotzdem nicht auf. Abgeschlossen! Wie war’s denn da an der Seite, da war nur ein geflochtener Zaun? Er drückte das Näschen dagegen. Der Zaun war nicht in der Erde verankert. Na, dann mal los! Im Fenster erschien ein Kopf: »Peter, was machst du?«

Er kam zum Fenster, wedelte und legte sich neben seinen Ball.

»Gut, mein Kerlchen!« sagte die Stimme, und der Kopf verschwand. Wie eine Katze schlich er sich wieder an den Drahtzaun und begann zu scharren. Seine Pfoten flogen. Nach fünf Minuten konnte er sich unter dem Zaun durchquetschen und stand im Nebengarten. Der war auch so mit Kies und Gras. Aber da — die Tür war offen! Wie ein Blitz war er durch, die Straße hinunter, um die Ecke — ins Feld. Und da im Feld, irgendwo, mußte ja die Spur von Herrchen sein. Vielleicht auch die von Cocki oder Weffi, aber die würden ihn ja auch zu Herrchen führen. Er begann methodisch zu suchen, immer im Kreis herum. Jedesmal schlug er den Kreis weiter, auf diese Weise mußte er die Spur erwischen. Da war die Stimme: »Peter — Peter«, ganz außer Atem.

Er duckte sich schnell hinter einem Busch, bis die Stimme verstummte. Dann setzte er seine Suche fort. Ein Bahndamm, ein Bach, Schrebergärten, dann eine Straße, auf der Autos fuhren. Eine ganze Weile saß er am Rand der Straße, und sein Affenköpfchen ging mit jedem Auto hin und her. Aber alle klangen anders als das von Herrchen. Vielleicht, wenn man die Straße entlanglief. Er wurde müde. Schon den zweiten Tag nichts gefressen. Jetzt kamen wieder Häuser, und aus dem Hof des einen roch es nach Fleisch. Ein dicker schwarzer Metzgerhund bog um die Ecke mit einem großen Knochen im Maul, an dem noch Fleischstücke hingen. Er ließ ihn appetitlos fallen und sank dann als ein großer Fellhaufen in sich zusammen. Peter stand, das rechte Vorderbein hochgehoben, hinter einem Holzstoß. Der roch übrigens ganz ähnlich wie der am Haus des guten alten Mannes mit dem Puter. Vielleicht kam Herrchen bald um die Ecke und sagte: »Na, du Lümmel?«

Die Hoffnung fachte seinen plötzlich erwachten Hunger zu beißendem Schmerz an. Wie eine Schlange wand er sich heran. Aber jetzt hatte der Große seine Witterung bekommen. Er hob den Kopf und knurrte. Peter sprang mit einem Satz vor und hatte den Knochen. Der Große war auch hoch, aber zu spät. Peter war schon ein Punkt am anderen Ende der Straße. Als es feststand, daß der Große ihn nicht mehr verfolgte, legte sich Peter in einen Vorgarten, nagte den Knochen ab und fraß schließlich mit seinen messerscharfen Zähnen auch die Knorpel an beiden Enden. Aber es war zu wenig. Er schlich sich weiter. Eine Straße mit niedrigen Häusern. Ein paar Kinder spielten auf dem Damm. Ein kleines Mädchen kniete sich hin und streckte die Arme nach ihm aus: »Guckt mal, der Lütte, is der aber süß!« Ein kleiner Hosenmatz, der an einer dicken Wurstsemmel kaute, hockte sich neben das Mädelchen und hielt ihm die Semmel hin. Mit einem Schnappen seiner Haifischzähne hatte er sie. Der Junge schrie. Peter sauste um die Ecke. Er fraß in einer Hofeinfahrt das Brötchen und suchte dann weiter.

Die Dämmerung sank. Und noch immer kein Herrchen und Frauchen, alles fremd, alles anders. Nebel stieg, es wurde feuchtkalt. Laternen flammten auf. Jede hatte einen Nebelring um sich, so daß sie aussahen wie große Augen. Noch immer wanderte er und wanderte, zitternd vor Kälte und Hunger. Endlich, schon zu Beginn der Nacht, fand er auf einem Hof eine offene Mülltonne. Er richtete sich auf und zerrte so lange mit den Pfoten an ihr, bis sie umfiel. Ein Fenster würde geöffnet, und ein Männerkopf fuhr heraus: »Ist da wer?«

Peter verkroch sich in den Schatten. Nach einer Weile fiel das Fenster wieder zu. Er schlich an die Tonne. Sie roch widerlich, aber er fand ein paar halbverdorbene Wurstscheiben, von denen er die Asche schüttelte, ehe er sie fraß, und dann auch noch ein paar Fischköpfe mit den Gräten und Schwänzen dran. Er schlang mit Todesverachtung die Köpfe und Schwänze herunter, auf den Gräten wälzte er sich. Er stand auf, schüttelte sich, dann begann er wieder zu frieren und mit den Höschen zu zittern. Wo blieb denn nun Herrchen mit der Decke? Aber es kam niemand.

Schließlich verkroch er sich in einen Schuppen. Da war es wenigstens noch etwas wärmer. Fauchend fuhr etwas im Dunkel hoch, ein Kater. Peter fletschte die Haifischzähne und stellte sein Bernhardinergrollen an. Der Kater sauste ins Freie. Peter beroch lange Zeit die Stelle, an der er gelegen hatte, und rollte sich dann dort zusammen. Es war noch etwas Wärme da. Dann schlief er, noch immer zitternd, ein.

Schon im Morgengrauen war er wieder wach. Die Kälte hatte ihn geweckt. Er hatte gerade von Mathilde geträumt: sie saß am Küchentisch, mit der Kaffeekanne vor sich, und hielt ihm ein Stückchen Kuchen hin, Schokoladenkuchen: »Hier, das ist für dich, mein kleines Leckermaul! Schön >Bitte-bitte< machen!«

Aber jetzt war nichts mehr von Mathilde da. Ein niedriges Haus, das ihn aus bösen Fensteraugen ansah, glitschig vom Frühnebel. Nun tat sich die Tür auf, ein schlampiges Weib erschien, und an ihr vorbei drängte sich ein großer grauer Spitz. Er schnüffelte ein paar Sekunden, dann hatte er Peters Geruch und kam an den Schuppen. Peter war gerade bei der Morgengymnastik. Der Spitz, im Vollgefühl sicheren Besitztums, fuhr keifend gegen ihn los. Peter haßte Spitze seit Waldenau, sie waren laut und böse, und man durfte sich nicht mit ihnen raufen. So schoß er denn mit einem riesigen Satz über ihn weg und war wieder auf der Straße.

Was jetzt? So ging es also nicht. So ging es überhaupt nicht. Vielleicht war Herrchen längst bei der dicken Frau und wartete dort auf ihn? Er hob das Näschen in den Wind, während der Erinnerungskompaß in seinem Kopf zu rotieren begann. Dann setzte er sich in Trab.

»Ja, da bist du ja, Peter! Wo warst du denn? Ich war schon ganz außer mir! Wie kannst du bloß einfach weglaufen! Tut das ein artiges Hündchen? Hast du so mein Vertrauen belohnt? Pfui — schäm dich — pfui, ein Hund!«

Peter stand da, das Köpfchen gesenkt, das Schwänzchen zwischen den Beinen. Sie gab ihm einen Klaps hinter die Ohren, der ihn fast umwarf. Aber dann wurde sie abgelenkt. Sie roch an ihrer Hand: »Pfui Teufel — und wie du stinkst! Komm gleich her — in die Badewanne!«

Entsetzen über Entsetzen! Warmes Wasser, Seifengestank, hinterher ein Tuch, das Kissen — aber es war ihm schon alles egal. Es kam jemand. Ach, die mit der Pudelhündin! Er hörte sie auf dem Gang reden:

»Ja, er ist wieder da!« sagte Tante Helene.

»Haben Sie ihm ordentlich eins gegeben?«

»Ich werde ihn nur noch an der Leine ausführen.«

»Und außerdem eins geben. Weglaufen — das darf er nicht.«

Peter schloß die Augen. Nach einer Weile kam Tante Helene zurück, setzte sich auf den Stuhl, sah ihn an und seufzte. Sie schlug sich auf den Schenkel: »Na, mach Hoppchen!«

Er überlegte einen Augenblick, wedelte schüchtern und sprang schließlich auf ihren Schoß. Sie streichelte ihn und seufzte abermals: »Ach, Kerlchen, Kerlchen, was mache ich bloß mit dir? Ja, Tante Helene weiß, was Sehnsucht ist und wie Einsamkeit schmeckt. Tante Helene ist ja auch so einsam, und Tante Helene hat gedacht, sie hat nun ein kleines Jungchen, und das kleine Jungchen wird sie liebhaben.« Es fiel etwas heiß aus ihrem Auge auf seine Nase. Er leckte es ab — es schmeckte salzig. Da seufzte auch er und kringelte sich auf ihrem Schoß zusammen.

Die Frau blieb auf dem Stuhl sitzen, ihre Hand streichelte sacht seine grauen Höschen, während ihr Blick durchs Fenster ging, vor dem der Herbstwind die letzten Blätter von den Ästen riß.

8

Ich saß vor der Mühle und blinzelte in die Sonne. Das war nun Mitte Oktober, und man konnte noch, wenn auch mit Wolljacke, im Freien frühstücken. Cocki, der bisher unter dem Tisch gelegen und Zollo, als er mal vorbeizugehen wagte, wütend angefaucht hatte, knurrte dumpf, stand auf und ging tief gekränkt weg. Nanu? Ach so! Susanne war im Anmarsch. Die Ohren von den Augen möglichst weit weggezogen, stampfte sie heran, nonchalant mit ihren Zitzen schlenkernd. Weffi ging steifbeinig und höflich wedelnd auf sie zu und leckte ihr einmal über die Schnutenscheibe. Sie quittierte es mit einem gnädigen Grunzen, nahm dann direkt Kurs auf mich und stieß mich derb mit dem Rüssel. Ich spendierte ihr ein Brötchen, das sie mit ungeheurem Schmatzen verschlang. Dann klatschte ich ihr auf das breite Kreuz: »Schluß für heute, altes Mädchen!«

Sie fand es aber sehr gemütlich und begann sich am Tisch zu schaben, daß alles ins Wanken geriet. Während ich krampfhaft mit der rechten Hand die Kaffeekanne umklammerte und aus dem linken Arm einen Auffangbogen konstruierte, um die Geschirrladung aufzufangen, erschien Anselmus mit dem Postboten im Gefolge.

»Gehst du«, sagte Anselmus und montierte in Windeseile seinen linken Holzpantoffel ab. Susanne verstand sofort, zumal das hausherrliche Fußgeschoß als klatschender Volltreffer auf ihrem Hinterteil landete. Widderhals betrachtete nachdenklich seine graue Socke, aus der der große Zeh vorguckte: »Fünf Weiber im Haus«, murmelte er. Dann zog er sich seinen Pantoffel wieder an und ging ins Haus.

Der bucklige Postbote, ein Grauhaar mit Schnapsnase und listigen Augen, die mich immer an einen Vorgartenzwerg erinnerten, setzte sich an den Tisch.

»Guten Morgen, Herr Postminister!« sagte ich.

»Guten Morgen, Herr von Goethe!« erwiderte er. Er langte in seine Tasche: »Da hätten wir drei Briefe. Einen von der Mama, einen von der Tante und einen von der Frau.«

Widderhals erschien mit der Schnapsflasche. Eine meiner Zigarren hing ihm traurig aus dem Mundwinkel: »Na, da wollen wir mal!« sagte er und zu dem Postboten: »Du kannst mir wohl auch nix Gescheiteres bringen als Steuermahnungen und Reklamen!«

Der Postbote stülpte das Glas und sah Widderhals wohlwollend an: »Wer soll dir schon schreiben, Depp, blöder! Von wegen deiner könnt’ die Post bankrott gehen!«

Ich hatte derweil den ersten Brief aufgemacht. Von der Gefährtin. »Na, was schreibt die Frau?« erkundigte sich Widderhals.

»Danke. Es geht allmählich besser. Sie kann jetzt schon Thermalbäder nehmen und wird massiert.«

Ich machte den zweiten Brief auf, von Tante Helene. »Wie geht’s denn dem Peterle?« fragte der Postbote.

Ich las vor: »Mein lieber Junge! Ich hoffe, daß es Dir einigermaßen geht auf Deinem Kuhdorf.« (Hinter >geht< konnte ich noch schnell umredigieren und las vor: «...in deiner ländlichen Idylle.«) »Mir geht es auch ganz gut. Schon seit zwei Wochen plagt mich die Galle nicht mehr. Das liegt sicher an Peterle, der jetzt sehr reizend ist. Er ist ein ganz artiges Hündchen geworden, schläft sehr viel und immer auf seinem Kissen. Der Appetit läßt allerdings noch zu wünschen übrig. Neulich raste er mal plötzlich zur Tür, als draußen eine Hupe war, so ähnlich wie Deine. Da hat er zwei Tage nichts gefressen. Aber jetzt hat er’s schon wieder hinter sich. Es regnet jetzt viel hier. Habt Ihr Peter denn niemals ein Regenmäntelchen umgetan? Ich hatte noch eins von Bella, aber als ich es ihm jetzt umband, blieb er wie vom Blitz getroffen stehen und war durch nichts zu bewegen, auch nur einen Schritt weiterzugehen.« (Der Brief hatte bisher auf mich gewirkt, als hätte ich eine Packung Rasiermesser verschluckt. Aber jetzt mußte ich doch lachen: mein Peterle, mein schwarzer Pfeil — und Regendeckchen! Ich sah seine rollenden Negeraugen vor mir. Aber sie meinte es ja gut!) »Mit der Frau Kapitän Hansen von nebenan hat’s neulich fast Verdruß gegeben. Ihre Asta war läufig, und als sie mit ihr zum Markt ging, grub sich Peter ein Loch durch den Zaun und lief hinterher und wollte es ausnutzen. Aber Frau Hansen hat ihn mit dem Schirm geschlagen. Am Nachmittag kam sie angebraust, wütend wie ein Puter. Peter sei bei ihr oben gewesen (sie wohnt im zweiten Stock) und habe ihr aus Rache an die Tür gemacht. Ich war erst ganz bestürzt, weil das doch gar nicht zu seinem Charakter paßt, und habe ihr gesagt, ich würde ihn strafen. Dann aber fiel mir ein, daß es ja nur der Geruch von der Hündin war, und außerdem hat das kleine Frauenzimmer (die Hündin) selber schuld. Eine gewisse Sorte Weiber kann’s eben nicht lassen, den Kerls freundliche Nasenlöcher zu machen, und dann hinterher sind sie entrüstet. Ich habe ihr (der Hansen) darüber einen Brief geschrieben, und am nächsten Tag kam sie und meinte, ich hätte ganz recht. Sie versöhnte sich mit Peter und war ganz gerührt, daß er nicht von ihrer Seite wich. Dabei war das alles wieder nur wegen des Geruchs. So leben wir Frauen von einer Illusion zur anderen. Aber was haben alte, einsame Weiber, wie wir beiden, auch sonst zu tun? Niemand vermißt uns. Deine Tante Helene.«

Der Postbote grinste: »Der alten Pute fehlt nix wie’n Waschkorb voll Kinder.«

»Kannst ihr ja ‘n paar von deinen Würmern abgeben«, meinte Widderhals und goß sich noch einen Schnaps ein.

Der Postbote sah mich an: »Tut Ihnen wohl sehr leid, Ihr kleiner Schwarzer?«

Ich konnte nur nicken.

Er stand auf: »Na, vielleicht können Sie ‘n bald holen.«

Auch Widderhals stand auf und zog sich mit dem sicheren Taktgefühl unverbildeter Naturen zurück.

Ich las noch den Brief von der Mama, die natürlich wollte, daß ich baldmöglichst käme. Andererseits verstände sie, daß ich viel zu tun habe. Ich schrieb ihr schnell eine Karte. Weffi kam mit einem Stöckchen, sah an mir hoch, ließ dann das Stöckchen fallen und steckte mir den Kopf zwischen die Knie. Ich tätschelte ihn: »Sobald wir Geld haben, holen wir uns das Peterle, was?«

Auch Zollo kam, rieb sich an meiner Hose und wurde ebenfalls getätschelt. Dann schlenderte ich durch den Garten an den Mühlbach. Die Puterhenne Agathe kam mir in den Weg, turmhoch emporragend über Enten und Hühnern.

»Tschucktschuck!« sagte sie freundlich und drehte das eine Auge zu mir auf. Augenblicklich war sie innerlich besonders unerfüllt, da sie nichts zu bemuttern hatte. Sonst benutzte man sie, da niemand sie schlachten wollte, zum Ausbrüten von Enteneiern. Jetzt aber waren gerade keine da, nur eine der Hennen hatte ganz spät noch mal Küken und führte sie. Agathe war dauernd hinter ihr her und versuchte, sich wenigstens als eine Art Vizemutter nützlich zu machen. Aber die Henne reagierte ausgesprochen sauer.

»Agathe«, sagte ich, »es ist alles so maßlos traurig, nicht wahr?«

Ich ging noch mal zum Tisch zurück, holte das Innere einer Semmel und gab es ihr. Dann schlenderte ich weiter den Bach entlang zur Sägemühle. ‘Wo waren denn meine Räuber? Aha — Weffi buddelte einen Maulwurfshügel aus. Er schien schon ziemlich im Keller angelangt zu sein, denn nur noch die Höschen und das Schwänzchen guckten ‘raus. Zwischen den Höschen hindurch flog Dreck auf einen großen Berg, der sich hinter ihm aufgetürmt hatte. Und der Dicke? Da kam er gerade angewatschelt — er hatte im Bach gesoffen. Ich hockte mich hin und breitete die Arme nach ihm aus: »Na, Löwechen?«

O Wunder, er kam auf mein Rufen zu mir! Ich zog ihn an mich. Er roch nach frischem Morast. Aber das störte mich nicht. »Löwechen«, sagte ich, »stell dir vor, unser armes Peterle. Er ist ganz still geworden.«

Der kleine Löwe hatte den Umtausch seines Bruders gegen Weffi, das Holzpferd, sehr übelgenommen. Immer wieder war er zu mir gekommen, hatte mich gekratzt und mit dem Kopf zu Weffi hingewinkt, als wollte er sagen: »Jetzt bring mal den Hanswurst da wieder weg und hol mir meinen Peter!« Als ich jetzt »Peterle« sagte, hätte ich schwören können, daß er es verstand. Er schob die Ohren nach vorn, sah sich überall um, sah dann wieder mich an, und als ich ihm zunickte, wurden seine goldenen Augen noch glänzender. »Es ist ja noch nicht soweit, Cockemännchen«, sagte ich hastig, aber er entwand sich mir und sauste im Galopp, einem Haufen nach allen Seiten fliegender Lappen gleichend, nach dem Bach zurück. Es sah genauso aus, als habe er sagen wollen: »Mensch, das ist ja großartig! Paß mal auf, wir ziehen jetzt zur Feier von Peterchens Wiederkehr eine dolle Sache auf!«

Ich richtete mich auf, lächelte hinter ihm her und ging dann weiter dem Sägewerk zu. Es gehört jenem schon erwähnten Herrn Waldemar Hürzinger. Waldemar war ein tüchtiger Mann, er sägte nicht nur, sondern hatte auch eine Tischlerei angegliedert, für die er von überallher die verschiedenartigsten Massenaufträge herbeiholte. Augenblicklich hatte er mehrere Tausend Klosettbrillen in Auftrag. Sie stapelten sich auf einer Wiese zu ganzen Türmen und wirkten in dieser nüchternen Massenhaftigkeit direkt gesellschaftsfähig. Hürzinger selbst war ein ungeheurer Brocken und hatte in früheren Jahren die Landesmeisterschaft im Gewichtheben besessen. Während ich ihm gegenüber keinerlei negative Gefühle, sondern im Gegenteil die Wertschätzung für den tüchtigen Geschäftsmann hegte, erfüllte mich seiner Frau gegenüber eine tiefe Vorsicht. Das war wieder so was kleines Blaßbraunes mit Veilchenaugen, aber einem dünnen, verkniffenen Mund, wie die Alte da in Waldenau. Nur daß sie keine Spitze hatte, sondern Hühner: vierzehn Stück. Jedes hatte im Flügel eine kleine Blechmarke mit einer Nummer und einen besonderen Namen, auf den es hörte. Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend hörte ich sie flöten: »Luise, Ulla, Ilse, Hedi, Grete, Frieda — puttputtputt-putt! Kommt, ihr Süßen, schnell herbei!«

Es war, als hätte sich ihre enge, hochmütige Natur auf diese Viecher übertragen. Sie machten einen ausgesprochen hochnäsigen Eindruck, hackten unsere harmlos freundlichen Hennen bei jeder Gelegenheit und schrien wie am Spieß, wenn sie mal wiedergehackt wurden. Diese Anmaßung, selbst in ihren Hühnern, hinderte jedoch die Motortischlereibesitzersgattin keineswegs daran, bei den armen, aber fröhlichen Widderhälsen hühnerische Männlichkeit zu schnorren. Sie hatte sich nämlich keinen Hahn gekauft im Vertrauen darauf, daß der prächtige Italienergockel der Widderhälse die Bedürfnisse ihrer geliebten Putteputts mit befriedigen würde. Was er denn auch tat. Er zerriß sich fast, der Arme, und ich hegte die ärgsten Befürchtungen, daß er eines nicht mehr fernen Tages wegen Überanstrengung in die Pfanne wandern würde.

Meinen beiden Rowdys gegenüber waren diese vierzehn Hoch-schnäbligen von ganz besonders weiblicher Impertinenz und Scheinheiligkeit. Wenn Cocki geruhsam die Brillentürme durchwanderte, um nach einem unbewachten Arbeiterfrühstück Ausschau zu halten, kamen sie von weit her gelaufen, nur um dicht vor seiner Nase zu bremsen und dann mit wildem Gegacker zu entfliehen: »Huuuuch — er ist hinter mir her!« Der Dicke hatte mich jedesmal fragend angesehen, sich dann aber angesichts meines drohend erhobenen Zeigefingers immer wieder mürrisch abgewandt: »Eigentlich sollte man diesen dummen Ludern den Kopf abbeißen, aber da du es nicht willst — meinetwegen.«

Selbst Weffi, das kleine Hammelchen, mit dem sie dieselben dummen Späße trieben, hatte einmal in seiner Verwirrung zugelangt und zu seinem eigenen Erschrecken einen Flügel in der Schnauze gehabt, an dem die wild flatternde Nummer elf (Liselotte) hing.

Alle diese Zusammenhänge ließen es mir geraten erscheinen, sozusagen prophylaktisch ab und zu zum Sägewerk hinüberzugehen und mit den Hürzingers ein paar Worte über das Wetter sowie über Hunde und Hühner zu wechseln. Da kam auch gerade die Hürzingerin aus dem Haus, die irdene Schüssel mit den Körnern in der Hand: »Putti-putti-putt!«

»Grüß Gott, Frau Hürzinger«, sagte ich, »ein schöner Morgen!«

Sie blinzelte mich mißtrauisch an, als erwarte sie, daß ich sie anschließend anpumpen würde. »Ja, ganz schön«, sagte sie dann vorsichtig. »Elfriede, Auguste — puttputt, kommt, meine Süßen!« Sie griff in die Schüssel und warf die Körner um sich, einen Teil direkt auf meine Schuhe, als wollte sie sagen: Geh da weg, du störst. — Aber ich wich nicht, von der Idee besessen, mir dieses verschlossene Herz zu erobern. Die Lieblinge kamen von allen Seiten angerannt und fraßen.

»Wirklich ein rührendes Bild!« sagte ich. Sie aber blickte unruhig umher. »Aurelia — Aurelia! Putteputt, komm, mein Liebling!«

»Vermissen Sie eine?« fragte ich nicht gerade sehr geistreich.

»Aurelia!« rief sie, ohne mich zu beachten, mit einer nun ganz hohen Stimme. Aus den Büschen am Bach antwortete ein wildes Gegacker. Dann stiegen ein paar Federn in die Luft und wurden vom Wind über die Wiese getragen. Und dann, ja, dann erschien Aurelia. Aber sie hing in Cockis Maul und war mausetot.

Er watschelte auf mich zu, die mörderischen Fänge in den dicken Hennenleib geschlagen, und warf mir Aurelia vor die Füße. Dann leckte er sich die blutigen Lefzen, sah mich strahlend an und wackelte mit dem Hinterteil: »Na, ist das ‘n Fest?«

Ich vereiste. Die Hennenmutter versteinerte.

»Um Gottes willen — Cocki«, stammelte ich schließlich, »bist du wahnsinnig, Kerl?« Und im nächsten Augenblick hatte ich ihn am Kragen und verdrosch ihm das Hinterteil.

»Er hat das noch nie getan!« stammelte ich weiter. »Ich leiste selbstverständlich vollen Ersatz — einen Moment —, ich bringe ihn nur weg — bin gleich wieder bei Ihnen.«

Die Hürzingerin stand schweigend da und ging dann ins Haus, Niobe vom Scheitel bis zur Sohle.

Drin im Zimmer kam Weffi angerannt, als ich Cocki auf die Erde setzte. Er roch interessiert an dem Hühnerblut. Ich baute den Dicken vor mir auf und gab ihm eine Ohrfeige: »Nicht das Hühnchen!« sagte ich und hielt ihm eine Feder hin, die ich noch in seinem Haar fand. »Nicht das Hühnchen!« Peng — eine neue Wucht! Er starrte mich fassungslos an und reichte mir dann eine Tatze.

»Dicker!« sagte ich verzweifelt. »Kannst du denn das gar nicht verstehen? Ich meine, ich begreife dich ja: das dumme Luder hat dich sicher wieder ganz verrückt gemacht, und du wolltest mir was bieten, weil du glaubtest, daß Peterle zurückkommt. Aber — nicht das Hühnchen!« Diesmal war es nur ein Klaps. Er sah mich tief gekränkt an und verkroch sich unter dem Tisch.

Frau Widderhals kam in die Stube: »Was war denn da los?«

Ich erzählte es ihr.

»Ach du lieber Gott!« sagte sie. »Da haben Sie ja was Schönes angerichtet!« Angesichts meiner völligen Vernichtung trat mütterliche Wärme in ihren Blick: »Na, lassen Sie man! Ich schick’ die Zenzi mit dem Geld ‘rüber, das brauchen Sie nicht selbst zu machen.«

»Was kostet denn so was?« fragte ich ängstlich.

»Die nehmen’s von den Lebenden und den Toten — so zehn Mark!«

Ich fingerte hastig in meiner Brieftasche: »Natürlich — und wenn es mehr kostet — spielt keine Rolle. Ist mir das unangenehm!«

Zenzi marschierte mit dem Geld ab, ich sah ihr durchs Fenster nach. Drüben war jetzt die Haustür geschlossen. Davor lag ein weißer Fleck: Aurelia. Zenzi ging hinein und blieb lange. Dann kam sie schließlich heraus, bückte sich nach dem Huhn und wanderte auf uns zu. Ich rannte ihr entgegen: »Na, was ist, Zenzi?«

»Zehn Mark«, sagte sie. »Das Huhn will sie nicht, ich hab’s mitgenommen.«

Ich sah voller Grauen auf die Hühnerleiche mit dem baumelnden Kopf. Dann riß ich mich zusammen: »Moment mal!« Ich nahm ihr das Huhn ab, griff mir den Löwen, und wir übten ein paar Minuten lang noch fleißig: »Nicht das Hühnchen!«

Das Zimmer füllte sich inzwischen mit Widderhälsen.

»Da habe ich mich gerade mal ‘n paar Wochen wohl gefühlt«, sagte ich. »Also — ich muß erst mal ‘n bißchen ‘raus.«

»Ja, wollen Sie denn nicht zu Mittag essen?« fragte Frau Widderhals.

»Nein, danke, mir ist der Appetit vergangen.«

Wir wanderten zwei Stunden lang, bis ich feststellte, daß ich einen ganz mörderischen Hunger hatte. Als ich zurückkam, öffnete sich die Küchentür, und Frau Widderhals kam heraus: »Noch immer keinen Hunger?«

»Hm.«

»Na — also! Ich habe Ihnen ‘s Mittagessen aufgehoben.«

Sie stellte es mir hin: Beefsteak mit Bratkartoffeln. Es schmeckte mir zu meiner eigenen Überraschung hervorragend. Dann begann ich zu schnuppern. Herrlicher Duft erfüllte das Haus. Ich stand auf und ging unauffällig an den Fenstern der Wohnküche vorüber. Da saßen sie und aßen Aurelia. Anselm drehte sich um, als ob er meinen Blick gefühlt hätte, und grinste durchs Fenster. Er hob eine Keule hoch: »Na?«

»Nein, danke.«

9

Nach dem Mittagessen versuchte ich abermals, meine durch Aurelias jähes Ende angegriffenen Nerven spazierengehend zu beruhigen. Die beiden Lümmels waren — offenbar noch unter dem Eindruck der Tragödie — ausnahmsweise folgsam. Ich fand eine ergiebige Brombeerhecke, futterte und kam allmählich wieder ins Lot. Ich brachte es sogar soweit, daß ich mich in der Lichtung oberhalb des Filzer-Hauses auf einen Baumstumpf setzen und fünfzehn Seiten an einer Novelle schreiben konnte.

Dann bemerkte mich der Filzer-Loisl, als er drunten seine sehr unwilligen drei Säue aus der Suhle in den Stall trieb, und kam zu mir herauf. Ich hatte in letzter Zeit mit ihm und Anselmus einige sehr feuchte Sitzungen im Stephanskirchner Dorfkrug abgehalten, und so konnte ich mich ihm jetzt nicht entziehen. Wie er da gegen mich anstieg mit seinen langen Haxn, den speckigen Hut mit der Spielhahnfeder schief aufs Ohr gehauen, dem roten Schnurrbart darunter, hätte er geradewegs aus der Wolfsschlucht entsprungen sein können.

Er klopfte meine beiden Lumpenkerle ab, die ihn begeistert empfingen, weil er so schön nach seiner Jagdhündin roch, und versicherte, er wollte mich auf keinen Fall stören. Worauf er eine Virginia hinter dem Ohr vorzog und sich auf den Nachbarstumpf setzte.

Dann erzählte ich ihm mein Pech mit Aurelia, und er erzählte mir darauf zum Trost, wie er seinerzeit nach Kriegsschluß, 1945, ganz allein die amerikanische Armee, und zwar ihre gefährlichste Formation, die Militärpolizei, besiegt habe. Und das passierte so:

Er, der Filzer-Loisl, sei so drei, vier Monate nach Kriegsende aus dem Entlassungslager heimgekommen: »... mit oan’ Durscht, woaßt, daß ich glei sechsmal hintaranand ‘s Kreuzeck hätt aufikraxln könna weg’n oa oanzige Maß!«

Damals war im Städtchen wie überall noch Sperrstunde, und ab neun Uhr sauste die MP mit schrillem Pfeifen, Armbinden und furchterregenden Colts durch die Gassen und arretierte Spätlinge. Der Filzer-Loisl, der jeden Abend beim Krugwirt tankte, um die im Entlassungslager versäumten Maße nachzuholen, war ein chronischer Spätling. Ein paarmal gelang es ihm, sich noch rechtzeitig zu drücken. Einmal konnte er allerdings nur entkommen, indem ihn die Stadler-Marie schleunigst durchs Fenster in ihre Kammer zog (es blieb nicht ohne Folgen, und sie war jetzt die Filzer-Bäuerin). Aber schließlich — eines Abends — erwischten sie ihn doch.

Auf den Schienen jener rätselhaften Seelen-Untergrundbahn jedoch, die die Landser aller Länder verbindet, wenn sie nicht mehr aufeinander schießen müssen, schlidderte Loisl geradewegs in das Herz der MP-Patrouille, zumal er außer seinem treuherzigen Blick einen Literkrug mit schwarzgebranntem Enzianschnaps bei sich hatte.

Der Krug war schon leer, als der Jeep vor dem Wachlokal bremste. Dort, in der Wache, regte sich in dem verhaftenden Sergeanten und seinen drei Untergebenen, die die Besatzung des Stützpunktes bildeten, das US-Nationalgefühl. Es veranlaßte sie, dem Gefangenen nunmehr ihrerseits das amerikanische National-Getränk — Whisky pur — vorzuführen. Als sie zu fünft zwei Flaschen White Horse ausgeblasen hatten, war der Filzer-Loisl bis auf einen kleinen Schluckauf gerade so richtig in Fahrt und führte einen Original-Schuhplattler vor. Die Militärpolizei revanchierte sich mit einem Cowboytanz. Dann marschierte der ganze Verein hinter das Haus und begann mit den Colts nach den leeren Flaschen zu schießen. Infolge Überdosierung des Zielwassers war aber das Ergebnis negativ. Loisl, der schon immer ein praktisch und nüchtern denkender Mann war, ging daraufhin ins Haus, holte sich eine Maschinenpistole und erledigte damit die ganze Flaschenreihe. Die MP fand den Einfall großartig und schenkte ihm die Maschinenpistole. Darauf ging man Arm in Arm ins Haus zurück und dort zu jener Sorte Starkbier über, das die Jungs barbarischerweise aus Konservenbüchsen tranken. Das Herz drehte sich dem Loisl im Leibe um, aber er trank mit, nur um — wie er seinen Freunden versicherte — diesen gräßlichen Anblick schnellstens loszuwerden.

Die Bieretappe des bunten Abends wurde durch die Ankunft der Nachbarpatrouille in einem Schützenpanzer unterbrochen. Sie war herbeigeeilt, weil man die Maschinenpistole gehört hatte, und tauschte mit Loisls Zechkumpanen eine Reihe markiger, wenn auch unverständlicher Ausdrücke. Loisl besänftigte sie durch einen weiteren Schuhplattler, worauf man sich gemeinsam der Vernichtung des restlichen Bierbestandes widmete. Zwei weitere Flaschen White Horse wurden mit in das Geschäft geworfen. Dann leuchtete es am Klappenschrank: die Nachbarpatrouille wurde per Telefon heimgerufen. Sie brauste im Schützenpanzer ab, nahm die Hausecke vom Apotheker mit und verschwand in der Dunkelheit.

Gegen vier Uhr morgens gab die MP das Rennen auf und sank in Schlaf, nachdem Loisl erklärt hatte, daß er für sie Wache schieben würde. Mit der geschenkten Maschinenpistole auf den Knien, setzte er sich vor den Telefonschrank und aß seltene Sachen, wie sehr salzige Wurst, Bonbons, eingemachte Ananas und Erdnußbutter. Auf der Grundlage einer großen Weißbrotschnitte baute er sich ganze Türme aus diesem Material auf und spülte sie dann mit Whisky herunter. So konnte es bleiben.

Bis gegen acht Uhr früh blieb es auch so. Die MP umschnarchte ihn in malerischen Stellungen, und Loisl war in das Stadium der Verdauung eingetreten, wobei er in regelmäßigen Abständen rülpste und gleich wieder das Hütl geraderückte.

Um acht Uhr schnurrte es am Klappenschrank: ein Anruf. Loisl versuchte vergeblich einen der Mannen zu wecken. Derweil schnurrte und blinkte es weiter. Loisl, der im Laufe seines bunten Landserlebens auch mal Telefonist gewesen war, rülpste noch einmal gewaltig und stieß dann entschlossen den Stöpsel in den Kontakt. Sodann verbrauchte er genau ein Drittel seiner frisch erworbenen amerikanischen Sprachkenntnisse, indem er »Hello!« sagte.

Es äußerte sich des längeren eine Stimme, die ungefähr die Lieblichkeit eines über einen alten Blecheimer geführten Reibeisens besaß. Sie gehörte, wie sich später herausstellte, dem Abschnittskommandeur, Full Colonel Roy C. Lawrence. Ein Full Colonel ist ein regulärer Oberst, der einen Adler auf der Schulter trägt und in der amerikanischen Armee bereits einen furchterregenden Rang bekleidet. Der Adler wird von den amerikanischen Landsern zwar >chicken< = Huhn genannt und die von dem Träger dieses Vogels gemachten Äußerungen respektive erlassenen Vorschriften >chicken-shit<, das heißt Hühnerdreck. Es empfiehlt sich aber trotzdem für einen amerikanischen Landser keineswegs, einen Full Colonel zu ärgern.

Soviel über die Rangordnung der amerikanischen Armee. Loisl hatte davon, als er den Anruf empfing, natürlicherweise keine Ahnung. Aber diesen knurrig-blubbernden Tonfall kannte er noch von seinem eigenen Verein her und ließ ihn deshalb respektvoll eine Weile rauschen.

Colonel Roy C. Lawrence fragte zunächst (wie sich ebenfalls später herausstellte), warum sich denn, zum Teufel, keiner von den versoffenen MP-Säcken ans Telefon geschert habe und wo man zweitens an diesem nunmehr angebrochenen glorreichen Samstag eine Lederhose und einen Gamsbart kaufen könne. Er wolle beides mit in die Staaten in Urlaub nehmen.

Als die Stimme nach der Darstellung dieses Sachverhaltes eine Pause machte, verbrauchte Loisl, dem allmählich der Schweiß auf die Stirn trat, das zweite frisch dazugelernte Drittel Amerikanisch und sagte möglichst gedehnt und faul, wie er es gehört hatte: »Okay.«

Im Hörer war ein Moment Schweigen, und dann explodierte es. Der Colonel versprach, die gesamte Stützpunktbemannung sehr schnell zu Corned beef zu verarbeiten. Loisl entnahm dem Tonfall, daß ein ernsthafter militärischer Kurzschluß eingetreten sei, und blickte verzweifelt in die friedlich schlummernde Runde. Schließlich gab er dem Sergeanten, an dem er leichte Bewußtseinszeichen zu bemerken glaubte, einen Tritt vors Schienbein. Der einzige Erfolg war, daß der Sergeant vom Stuhl fiel und verstärkt zu schnarchen begann.

So entschloß sich denn Loisl, seine letzte Sprachreserve ins Feuer zu führen, und sagte in der nächsten Gesprächspause einen am vergangenen Abend häufig und stets mit großer Herzlichkeit gebrauchten Ausdruck: »Son of a bitch!« (Hundesohn.)

Im Hörer schnappte jemand nach Luft, und dann folgte ein tiefes Schweigen. — Na, das scheint ihn ja gefreut zu haben, dachte sich Loisl und hängte schnell ein, ehe ihn weitere Fragen in Verlegenheit bringen konnten.

Von acht Uhr fünfzehn bis neun Uhr blieb die strategische Lage wiederum unverändert. Um neun Uhr zeigte der Sergeant leichte Lebenszeichen, richtete sich auf, gähnte ungeheuer und starrte Loisl eine lange Weile tiefsinnig an. Dann kratzte er sich den Stoppelkopf, grinste, nahm Loisl die Maschinenpistole weg und zeigte auf einen Bretterverschlag in der Ecke, der offensichtlich als Arrestzelle gedacht war. Loisl seinerseits zeigte auf den Klappenschrank und machte: »Rrrrr!«

Der Sergeant tat das mit einer großartigen Handbewegung ab: »To hell with it!« und zeigte abermals, diesmal mit dem Daumen, auf die Arrestzelle. Loisl zuckte ziemlich beleidigt die Schultern, ging in sein Eckchen und versuchte dort, seine 1,89 Meter auf einem Feldbett zu arrangieren, um seine versäumte Schlummerportion nachzuholen. Als er gerade einschlafen wollte, rüttelte ihn der Sergeant und gab ihm eine Tasse Kaffee. Das fand Loisl ja nun wieder nett. Er schlürfte den Kaffee und legte sich dann wieder hin. Mit einem letzten Blinzeln sah er noch, wie der Sergeant sich daranmachte, seine drei Kollegen zu wecken, indem er sie wie die Pflaumenbäume im Herbst schüttelte.

In diesem Augenblick fuhr draußen ein Wagen vor, die Tür wurde aufgerissen und gebar einen Oberleutnant im Stahlhelm, Pistole umgeschnallt, der »attention!« (Achtung) schrie. Die vier Figuren hatten noch nicht ihre Knochen gesammelt, als der Colonel in die gute Stube brauste. Er hatte die Feldmütze schief auf dem Ohr, eine gallige Gesichtsfarbe und sechs Reihen Orden. Mit einem einzigen Blick des alten Kommißlers erfaßte er die Situation einschließlich der leeren Flaschen. Der Oberleutnant nahm schweigend ein Formular aus der Tasche, und es erfolgte nun ein Austausch der Gesichtsfarben, indem der Colonel rot anlief und die vier sich gelb färbten. Sodann analysierte der Oberst fünf Minuten mit Windstärke zwölf den Charakter des Kommandos und lieferte nochmals alle fernmündlichen Bemerkungen ab, die sich infolge Filzerscher Sprachschwierigkeiten als Blindgänger erwiesen hatten. Auf diese Weise kam es, daß Loisl nach Abschluß der Aktion vom Sergeanten erfuhr, welche Köstlichkeiten militärischen Dialektes am Telefon vor ihm ausgebreitet worden waren. Nach Schluß der Ansprache setzte sich der Oberleutnant an den Bürotisch, spannte das Formular in die Schreibmaschine und begann nach dem Diktat des Obersts zu schreiben. Es waren nur vier Zeilen, aber die schienen es in sich zu haben, denn die Gesichter der vier verwandelten sich in graue Wellpappe, während sie mit zitternden Fingern ihre Uniform zuknöpften und sich die Helme aufstülpten.

Dann stand der Oberleutnant auf, um dem Oberst für die Unterschrift Platz zu machen. Der Colonel setzte sich und zog mit grimmigem Genuß den Kugelschreiber aus der Brusttasche. In diesem Augenblick bemerkte er Loisls Gamsbarthütl, das auf dem Stuhl neben dem Bürotisch lag. Der Grimm in seinem Gesicht glättete sich augenblicklich. Er legte den Kugelschreiber hin und richtete mit noch immer aufrechterhaltenem, aber offenbar nicht mehr ganz durchbetoniertem Grimm eine Frage an den Sergeanten.

Die Wellpappe auf dem Gesicht des Sergeanten verbesserte sich etwas, so daß es ungefähr einer Garnisonsmauer in der Frühsonne glich. In strammer Haltung gab er eine Reihe von Erklärungen und wies dabei auf Loisl, der, in der Tür seiner Zelle lehnend, die Vorstellung mit gemischten Gefühlen verfolgt hatte. Einerseits erfüllte ihn Genugtuung, daß ihn das alles nichts anging, andererseits taten ihm die Kumpels leid. Der Colonel wandte sich nun an Loisl und erzählte ihm eine lange Sache auf englisch, wobei er ihm das Hütl vors Gesicht hielt und dazu bittende Kinderaugen machte. Loisl begriff ungefähr, was er wollte, und sah auf seine Kumpane. Ihre flehenden Blicke krochen ihm unter die Haut, und er mußte daran denken, wie der Sergeant ihm irgendwann zwischen zwölf und zwei Uhr morgens den Arm um die Schulter gelegt und die Fotos seiner Frau und Kinder gezeigt hatte. So verbeugte er sich denn ritterlich gegen den Colonel und sagte so kavaliersmäßig wie möglich: »Son of a bitch!«

Der Oberleutnant vereiste und faßte nach der Pistole, der Colonel wurde einen Augenblick rot und biß sich auf die Lippen. Dann aber machte ihn irgend etwas im Gesicht von Loisl stutzig, und er sah fragend den Sergeanten an.

Dessen Gesicht hatte sich inzwischen abermals in Wellpappe verwandelt, aber dann dämmerte etwas darin, er wies auf den Klappenschrank und gab hastig eine Erklärung ab. Der Colonel sah fragend wieder auf Loisl. Alle sahen jetzt auf ihn, und es wurde ihm ziemlich ungemütlich. Der Sergeant fragte ihn mit der Freundlichkeit, die man einem Dreijährigen entgegenbringt: »Was du meinen, was sagen, wenn du sagen >son of a bitch<?«

Loisl erklärte eifrig: »Son of a bitch — alles in Ordnung, alles okay, kann Hut haben!«

Aus der Brust des Sergeanten entwich der angstvoll gestaute Atem, als habe man eine Schweinsblase angestochen. Er machte eine stramme Rechtswendung zum Colonel und übersetzte. Der lief rot an, der Oberleutnant ließ die Pistole los und zauberte schnell ein Taschentuch heraus, das er sich vors Gesicht hielt. Der Colonel inzwischen blies die Backen auf und wurde nun ganz blau. Dann gab er es auf, ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und brach in ein dröhnendes Gelächter aus. Die unteren Ränge stimmten mit Abstand ein und schließlich auch der leicht befremdete Loisl. Keuchend übersetzte ihm der Sergeant, was er da von sich gegeben hatte, und nun lachte er lauter als alle anderen. Einen Augenblick waren sie nichts als sieben Soldaten aus zwei Völkern, die sich gemeinsam halb zu Tode wieherten.

Dann aber war es beim Oberst plötzlich Schluß und eine halbe Sekunde später auch bei den anderen. Bei Obersten muß man immer auf so was gefaßt sein, Loisl wußte das. Das Gemüt von Obersten ist wie ein mit Stecknadeln durchsetzter Heuhaufen, man wirft sich ‘rein und denkt, man kann sich räkeln, und plötzlich sticht’s einen. Der Colonel wog den Hut nachdenklich in der Hand und streichelte den Gamsbart. Darauf sagte er dem Oberleutnant etwas, der schnell hinauslief und mit drei Stangen Zigaretten wiederkam. Er legte sie vor Loisl hin und sah ihn fragend an. Der Sergeant machte ihm hinter dem Rücken des Obersts Zeichen, da Loisl sie aber nicht verstand, beschloß er vorsichtshalber, gar nichts zu machen. Darauf sagte der Colonel wieder etwas, die vier spritzten nach allen Richtungen auseinander und erschienen mit weiteren Zigarettenstangen. Jetzt waren es schon zwölf. Loisl multiplizierte sie schnell mit Reichsmark, dividierte sie durch Schwarz-Butter und zog dann die Quadratwurzel in Enzian — es schwindelte ihm. Er nickte. Der Oberst haute ihn auf die Schulter, schüttelte ihm die Hand und setzte sich den Hut auf. Die Truppe war pflichtschuldigst begeistert.

»Wie du finden meinen Oberst?« fragte der Sergeant.

»Wie an Pfingstochs!« sagte Loisl treuherzig und erschrak darauf sehr. Das Wort Pfingstochs wurde von der amerikanischen Armee gewissenhaft erwogen und sogar in dem Feldlexikon >Deutsch für die Truppe< nachgeschlagen. Schließlich einigte man sich — da man es nicht fand — darauf, daß es etwas Schmeichelhaftes sei. Der Colonel, nunmehr seelisch vollkommen aufgeweicht, entdeckte Loisls Lederhose. Er zeigte darauf mit dem Ausdruck eines alten Bernhardiners, der Bauchweh hat. Der Verein signalisierte wieder, Loisl zog etwas geniert (wegen der geflickten und nicht mehr ganz sauberen Unterwäsche) die Gamsledernen aus und wurde in eine amerikanische Arbeitshose gehüllt. Drei feldgrüne Unterhosen wurden auch gleich für ihn beiseite gebracht. Der Oberst strahlte, las dann mit strengem Gesicht wieder das Formular durch, änderte drei Zeilen, strich die vierte ganz und entschwand mit seinem Oberleutnant. Bei einigen weiteren Bieren erzählten die vier dem Loisl, was sich wirklich abgespielt habe, und brachten ihn dann mit dreißig Stangen Zigaretten (für Hütl plus Hose) und fünf Flaschen Whisky im Jeep bis auf seinen Hof.

Der Oberst hatte zwar verziehen, aber das Kommando wurde abgelöst. Ein Oberst darf sich niemals von Gefühlen überwältigen lassen und muß angesichts der strategischen Situation unerbittlich sein. Das neue Kommando hatte strenge Instruktionen. Gleich am ersten Abend nagelte es Loisl ein. Der aber hatte sich schon vorher mit Enzian und einem neuen Hütl eingedeckt, und am nächsten Morgen kam mit schrillem Pfiff die Militärambulanz und entfernte aus der MP-Wachstube den Kommandierenden Sergeanten mit schwerer Alkoholvergiftung. Der Rest der Besatzung wurde abgelöst. Loisl war, da sich niemand um ihn kümmerte, einfach nach Haus gegangen, um von dort aus die neu erworbenen Zigarettenstangen auf den Markt zu werfen. Nachdem er im Laufe der nächsten zwei Wochen noch zwei Einheiten der amerikanischen Armee auf die gleiche Weise erledigt hatte, erging offenbar eine Geheimanweisung, ihn nicht mehr zu verhaften und vor allem nicht mehr den Versuch zu unternehmen, ihn unter den Tisch zu trinken. Er konnte noch so spät aus dem Krug schlingern und sogar vor dem Wachlokal randalieren, man ließ ihn in Ruhe und kniff höchstens ein Auge grinsend zu, während man an ihm vorbeiging, als sei er Luft.

»Da habe ich mich aus dem Geschäft zurückgezogen«, sagte der Filzer-Loisl und blickte träumerisch auf seinen Hof nieder. »Das neue Dach da und der Schnitzbalkon — und der Stall — die sind immerhin dabei hängengeblieben!«

Ich wischte mir die Lachtränen aus den Augen. Mein Gott, all das hatte ich schon ganz vergessen! Wie viele Jahrhunderte war das her? Ich stand auf: »Na, dann werde ich mal wieder nach Hause wanken. Dank dir, Loisl, hast mich getröstet!«

Er grinste mich an: »Wegen der blöden Henne? ‘s nächstemal gibst nicht mehr als fünf Mark, verstehst mich?«

Wir schüttelten uns die Hände, dann pfiff ich den Hunden und ging, als sich wie üblich keiner darum kümmerte, in Richtung Heimat.

Dort traf ich ein Bild des Friedens. Die Sonne des späten Oktobernachmittags lag auf der Bank vor dem Haus. Die Bäume entlang dem Mühlbach färbten sich schon bunt, der Mühlbach rauschte, die Turbinen summten. Susanne grunzte im Stall, und das Geflügel marschierte schon in Richtung Stange ab. Auf der Bank vor dem Haus saßen Widderhals und Müllerknecht Matthias, weißbestaubt und einträchtig nebeneinander, und tranken Bier. Ihnen gegenüber saßen Zenzi mit dem Zeichenblock und Marianne mit einer Strickerei. Aus der Küche hörte man Mutter Widderhals rumoren. Wie ich erfuhr, war inzwischen ein Lastauto dagewesen, und die beiden Männer hatten Mehlsäcke getragen. Auf Grund dieser Leistung wurden sie von dem Weibervolk ungeheuer verwöhnt, und wenn einem mal das Bier ausging, wurde ihm gleich nachgegossen. Ich setzte mich dazu und versuchte Loisls Abenteuer zu erzählen. Man winkte aber allerseits ab, und ich stellte fest, daß diese Geschichte zur örtlichen Volkssaga gehörte. Wie denn die Lage drüben mit den Hürzingers sei, erkundigte ich mich.

»Die werden sich zwei neue kaufen für das Geld«, meinte Marianne, »das kam den alten Geizknochen gerade recht.«

Mama Widderhals erschien mit einer großen irdenen Schüssel vor dem Bauch, setzte sich auch noch auf die Bank, die darob bedenklich in den Fugen knarrte, und begann Kartoffeln für das Abendbrot zu schälen. Eine Weile war es ganz still. Die untergehende Sonne tünchte die Wolken rot, ein ganz leichter Wind kam durchs Tal, im Bach hörte man die Forellen springen, und Mariannes Stricknadeln klimperten laut in der gläsernen Stille. Dann stand die Mama auf: »Ich muß meine Hühner zu Bett bringen.«

Anselmus sah ihr wohlgefällig nach und schmauchte dabei sein Pfeifchen. »Sie zählt sie jeden Abend«, sagte er.

Nach einer Minute war die Mama schon wieder da: »Die Weiße fehlt«, sagte sie, »mit den ganzen Küken!«

Mit einemmal war die Abendstille zersprungen. Mein Herz begann zu klopfen. Auf Hühner war ich heute empfindlich. Es entstand eine erregte Debatte, und man einigte sich schließlich darauf, daß es wohl der Fuchs gewesen sei. Oder ein Marder? Vielleicht hatte sie sich auch nur verlaufen, Hennen haben ja manchmal komische Ideen. Alle bis auf die Mutter, die sich unglücklich in die Küche zurückgezogen hatte, verstreuten sich und riefen: »Puttputt—pütepüte«, man bog Zweige auseinander, rief in alle Büsche, schlug in die Hände — nichts. Ich war den Hohlweg hinaufgegangen und hatte für einen Moment die verschwundene Henne über einer dicken Kröte vergessen, die am Bach saß und mich mit ihren goldenen Augen ansah. Ich krabbelte sie auf dem warzigen Kopf. Sie ließ es geschehen und blähte nur rhythmisch ihren Kehlsack auf. In diesem Augenblick hörte ich hinter mir ein Geräusch. Die Henne? Nein, es war Weffi. Richtig — Weffi — wo war er überhaupt die ganze Zeit gewesen? Als er näher kam, erstarrte ich. Er hatte Blut um die Lefzen und eine weiße Hühnerfeder auf der lackschwarzen Nase. Ich setzte mich glatt in die feuchte Bacherde — allmächtiger Strohsack!

»Weffi«, sagte ich, »hast du etwa deinen Bruder imitiert? Willst du uns denn alle gänzlich unmöglich machen, Kerl?« Ich nahm ihm schnell die Feder von der Nase und wusch ihm seinen Fellbart mit dem Bachwasser. »Du lieber Gott, wenn man jetzt irgendwo die Hühnerleiche findet!«

In Gedanken sah ich mich meine Koffer aufladen und wieder einmal mit meinen beiden von dannen ziehen. Sollte ich ihm eine Tracht versetzen? Er saß so niedlich an meinem Knie, schlotterte mit den Vorderhöschen und sah mich mit triefendem Bart und schiefgeneigtem Kopf aus seinen stillen braunen Augen an. Nein, das konnte ich nicht. Erstens stand es ja noch nicht fest, und zweitens — er hatte es ja in aller Unschuld getan, wenn er es getan hatte. Ich zog ihn an mich und legte meinen Kopf auf seinen: »Ach, Weffchen!« Vielleicht hatte er Blut und Feder auch nur von Aurelias Resten auf dem Müllhaufen. Vielleicht! Ich stand müde auf und schlich dem Hause zu.

Dort hatte man sich offenbar schon mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Die Mutter Widderhals wirtschaftete auf dem Herd. Mit der übertriebenen Eifrigkeit des Schuldbewußten sagte ich: »Vielleicht ist sie inzwischen schon zurück?«

»I wo«, sagte die Mutter Widderhals, »die hätten wir gesehen. Es ist keine gekommen in der ganzen Zeit.«

»Na, ich würde doch noch mal nachsehen!«

»Ist ja schon ganz dunkel im Stall.«

»Ich hole meine Taschenlampe!«

Sie sah mich an, und es war mir, als ginge ihr Blick direkt in mein Herz und erblicke dort die schauerliche Wahrheit. Sie zuckte die Schultern: »Meinetwegen.«

Ich holte die Taschenlampe, sperrte die Hunde ein, und dann gingen wir in den Stall. Ich war noch nie des Abends im Hühnerstall gewesen. Seltsame Atmosphäre. Wir mußten uns tief durch die kleine Tür bücken, und als wir uns dann auf richteten, saßen sie um uns herum in langen Reihen, auf ihren Stangen und Brettern, der Gockel und alle seine Hennen. Viele hatten, als wir eintraten, schon die Köpfe ins Gefieder gesteckt. Zwischen manchen ging noch eine leise Unterhaltung hin und her. Dann waren sie durch den Lichtschein alle munter, und Dutzende von kalten Hühneraugen sahen uns forschend und mißtrauisch an. Auf einem Brett ganz für sich allein thronte gewaltig wie ein Turm Agathe. Ihr Leib war riesig aufgebläht.

»Tschuck-tschuck!« machte sie aus ihrer Höhe und drechte den starken Schnabel in unsere Richtung. Und da, als sie diesen Laut ausstieß, teilte sich ihr Gefieder, und heraus schaute der Kopf der verschwundenen Henne. Rechts und links von ihr gab es nun immer mehr Lücken in ihren Federn, kleine gelbe Köpfchen guckten heraus, und ein allgemeines silbernes Getschiepe, schlaftrunken und wohlig, schwebte mir entgegen. Die dicke Widderhälsin stand mit offenem Mund: »Ja — da legst di nieder!« sagte sie dann. »Weil die Glucke ihr die Kleinen nicht zum Bemuttern gibt, hat sie einfach die ganze Familie übernommen!«

Ich holte tief Atem und wischte mir die Stirn. »Agathe«, sagte ich dann, »ich könnte dich küssen!«

Die Widderhälsin kicherte ahnungslos: »Sie könnt’s brauchen! Vielleicht schaff’ ich mir im Frühjahr doch ‘nen Puter für sie an!«

Drinnen in meiner Stube teilte ich meinen letzten Riegel Schokolade mit Cocki und Weffi. Es war eine teuflische Sorte aus dem Dorfladen. Mit roter Füllung. Cocki schlang seinen Teil mit einem Ruck hinunter, Weffi, der diesmal das größere Stück bekam, schmatzte mit geschlossenen Greta-Garbo-Augen minutenlang daran herum. Das rosa Zeug piekte ihm im Gaumen.

Es klopfte. Ich fegte mit einer einzigen Handbewegung die beiden Brüder vom Sofa herunter. Gleich darauf schob sich das heute abend besonders verschlagen aussehende Gesicht Anselm Widderhalsens um die Türkante.

»Abendessen wollt’s Ihr wohl gar nicht?«

»Mensch, das hätte ich ja ganz vergessen!«

»Na also.« Er geleitete mich und mein Gefolge die Treppe hinunter. Unten setzte er sich an meinen Tisch. Er schob mir mit mütterlicher Zartheit die Schüsseln hin. Es war sowohl überwältigend wie verdachterregend. Was hatte er bloß? Ich hatte kaum die letzte Käsescheibe hinter meinem Adamsapfel, als er aufstand und mit meinem Hut und Mantel über den Arm hereinkam: »Es möcht’ kühl wer’n, wann ma hoamkimma!«

»Wieso?«

Er sah mich befremdet an: »Stammtisch heit!«

Ich war durchaus nicht in Stimmung, aber was sollte ich machen? Ich nahm meinen Zoo an die Leine, und wir wackelten eine halbe Stunde lang ins Dörfchen zum Krugwirt.

Drinnen in der Wirtsstube war schon der große Ofen geheizt. Er hockte gewaltig mitten im Raum, war aus braunglasierten Kacheln und hatte lauter runde Kuhlen im Bauch. Ich sah mich um, und wieder einmal berührte mich die ganz eigenartige, in sich ruhende Atmosphäre des Raumes. Dunkelgebeizte Holztäfelung bis zur halben Wandhöhe. Schwere eichene Sitzkojen, jede mit einem stämmigen Tisch in der Mitte, die gewürfelte Decke darüber. Zu Häupten jeder Koje an Ketten hängend ein holzgeschnitztes Symbol aus dem Arbeitsleben der Älpler. Hier war es ein Bäcker mit hoher Mütze, das Tablett mit der Torte in der Hand, dort eine Bäuerin, den Karren mit hochgehäuftem Gras vor sich herschiebend, ein scherenschwingender Schneider in der nächsten, eine butternde Magd, gegenüber der Förster mit der Flinte, der Holzfäller, der Schreiner.

An den Wänden oberhalb der Täfelung hingen die Schützenscheiben. Von vielen Schüssen durchlöchert, sah man da Auer-hähne, röhrende Hirsche, bärtige Förster mit großen Schnurrbärten, aufgehende Sonnen hinter Almhütten und vollbusigen Sennerinnen — alles in jener Manier gemalt, auf die ein zynisches Städtertum das Schlagwort >Spinat mit Ei< geprägt hatte. In diesem Raum wirkte es plötzlich sinnvoll, und es war gar nichts mehr zum Lachen daran. Mit Stefans Gehirnverrenkungen kam es noch immer mit.

Und dann waren da noch diese anderen Bilder, die mir Ansel-mus mal erklärt hatte: eine Reportage über sechs jetzt schon verblaßte und rissige Scheiben hin. Es handelte sich um eine prachtvolle Riesenschlägerei zwischen zwei opponierenden Gruppen. Die eine hatte vor einigen Jahren beim Oberwirt, die andere beim Unterwirt getagt. Wechselseitige Stoßtruppunternehmungen hatten in der Demolierung beider Lokale resultiert, und vor der Kirche dann hatte es die entscheidende Schlacht gegeben, in die sich leider als völlig ungebetene Gäste die Beamten des verstärkten Überfallkommandos aus der Kreisstadt eingemischt hatten. Ungelenk, aber treuherzig waren da die beiderseitigen Wirtshäu-

ser gezeigt mit herausfliegenden Alplern und einer Reihe knüppelschwingender Polizisten davor. Auch die Kapitulation der Revoluzzer vor der Kirche war nicht versäumt und der Umtrunk der frisch Verurteilten im Nebenzimmer des Unterwirts. Ich mußte angesichts dieser gemalten Saga an Breughel denken.

Vor dem Ofen war der Stammtisch im Gange, den man daran erkannte, daß kein Tischtuch drauflag. An ihm saß ein halbes Dutzend Einheimischer und schlief bei einer Erzählung des Huber-Toni. Der Huber-Toni war schwerhörig, und da er annahm, daß alle anderen es auch seien, schrie er so laut, daß es nur diese Veteranen aushielten, die seine Erzählungen schon ungefähr fünfhundertmal gehört hatten und dabei ihr Nickerchen machen oder sich über etwas anderes unterhalten konnten. Aus den Ohren wuchsen dem Huber-Toni dicke weiße Haarbüschel und aus den Taschen der zerfetzten Hose zwei Bierflaschenhälse. Die hatte er vorsichtshalber schon jetzt eingesteckt, damit er sie beim Heimgehen nicht vergaß. Wenn man sich neben ihn setzte, roch es genauso, als ob jemand wo ‘reingetreten sei. Es wurde mir jedoch versichert, das sei vom Schnupftabak. Ich war mir nie ganz klar, ob’s stimmte. Als verdächtiges Indiz für eine andere Ursache sprach die schwärmerische Hingabe, mit der sich Cocki an Tonis Knie zu schmiegen pflegte. Er machte dabei den Buckel krumm, als ob er sich in etwas wälzen wolle.

Im übrigen war er — Cocki — beim Krugwirt immer gereizter Stimmung, denn der Krugwirt hatte einen Bernhardiner, Kuno, dem immer zu heiß war und der nie Appetit hatte. Meist schlief er als ein riesenhafter, in sich zusammengefallener Fellhaufen vor seinem gefüllten Fleischnapf.

Als ich mit meinem Diktator zum erstenmal beim Krugwirt war, watschelte er selbstverständlich sofort auf den Fleischnapf zu. Kuno machte ein Auge auf. Der Diktator zeigte ihm die Zähne. Darauf stand Kuno auf. Es war überwältigend, selbst für den Dicken. Er mag sich vorgekommen sein wie eine Blattlaus vor einer Kröte. Jedenfalls verzichtete er auf weitere Anmaßungen und schmiegte sich zum erstenmal in seinem Leben hilfesuchend an mein Knie.

Weffi dagegen hatte Kunos Herz gewonnen, indem er auf die harmloseste Weise mit ihm zu spielen versuchte. Er hatte, als wir jetzt das Lokal betraten, einen Tannenzapfen mitgebracht und sich eine Weile stillvergnügt damit amüsiert, indem er ihn aufrecht zwischen seinen Vorderpfoten hielt und daran knabberte. Schließlich wurde ihm aber dieses Alleinspiel langweilig. Er nahm den Zapfen, taperte damit auf den zusammengefallenen Kuno zu und ließ den Zapfen vor ihn hinfallen. Kuno öffnete ein blutunterlaufenes Auge, um zu kontrollieren, ob etwa jemand aus seiner Schüssel fraß. Als dies nicht der Fall war und Weffi nur einen Moment seitwärts dagegenwitterte, schloß er das Auge wieder. Weffi rollte den Zapfen mit der Nase gegen Kunos Vorderpfote, die das Format eines Kalbsfußes hatte, und machte einmal »Weff!«, worauf Kuno das Auge wieder öffnete und gegen den Zapfen witterte, ohne den Kopf zu erheben. Weffi trat ganz nah an ihn heran, trampelte dabei natürlich auf den Kalbsfuß, roch ihm dann in all seiner Herzensreinheit in die Nase und schrie dann ein gellendes »Weff« direkt ins Ohr. Das Herz blieb mir stehen, denn Kuno erhob sich daraufhin zu seiner vollen Größe. Weffi — davon keineswegs beeindruckt — (Hund ist Hund!) richtete sich an ihm hoch und roch ihn an den herabbaumelnden, schwarz eingefaßten Lefzen. Dann setzte er ab und hielt ihm ermutigend seinen Po mit dem wedelnden Schwänzchen hin. Kuno machte mit aufgerissenem Walfischmaul eine Kniebeuge und beroch dann gnädig das Dargebotene. Weffi nahm sofort den Tannenzapfen und warf ihn dem Riesen wieder hin. Kuno roch nun an dem Zapfen, und dann tat er etwas Rührendes. Er nahm ihn ins Maul, ganz offensichtlich, um dem Kleinen einen Gefallen zu tun, und warf ihn unter der atemlosen Aufmerksamkeit Weffis ein paarmal darin herum. Damit war aber Kunos Quantum an abendlicher Energie erschöpft, denn er sank wieder in sich zusammen, legte den Kopf auf den Tannenzapfen und stieß einen Puster aus, daß es in Weffis Kastenbart richtig wehte. Weffi stand einen Augenblick ratlos mit schiefem Kopf. Aber es half nichts, sein Zapfen war weg. Darauf drehte er sich um und besah sich die Schüssel. Mit schlotternden Vorderhosen (er schien sich des Wagnisses voll bewußt zu sein) begann er zu fressen. Kuno machte ein Auge wieder auf, aber es passierte — gar nichts? Er schloß es wieder, rollte sich noch enger zusammen und ließ den ersten Schnarcher ertönen.

Am Stammtisch schüttelte man darüber die Köpfe. Das war ein ungeheurer Gunstbeweis, denn Kuno war sonst keineswegs so gnädig. Ich hatte es an einem Nachmittag selbst miterlebt. Damals kam ein verirrter Passant mit seinem großen Wolfshund herein, auch so ‘ne Art Diktator. Kuno lag wie üblich schlafend vor seinem. Napf. Der Wolfshund ging mit gefletschten Zähnen darauf zu und stieß ein warnendes Knurren vor sich her. Im Augenblick, als er am Napf war, geschah etwas Überraschendes und zugleich Unheimliches. Der Fellhaufen war plötzlich hoch. Mit einem schattenhaften Satz, so schnell, daß man ihn kaum verfolgen konnte, hatte er den Wolfshund am Genick, schleifte ihn quer durch das Lokal, heraus auf den Hof, hinunter zum Bach, haute den großen Kerl dort zwei-, dreimal wie einen alten Lappen auf die Erde und schmiß ihn in den Bach. Dann wogte er wieder ins Lokal zurück, roch angewidert an seinem Napf und brach dahinter in sich zusammen.

Ja, so war Kuno. Heute abend aber durfte Weffchen die ganze Schüssel leeren. Dann ging er wieder auf seinen Freund zu. Er roch zuerst an seinem Fuß und tippte dann mit der Vorderpfote an Kunos Riesenflappe. Er tat es mit einer seiner typisch kokett verzierten Bewegungen, den Vorderteil der Pfote ganz hochgebogen, als wenn eine Dame der Gesellschaft dem Kavalier die Hand zum Kuß reicht. Das Ganze hieß: »Darf ich?« Kuno machte ein Auge auf und legte sich dann auf die Seite wie eine Muttersau, die ihren Ferkeln die Tankstellen präsentiert. Weffi rülpste anerkennend, wobei ihm ein Stück Fleisch wieder aus der Schnauze fiel, dann stieg er über den Napf weg, drehte sich ein paarmal um sich selbst und bettete sich dann in Kunos Haargezottel. Kuno hob vorsichtig den linken Kalbsfuß hoch und legte ihn weiter nach vorn, damit er den Kleinen nicht drücke. Dann begannen sie zweistimmig zu schnarchen.

Ich hätte auch gern mitgemacht. Aber ich wollte doch meinen Freund Anselm nicht beleidigen und ebensowenig den Herrn Postminister, der sich jetzt auch zur Feier einstellte. Schließlich tat sich die Tür auf, und es erschien auch noch der Filzer-Loisl. Anselm erzählte eine Stunde lang die Sache mit den Hennen und Agathe, Fini sorgte für stets gefüllte Maßkrüge und machte die nötigen Striche auf den Bierdeckeln. Nach dem fünftem Strich, den sie beim Filzer-Loisl machte, wobei sie sich an ihm vorbei über den Tisch lehnte, betrachtete dieser nachdenklich ihr gerundetes Hinterteil und hob dann die Hand. Es war ein spannender Augenblick. Anselm stieß mich mit dem Knie unter dem Tisch an und kniff ein Auge zu. Er sah in diesem Moment aus wie der Satan in Person. Wir beide starrten gebannt auf Loisls Hand, aber sie blieb in der Luft hängen, fünf Zentimeter von Fini entfernt. Auf Loisls Gesicht malte sich ein tiefer seelischer Zwiespalt. Wir wußten, was dahinterlag. Einerseits hätte er gern, andererseits »ging« Fini mit dem Xaver. Xaver gehörte zu den Holzfällern, die hoch oben am Berg Bäume umlegten und nur einmal alle vierzehn Tage oder gar nur einmal im Monat herunterkamen, um ihr Bierquantum zu absolvieren. Xaver war zwar heute noch nicht da, aber man hätte es ihm sicher erzählt, und er hatte die Angewohnheit, Leute, die der Fini zu nahe traten oder ihm sonst nicht paßten, mit beiden Armen über den Kopf zu heben und mit Scheibe und Rahmen durchs Fenster zu feuern. Schließlich siegte der Gedanke an Xaver in Loisl, und er ließ die Hand wieder sinken. Fini beendete ihren Strich, richtete sich auf, schob Loisl den Hut ins Gesicht und sagte: »Ist auch besser! Er kommt heute abend!«

Lupus in fabula — die Tür ging auf, der Holzfällerverein stampfte in die Stube. Fini stellte noch einen Tisch heran, Stühle wurden gerückt, Xaver holte eine Zither, und dann wurde gesungen, lauter Schnaderhüpferl. Es war wie auf dem Bauerntheater. Ich werde bei so was zunächst immer etwas verlegen, und ich wurde es auch jetzt, zumal ich kein Wort verstand. Es wurde nämlich auf urbayrisch gesungen, war aber offenbar sehr gepfeffert. Später entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß ich mitsang. Ich war schon in der Schule aus der Gesangstunde herausgeflogen, weil ich jeden Akkord versaute. Die Männer hier waren denn auch etwas erstaunt. Irgend etwas schien in ihrem Chor nicht zu stimmen, und der Xaver hielt ein paarmal mit dem Zupfen inne und horchte mit schiefem Kopf. Endlich merkten sie, daß ich es war, und da tranken sie mir freundlich zu und sangen trotzdem weiter.

Was dann noch geschah, weiß ich nicht mehr genau, ich hatte beträchtliche Erinnerungslücken. Einmal, sehr spät, wurde ich wach, war aber nicht mehr im Lokal. Etwas rollte und stieß unter mir. In einem Arm hatte ich den Dicken, im anderen Weffi, und ich fand heraus, daß wir alle drei auf einem Schubkarren lagen. Den Karren schob der Xaver, und neben ihm ging der Anselm mit einer Stallaterne, so ‘ner richtigen alten, rechteckigen mit ganz verdreckten Scheiben. Die Stallaterne schwankte ungeheuer und Anselm auch. Gerade sagte der Xaver: »Paß auf, Krüppel, damischer, halt dei Stang fest, sonst fallt mir der Doktor ‘nunter!«

Dann weiß ich noch, daß wir außen an unserem Haus waren und Anselm sich kolossale Mühe mit mir gab. Er hatte mich an die Wand gelehnt, die Stallaterne stand auf der Erde, und er tätschelte mir das Gesicht: »Geh, Spezi«, sagte er, »jetzt tust mir ein’ Gefall’n und fällst nit umi, i schließ nur mal auf!«

In der Nacht (was davon übrig war) kämpfte ich mit lauter Riesenhennen, die sich mir dauernd auf die Brust setzten. Schließlich gelang es mir, die gackernden Ungeheuer bei den Hälsen zu packen und in einen kreisrunden schwarzen See zu werfen. Es gab prächtige Kringel, als sie wie die Steine darin verschwanden. Aber dann wallte der See, und heraus tauchten Kopf und Hals von Peterle, er sah mich jammervoll an, daß es mir das Herz zerriß, und verschwand wieder. Ich mußte ihn retten. — Peter! Ich zog mir die Jacke aus und sprang nach, schnappte nach Luft und saß aufrecht im Bett. Meine Zähne klapperten. Peter!

Dann sah ich mich um. Ich lag angezogen auf dem Bett, meine Schuhe standen auf der Erde davor. Quer über meine bestrumpf-ten Füße lümmelte sich der Dicke, und neben mir pustete das Papp-Pferd. Die helle Mittagssonne schien schon ins Zimmer. Peter!

»Wißt ihr eigentlich, wie gut ihr es habt?« sagte ich zu den beiden Lümmels. »Klaut Hühner, geht mit Herrchen saufen, und unser Peterle, unser süßes, kleines Peterchen, mein Fliegenbein, mein Jenseitsauge — verkommt derweil auf Tantenkissen! Halt aus, Peterle, halt noch ein bißchen aus, nur ein ganz kleines bißchen!«

Aber am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte >Prächtig< herausgeholt und wäre zu ihm gefahren. Diese Erscheinung da aus dem Teich — diese Augen —, er hatte mich gerufen, ich wußte es. Über tausend Kilometer hinweg hatte er mich gerufen. Herrchen sollte helfen! Und Herrchen konnte doch nicht.

10

Nun war es schon der 14. November. Die Tage krochen. Die Tage und die Nächte. Für Peter gingen sie ineinander über, wurden zu einer einzigen Symphonie des Leides, des grenzenlosen Verlassenseins, des unaufhörlichen Vermissens. Äußerlich schien er immer ruhiger zu werden. Das, was Tante Helene ihm in zärtlicher Bemühung an Extrahäppchen, Liebkosungen und langen Ansprachen bot, nahm er in matter Freundlichkeit entgegen. Es war aber nicht so, daß er nun langsam erlosch. Im Gegenteil: alles in ihm spannte sich mehr und mehr an, gleich einer Feder, die immer enger und enger zusammengedreht wurde. Wofür? Er wußte es selbst nicht. Wußte nur, daß dies hier nicht das Ende war, nicht sein konnte. Herrchen und Frauchen waren noch da. Sie dachten an ihn — er fühlte es. Es war ein Schmerz, ein süßer Schmerz dieses Gefühl, und es fraß allmählich die tiefsten Schichten seines Unterbewußtseins an.

Es war Nacht. Peter hockte unter seiner Decke und horchte in die Finsternis. Cocki — Herrchen — Frauchen. Da war er wieder, der Schmerz, aber so stark wie noch nie. Er hob den Kopf und stieß ein langes, auf und ab schwellendes Wolfsheulen aus. Es drang herauf aus dem unterirdischen Zentral-Ich aller Hunde, aus jener Tiefe, wo die Erinnerungen an Urururgenerationen gestapelt liegen, die ihren Schmerz und ihre Einsamkeit über die endlosen Steppen heulten.

Die Tür tat sich auf, und das Menschengebirge im Nachtgewand erschien: »Was ist denn los, Peter, was heulst du denn mitten in der Nacht?«

Dieses Menschengebirge! Plötzlich haßte er es, weil es ihn von allem fernhielt, das er liebte — dieses dumme, dicke, nichts verstehende Menschengebirge! Und langsam ging er auf die Frau zu, die Haifischzähne gefletscht, Hölle in seinen Augen. Tante Helene wich zurück und klammerte sich an den Herd: »Peter!«

Sie warf einen Topf mit Wasser um — er rollte vor Peters Füße und bespritzte ihn mit seinem Inhalt.

Er fuhr zurück und setzte sich wieder auf sein Kissen. Tante Helene sah ihn noch immer entsetzt an. Eine große Bitterkeit stieg in ihr auf: »Peter, wie konntest du nur! Du hättest mich ja gebissen, Peter, wenn nicht der Topf hier...«

Aber wie er so dasaß auf seinem Deckchen, nun wieder eine demütige schwarze Jammerfigur, unendlich einsam vor dem mitleidlosen, makellosen Weiß der Kacheln, rührte er ihr Herz. Sie kniete sich ächzend vor ihm nieder und streckte — noch etwas vorsichtig — die Hand gegen ihn aus: »Peterchen?«

Er hob das linke vordere Fliegenbein und legte es auf ihren dicken Finger. Seine Negeraugen mit zwei weißen Halbmonden an jeder Seite sahen sie bittend an: »Versteh mich doch!«

Tante Helene schluckte. Ihre Hand fuhr durch seine Stirnlocke: »Na, hast wohl schlecht geträumt, und ich habe dich erschreckt. Leg dich hin, ich deck’ dich zu.«

Er kauerte sich hin und zog die Beine unter den Leib wie ein kleines Reh. Die Decke ließ er ganz still über sich ziehen.

Sie stand müde wieder auf, sah ihn eine Weile kopfschüttelnd an. Dann seufzte sie, löschte das Licht und schloß leise die Tür.

Und wieder war es Vormittag. Peterchen war die übliche Viertelstunde mit Tante Helene auf dem Gäßchen gewesen. Sie ließ ihn jetzt immer los, denn er machte schon lange keine Ausflüge mehr, beroch nur seine Stammbäume, erledigte das Übliche und trottete dann mit nickendem Köpfchen und schlackernden Ohren hinter ihr her ins Haus. Genau das gleiche hatte sich auch heute abgespielt. Nun lag er wieder auf dem Kissen und döste. Tante Helene saß am Fenster und strickte. Draußen war es neblig, die letzten Dahlien hingen traurig die Köpfe, und der Steinzwerg glänzte vor Nässe. Peterchens magere Flanken hoben und senkten sich gleichmäßig. Sein rötlicher Zauselbart lag auf den schmalen Pfoten. Gleich dunklen, traurigen Schemen glitten wieder Erinnerungsbilder durch seinen Sinn. Er lag auf der Schwelle des alten Hauses, Herrchen und Frauchen waren in die Stadt gefahren, aber sie würden bald wiederkommen. Er hörte Cocki schlappend aus dem Bassin saufen, dann kamen tipp-tipp Weffis Krallen über die Platten des Gartenwegs. Peter machte die Augen auf. Die Vision verblaßte. Das Tipp-tipp-tipp war das Klicken der Stricknadeln. Er schloß die Augen und fing wieder an zu drosseln. Tante Helene sah über die Brille hinweg zu ihm hinüber und seufzte: »Ach, Peterchen, was war das nur heute nacht?«

In diesem Augenblick war draußen eine Fanfare, eine Dreiklang-Fanfare! Herrchens Wagen! Peter fuhr mit einem Ruck hoch. Noch einmal die Fanfare, jetzt ganz nah. Herrchen — diesmal war kein Zweifel! Peter stieß einen markerschütternden Schrei aus, schnellte vom Kissen auf Tante Helenes Schoß, von ihrem Schoß durch das halboffene Fenster. Ein großer dunkler Wagen glitt draußen vorbei. Etwas stach Peter in den Schenkel — das waren die Kakteen. Er riß den Topf mit heraus, überschlug sich draußen auf dem Rasen, fegte mit einem einzigen, gewaltigen Satz — was er noch nie getan — über den hohen Zaun, dem Wagen nach. Der hielt jetzt an der Ecke, ein großer Herr stieg aus. Er raste auf ihn zu, winselnd vor Freude — und dann war es doch nicht Herrchen.

Der große Herr beugte sich herunter: »Nu, was willst du denn, du kleiner Kerl?«

Aber Peter machte mit eingezogenem Schwänzchen kehrt und schlich wieder zurück. An der Tür empfing ihn Tante Helene, ihr Gesicht war blaß, die eine Hand hatte sie auf den wogenden Busen gepreßt: »Jetzt ist es genug, Peter«, sagte sie, »ich habe fast einen Herzschlag bekommen! Das halte ich nicht mehr aus! Ich schicke dich zurück, ich schicke dich gleich zurück. Und der Kaktus ist auch kaputt — nein, ich schicke dich zurück.«

Peter drückte sich an ihr vorbei und legte sich wieder auf sein Kissen. Tante Helene schloß ihn ein und ging dann zur Frau Kapitän.

11

In der Nacht zum 14. November hatte ich zunächst ruhig geschlagen. Dann aber begann ein merkwürdiger Traum. Wieder von Peterchen. Er war ganz anders als der, in dem sein Kopf aus dem Teich auftauchte, viel stärker, fast wie eine Vision.

Ich sah auf viele hintereinanderliegende Höhenzüge, die da in der dunklen Nacht lagen. Sie verschwammen unter einem bösen, verschleierten Mond. Es war kalt, und über allem brütete ein Gefühl des Unheils und der Verlassenheit. Und dann kam über diese Höhen von weit, weit her ein Heulen, das herzdurchbohrende Klagen eines einsamen, unglücklichen Hundes. Plötzlich erkannte ich die Stimme: Peterchen! Es war Peterchen, der mich rief. Er brauchte mich, er war in größter Not — er drohte zu vergehen — Peter!

Ich begann verzweifelt mit der bleiernen Decke des Schlafes zu kämpfen, die erdrückend auf mir lag. Ich mußte ihm helfen. Aber ich war gelähmt. Doch ich gab nicht nach, ich spannte meine Energie bis zum Bersten an und riß mich hoch: Peter — ich komme!

Wach! Ich saß aufrecht im Bett, kalten Schweiß auf der Stirn. Licht. Das Brautbild der Widderhälse mir gegenüber an der Wand. Darunter, auf dem Sofa, meine beiden Kumpane. Weffi hob den Kastenbart unter der Decke, blinzelte zu mir herüber und gähnte. Der Dicke schob das Ohr vom Auge und warf mir einen ernsten Blick zu. Wum-wum-wum machten die Turbinen. Der Nachtwind wehte den Vorhang ins Zimmer. Aber noch immer hatte ich das Heulen im Ohr. Nur langsam schien es in der Nacht zu verklingen. Peter!

Ich saß in meinem Bett und zog die Decke eng um mich. Es war kalt, und obendrein ließ mich die innere Erregung so frieren, daß meine Zähne klapperten. Plötzlich fiel mir etwas ein: Wenn nun das Heulen kein Traum war? Hatte man nicht schon gehört, daß Hunde über enorme Entfernungen hinweg wieder zu ihren Herren zurückkamen? Mein frierendes Gebein versuchte mich zu überreden, daß dieses Unsinn und es viel vernünftiger und vor allem bequemer sei, im warmen Bett zu bleiben. Mein Herz aber empörte sich über diese Schlappheit. — Du lebst hier wie die Made im Speck, verdammter Faulpelz, während dein geliebter kleiner Hund sich vor Schmerz verzehrt. Und dir lohnt es nicht mal aufzustehen? Raus mit dir!

Ich zog mir Schlafrock und Pantoffeln an und sah zunächst aus dem Fenster. Rabenschwarze Nacht. »Peter?« Nichts. Ich holte meine Stablampe und leuchtete aus dem Fenster. Der Strahl warf eine Lichtreuse durch dünnen Nebel und riß kahle Sträucher mit ein paar letzten Blättern aus der Finsternis. Der Drahtzaun der Weide glitzerte im Brillantbehang der Nebeltropfen, das Wasser des Mühlgrabens gab einen trüben Reflex.

»Peter?«

Na also, sagte die Stimme der Faulheit, da siehst du’s. Hättest du dir sparen können. Geh wieder ins Bett.

Aber ich gab mir keinen Pardon, zog mir den Mantel über den Schlafrock und schlich mich durch den Flur, in dem nur das Stampfen der Turbinen schwang, ins Freie. Ich ging bis zur kleinen Brücke, leuchtete umher, rief halblaut. Plötzlich stieß mich etwas an. Eine heiße Zunge fuhr über meine Hand. Ich schrak zusammen, riß die Leuchte herum: »Peter?«

Es war Zollo. Er war aus seiner Hütte gekommen und wedelte mich an. Seine Augen flammten grün im Lichtreflex. Ich beugte mich zu ihm nieder, zog seinen Kopf an mein Gesicht: »Kein Peterle, Zollo.« Die Nachtluft begann mich im Hals zu kratzen. Ich schlich mich wieder ins Haus.

Als ich am Morgen erwachte und aus dem Fenster schaute, war die Luft scharf und rauh. Wetterumschlag. Deshalb wohl der schwere Traum. Aber etwas in mir nahm diese bequeme Erklärung nicht an. Es behauptete, daß Peterles Ruf über die Berge hinweg mehr gewesen sei als ein Traum und daß überhaupt allerlei Unheil in der Luft liege.

Nimm dich zusammen, sagte ich zu mir. Es gibt keine Unheilsahnungen.

So? Wirklich nicht? fragte die andere Stimme, und ich wußte, was sie meinte. Bisher waren nämlich meine Unheilsahnungen immer bestätigt worden, und gerade jetzt hatte ich sie ganz stark. Alles in mir krümmte sich zusammen, als ob es einen Schlag erwarte.

Unter dem Fenster marschierte die weiße Henne mit ihren Küken vorbei und dahinter gravitätischen Schrittes Agathe. Ihre starken Füße traten vorsichtig das Gras der Wiese, in der unzählige, mit den Silberperlen des Morgennebels beschwerte Spinnennetze ausgespannt waren.

»Agathe«, sagte ich, »du bist doch eine vernünftige Person, es ist doch alles Unsinn, nicht wahr?«

Sie drehte den Kopf schief gegen mein Fenster und sah mich mit einem dunklen Auge ernst an: »Tschuck-tschuck — nimm es nicht zu leicht.«

Anselmus bog um die Ecke. Er hatte eine halblange Pfeife aus dem Mundwinkel hängen, die Hände in den Taschen und den Kragen seiner uralten mehlbestaubten Jacke hochgeschlagen.

»Mit wem reden Sie denn da?« fragte er.

»Ich? Ach — mit Agathe.«

»Hm.« Er paffte an seiner Pfeife, nahm sie, als kein Rauch kam, aus dem Mund und inspizierte sie mit melancholischem Gesichtsausdruck. Dann steckte er sie kalt wieder zwischen die Zähne und sah mich an: »Waren Sie heute nacht draußen?«

»Ja — ich hörte einen Hund bellen. Haben Sie es auch gehört?« Die sogenannte Vernunft in mir griff hastig nach dieser Möglichkeit. Dann wäre ja alles erklärt gewesen: Mein Unterbewußtsein hatte das Hundebellen in den Schlaf übernommen und daraus dann den Traum von Peter gebaut.

Aber Anselmus schüttelte den Kopf: »Nichts gehört.«

»Na, Sie haben wahrscheinlich fest geschlafen.«

»Nein.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Warum denn nicht?«

Er nahm wieder die Pfeife aus dem Mund und studierte ihren leeren Kopf. Die Falten in seinem Gesicht schienen sich zu vertiefen.

»Moment«, sagte ich, ging zum Schrank und holte eine Zigarre für ihn. Es waren übrigens nur noch drei Stück in der Kiste. Ich mußte haushalten, denn vorläufig konnte ich mir keine neuen leisten.

Er steckte die Zigarre an und blies den ersten Zug durch die Nase: »Ja, wissen Sie — es ist nämlich so: Wir kleinen Müller tun uns immer schwerer. Die großen Mühlen fressen uns alles weg. Nur die allernächsten Nachbarn lassen noch aus Gefälligkeit bei mir mahlen. Außerdem nehmen sie mir ‘n bißchen Strom ab, aber ich muß ihn ganz billig liefern, weil er schlecht ist. Ich brauchte ‘nen Spannungsregulator, aber das Geld reicht nicht mal für die Turbinen. Die sind jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und vor fünf Jahren überholt. Wenn der Hürzinger nicht soviel Strom für seine Maschinen nehmen würde und im Sommer ‘n paar Gäste kämen — ich wüßte nicht, wovon ich meine Mädels satt machen sollte. Aussteuer kann ich ihnen sowieso nicht geben. Da kann man eben manchmal nicht schlafen.«

Ich seufzte: »Oh, das kenn’ ich. Ja, man hätte eben als ein Hürzinger geboren werden sollen. So in einem hin mit Klosettdeckeln, Bierkisten und Särgen. Der braucht keinen Finger krumm zu machen, und das Geld plätschert ihm nur so in den Beutel.«

Anselmus zeigte mit dem Daumen gegen das Sägewerk: »Der? Mit dem möcht’ ich nicht tauschen. Nicht um die Welt. Und Sie würden’s auch nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Erstens verdient er sein Geld auch nicht so einfach. Der muß sich auch ganz schön abstrampeln, bis er seine Aufträge beisammen hat. Na, und dann die Alte!«

»Wieso? Ich meine, sie ist mir auch nicht sympathisch, aber...«

»Na, der ist doch nichts wie ihr Kuli. Die Säge hat sie mit in die Ehe gebracht, und sie gehört ihr noch heute. Gütertrennung, verstehen Sie? Von ihm will sie nichts mehr wissen, aber wehe, wenn er mal nach anderen Mädels schaut. Sie wirft ihm sogar vor, daß sie keine Kinder bekommt. Als ob das an ihm läge! Man sieht’s ihm nicht an, dem Dicken da drüben — aber der hat’s weiß Gott nicht leicht.«

Er seufzte: »‘s wird eben überall nur mit Wasser gekocht — aber davon, daß man’s weiß, hat man auch nicht mehr Geld. Na, schönen Dank für die Zigarre.« Er nickte mir zu, steckte die Hände wieder in die Taschen und schob um die Ecke, die Schultern eingezogen, als trage er einen Doppelzentner.

Ich zog fröstelnd den Schlafrock um mich und schloß das Fenster. »Aoo — aoo — aoo«, machte es hinter mir. Der Dicke wälzte sich auf dem Teppich. Als ich ihn ansah, wischte er sich mit den Pfoten über die Augen, besah sie dann prüfend und leckte sie ab.

»Ja, ja, gleich«, sagte ich und griff die Borwasserflasche und das Wattepaket. Sobald ich mich zu ihm niederkniete, war auch Weffi da und stieß den Kopf gegen meine Hand.

Ich schob ihn zur Seite: »Warte doch, erst kommt der Dicke.«

Worauf sich Weffi neben Cocki auf den Rücken warf und ebenfalls über die Augen wischte.

»So — Augen fertig«, sagte ich zu Cocki, »jetzt kämmen!« Ich nahm mir zuerst den Bauch vor und holte ihm mehrere Dutzend kleiner Kletten und sonstige undefinierbare Krümel aus seinen Behängen.

»Jetzt Ohren und Rücken!« Aber er wollte durchaus nicht aufstehen, ließ die dicke Zunge höchst albern seitwärts aus dem Maul hängen und tatzte nach meinem Gesicht.

»Na, dann kommt eben erst Weffi dran!«

Sobald ich anfing, Weffi zu kämmen, war der Dicke auf und hielt mir sein Hinterteil hin.

Nach dem Zurechtmachen ließ ich die beiden ‘raus. An der Tür wartete schon Zollo auf sie. Dann wusch ich mich selbst und ging ins Wohnzimmer, wo das Frühstück schon bereitstand. Sofort waren Cocki und Weffi wieder da und warteten auf ihre Häppchen. Neuerdings setzte sich auch Zollo zu ihnen. Cocki hatte es ihm gnädig erlaubt.

Ich fütterte sie der Reihe nach und las den >Waldenauer Heimatboten<. Preiskegeln beim Unterwirt. Ein Verkehrsunfall an der Fichtaler Kreuzung. Natürlich wieder ein Motorradfahrer. Leberecht Pruchtdörfler in Waldenau hatte seinen Laden >total neu renoviert< und lud zur Besichtigung seiner nahezu geschenkten Sonderangebote ein. Der Stadtrat erwog noch immer die Wasserleitung nach der Rienzinger Höhe.

Während ich es las, schien es mir, als hörte ich eine einfache, schöne Melodie: Heimat. Es war mir, als sei ich schon hundert Jahre hier. Das Herz hatte neue Wurzeln getrieben und schickte sich an, sie in diese Erde zu senken. Ich seufzte: ein überaus unvernünftiger und hindernder Körperteil — dieses Herz.

Marianne kam und machte sich am Ofen zu schaffen, während ich wohlgefällig ihre Formen betrachtete. Ein netter Käfer. Ich nahm mich moralisch an die Kandare und erkundigte mich nach ihrem Schreinergesellen. Er käme morgen, erzählte sie, und dann wollten sie nach Stephanskirchen ins Bauerntheater.

»Sagen Sie mal, Marianne«, sagte ich, während sie nun das Geschirr abräumte, »kommen denn da eigentlich genug Leute zu so einer Vorstellung?«

»Ach, viele!«

»Auch so junge Mädel und Burschen?«

»Freilich. Wundert Sie das?«

»Ja. Ich meine, wo es doch im kleinsten Ort ein Kino gibt.«

Sie faltete das Tischtuch zusammen: »Ach, haben Sie eine Ahnung! Es gibt so viele Mädel hier auf den Einödhöfen ringsum, die das ganze Jahr nicht ins Kino kommen. Die werden ganz schön streng gehalten. Und außerdem — es ist doch richtiges Theater. Für uns wenigstens — Sie werden sicher darüber lachen.«

»O nein«, sagte ich, »das ist gar nicht zum Lachen. Und wenn ich’s mir genau überlege, ist’s eigentlich eine schöne Sache, daß es vom Kino noch nicht umgebracht worden ist.«

»Soll ich Ihnen auch eine Karte besorgen?«

»Ja — o ja, bitte!«

Dann hob ich die Sitzung auf und machte mit den beiden den traditionellen Morgenspaziergang. Ebenso traditionell begleitete uns Zollo eine kurze Strecke und blieb dann bedauernd zurück: »Tut mir leid — muß das Haus bewachen.«

Ich schritt kräftig aus. Die Luft war wie Stahl, und die bösen Ahnungen begannen zu weichen. Wir gingen zu den Buckelwiesen.

An diesem Morgen wurden Cocki und Weffi zur selben Minute von ihren Bedürfnissen übermannt und suchten sich außerdem denselben Wiesenbuckel aus. Ein Buckel mußte es sein, so schrieb es der Ursinn vor, weil man von dort aus in dieser behinderten Situation einen Feind am ehesten sehen konnte. Der Buckel war so spitz, daß sie beide zugleich keinen Platz darauf hatten, und so gingen sie denn nach einigem Geschubse Rücken an Rücken gepreßt in die Knie. Es sah aus wie der kaiserlich-königliche österreichische Doppeladler seligen Angedenkens.

Ich lachte Tränen. Die beiden sahen mich vorwurfsvoll an: »Dabei gibt’s doch nichts zu lachen!«

Nach vollendetem Werk wurde — ebenfalls nach ehrwürdiger Wildhundtradition — gescharrt, um die Spur zu verwischen, aber bei dieser Zeremonie war doch der Ursinn schon stark in Vergessenheit geraten, denn die aufgewühlte Erde flog überallhin, nur nicht auf das vollendete Werk.

»Na, ihr Clowns«, sagte ich, »dann wollen wir mal umkehren, Herrchen muß arbeiten.«

Daheim setzte ich mich mit meiner Schreiberei ins Wohnzimmer, während die beiden sich irgendwohin verkrümelten. Die Zeit verrann, die Feder kratzte, der Ofen bullerte. Einmal erschien Marianne, um ein paar Braunkohlen nachzulegen. Als sie merkte, daß ich schrieb, schlich sie auf Zehenspitzen wieder hinaus.

Und dann kam es — wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Vor dem Fenster waren Stimmen und ein Hin und Her, das ich zunächst — in meine Novelle vertieft — nur mit halbem Ohr auf nahm. Plötzlich jedoch flog die Tür auf, und im Türrahmen stand ein sehr blasser und verbissener Anselmus. In seiner einen Hand hing der kleine Löwe, den er am Nackenfell gepackt hatte, und in der anderen Hand hing eine dicke, blutige Henne. Tot. Im Flügel hatte sie ein Blechschild. Es war eins von den Hürzinger-Hühnern!

»Ich hab’ ihn gerade erwischt!« sagte Widderhals. »Wieder unten am Bach!« Er ließ Cocki fallen, der mir einen scheelen Blick zuwarf und sich unter das Sofa verkroch. Dort legte er den Kopf auf die Pfoten und rollte die Augen zwischen Anselmus und mir hin und her. Er sah mürrisch und besorgt aus.

»Um Gottes willen«, sagte ich. »Wissen es die Hürzingers schon?«

»Nein. Aber gegen Abend werden sie’s vermissen.« Er sah mit einem kalten Blick auf Cocki: »Wenn ich meine Flinte dabei gehabt hätte, wär’ er nimmer.«

»Nein, Anselmus«, sagte ich, »das hätten Sie nicht getan.«

Er wich meinem Blick aus und ließ sich mir gegenüber in den Stuhl fallen: »Aber der Hürzinger schießt ihn ab — und der Cocki verdient’s. Er hat mal Blut geleckt, und damit ist’s aus. So was erschießt man.«

»Nicht, solange ich da bin!« sagte ich. Dann sahen wir uns beide in die Augen, bis wir uns ganz verstanden. Ich stand auf, holte die Zigarren von nebenan, und wir teilten uns die beiden letzten. Dann holte er die Flasche und zwei Gläser. Wir stießen an. Es war alles klar zwischen uns.

Ich mußte mich mehrmals räuspern, bis ich es heraus hatte: »Schade, Anselmus. Hab’ mich sehr wohl gefühlt bei euch.«

»Er ist mein größter Stromkunde — der Hürzinger.«

»Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen. Ich muß es. Sagen Sie ihm, Sie hätten mich ‘rausgeschmissen. Und hier — sind zwanzig Mark. Kaufen Sie ihm davon zwei Hennen, wenn ich weg bin.«

»Wann fahren Sie?«

»Sobald ich gepackt habe — sagen wir in zwei Stunden.«

Die Tür öffnete sich, und der ganze Harem quoll herein. Ka-threin und Marianne setzten sich aufs Sofa, die Zenzi kletterte auf Papas Schoß und Polli auf meinen. In all meinem Kummer mußte ich konstatieren, daß sie kleine Dreckschuppen am Hals hatte. Die Mutter blieb in der Tür stehen und sah mich streng und gramvoll an: »Das ist sehr böse, Herr Bentz.«

»Er fährt sofort«, sagte Anselmus, »und da liegt’s Geld.«

Polly auf meinem Schoß fuhr herum: »Fort — für immer? Nein!« Sie warf mir die Arme um den Hals und weinte. Ich streichelte mechanisch ihr Haar und sah sie mir alle an: mein kleiner Verein. Die Mutter knüllte jetzt die Schürze in der Hand. Anselmus goß mir schnell noch einen ein, weil er sah, daß es mir feucht in den Augen wurde. Zenzi auf seinem Schoß starrte mich entsetzt an. Kathrein drüben auf dem Sofa war ebenso blaß wie Marianne neben ihr. Zwischen Mariannes Knien tauchte plötzlich ein gewisser Löwenkopf auf. Sie zerrte Cocki vor und hob ihn auf den Schoß: »Was ist denn das bloß mit dir? Warum machst du denn das?«

»Es ist merkwürdig«, sagte ich, nur um irgend etwas zu reden, »daß er sich nie um unsere eigenen Hühner gekümmert hat!« Um unsere! Ich gehörte ja schon nicht mehr dazu.

»Die blöden Viecher von denen da drüben!« sagte Kathrein und schaute böse auf das tote Huhn, das neben der Tür lag. Die Mutter beugte sich seufzend nieder, hob es auf und ging in die Küche zurück.

Cocki sprang von Mariannes Schoß und kroch unter meinen Stuhl. Die anderen gingen schweigend hinaus. Ich starrte auf das Blatt vor mir. Da stand ein halbvollendeter Satz: »Ich habe auch niemals angenommen, daß du...« An dieser Stelle war Anselm hereingekommen. »Ja«, sagte ich in die leere Stube, »ich hätte auch nicht angenommen, daß es so hier enden würde!«

Cocki kam unter dem Stuhl vor und setzte sich hin. Wir sahen uns eine Weile schweigend an. »Ja«, sagte ich, »sieh mich nur an! Du bist schuld!«

Seine Augen, seine goldenen Augen voll tiefen Grams, ließen mich nicht los. Die Ohren schienen noch schwerer und länger als sonst. Er seufzte, stand auf und setzte sich dann direkt an meinen Schuh. Ich klopfte ihm mit dem Knöchel des Fingers auf den Kopf: »Was geht bloß da drinnen vor? Bist du verrückt, Löwechen? Was soll jetzt aus uns werden? Wo sollen wir hin?«

Er drehte sich um und reichte mir die Tatze hin. Ich schob sie weg. »Nein, laß das! Nicht das Hühnchen, hat Herrchen gesagt, ein — pfui — ein Hund!«

Das Licht in seinen Augen erlosch. Er kroch wieder unter den Stuhl. Es kratzte an der Tür, und als ich öffnete, erschien ein völlig ahnungsloser Weffi mit dreckverklebtem Bart und Zollo im Gefolge. Ich knudelte sie beide ab, richtete mich dann mühsam auf. Alles tat mir plötzlich weh. »Also, dann wollen wir mal. Ihr bleibt hier.«

Den Gang entlang — die Turbinen — meine Zimmertür, an der von Anfang an die Klinke lose herunterhing — mein Zimmer, meine geliebte Höhle mit dem Brautpaar über dem Sofa. — Ich erschrak, am Fenster stand jemand. Es war Marianne. »Ich dachte, ich könnte Ihnen beim Packen helfen«, sagte sie.

»Fein, Marianne, in Kofferpacken war ich schon immer schwach.«

Nach zwei Stunden waren wir soweit. Ich ging in den Stall, um >Prächtig< in Gang zu setzen. Er stand dort ganz verstaubt und mit Hühnerdreck dekoriert. Ein paar Hennen entstoben gackernd. Ich sah ihnen finster nach. Dann kam Agathe, stellte sich vor die bekleckerte Stoßstange und sah mich ernst an: »Tschuck tschuck?«

»Ja, hilft nichts, Agathe.« Ich krabbelte sie auf der Brust: »Viel Glück, altes Mädchen!« Nebenan grunzte und rumpelte Susanne. Ich nahm >Prächtigs< Toilettensachen (Schwamm, Leder, Poliermittel) vom Bord, packte sie hinter den Sitz, setzte mich ans Steuer und startete. Er wollte durchaus nicht, und ich mußte lange das Gaspedal tippen, bis er endlich ansprang. »Ja, mir macht’s auch keinen Spaß, Alter«, sagte ich. »Glaubst du vielleicht, ich gehe gern hier weg? Unser kleines Paradies. Ach, Prächtig, was soll aus uns werden? Wo finden wir noch mal so was Gemütliches und Billiges? Und wo sollen wir überhaupt hin? Nach Waldenau — zur Mama natürlich. Aber was dann? So, jetzt bist du warm genug. Also, los, wieder auf die Walze!«

Ich fuhr vors Haus, wir luden ein und banden wieder die Koffertürme mit den Wäscheleinen zusammen. Ganz zum Schluß holte ich die Hunde. Weffi, aus seiner Zimmerhaft erlöst, wollte erst eine große Schuhbeißerei veranstalten, aber ich kriegte ihn am Schlips und pflanzte ihn auf den Platz neben mir. Cocki schlich sich ganz still nach hinten. Dann ging ich ins Haus und schüttelte allen die Hand. Aus der Küche roch es verführerisch. Ich hob unwillkürlich die Nase. Anselmus versuchte sein Gaunergrinsen: »Es war Nummer sieben«, sagte er, »Elfriede. Wollen Sie nicht noch mitessen?«

»Sieben ist zwar meine Glückszahl«, sagte ich mit einem ebenso krampfhaften Grinsen, »aber ich möchte doch erst mal weg, ehe mich der Gorilla da drüben vernascht.«

Mutter Widderhals drückte mir eine große Schinkenscheibe in die Hand und Polli einen Ball für Weffi. Dann fuhr ich los. Oben auf der Höhe hielt ich erst mal an, stellte den Motor ab und sah auf das Tal zurück. Da lag mein kleines Nest am Silberbach. Aus dem Schornstein kräuselte blauer Rauch, den der Herbstwind schnell wegriß. Grau und gewaltig dahinter die Bergriesen. Wie schön wäre es gewesen, hier zu überwintern. Frauchen hätte hier die richtige Nacherholung gehabt. Vielleicht hätte man die Mama nach Stephanskirchen holen können. — Alles aus. Plötzlich hatte ich ein bitteres Gefühl. Hatte ich mich nicht überrumpeln lassen? Man hätte ja schließlich ein Gentlemanagreement treffen können. Aber sie hatten es ja so eilig, mich loszuwerden. Mein Pensionsgeld gegen Hürzingers Stromgebühren! Da konnte ich natürlich nicht mit. Sie hatten nicht einmal gefragt, wo ich denn hinführe. Aber vielleicht tat ich ihnen Unrecht. Sie hatten eben einfach Angst. Und plötzlich, aus der Tiefe meines Leides, war ich auf eine mysteriöse Weise in diesen Menschen drin. Ich war Anselmus, der nachts nicht schlafen konnte, weil die großen Mühlen seine kleine fraßen und die Töchter keine Mitgift hatten. Ich war der Hürzin-ger, dieser kleinen, kalten, hühnerhaften Frau ausgeliefert. Der gefesselte Gorilla. Ich war aber auch diese Frau, der die Mutterschaft versagt blieb und die ihre Liebe mit den Körnern aus der irdenen Schüssel vor ihre Hühner schütten mußte.

Das Leid, das ewige, allgegenwärtige, unausweichliche. Es kauerte hinter jedem Busch, nistete in jeder Wiese, geisterte durch jeden Wald und wohnte unter jedem Dach. Wie hatte Buddha gesagt? Das ganze Sein ist flammend Leid. Und deshalb müsse man ihm entfliehen, müsse dieses Leben, den Willen zu diesem Leben, das Haften an diesem Leben aus sich ausreißen, ausbrennen. Niemals, niemals wieder geboren werden. Vielleicht hatte er recht. Wo gab es denn eine verläßliche Aussicht — wo eine Sicherheit? O ja, es gab eine, allerdings nur eine einzige! Daß einem nämlich nach all diesem Gezappel und Gejage, das sich Leben nennt, mit Sicherheit der Kragen umgedreht wurde, sei es, daß man totgeschossen oder überfahren oder vom Krebs gefressen wurde. Jeder Tag dieses ulkigen Daseins brachte uns unserer Hinrichtung näher. Der Tod war das einzige, worauf man sich im Leben verlassen konnte.

Die Hände über das Steuer gefaltet, starrte ich durch die Scheibe. Das Grün der Wiesen stumpf, die Bäume kahl und windgebogen, die Hecken entblättert und verschrumpft. Die Natur hatte den Kampf aufgegeben und bot ihr müdes Herz dem Dolch des Frostes preis. Finis.

Rief da jemand? Hinter mir richtete sich Cocki auf, knurrte. »Hältst du die Bappen!« sagte ich böse. Er legte sich sofort wieder hin. Auch Weffi war aufgestanden und wedelte. Ach, der Briefträger. Er schob, aus dem Tal kommend, das Rad, lehnte es an einen Baum, kam herüber. Jetzt kam der auch noch — ausgerechnet! Aber es war vielleicht ganz gut, da konnte ich gleich die Post nach Waldenau umbestellen. Ich kurbelte die Scheibe herunter.

»Na, Herr Postminister?«

Er war ganz außer Atem: »Ich kam gerade, als Sie abfuhren. Anselm hat mir erzählt. — Da liegt er ja, der Verbrecher. Tut mir verdammt leid. Hab’ gehört, daß Sie morgen zum Bauerntheater mitkommen wollten. Da hätten wir hinterher so schön eine Maß heben können.«

Das Bauerntheater!

»Ja, Herr Postminister, das ist nun mal, wie’s ist. Mir wär’s auch lieber, wenn ich mit dem Mariannchen morgen da hinkommen könnte. Es hat eben nicht sein sollen. Im übrigen ist’s gut, daß wir uns noch sehen: bestellen Sie doch bitte meine Post um — nach Waldenau, postlagernd.«

Er nickte: »Waldenau? Zur Mama. Na, die wird sich wenigstens freuen. Ach, übrigens — ich habe noch Post für Sie!« Er gab mir zwei Briefe. Ich legte sie, ohne sie anzusehen, neben mich auf den Sitz. Er reichte mir die Hand: »Na, also, dann alles Gute!«

»Alles Gute, Herr Postminister!«

Er streichelte Weffi: »Leb wohl, Kleiner!« Dann streckte er den Kopf in den Wagen: »Leb wohl, Cocki — bist doch ‘n feiner Kerl — du Verbrecher. Also — nochmals...«

»Also...« Ich startete und fuhr an.

Der Weg zwischen den jetzt verlassenen Kuhweiden. Dann der breitere Sandweg nach Waldenau. Abwärts — abwärts. Links noch einmal die Dächer von Stephanskirchen, grau und mit Steinen beschwert. Jetzt die Wälder. Immer tiefer hinab — tiefer hinab. Und dann schließlich ein Kirchturm mit Zwiebelkuppel: Waldenau.

Ich bremste in der letzten Kurve über dem Städtchen. Was sollte ich der Mama sagen? Rausgeflogen wegen Cocki: Odysseus, vierter Gesang. Ohne Heim, immer weniger Geld — und noch immer keine Nachricht vom Verlag. Plötzlich fiel mir etwas ein. Verlag? Die beiden Briefe, die mir der Postminister vorhin... War nicht der eine vom Verlag? Wo waren sie denn, zum Donnerwetter? Natürlich, Weffi hatte sie unter sich. »Geh mal da weg, Hanswurst. Und das ganze Kuvert mit deinen Dreckpfoten zertrampelt!«

Tatsächlich — vom Verlag! Es war nicht das zurückgesandte Manuskript, sondern ein Brief. Ich holte tief Atem. Dann riß ich ihn auf. Zwei Bogen. Das eine ein Schreiben. Das andere — der Vertrag. Angenommen! Mir wurde schwarz vor Augen. Dann las ich. Und dann las ich auch den zweiten Brief. Er war von meinem Rechtsanwalt: »Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß sich die gegnerische Versicherung zu einem Vergleich bereit gefunden hat. Ihr Einverständnis voraussetzend und auf Grund der mir erteilten Vollmacht, habe ich auf folgende Summe abgeschlossen...«

Ich machte die Augen zu. Dann machte ich sie wieder auf: beide Briefe waren noch da. Sie steckten in meiner Hand, die feucht vom Schweiß war und zitterte. Dann addierte ich und stellte fest, daß ich durch war — am Ufer — gerettet.

Jetzt brauchte ich nicht mehr zu sehen, wie Mamas Gesicht in Leid zerfiel, und jetzt konnte ich Peterchen holen, gleich — gleich jetzt. O Gott — Gott, verzeih mir meinen Kleinmut. Das ganze Sein ist flammend Leid? Bist du nicht sehr billig zu kaufen? Was kostet eine Weltanschauung? Zwei Briefe? Alles egal — kommt ja auch gar nicht auf mich an. Peterle!

Ich gab Weffi einen Kuß und drückte ihn so, daß er strampelte. Dann langte ich nach hinten und bekam den Dicken am Kragen. Ich gab ihm eine hinter die Ohren und drückte ihm dann auch einen auf. Genau auf die dicke Flappe, daß mich die Katerborsten in die Lippe piekten: »Scheißkerl — geliebter. Na, komm nach vorn!« Und während er sich über die Lehne wälzte, gab ich Gas, daß er mit einem Ruck auf den Vordersitz kugelte, genau auf Weffi. Sie knurrten sich an.

Ein paar Minuten später bremste ich vor Renkens Haus in Waldenau. Es stand blitzsauber in der blassen Spätherbstsonne. Ich hupte, und im Fenster erschien das Gesicht der Mama. War es möglich, daß sie so schmal geworden war? Als sie jetzt den Gartenweg auf mich zulief, sah ich, daß es stimmte. Ich stieg aus, die Hunde schossen an mir vorbei auf sie zu. Sie starrte mich an:

»Was ist passiert?«

Ich nahm sie in den Arm. So dünn! Man hatte direkt Angst, zuzudrücken, um sie nicht zu zerbrechen. »Cocki hat zwei Hühner umgebracht, und man hat uns ‘rausgeschmissen.«

Sie starrte mich noch immer an, ihre Lippen zitterten: »Auch das noch. Ach, mein armer Junge.«

Da lachte ich und gab ihr einen dicken Kuß: »Nix da, armer Junge — reicher Junge! Mamachen, wir haben’s geschafft! Die Versicherung zahlt, der Roman ist angenommen, der Verleger zahlt, ich miete uns ein Häuschen, ich telefoniere gleich Frauchen, und sobald sie hier ist und wir ein eigenes Häuschen gemietet haben, fahren wir gleich und holen uns das Peterchen! Na — freust du dich? Kannst du es überhaupt fassen? Ich kann’s noch immer nicht!«

Nanu? Ich hatte eigentlich gedacht, daß sie sich mehr freuen würde. Sie strich mir über den Kopf und sah mich aus blassen Augen an: »Das ist schön, mein Kind! Ich freue mich! Aber ihr braucht nicht zu Peterle zu fahren. Es ist nicht mehr nötig.«

Eisiger Schrecken durchfuhr mich: »Wieso?«

»Er ist hierher unterwegs«, sagte sie. »Ich habe ein Telegramm von Tante Helene bekommen und von Frauchen auch.«

»Tante Helene bringt ihn? Na, das ist doch großartig!«

»Nein, es ist gar nicht großartig. Sie hatte einen ihrer berühmten Nervenanfälle, fährt gleich ins Bad und hat ihn hier herunter nach Waldenau geschickt, als Eilgut, in einer Kiste! Ich habe mich schon erkundigt: er kommt wahrscheinlich morgen früh um acht Uhr dreißig hier an. Frauchen kommt noch heute nacht.«

Ich starrte sie an: »In einer Kiste — Peterle? Um Gottes willen!«

12

Peter blieb zwei Stunden allein. Er leckte sich seine vom Kaktus zerstochenen Pfoten, tappte durch die Wohnung, soff in der Küche etwas Wasser, betrachtete eine Weile im Schlafzimmer das Hundegespenst unter der Glasglocke und legte sich schließlich wieder auf sein Kissen. Es war also nicht Herrchen in dem großen Wagen. Er seufzte. Und doch hatte er das Gefühl, daß irgend etwas im Gange war.

Dann schloß es draußen. Er stelzte an die Tür und sah in den Flur: es war sein Menschengebirge mit der Frau Kapitän. Sie hatten eine Kiste mit sich und schleppten sie, ohne ihn zu bemerken, in die Küche. Dort stellten sie sie hin und betrachteten sie.

»Is’ ja man gut«, sagte die Frau, »daß mir die Meier noch eingefallen ist. Vielleicht hat sie noch die Kiste, dachte ich, in der sie sich voriges Jahr die beiden Rammler hat kommen lassen.«

»Ja«, sagte Tante Helene etwas unsicher, »das war ja man mächtig nett von Ihnen. Meinen Sie nicht, daß die ‘n büschen klein ist?«

»Och, die paßt«, erklärte die Frau Kapitän, »da geht er genau ‘rein.«

»Aber umdrehen kann er sich nicht«, sagte Tante Helene.

»Braucht er auch nicht. Er kann stehen oder liegen, das kann er wohl, Sie müssen nur draufschreiben: >Lebendes Tier< und dem Mann am Bahnhof sagen, daß man nichts draufstellt und die Kiste nicht wirft. Aber das machen die schon von allein, wenn das mit dem lebenden Tier draufsteht. Die Rammler von der Meier sind ganz vergnügt angekommen.«

Peter schlich sich in die Küche und schnupperte an der Kiste. Sie hatte vorn ein handgroßes, vergittertes Loch und roch ganz entfernt nach etwas, das in ihm das Bild eines Tieres mit langen Ohren und die Erinnerung an Jagden durch Wald und Wiese erwachen ließ.

»Ist ja gut, daß du gerade kommst«, sagte Tante Helene, »da können wir gleich mal probieren.« Sie hob ihn hoch, setzte ihn in die Kiste und machte den Deckel drauf.

»Paßt!« erklärte die Frau Kapitän. »Also, dann will ich mal.«

Tante Helene brachte sie hinaus: »Schönen Dank auch noch, Frau Kapitän.«

»Keine Ursache, Frau Amtsrat. Da werden Sie ja wohl froh sein, wenn Sie Ihre Ruhe wiederhaben.«

»Erst verreise ich mal wegen der Nerven.«

Die Tür fiel zu. Peter stand völlig gelähmt in seiner Kiste. Was war das? Heraus — eng — er mußte ersticken! Er begann zu kratzen und zu winseln, preßte seine kleine Nase gegen das Loch. Da wurde der Deckel wieder aufgemacht, und Tante Helene hob ihn heraus. »Ja, das hilft nun mal nichts, Kerlchen!« sagte sie.

Peter sprang an ihr hoch, um ihr seine Dankbarkeit für die Befreiung zu zeigen, aber er fühlte, daß ihre Reaktion anders war als sonst. So — nicht ganz aufrichtig, übertrieben freundlich, obwohl sie doch wegen des Sprungs aus dem Fenster so böse war. Die Sache wurde noch verdächtiger dadurch, daß sie ihm eine ganze Kochwurst zum Abendessen hinsetzte. Er fraß sie mit zurückgelegten Ohren, machte dicht an ihrem Fuß den abendlichen Verdauungsspaziergang und legte sich dann auf sein Kissen. Sie deckte ihn zu und seufzte viel dabei. Dann nahm sie ein paar Pillen ein und ging in ihr Zimmer.

Die Nacht verlief in steinernem Gram: kein Herrchen gekommen. Und kein Schutz vor dem, was hier vorging. Es ging was vor, diese Kiste mit dem Gitter stand noch immer da und glotzte ihn aus ihrem Drahtloch an. Nur langsam kam der Schlummer.

Früher als sonst wurde er geweckt. Tante Helene war schon angezogen. Sie nahm ihn an die Leine und ging mit ihm bis zum Bach. Das war schon wieder ungewöhnlich. Als sie zurückkam, stand ein ratterndes Dreirad vor der Tür. Daneben ein Mann, der, vor Tante Helene die Schirmmütze zog. Er kam dann mit hinein. Peters große Augen wanderten von einem zum anderen: Was war da los? Irgend was war doch los!

Und dann nahm ihn Tante Helene in den Arm, gab ihm einen Kuß und ging mit ihm in die Küche: »So, Peterle«, sagte sie, »jetzt geht’s zurück zu Herrchen und Frauchen, jetzt brauchst du nicht mehr bei der alten Tante zu sein, die dich so gern liebhaben wollte und die du so gar nicht liebhaben wolltest!«

Die Hände des Mannes griffen nach ihm, instinktiv drückte er sich an das vertraute Menschengebirge, das aber gab ihm keinen Schutz. Wieder in die Kiste — was sollte das alles? Er wollte herausspringen, aber ein Brett drückte ihn nieder, gleich drauf dröhnende Hammerschläge, die ihm fast den Kopf zersprengten. Er rang nach Luft, er kratzte mit den kleinen Pfötchen an dem winzigen Fenster, er weinte — aber es half alles nichts. Dann wurde er hochgehoben, daß er ganz nach hinten fiel, und schaukelte in den Armen des Mannes die Treppe hinunter. Ein neuer Ruck, und dann knatterte es, bewegte sich — rollte. Was um Himmels willen geschah mit ihm?

Nach einer Weile hielt das Gefährt. Endlich! Er kratzte wieder an dem kleinen Fenster. Aber niemand dachte daran, ihn zu befreien. Statt dessen wurde er auf einen anderen Wagen geladen und durch eine große Halle gefahren. Es roch und hallte wieder so, wie zu Beginn seiner Reise. Dann schob man ihn von dem zweiten Wagen in eine große Höhle. Durch sein winziges Fenster starrend, sah er ringsum viele Kisten. Es roch nach allem möglichen, nach Gummi, Tabak, geräuchertem Fisch. Dann rollte eine große Tür zu. Finsternis. Schweigen. Er winselte wieder, dann begann er zu bellen, erst versuchend, dann böse, dann verzweifelt. »Herrchen — Herrchen, wo bist du? Herrchen, das kannst du doch nicht zulassen! Wird es denn noch immer schlimmer? Hast du mich denn ganz vergessen? Herrchen!«

Das Bellen hatte sehr viel Luft verbraucht. Er keuchte und sank dann in sich zusammen.

Nach einer weiteren Ewigkeit ein Ruck — ein Klirren. Und dann bewegte sich die ganze Höhle, während ein Rollen unter ihm begann, ein Rollen, das überhaupt nicht mehr aufhörte. Rattata-rattata-rattata-rattata — Stunde um Stunde, Ewigkeit um Ewigkeit. Dreimal waren Aufenthalte. Dreimal flammte sein Lebensfunke wieder auf, dreimal wurde er enttäuscht. Es war nur ein Zerren, Schieben und Poltern um ihn. Dann wieder die Tür zu. Finsternis. Nach dem drittenmal wurde es noch schlimmer. Seine Kiste wurde hochgehoben und mit einem Krach in die äußerste Ecke geworfen, eine andere große Kistenwand schob sich davor. Jetzt bekam er wirklich kaum noch Luft mehr. Nun begann er, der letzte, der furchtbare Kampf ums Leben. Er lag da, halb aufgerichtet, das Näschen an das Gitterfenster gedrückt, jedes Quentchen Luft einsaugend und allmählich im Krampf dieser unnatürlichen Stellung erstarrend.

Aber sein eiserner Lebenswille hielt durch. Es konnte doch nicht zu Ende sein, er mußte erst noch Herrchen sehen, Herrchen mußte noch kommen! Rattata-rattata-rattata. In die Tiefe der letzten Schlucht gefallen, wo das Furchtbare ihm immer näher rückte. Rattata-rattata-rattata, Stunde um Stunde, trostlos, endlos.