IV Antimafia

79. Wovor hat die Mafia wirklich Angst?

Ihren Reichtum zu verlieren, erleben zu müssen, wie ihnen ihr Hab und Gut genommen wird – das ist das Einzige, wovor die Mafiosi zittern. Es ist für sie schlimmer als eine lebenslange Freiheitsstrafe, schlimmer als die Aussagen eines Mafiaaussteigers, schlimmer als Haftverschärfung, ja, schlimmer als der Tod.

In den letzten Jahren wurden Immobilien, Yachten und Firmen der Bosse der Cosa Nostra beschlagnahmt, aber auch Landbesitz. Den viddani, den Bauern von Corleone, die stärker als alle anderen mit ihrer heimatlichen Erde verbunden sind, wurden ihre Ländereien weggenommen – das war eine tiefe Demütigung und eine bittere Rache. Wenn der Staat Besitztümer der Mafia identifiziert und konfisziert, führt er den wirksamsten Schlag gegen sie.

80. Welche gesetzlichen Maßnahmen zeigten im Kampf gegen die Mafia die größte Wirkung?

Die mit Abstand wichtigste Maßnahme war das Rognoni-La Torre-Gesetz im Jahr 1982, das mit Paragraph 416b den Straftatbestand der Mitgliedschaft in einer mafiaähnlichen Organisation ins italienische Strafgesetzbuch aufnahm. Bis dahin war lediglich die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation strafbar gewesen. Das Gesetz ist nach dem damaligen Innenminister Virginio Rognoni und dem Abgeordneten der Kommunistischen Partei, Pio La Torre, benannt, der maßgeblich an seiner Formulierung beteiligt war. Ihm war es nicht vergönnt, die Ratifizierung mitzuerleben. Er wurde am 30. April 1982 ermordet, das Gesetz jedoch erst vier Monate später ratifiziert, zwei Wochen nach dem tödlichen Anschlag auf den Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa, den Polizeipräfekten von Palermo.

Neben Paragraph 416b sieht das Rognoni-La Torre-Gesetz auch die Beschlagnahme illegal erworbener Vermögenswerte vor. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren wurden in Italien rund siebentausend Güter von Mafiabossen beschlagnahmt, zehn Prozent davon wurden enteignet.

Obwohl seither so viel Zeit vergangen ist und obwohl Verbesserungen und Aktualisierungen des Gesetzes notwendig wären (es gibt heute viele Möglichkeiten, es zu umgehen und sich reinzuwaschen), ist das Rognoni-La Torre-Gesetz nach wie vor ein strafrechtlicher Eckpfeiler im Kampf gegen die Mafia.

Es folgten die Gesetze zur Kronzeugenregelung und zur Haftverschärfung: die Aufhebung des normalen Strafvollzugs für verurteilte Mafiosi nach Paragraph 41b – eine weitere schwere Niederlage für die Ehrenmänner, die es gewohnt waren, sich in italienischen Gefängnissen als die Herren aufzuspielen. Sie ließen sich ihre Mahlzeiten aus den besten Restaurants kommen (»Den Fraß des Staates wollen wir nicht«) und verfügten nach ihrem Belieben über die Vollzugsbeamten und manchmal auch über den Gefängnisdirektor. Im Ucciardone-Gefängnis von Palermo konnten sie schalten und walten, wie es ihnen passte, und sogar ihre Besprechungen abhalten.

Seit Einführung von Paragraph 41b sind sie in Sondertrakten untergebracht. Sie wurden in ihrem Ansehen getroffen: kein Hofgang mehr mit den anderen Häftlingen, Besuche von Angehörigen nur einmal im Monat und nur durch eine gepanzerte Scheibe. Mit Paragraph 41b verloren die Mafiosi ihre Macht. Und noch ein Mythos geriet ins Wanken: der Mythos ihrer immerwährenden Straffreiheit.

Auch nach dem tödlichen Anschlag auf Falcone blieb Paragraph 41b ein Gesetzesdekret und wurde erst nach der Ermordung Paolo Borsellinos in die Strafvollzugsordnung aufgenommen. Es mussten zuerst Pio La Torre und Polizeipräfekt Dalla Chiesa sterben, bevor Paragraph 416b und die Bestimmungen zur Beschlagnahme und Enteignung von Mafiagütern in Kraft traten; und es bedurfte der Anschläge von Capaci gegen Falcone und in der Via D’Amelio gegen Borsellino, damit die Haftbedingungen für Mafiosi verschärft wurden. In Italien müssen immer zuerst viele Menschen sterben, bevor ein Antimafia-Gesetz ratifiziert wird.

 

Hier kann man nicht mehr bleiben. Wir müssen das Land verlassen, nicht nur Sizilien, nicht nur Italien, sondern Europa. Man kann hier nicht mehr frei und ordentlich arbeiten. Hier gibt es für uns keine Zukunft mehr. Tut mir leid, es ist ein schönes Land, aber hier gibt es keine Zukunft. Wenn ihr in Ruhe gelassen werden wollt, müsst ihr hier raus […], wenn es mit Sizilien allein getan wäre, könntet ihr in den Norden gehen […], aber sobald du mit deiner Mutter oder deiner Schwester, deinem Bruder oder deinem Neffen telefonierst, wirst du überwacht. Sie nehmen dir auch die Güter weg, die auf den Namen Dritter überschrieben sind, selbst wenn du achtzig bist – und zwar nur deshalb, weil du der Freund oder der Bekannte von dem und dem bist. Und es gab und gibt auf der Welt nichts Schlimmeres als die Enteignung von Gütern. So kommt man nur vom Regen in die Traufe. Wir Inzerillo sollten alle von hier weggehen. Nach Südamerika, nach Mittelamerika und fertig.

 

Der Boss Francesco Inzerillo zu seinen Neffen Giovanni und

Giuseppe in einem abgehörten Telefongespräch aus dem

Gefängnis von Turin, August 2007

81. Gibt es Gesetze, die die Mafia begünstigen?

Niemand macht ausführlich Gesetze zugunsten der Mafia. Viele versuchen jedoch, die geltenden Bestimmungen auszuhöhlen oder zu umgehen. Manche tun es im guten Glauben und im Namen der Rechtsstaatlichkeit, andere in böswilliger Absicht, ebenfalls im Namen der Rechtsstaatlichkeit.

Nehmen wir zum Beispiel die ständigen Änderungen der Kronzeugenregelung. Kürzlich wurde ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Verknüpfung der Aussagen von Kronzeugen abschaffen wollte. In der Praxis hätte damit die Aussage von fünf Kronzeugen nicht mehr Wert als die eines einzigen, der ihnen widerspricht. Unter diesen Bedingungen hätten der Maxi-Prozess von Palermo und zahlreiche andere Prozesse, etwa gegen die Mörder von Falcone und Borsellino, gar nicht erst geführt werden können. Von verschiedener Seite wird zudem versucht, Paragraph 41b und das Gesetz zur Enteignung illegaler Vermögenswerte zu »überarbeiten«.

Weitere Gesetze, die den Kampf gegen die Mafia direkt oder indirekt geschwächt haben, sind das Gesetz zur Steueramnestie für Schwarzgeld aus dem Ausland, das Gesetz zur Straffreiheit bei Verstößen gegen das Gesellschaftsrecht sowie das Gesetz zur Verkürzung der Verjährungsfristen, wodurch viele Strafurteile gegen die Bosse faktisch ohne Wirkung blieben.

Manche zweideutigen Signale kamen von der Regierung Berlusconi und von Mitte rechts, andere von Mitte links. Der Vorschlag zur Schließung der Hochsicherheitsgefängnisse auf den Inseln Pianosa und Asinara, wo nach den Anschlägen von 1992 die gefährlichsten Bosse der Cosa Nostra einsaßen, kam beispielsweise von einer Mitte-rechts-Regierung. Die Schließung selbst erfolgte unter einer Mitte-links-Regierung.

Bei der Antimafia-Gesetzgebung der letzten Zeit ist schon alles Mögliche und auch sein Gegenteil vorgekommen.

Ein anderes Beispiel ist das Gesetz zur Beschlagnahme und Enteignung von Besitztümern der Mafia. Eine Änderung zu einem Haushaltsgesetz sieht vor, dass die enteigneten Mafiagüter, die nicht innerhalb von drei oder sechs Monaten – ein sehr kurzer Zeitraum – einer gemeinnützigen Bestimmung übergeben werden, versteigert werden müssen. Es liegt auf der Hand, dass eine Versteigerung den Bossen die Möglichkeit gibt, sich ihre Güter über Strohmänner zurückzukaufen, was auch schon vorgekommen ist. Jetzt aber können auch nach dem Tod eines Mafioso dessen Güter beschlagnahmt werden. Vorher ging sein Besitz an seine Kinder über, und der Tod des Mafioso kam einer Reinwaschung seines Vermögens gleich. Die politischen Signale sind also nie ganz eindeutig.

Im Herbst 2010 verkündete Innenminister Roberto Maroni triumphal: »Wir wollen den Krieg gegen die Mafia gewinnen, und wir werden dieses Krebsgeschwür bis zum Ende der Legislaturperiode besiegen.« Doch ein paar Tage zuvor war der Ministerrat nicht einmal bereit gewesen, den Gemeinderat von Fondi aufzulösen, eines von der Camorra unterwanderten Städtchens in der Provinz Latina.

Um die externe Unterstützung einer mafiaartigen Vereinigung ist in Italien eine Grundsatzdebatte entbrannt, die auf der Ebene der Rechtstheorie, der Rechtsprechung, aber vor allem auch der Politik geführt wird. Die Notwendigkeit, die externe Unterstützung einer mafiaartigen Vereinigung ins Strafrecht aufzunehmen, geht zurück in die Zeit kurz vor den Attentaten des Jahres 1992. Damalige Ermittlungen hatten ergeben, dass Vertreter des Staates und des Unternehmertums die organisierte Kriminalität unterstützten. Das Problem der externen Unterstützung löst auch in Justizkreisen immer wieder heftige Kontroversen aus. Die letzte entzündete sich am Fall des ehemaligen Regionalpräsidenten von Sizilien, Totò Cuffaro, der vor Gericht gestellt wurde, weil er geheime Informationen über Abhöraktionen an die Mafia weitergegeben hatte. Ein Teil der Staatsanwaltschaft Palermo wollte ihn wegen externer Unterstützung einer mafiaartigen Vereinigung, ein anderer Teil wegen Begünstigung der Mafia verurteilen. Die Staatsanwaltschaft Palermo war in dieser Frage geteilt, doch am Ende setzten sich die Befürworter der »Begünstigung« durch, und Totò Cuffaro wurde »nur« wegen dieses Vergehens verurteilt. Cuffaro zählt damit zu den wenigen Politikern Siziliens, die aufgrund ihrer Nähe zur Mafia rechtskräftig verurteilt wurden. Andere Größen aus Politik und Justiz, die wegen externer Unterstützung einer mafiaartigen Vereinigung vor Gericht gestellt wurden (der ehemalige Minister Calogero Mannino, der Europaabgeordnete Francesco Musotto, der Richter Corrado Carnevale, um nur einige zu nennen), wurden freigesprochen.

Die externe Unterstützung einer mafiaartigen Vereinigung ist Anlass hitziger Debatten. Einige wollen sie als Straftatbestand abschaffen und betrachten sie als einen »surrealen« Anklagepunkt oder, wie Paolo Granzotto in der Zeitung Il Giornale, als »eine juristische Abnormität, die weder in unserem noch in sonst irgendeinem Strafgesetzbuch weltweit zu finden ist und nicht einmal in Kambodscha unter Pol Pot oder in Uganda unter Idi Amin existierte«. Für andere ist und bleibt sie ein wichtiges Instrument, um die Verbündeten der Ehrenmänner in Anzug und Krawatte, also die Vertreter des mafiosen Bürgertums, zur Rechenschaft zu ziehen.

Zum Beweis dafür, dass in Sachen Mafia und Antimafia alles schon einmal da gewesen ist, sei daran erinnert, dass bereits in zwei Gerichtsurteilen vor hundertfünfunddreißig Jahren der Straftatbestand der externen Unterstützung einer mafiaartigen Vereinigung auftaucht. Es handelt sich um Urteile des damaligen Kassationsgerichts Palermo aus dem Jahr 1875.

82. Welche Regierungen waren der Mafia gegenüber am nachsichtigsten?

Der im November 2011 als Ministerpräsident zurückgetretene Silvio Berlusconi hat sich stets damit gebrüstet, dass seine Regierung entschlossener als jede andere die Mafia bekämpft habe. In Wirklichkeit hat seine Regierung ein Paket von Gesetzen und Verordnungen vorgelegt, die ein wahres Geschenk an die Mafia sind. Allen voran der »Steuerschutzschild«, der eine Strafverfolgung für alle Vergehen im Zusammenhang mit Steuerhinterziehung und illegalem Kapitalexport ausschließt.

Seit Monaten ist auch von einer Reform der Telefonüberwachung die Rede – manche sprechen von einer Gegenreform –, um das Überhandnehmen von Lauschangriffen zu begrenzen. Auch das gibt Anlass zu heftigen Kontroversen. Die einen kritisieren, die Bevölkerung werde hemmungslos ausspioniert; von den telefonischen Abhöraktionen seien jährlich mindestens drei Millionen Italiener betroffen. Laut einer offiziellen Statistik des Justizministeriums wurden im Jahr 2007 in Italien rund siebzigtausend Anträge auf Telefonüberwachung genehmigt und zwanzigtausend Personen abgehört, das sind weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung. Ohne die Mitschnitte von Telefongesprächen würde es der Polizei und der Staatsanwaltschaft niemals gelingen, die Mafiosi dingfest zu machen.

83. Welche Regierungen stellten sich am nachdrücklichsten gegen die Mafia?

Wenn die Mafia nicht schießt und unsichtbar bleibt, glauben die italienischen Regierungen gern, dass sie gar nicht existiert. Sehen wir einmal von den Regierungen ab, die gegen die Mafia etwas getan haben, und betrachten wir die Zeit zwischen Frühjahr 1991 und Frühjahr 1992, als Andreotti zum siebten Mal Ministerpräsident war: die zehnte Legislaturperiode mit Justizminister Claudio Martelli und Innenminister Vincenzo Scotti. Es war die Regierung eines Ministerpräsidenten, dem man enge Verbindungen zu Mafiakreisen nachsagte und der wenige Jahre später in Palermo wegen seiner Verbindungen zur Mafia vor Gericht gestellt wurde. Ein Paradox? Ja, und dieses Paradox kennzeichnet Italien. Giulio Andreotti hat sich vor Gericht stets mit dem Verweis auf die »strengen Antimafia-Gesetze« seiner Regierung verteidigt. Viele widersprechen und argumentieren, der Senator auf Lebenszeit könne diese Maßnahmen nicht als sein Verdienst reklamieren, da sie von seinen Ministern durchgesetzt wurden.

In jenem Jahr 1991 leitete Giovanni Falcone seit gut zwölf Monaten die Direktion für Strafsachen beim Justizministerium in Rom. Auf seinen Vorschlag hin begannen Scotti und Martelli Anfang April in aller Heimlichkeit damit, Maßnahmen, Gesetze und Richtlinien gegen die Mafia zu erarbeiten. Erwogen wurde auch eine Haftverschärfung für verurteilte Mafiosi, die später als Paragraph 41b ins Strafvollzugsgesetz Eingang fand. Alle diese Bestimmungen erhielten, wie gesagt, erst nach dem Attentat auf Falcone Gesetzeskraft. De facto sind und bleiben sie jedoch zusammen mit dem Rognoni-La Torre-Gesetz die entschlossenste, umfassendste und wirksamste Regierungsinitiative zur Bekämpfung der Mafia.

84. Wann entstand die Antimafia?

Die Antimafia entstand zu einem Zeitpunkt, als sie noch gar nicht »Antimafia« hieß und der Kampf gegen die Mafia ein Kampf um das Land und das Wasser eines durstigen Sizilien war: ein Kampf um Gerechtigkeit und ums Überleben. Die Pioniere der Antimafia waren die Fasci siciliani Ende des 19. Jahrhunderts, das erste Beispiel einer modernen Gewerkschaftsbewegung auf der Insel. Bauern, Tagelöhner und Bergarbeiter aus den Schwefelminen im Inselinnern waren die Protagonisten eines Aufstands, der vom damaligen italienischen Ministerpräsidenten, dem Sizilianer Francesco Crispi, blutig niedergeschlagen wurde. Soldaten und mafiose Feldhüter, die campieri, schossen Seite an Seite auf die demonstrierenden Massen. Zwischen 1891 und 1894 wurden mehr als hundert sizilianische Bauern und Bergarbeiter getötet.

Auch fünfzig Jahre später, als fünfhunderttausend Bauern die großen Ländereien besetzten, sprach man noch nicht von einer Antimafia. Grundbesitzer und Regierungsvertreter schossen auch diesmal auf die »Aufständischen«. Es waren die Jahre der Massaker an Gewerkschaftern, zu denen Placido Rizzotto, Accursio Miraglia und Salvatore Carnevale gehörten. Am 1. Mai 1947 kam es zum ersten Blutbad des republikanischen Italien, als in Portella della Ginestra elf Menschen getötet und siebenundzwanzig verletzt wurden. Einige Führer dieser Bauernbewegung wurden zur Legende, unter ihnen Girolamo Li Causi und Pio La Torre, der spätere Vorsitzende der sizilianischen Kommunistischen Partei, der Jahre später, 1982, von den Corleonesern getötet wurde.

Der Begriff Antimafia ging im Dezember 1962 in den allgemeinen Sprachgebrauch über, als dreißig Abgeordnete und Senatoren einen Parlamentsausschuss zur Untersuchung des »Phänomens der Mafia in Sizilien« ins Leben riefen. Dieser erste Antimafia-Ausschuss nahm seine Tätigkeit zu der Zeit auf, als der noch junge Salvo Lima – ein Anhänger des damaligen christdemokratischen Ministerpräsidenten Amintore Fanfani und Schützling des Ministers Giovanni Gioia – Bürgermeister von Palermo und als Vito Ciancimino, der in der Gunst des Ministers Bernardo Mattarella stand, Baustadtrat war.

Die Tätigkeit des Ausschusses endete nach dreizehn Jahren mit einem Bericht der Mehrheit und einem Bericht der Minderheit. Im Kern erzählen die Dokumente dieses Gremiums bereits die ganze Geschichte der Mafia des westlichen Sizilien. Sie enthalten die Namen und Zunamen der wichtigsten Akteure, von denen wir vielen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wiederbegegnen. Ihre Kinder und Enkelkinder stehen im Zentrum auch der jüngsten polizeilichen und strafrechtlichen Ermittlungen zur Cosa Nostra. Der Kampf gegen die Mafia wurde in den 1960er und 1970er Jahren von den Kräften der politischen Opposition vorangetrieben, insbesondere von der Kommunistischen Partei. Die Regierungsparteien, allen voran die Christdemokraten (Democrazia Cristiana), waren seit dem Zweiten Weltkrieg auf allen Ebenen immer wieder in die Geschehnisse verstrickt.

 

Meine Herren Senatoren, wenn man nach Palermo kommt oder sich auch nur mit jemandem aus der Provinz Palermo trifft, kommt man schon nach wenigen Minuten unweigerlich auf die Mafia zu sprechen: Die Mafia beherrscht das Gespräch auf allen Ebenen. Wenn ein schönes Mädchen vorübergeht, wird ein Sizilianer Ihnen sagen, sie sei mafiosa; ist es ein frühreifer Junge, wird er Ihnen sagen, er sei mafioso. Man spricht von der Mafia in allen möglichen Zusammenhängen. Aber, meine Herren Senatoren, mir scheint, man übertreibt […].

 

Innenminister Mario Scelba bei einer Rede im Senat

am 25. Juni 1949

 

Die sizilianische Antimafia-Bewegung im eigentlichen Sinn entstand Anfang der 1980er Jahre, in den Monaten nach der Ermordung des Carabinieri-Generals Carlo Alberto Dalla Chiesa. Ein frühes Beispiel für den militanten Kampf gegen die Mafia ist das Centro Impastato, das als Dokumentationszentrum kurz vor der Ermordung Giuseppe Impastatos in Cinisi von Umberto Santino gegründet wurde. Das Centro hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Mafia zu erforschen und Daten und Informationen zur Cosa Nostra zu sammeln. Ohne das Centro Impastato, das entscheidenden Anteil an der Aufklärung des Verbrechens an Giuseppe Impastato hatte (vgl. Kap. 75), wäre dieser Mann wohl als Terrorist und Selbstmörder in die Geschichte eingegangen – so wie es Mafia und Ordnungshüter gern gehabt hätten.

Es folgte die Gründung der Associazione Coordinamento Antimafia in Palermo, die sich 1987 maßgeblich an der erbitterten Polemik nach Erscheinen von Leonardo Sciascias Artikel »I professionisti dell’Antimafia« (»Die Antimafia-Karrieristen«; im Corriere della Sera vom 10. 1. 1987) beteiligte. In Catania gründete der Journalist Pippo Fava die Zeitschrift I siciliani, der Redemptoristen-Pater Nino Fasullo in Palermo die Zeitschrift Segno. Bürgermeister von Palermo war damals Leoluca Orlando, der mit der Democrazia Cristiana brach und mit seinem politisch bunt gemischten Gemeinderat den Antimafia-Initiativen den Weg ebnete. Es schien, als wäre die Stadt aus ihrer Trägheit und Gleichgültigkeit erwacht.

Nach Rückschritten und gewissen Ermüdungserscheinungen Ende der achtziger Jahre gewann die Antimafia-Bewegung nach der strage di Capaci – der Ermordung Falcones, seiner Frau und seiner fünf Leibwächter – erneut an Kraft, schwächte sich aber von Jahr zu Jahr immer weiter ab. Heute zeigt sie sich bisweilen als äußerst zaghaft: eine Antimafia, die nur Fassade ist, konformistisch und ohne Sinn für das, was tatsächlich geschieht. Diese Antimafia ist sehr weit entfernt von dem mutigen Engagement des Priesters Don Luigi Ciotti, der Mitte der neunziger Jahre die Bewegung Libera mit mehr als tausendfünfhundert Vereinen, Gruppen und Schulen in ganz Italien ins Leben rief: Menschen, die nicht nur reden, sondern etwas tun. Sie verwalten zahlreiche vom Staat enteignete Güter der Mafiabosse. Sie bebauen die Weizenfelder, die Totò Riina weggenommen wurden, sie bewirtschaften die Olivenhaine Matteo Messina Denaros und die Weinberge der Familie Brusca aus San Giuseppe Jato in der Provinz Palermo.

85. Was tut die Pseudo-Antimafia?

Sie schwafelt, statt zu argumentieren, und sie hat nichts begriffen; sie ist zu bequem, um die Fakten zu prüfen, sie differenziert nicht, sondern wirft alles in einen Topf. Sie ist streitsüchtig und bisweilen opportunistisch und pocht nur dann auf Rechtsstaatlichkeit, wenn sie ihren eigenen Zielen zugute kommt. Sie berauscht sich an abgedroschenen Phrasen und vorgefertigten Sätzen und nimmt als selbstverständlich hin, was ganz und gar nicht selbstverständlich ist. Ihr Weltbild ist schwarzweiß, während Sizilien in Wirklichkeit ein riesiger grauer Fleck ist. Sie marschiert auf, mahnt, feiert Gedenktage und tut, als hätte sie die Wahrheit für sich gepachtet. Sie hört nicht zu, weil sie ohnehin nicht verstehen will. Aus der Geschichte der Mafia zieht sie keine Lehren, denn sie weiß ja ohnehin schon alles. Diese Antimafia spielt letztlich das Spiel der Mafia.

Ein Zwischenfall vor ein paar Jahren lässt uns diese konformistische Antimafia besser verstehen: Eines Tages tauchten an den Mauern der Kathedrale und der Fakultät für Architektur in Palermo zwei großformatige Graffiti auf. Sie zeigten Fahndungsfotos von Matteo Messina Denaro, dem untergetauchten Boss der Cosa Nostra aus der Provinz Trapani, dazu den Schriftzug »L’ultimo«, der Letzte, und das Dollarzeichen. Sofort begann der übliche Zirkus der Pseudo-Antimafia-Bewegung. Bei Polizei und Staatsanwaltschaft gingen Strafanzeigen gegen diejenigen ein, die sich erlaubt hatten, den Mafiaboss aus Trapani zu »verklären«, so der Ausdruck. Carabinieri und Polizei begannen – eher halbherzig – mit der Jagd nach den Urhebern dieser vermeintlich skandalösen Überhöhung der Mafia.

Schließlich stellten sich die »Handlanger der Mafia« verwundert der Polizei. Es waren zwei achtzehnjährige Architekturstudenten; einer war der Enkel von Staatsanwalt Gaetano Costa, den die Cosa Nostra ermordet hatte; der andere stammte aus einem aufgeklärten bürgerlichen Elternhaus aus Palermo. Die Jungs waren irritiert von dem, was sie in den Tagen zuvor gesehen und gehört hatten, als die Jagd nach den Schuldigen begann: nach ihnen beiden. Sie legten den Ermittlern dar, was von Anfang an klar war: Es ging ihnen nicht darum, die Mafia zu verherrlichen; im Gegenteil, sie wollten im Rahmen einer Kunstaktion den letzten großen, steckbrieflich gesuchten Mafiaboss ins öffentliche Bewusstsein rücken. Wo lag hier der Skandal? Wo die mafiose Gesinnung der beiden Graffiti-Künstler?

Die ernsthafte, wirkliche Antimafia dagegen jagt der Mafia Angst ein. Die Bosse wissen, welche Gefahr von dieser Bewegung ausgeht, und haben begonnen, sie zu fürchten. Jetzt versuchen sie, diesen Kampf für ihre eigenen Ziele zu nutzen, indem sie die Antimafia unterwandern und sich hinter ihr verschanzen.

86. Tarnt sich die Mafia als Antimafia?

In den letzten Jahren organisierte und finanzierte die Cosa Nostra sogar selbst Kundgebungen im Namen von Recht und Gesetz. Sie versuchte, ihre Leute in Antimafia-Organisationen einzuschleusen. Antonino Rotolo, Mitglied des obersten Führungsgremiums der Mafia, der Cupola, empfahl einem Freund und Unternehmer, sich der Bewegung Addiopizzo gegen die Schutzgelderpressung anzuschließen, um sich den polizeilichen Ermittlungen zu entziehen. »Um deinen Arsch zu retten«, meinte Rotolo.

Um ihre schmutzigen Machenschaften zu decken und sich in der Öffentlichkeit als Kämpfer gegen die Mafia zu stilisieren, verlieh die mafiose Kommunalverwaltung von Villabate bei Palermo dem Carabinieri-Hauptmann Ultimo (dem berühmten »Capitano Ultimo«, der Totò Riina festgenommen hatte) die Ehrenbürgerschaft. Der Bürgermeister hatte die Erlaubnis des Bezirkschefs der Mafia und die Zustimmung Bernardo Provenzanos.

»Die Mafia ist abscheulich« (»La mafia fa schifo«), erklärte ein bekannter Vertreter des sizilianischen Industriellenverbands Sicindustria gebetsmühlenhaft gegenüber der Presse. Später wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet: Er war ein Mitglied der Mafiafamilie Bontate. Die sizilianische Regionalverwaltung ließ an sämtlichen Hausmauern der Insel riesige Plakate mit der Aufschrift »Die Mafia ist abscheulich« anbringen – ausgerechnet die Regionalverwaltung Siziliens, in der sich die Cosa Nostra seit mehr als fünfzig Jahren eingenistet hat.

87. Bedeutet es für einen Ehrenmann nicht Verrat, wenn er sagt: »Die Mafia ist abscheulich«?

Für die Ehrenmänner war das Wort »Mafia« einst tabu. Es auszusprechen, darauf stand der Tod. Die Mafia durfte es nicht geben, und deshalb gab es sie nicht. Heute jedoch, durch Ermittlungen und Strafprozesse in die Enge getrieben, wissen die Mafiosi, dass es für sie sehr schwierig sein wird, sich aus dem Treibsand zu befreien, in den sie hineingeraten sind. Die Ehrenmänner wissen, welches Schicksal ihnen droht: Sie werden verfolgt, ins Gefängnis gesteckt und nach Paragraph 41b verschärften Haftbedingungen ausgesetzt. Es ist sinnlos geworden, die Existenz einer kriminellen Organisation zu leugnen, die in den Augen der Weltöffentlichkeit längst entlarvt ist. Und es bringt auch nichts, im Gegenteil. Daher versuchen die Mafiosi, zu retten, was zu retten ist. Sie legen Teilgeständnisse ab und sind um Schadensbegrenzung bemüht. Pragmatisch, wie sie sind, wissen sie, dass sie sich der Verurteilung wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht entziehen können. Sie haben nachgerechnet: besser zehn Jahre Haft wegen Zugehörigkeit zur Mafia als eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Jetzt erklären sie sogar öffentlich, die Mafia sei abscheulich, oder gestehen auf diese oder jene Weise ihre Zugehörigkeit zu dieser Organisation ein. Der Satz, der auf den ersten Blick wie eine Diffamierung wirkt, ist in Wahrheit ein perfider Akt. Es ist der Versuch unterzutauchen, sich unter die Menge zu mischen, in einer Kultur aufzugehen, die die Mafia entlarvt und verurteilt hat.

Der Erste, der mit solchen Äußerungen im Frühsommer 2009 auf sich aufmerksam machte, war der Boss Antonino Rotolo. Seinem Beispiel folgten Antonino Cinà und Salvatore Lo Piccolo, gleichfalls wichtige Mafiosi. Ende November desselben Jahres machte Nicola Mandalà, ein Bernardo Provenzano nahestehender Ehrenmann, der wegen Mordes an dem Unternehmer Geraci vor Gericht stand, vor der dritten Strafkammer des Schwurgerichts Palermo im Berufungsverfahren eine überraschende Aussage: »Ich war Mitglied der mafiosen Vereinigung Cosa Nostra. Ich möchte meine Verurteilung für diese Straftat durch das Gericht nicht in Frage stellen, aber ich bin kein Mörder. Ich habe schweren Schaden angerichtet und entschuldige mich für alles, was ich getan habe, aber mit dem Mord an dem Unternehmer Salvatore Geraci habe ich nichts zu tun.« Am Ende kamen auch die Brüder Filippo und Giuseppe Graviano, der harte Kern der Cosa Nostra: Attentäter und Verbündete Totò Riinas. Der eine ist dabei, sich loszusagen, der andere hat seine Bereitschaft angekündigt, bei der Suche nach den Auftraggebern der Mafiaanschläge von 1992 und 1993 »behilflich zu sein«, wenn er im Gegenzug Hafterleichterung erhalte.

Wenn die Ehrenmänner hundertfünfzig Jahre lang das Gesetz des Schweigens (die omertà) befolgten, muss ihre plötzliche Redseligkeit doch etwas zu bedeuten haben. Es ist eine neue Strategie. In der Welt der Mafia sind große Veränderungen im Gang.

Am 12. Oktober 2007 erklärte Francolino Spadaro vor Gericht, wo er wegen Erpressung angeklagt war: »Die Mafia ist abscheulich!« Spadaro ist der Sohn des Mafioso Tommaso Spadaro, der sich aufgrund seines Reichtums und aufgrund der Arbeitsplätze, die er durch seine Schmuggelgeschäfte schuf, als der »Agnelli von Palermo« bezeichnete. Er und seine Mitstreiter hatten Geld von Vincenzo Conticello erpresst, dem Besitzer der Antica Focacceria San Francesco. Das legendäre Restaurant gab es bereits vor der Landung der Garibaldiner in Sizilien. Hier waren die Könige Italiens, Spaniens und Belgiens, der Schriftsteller Luigi Pirandello und der italienische Ministerpräsident Francesco Crispi bewirtet worden. Spadaro konnte diese Erklärung nur deshalb abgeben, weil er die Erlaubnis dazu erhalten hatte. Zwanzig Jahre zuvor hätte er bereits wegen eines sehr viel geringeren Vergehens sterben müssen. Wer sich falsch ausdrückte, musste sterben.

 

Palermo. Der Maxi-Prozess hat vor acht Monaten begonnen. Die Stadt hüllt sich in Schweigen. Es gibt keine Raubüberfälle. Es gibt keine Diebstähle. Es ist verboten, Aufsehen zu erregen. Und vor allem ist es verboten zu morden. Ein »Beschluss« der Cosa Nostra untersagt für die Dauer der Hauptverhandlung jegliches Blutvergießen. Die Bosse wollen sich keine neue Bürde aufladen, während sie vor Gericht stehen. Am Abend des 7. Oktober jedoch drückt im Viertel San Lorenzo ein Killer den Abzug und erschießt den zehnjährigen Claudio Domino. Die Mafia hatte den Befehl ausgegeben, nicht zu morden. Wer also hat Claudio getötet? Am Tag nach dem Verbrechen ergreift während der Verhandlung im Maxi-Prozess Giovanni Bontate das Wort, der Bruder des Bosses der palermitanischen Cosa Nostra, Stefano Bontate, der zu Beginn des Mafiakriegs ermordet worden war: »Herr Vorsitzender, wir haben mit dem Mord nichts zu tun«, versichert er. »Wir waren es nicht, dieses Verbrechen ist für uns eine Beleidigung.«

Es ist das erste Mal, dass ein Mafioso, ja ein Mafiaboss das Wörtchen »wir« ausspricht – ein Bekenntnis, dass die kriminelle Vereinigung namens Cosa Nostra tatsächlich existiert. Giovanni Bontate zerschneidet das heiligste Band der Organisation: ihre Verschwiegenheit. Und zwar in aller Öffentlichkeit. Ein Jahr nach dieser Bekundung im Gerichtsbunker dringen drei Auftragskiller in Giovanni Bontates Haus in Villagrazia ein, wo der Mafioso unter Hausarrest steht, und töten ihn und seine Frau. Wegen dieses Wörtchens »wir«, das er ein Jahr zuvor ausgesprochen hat.

Sehr viel später entdecken die Ermittler auch das Motiv für den Mord an dem kleinen Claudio. Der Auftraggeber war der Geliebte der Mutter des Jungen, der sterben musste, weil er ihn und seine Mutter beim Flirten gesehen hatte.

 

La Repubblica, 10. Februar 2006