II Die Geschichte der Mafia

42. Durch wen haben die Italiener die Mafia entdeckt?

Im Jahr 1876, kurz nach der Einigung Italiens, führten Leopoldo Franchetti und Sidney Sonnino eine Untersuchung zur Wirtschaft und Verwaltung in Sizilien durch. Damit rückten sie zum ersten Mal das Problem der Mafia ins Licht der Öffentlichkeit und deckten zugleich die Verbindungen dieser Organisation zur politischen Macht auf. Ihre Untersuchung wurde zum Ausgangspunkt für alle Studien des Phänomens Mafia in den nachfolgenden Jahrzehnten.

 

Wenn eine Angelegenheit der Eigensucht zwei der ersten Familien in einer Gemeinde trennt, so gruppieren sich nach und nach alle anderen um diese, und der Ort ist in zwei Parteien gespalten. Eine jede wendet gegen die andere alle Mittel an: Gewalttat, Zivilklage, Strafprozess, das Wahlgesetz und die Gemeindeordnung. Jeder versucht, den Prätor, den Staatsanwalt, den Unterpräfekten zu gewinnen. Wo keine Trennung, kein Streit besteht, wo die Vorherrschaft in der Gemeinde einer einzigen Person gehört, da wird deren Macht zu einer unbedingten. Sie verfügt dann nach Gefallen über die öffentliche Verwaltung und fast über Leben und Vermögen aller. Wir haben die Mafia beschrieben.

 

Leopoldo Franchetti und Sidney Sonnino, Allgemeine

Zustände und Verwaltung in Sizilien (1876; dt. 1906)

43. Stimmt es, dass die Mafia vom Faschismus besiegt wurde und sofort nach dem Sturz des Regimes wieder auftauchte?

Für manche markierte der Faschismus das Ende der Mafia, für andere beschränkte er sich darauf, gegen Banditen und Ehrenmänner auf der untersten Ebene vorzugehen. Mussolini war der erste italienische Regierungschef, der der kriminellen Organisation Siziliens offiziell den Krieg erklärte, aber er setzte nur polizeiliche Mittel gegen sie ein. Eine Antimafia-Politik hat der Faschismus nie betrieben. Während der zwanzigjährigen faschistischen Herrschaft verschwand nicht das Phänomen, sondern nur das Wort »Mafia«: Es wurde vom Regime für tabu erklärt.

Einige Bosse wurden in den ersten Jahren sogar zu wichtigen Exponenten des Faschismus vor Ort: Franco Cuccia war Bürgermeister und Mafiaboss von Piana degli Albanesi, Santo Termini Bürgermeister und Mafiaboss von San Giuseppe Jato, Antonino Lopez Bürgermeister und Mafiaboss von Mezzojuso.

1925 bis 1928 leitete Polizeipräfekt Cesare Mori eine der spektakulärsten und umstrittensten Antimafia-Operationen in Sizilien. Es gab Massenverhaftungen, insbesondere zwischen Palermo und dem Madonien-Gebirge, in den Provinzen Agrigent und Trapani. Moris Razzien brachten rund elftausend Sizilianer hinter Gitter. Auch viele Gegner des Faschismus wurden als angebliche Mafiosi aus dem Weg geräumt.

Nach den großen Säuberungen wurde der Präfekt befördert und versetzt: Er hatte angefangen, die höheren Kreise zu stören. Dank ihrer Beziehungen und dank der Korruption, die in der faschistischen Partei und in den Lokalverwaltungen Siziliens in den dreißiger Jahren grassierte, konnten die einflussreichsten Mafiosi das Gefängnis schnell wieder verlassen. Hinter Gittern blieben nur Banditen und scassapagghiara, kleine Hühnerdiebe.

Die gewichtigeren Mafiosi gingen in jenen zwanzig Jahren in Deckung und warteten auf bessere Zeiten, um ihre Beziehungen zur Macht wieder neu zu knüpfen. Nach 1945 erwies sich der »Antifaschismus« der Mafiosi für das Wiedererstarken der Cosa Nostra als förderlich.

44. Stimmt es, dass die Amerikaner dank der Mafia in Sizilien landen konnten?

Das ist eines der vielen Märchen, die rund um die Mafia entstanden sind. In Italien und auch in den Vereinigten Staaten kursiert das Gerücht, die amerikanischen Geheimdienste hätten vor der Landung auf Sizilien Verbindung zu den Bossen aufgenommen, die ihnen halfen, die Insel zu erobern. Es ist aber kein einziges Geheimpapier oder offizielles Dokument bekannt, das eine Verhandlung mit der Cosa Nostra vor der Operation Husky belegen würde – Operation Husky ist der Codenamen für die Invasion der Insel in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1943.

Wahr ist, dass die amerikanischen Geheimdienste und die Bosse der Cosa Nostra schon während der sechsmonatigen alliierten Militärverwaltung Verhandlungen aufnahmen. Jetzt trat die Mafia mit aller Macht wieder auf den Plan. Nach der Befreiung wurden viele Bosse Bürgermeister in ihrem Ort. Die Beziehung der Cosa Nostra zu den US-amerikanischen Geheimdiensten dauerte fast ein halbes Jahrhundert, und in der Zeit genoss die sizilianische Mafia auch in den Vereinigten Staaten eine besondere Immunität.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden im übrigen Italien und in fast allen europäischen Ländern geheime militärische oder paramilitärische Organisationen, die eng mit den westlichen Geheimdiensten zusammenarbeiteten. Sie sollten im Bedarfsfall die »rote Gefahr« aufhalten. In Sizilien war es die Mafia, die im Kalten Krieg die Demokratie »gegen den Kommunismus« schützte.

Es mag erschreckend klingen, aber eine kriminelle Organisation stand im Dienst der Demokratie.

45. Gibt es amtliche Belege für die Absprachen zwischen den Alliierten und der Mafia nach dem Zweiten Weltkrieg?

Es gibt viele, und sie sind alle in den Archiven der Siegermächte aufbewahrt, was für die historische Glaubwürdigkeit nicht unerheblich ist. Tausende Geheimdokumente wurden in den letzten zehn, fünfzehn Jahren freigegeben: Diese Berichte können heute im Staatsarchiv der USA in College Park, Maryland, eingesehen werden. Besonders eines dieser Papiere gibt Aufschluss über das, was in den Jahren 1943 bis 1945 in Sizilien geschah. Das Dossier trägt den Titel: »Die hohe Mafia bekämpft das Verbrechen in Sizilien« und ist von Agenten des Office of Strategic Services (OSS) unterzeichnet, dem Vorläufer der CIA. Und es erläutert, wie die Mafia für den sozialen Frieden auf der Insel sorgte. Man gewinnt den Eindruck, dass die Mafia nicht als eine Verbrecherbande, sondern als eine Organisation betrachtet wurde, die imstande war, in den Wirren der Nachkriegszeit die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. In anderen Berichten des OSS ist zu lesen, dass die Mafiabosse auf die Unterstützung von neunzig Prozent der sizilianischen Bevölkerung zählen konnten.

Ein Dokument vom 29. Oktober 1943, das bei Kriegsende im britischen Staatsarchiv in Kew Gardens bei London aufbewahrt wurde, enthält die frühesten Hinweise auf Verhandlungen der Alliierten mit der Cosa Nostra. Das Dossier trägt die Unterschrift von Hauptmann W. E. Scotten (der vom Hauptquartier des britischen militärischen Geheimdienstes in Algier nach Palermo geschickt worden war) und ist an den Brigadegeneral Julius C. Holmes gerichtet, der von der Insel aus alle Kriegsmanöver im Mittelmeerraum leitete. In diesem sechsseitigen Bericht taucht zum ersten Mal das Wort »Verhandlung« auf, und zwar im Zusammenhang mit »möglichen Lösungen für das Problem der Mafia in Sizilien«.

46. Stimmt es, dass die Mafia früher »gut« war und dann von der »bösen« Mafia verdrängt wurde?

Seit es die Mafia gibt, hat man diese Unterscheidung getroffen, Jahrzehnt um Jahrzehnt und Generation um Generation: die alte und die neue Mafia. Die alte war grundsätzlich gut und die neue ist grundsätzlich böse. In Wahrheit hat sich die Mafia stets der jeweiligen Situation angepasst. Immer wieder kamen Legenden über die »gute« Mafia auf, die keine Frauen und Kinder umgebracht habe. Alles Quatsch. Die Mafia hat immer dann gemordet, wenn sie es für nötig hielt. Sie hat nie gezögert, eine Frau oder ein Kind umzubringen, um eine potenzielle Gefahr von der Organisation abzuwenden oder um ein Exempel zu statuieren.

1948 tötete der Mafiaboss von Corleone und Arzt Michele Navarra den dreizehnjährigen Schafhirten Giuseppe Letizia mit einer Giftspritze. Der Junge hatte zu viel gesehen: Er war Zeuge der Entführung des Gewerkschafters Placido Rizzotto geworden. 1963 ermordeten die Killer in Palermo Paolino Riccobono, ebenfalls ein Kind und Sohn eines Mafioso. 1976 folgte das Massaker an vier Jungs aus dem Viertel San Cristoforo in Catania, die erdrosselt wurden, weil sie der Mutter des örtlichen Bosses die Handtasche entrissen hatten. Sie wurden entführt und in ein abgelegenes Landhaus zwischen San Cono und Mazzarino an der Grenze zur Provinz Caltanissetta gebracht. Nach zwei Tagen erdrosselte man sie und warf die Leichen in einen Brunnen. Der älteste war vierzehn, der jüngste elf Jahre alt. Der Befehl zu ihrer Ermordung kam von den Brüdern Nitto und Turi Santapaola. In dem Landhaus waren aber sämtliche Vertreter der Familien von Mazzarino und Riesi anwesend, die alle einverstanden waren. Sie gehörten der alten Mafia an, die heutige Mafiosi als die gute, ritterliche Mafia darzustellen versuchen.

Eine weitere Lüge ist das Märchen, die Mafia habe bis in die achtziger Jahre nicht mit Drogen gehandelt. Auch in Francis Ford Coppolas Film Der Pate wird eine Mafia gezeigt, die »schmutzige Geschäfte« ablehnt. Diese Mafia repräsentiert der alte Don Vito Corleone. Er stellt sich gegen die anderen Familien, die sich am Heroin bereichern wollen. Die Wahrheit ist: Wenn der Markt nach Drogen verlangte, hat die Mafia sie stets besorgt.

47. Wann ist die sizilianische Mafia in den internationalen Drogenhandel eingestiegen?

Schon seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Opium und Morphium, in Orangenkisten versteckt, von Sizilien in die Vereinigten Staaten verschifft. Bereits in den dreißiger Jahren importierte Lucky Luciano Rauschgift aus Europa. Doch der eigentliche internationale Drogenhandel begann nach dem berühmten Gipfel im Hotel delle Palme in Palermo.

Dort trafen sich vom 12. bis zum 16. Oktober 1957 die Bosse der sizilianischen und der amerikanischen Mafia. Vincenzo Rimi aus Alcamo war dabei, Cesare Manzella aus Terrasini, Calcedonio Di Pisa, Rosario Mancino und Domenico La Fata aus Palermo und Giuseppe Genco Russo aus Mussomeli. Aus den Vereinigten Staaten kamen Lucky Luciano, Charles Orlando, Frank Garofalo, Giuseppe Bonanno (besser bekannt als Joe Bananas), Carmine Galante und Santo Sorge.

Bei dem Treffen legten die Bosse die Basis für den großen internationalen Drogenhandel, der Palermo innerhalb von zwanzig Jahren zur Welthauptstadt des Heroins machte. Die Cosa Nostra kam überein, dass sie ein Oberhaupt und mehrere Stellvertreter benötigte, die von der gesamten Organisation anerkannt wurden. Die Idee der Cupola, der Kommission, entstand in jenem Oktober des Jahres 1957: Es war zwar kein Aufsichtsrat, aber doch ein Repräsentativorgan im eigentlichen Sinn.

 

»Quannu ci sunnu troppi cani sopra un ussu beatu cu ci sta arrassu.« Wenn sich zu viele Hunde um einen Knochen streiten, hält man sich besser fern. Das sagte Giuseppe Genco Russo im Kaminraum des Hotel delle Palme in Palermo am Ende des Gipfeltreffens zu Santo Sorge. Mit seiner Bauernschläue wollte Zu’ Peppi Jencu – so hieß er bei seinen Leuten – den Freund aus Amerika darauf hinweisen, dass die Drogen der Cosa Nostra früher oder später Unglück bringen würden.

Giuseppe Genco Russo war ein grobschlächtiger Bauer, der sich in der Zwischenkriegszeit die Landgüter der Fürsten Lanza Branciforti di Trabia unter den Nagel gerissen hatte. Er wurde mehrfach verhaftet und 1962 auf der Liste der Democrazia Cristiana in den Gemeinderat von Mussomeli gewählt. Während seines Prozesses drohte sein Anwalt damit, ein Telegramm zu veröffentlichen, mit dem siebenunddreißig Parlamentsabgeordnete seiner Partei ihm für ihre Wahl gedankt hatten. Zu’ Peppi Jencu starb am 18. März 1976 dreiundachtzigjährig eines natürlichen Todes.

 

L’Ora, 10. Oktober 1984

48. Wer waren die größten mafiosen Drogenhändler aller Zeiten?

Der amerikanischen Drogenbehörde zufolge waren es Alfonso Caruana und Pasquale Cuntrera, die von Siculiana nach Kanada ausgewandert waren.

Im September 1968 wurde Alfonso Caruana vom Einwanderungsbüro in Montreal mit siebenundachtzig Dollar und dreißig Cent in der Tasche bei der Einreise registriert. 1978, zehn Jahre später, wurde er am Flughafen Zürich mit sechshunderttausend Dollar im Koffer festgenommen. Weitere zehn Jahre später, 1988, schätzten Beamte des FBI sein Privatvermögen auf rund einhundert Millionen Dollar.

Man sagt, Caruanas und Cuntreras Reichtum gehe auf den polnischen Juden Meyer Lansky zurück, einen kleinen rothaarigen Mann, der ein besonderes Händchen für Geldwäsche hatte. Laut einer von der Zeitschrift Fortune herausgegebenen Liste der reichsten Männer Italiens rangierte die Firma Caruana & Cuntrera Mitte der achtziger Jahre gleich hinter Silvio Berlusconi und Gianni Agnelli und knapp vor Luciano Benetton.

Zio (Onkel) Alfonso und zio Pasquale wurden die Rothschilds der Mafia genannt. Ihr Imperium gründete auf Geld und auf der Blutsverwandtschaft: Zwei Familien verschmolzen zu einer einzigen. Antonina Caruana, die Nichte des Stammvaters Alfonso, heiratete Paolo Cuntrera; Vincenzina und Giuseppina Cuntrera heirateten Gerlando und Alfonso Caruana, die Söhne Carmelo Caruanas. Ein weiterer Paolo Cuntrera heiratete eine Mongiovì aus Siculiana, die mit den Caruana verwandt waren.

Bei einer Familienhochzeit 1977 trat als Trauzeuge ein Sizilianer auf, der es bis zum Minister bringen sollte: Calogero Mannino. Er hat immer behauptet, er habe der Braut zuliebe teilgenommen, der Tochter eines rechtschaffenen Mannes und Schuldirektors, nicht des Bräutigams Gerlando Caruana wegen, des Sohns des Bosses.

49. Was war der erste Anschlag der Mafia auf eine namhafte Persönlichkeit?

Der Mord an dem Marquis Emanuele Notarbartolo, einem Vertreter der liberalkonservativen Rechten. Er war Bürgermeister von Palermo und Direktor des Banco di Sicilia gewesen und kämpfte gegen Klientelwirtschaft, Geschäftemacherei und Korruption. Mehrere Politiker waren seine erklärten Feinde, und fast alle genossen die Unterstützung der Mafia. Notarbartolo wurde am 1. Februar 1893 im Zug von Termini Imerese nach Palermo ermordet. Zwei Mafiosi aus Villabate wurden als Täter beschuldigt, der Abgeordnete Raffaele Palizzolo, der enge Verbindungen zu Ministerpräsident Francesco Crispi hatte, galt als Auftraggeber. Alle drei Prozesse im Zusammenhang mit diesem berühmten Mordfall fanden wegen Befangenheit der Gerichte außerhalb Siziliens statt.

Der erste begann in Mailand, aber die Richter schickten die Akten »zwecks weiterer Ermittlungen« nach Palermo. Beim zweiten Prozess in Bologna wurde der Abgeordnete Palizzolo zu dreißig Jahren Haft verurteilt. Das Kassationsgericht verwies das Verfahren wegen eines Formfehlers an das Schwurgericht in Florenz zurück, wo Palizzolo am 23. Juli 1904 aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde.

Aus diesem Anlass charterten seine Freunde ein ganzes Schiff, das von Neapel ablegte. Bei der Ankunft im Hafen von Palermo wurde Raffaele Palizzolo wie ein Held mit dem Ruf empfangen: »Hoch lebe Florenz. Hoch leben die Geschworenen. Hoch lebe Palizzolo.«

Seitdem brachte die sizilianische Mafia achtundsiebzig Jahre lang keine hochrangige Persönlichkeit mehr um. Erst 1971, mit der Ermordung des Oberstaatsanwalts Pietro Scaglione, schlug sie erneut zu.

 

Die Gerichtsbehörden haben sich nie eine Blöße gegeben. Man braucht sich nur die zahlreichen Aktenbände des Prozesses anzusehen, um dies zu belegen. Es wurden 135 Personen verhaftet, sämtliche Wärterhäuschen entlang der Bahnstrecke wurden durchsucht, aber es ließ sich nichts Konkretes finden, und man trug lediglich Gerüchte zusammen, wonach Palizzolo der Auftraggeber sei. Wenn es eine Beeinflussung gab, dann jene, die Palizzolo auf die Anklagebank brachte – ein Einfluss, der auf die gegen ihn geschürte Stimmung und auf diffuses Gemunkel zurückzuführen war, wovon aber nichts Handfestes übrigblieb.

 

Aussage des Generalstaatsanwalts von Palermo, Vincenzo

Cosenza, im Prozess zum Mord an Emanuele Notarbartolo

in Florenz

50. Warum hat die Mafia fast hundert Jahre lang keinen Staatsvertreter mehr umgebracht?

Weil keine Notwendigkeit dazu bestand. Die Mafia zog es von Anfang an vor, sich hinter dem Staat zu verstecken, statt ihn zu bekämpfen. Ihr Charakter und ihre Stärke war es immer gewesen, mit allen gut auszukommen, um mit allen Geschäfte zu machen: mit Politik, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft. In jenen achtzig Jahren der Unsichtbarkeit nistete sich die Mafia überall ein, ohne einen einzigen Schuss gegen die Staatsmacht abgeben zu müssen.

Bis 1982 hatte die italienische Gesetzgebung die Mafia nicht als eine kriminelle Organisation anerkannt. Bis dahin gab es in Italien den Straftatbestand der mafiaartigen Vereinigung gar nicht. Dann kamen die Corleoneser, die Bosse, die den Charakter der Cosa Nostra grundlegend veränderten. Ihr Oberhaupt Salvatore Riina erklärte in seinem Größenwahn zum ersten Mal in der langen Geschichte der sizilianischen Mafia dem Staat den Krieg. In dieser Provokation sahen manche den Anfang vom Ende der Cosa Nostra, einer Organisation, die nie nur eine gewöhnliche Verbrecherbande gewesen war. Doch dieses Ende werden andere erleben, wir nicht.

51. Wie hat sich die sizilianische Mafia verändert?

Bis in die fünfziger Jahre gab es die Mafia der Latifundien und Orangenhaine, in den sechziger Jahren die Baumafia, in den siebziger und achtziger Jahren die Drogenmafia. Heute gibt es die Wirtschaftsmafia. Schon 1990 hatte Untersuchungsrichter Falcone Alarm geschlagen: »Die Mafia ist jetzt an der Börse.« Raul Gardini war mit seiner Firma Calcestruzzi gerade erst Partner der Cosa Nostra geworden.

Die Mafia verändert sich. Sie entwickelt sich weiter, passt sich an und versteckt sich. Das ist ein Spiel von Kontinuität und Wandel. Vor vierzig Jahren, als sie dabei war, zu einer kriminellen Weltmacht zu werden, dachten viele, sie sei schon verschwunden, erledigt. Im Zingarelli, dem Wörterbuch der italienischen Sprache, von 1966 hieß es unter dem Stichwort Mafia: »Eine Vereinigung von Gewalttätigen und Verbrechern, die früher in Sizilien weit verbreitet war.«

Heute verfügt die Mafia nicht mehr über die Führungsfiguren von einst und versucht wieder einmal ein neues Gesicht zu zeigen. Nicht mehr das sonnenverbrannte Gesicht der Bauern von Corleone, die in ganz Italien Bomben legten und Angst und Schrecken verbreiteten.

52. Wer waren die großen Bosse der sizilianischen Mafia?

Ein großer Boss von Palermo war gewiss Vito Cascio Ferro, der im Verdacht stand, 1908 die Ermordung von Joe Petrosino veranlasst zu haben. Der New Yorker Polizeibeamte war nach Palermo gekommen, um die Geheimnisse der Mafia zu ergründen. Nach dem Zweiten Weltkrieg (und bis vor wenigen Jahren) galt Calogero Vizzini, Don Calò, der Patriarch von Villalba, als unangefochtener Boss der Cosa Nostra. Villalba liegt an der Grenze zwischen den Provinzen Caltanissetta und Palermo, der Hauptstadt der Grundbesitzmafia. Alte Mafiaaussteiger erzählten allerdings, in Wahrheit sei das Oberhaupt der Kommission damals ein gewisser Andrea Fazio gewesen, ein Name, der in den Polizeiberichten nirgendwo auftauchte.

Nachfolger von Calogero Vizzini war Gerüchten zufolge Giuseppe Genco Russo aus Musomeli gewesen, einem weiteren Ort unweit von Caltanissetta. Aber auch er war laut Aussagen von Kronzeugen lediglich der »Repräsentant« seiner Provinz.

Genauere Angaben über die obersten Bosse der Organisation gab es nach dem Gipfeltreffen im Hotel delle Palme im Jahr 1957. Damals hatte Salvatore Greco das Kommando, der wegen seines zierlichen Körperbaus Chicchiteddu, »Vögelchen«, genannt wurde. Ab Ende der sechziger Jahre – nach den Razzien infolge des ersten Mafiakrieges und der Verbannung Hunderter Mafiosi in Regionen Norditaliens – stand der Cosa Nostra ein Triumvirat vor mit Gaetano Badalamenti aus der Familie von Cinisi, Stefano Bontate aus der Familie von Santa Maria del Gesù in Palermo und Luciano Liggio aus der Familie der Corleoneser.

1975 war Gaetano Badalamenti der Chef der Kommission. 1979 wurde Michele Greco zum Oberhaupt gewählt: Aber er war es nur auf dem Papier, in Wirklichkeit hatten bereits die Corleoneser das Sagen. 1992 war Totò Riina der Boss der Bosse.

53. Wer ist heute der oberste Boss der Cosa Nostra?

Soweit man weiß, ist siebzehn Jahre nach seiner Verhaftung am 15. Januar 1993 in Palermo immer noch Totò Riina der oberste Boss der Cosa Nostra. Seit jenem 15. Januar ist die Kommission nie mehr zusammengekommen, um ein neues Oberhaupt zu wählen. Der andere Pate aus Corleone, Bernardo Provenzano, erbte zwar die Führung der Organisation, war aber nie offiziell das Oberhaupt der Cosa Nostra.

54. Warum hat die Cosa Nostra in all diesen Jahren kein neues Oberhaupt bestimmt?

Für die Cosa Nostra ging es damals weniger um eine neue Führung als vielmehr darum, sich wieder zu fangen und ihre längste und schwerste Krise zu überwinden. Nach der Ermordung Falcones und Borsellinos steckte die sizilianische Mafia in einer Sackgasse. Diese Krise ähnelte der von 1963. Nach der Reaktion des Staates auf den Notstand, den der Krieg zwischen den Familien der Stadt Palermo ausgelöst hatte, erwogen die Bosse ernsthaft, die Organisation aufzulösen. Einige von ihnen wanderten nach Nordafrika oder nach Südamerika aus.

Heute haben die Bosse kein Geld. Die Cosa Nostra ist wirtschaftlich in Not, erlebt aber auch eine Nachwuchskrise: Es gibt kaum noch neue Mitglieder. In den letzten Jahren war die Organisation gezwungen, Leute aufzunehmen, die die Ehrenmänner stets als wenig zuverlässig angesehen hatten: Dealer, Diebe und Räuber.

Der Cosa Nostra fehlt derzeit eine Identität. Ihr fehlt ein Konzept. Die Bosse suchen verzweifelt nach neuen politischen Bezugspersonen und nach einem Weg, um wieder so mächtig zu werden wie früher. Doch viele von ihnen sitzen derzeit im Gefängnis, verurteilt zu fünf-, zehn- oder fünfzehnfacher lebenslanger Haft. Die wenigen, die draußen sind, in Freiheit oder untergetaucht, werden von der Polizei gejagt oder auf Schritt und Tritt überwacht, und sie warten ab.

Die Cosa Nostra ist heute gespalten: auf der einen Seite die Bosse hinter Gittern, auf der anderen die Bosse, die draußen sind. Die Zukunft der Cosa Nostra wird wesentlich davon abhängen, welches Gleichgewicht diese beiden »Parteien« mit ihren offensichtlich unterschiedlichen Interessen erreichen. Wer drin ist, möchte alles tun, um herauszukommen, auch um den Preis, wieder Bomben zu legen. Wer draußen ist, bevorzugt die Strategie der Lautlosigkeit, um die verlorene Vorherrschaft zurückzugewinnen. Es gibt noch einen dritten Arm der Mafia: diejenigen, die sich anschicken, den Platz der einsitzenden oder der wenigen noch flüchtigen Bosse zu übernehmen: Namen und Gesichter, die in den Akten und Dateien der Ermittler bisher noch nicht aufscheinen.

Die Ära der Corleoneser ist zu Ende. Sie wurden hinweggefegt, so wie fünfundzwanzig Jahre zuvor die großen Bosse von Palermo weggefegt worden waren, die Bontate und Gambino, die Inzerillo und Di Maggio. Für die Cosa Nostra vollzieht sich zur Zeit ein epochaler Umbruch. Es ist nicht einfach zu entschlüsseln, was in der Welt der Mafia gerade geschieht. Die Cosa Nostra hat einen Großteil ihrer internationalen Glaubwürdigkeit verloren, aber für die Feststellung, dass es mit ihr vorbei sei, ist es auf jeden Fall noch zu früh. Sie sucht verzweifelt nach einer politischen Lösung für ihre Probleme und experimentiert: mit Erpressungen, mit Abspaltungsversuchen, mit Drohungen. Sie befindet sich in einer Phase des Übergangs, in einer Phase massiver Veränderungen.

Ihre militärische Struktur ist in Auflösung begriffen, aber das mafiose System Palermos ist noch am Leben. Es gibt ein mafioses Bürgertum, das stets die Verbindung zwischen den militärischen Ebenen der Organisation und den Helfershelfern in der Politik, den Sicherheitsorganen und der Wirtschaft herstellt.

Das mafiose Bürgertum (eine treffende Bezeichnung, die der sizilianische Mafia- und Verbrechensforscher Umberto Santino zum ersten Mal verwendete) ist eine eigene soziale Schicht. Die Mafia war in Palermo nie ein Fremdkörper, sondern stets gut verankert. Spuren dieses mafiosen Bürgertums finden sich auch in der Untersuchung Leopoldo Franchettis und Sidney Sonninos vom Ende des 19. Jahrhunderts. Bereits sie sprachen von »Übeltätern der Mittelklasse«, die auf der einen Seite Verbindung zu Mördern und auf der anderen zur politischen Macht unterhielten. Dem Schein nach lebte das mafiose Bürgertum nach Recht und Gesetz, in Wahrheit sicherte es stets und in jeder Hinsicht die militärische Struktur der Cosa Nostra ab.

Aus diesem Grund kann man auch noch nicht von einer geschlagenen Cosa Nostra sprechen. In der Vergangenheit hatte sie es stets verstanden, sich wiederaufzurichten, auch unter den widrigsten Umständen.

 

Glauben Sie mir, meine Herren, glauben Sie mir: Die Mafia ist nicht nur ein kriminelles Phänomen, sie reicht über das kriminelle Phänomen hinaus. Die Mafiosi verfügen über Absprachen mit allen Schichten der Gesellschaft. Ein Mafioso weiß sich auf allen Ebenen Zugang zu verschaffen.

 

Tommaso Buscetta, Anhörung vor dem parlamentarischen

Antimafia-Ausschuss, 17. November 1992

55. Könnten die Kinder der namhaftesten Mafiosi die Cosa Nostra retten?

Die Kinder mancher Mafiabosse sind heute angesehene Freiberufler, Rechtsanwälte oder Notare. Andere haben im Ausland studiert und unterrichten jetzt Geschichte oder Rechtswissenschaften an den besten amerikanischen Universitäten. Wieder andere, die jüngsten, besuchen die besten Schulen Palermos.

Dann gibt es noch die »Vorbelasteten«, die einen zu gewichtigen Namen haben, um sich Hoffnung auf ein normales Leben machen zu können: die Söhne Totò Riinas beispielsweise. Der eine, Giovanni, ist dreißig und schon zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der andere, Salvo, ist – kaum volljährig – wegen Zugehörigkeit zu einer mafiaartigen Vereinigung ins Gefängnis gewandert. Er wird wieder herauskommen. Doch wo soll er mit diesem Namen hin, und was wird er je aus seinem Leben machen können? Wenn er kein Mafioso wird, werden ihn seine mafiosen Landsleute verachten; wird er Mafioso, landet er schnell wieder im Gefängnis. Er wird sein ganzes Leben lang unter Beobachtung stehen, auf Schritt und Tritt.

Auch die Kinder Bernardo Provenzanos werden lebenslang gebrandmarkt bleiben, obwohl es ihnen anders erging als den Söhnen Totò Riinas. Gebrandmarkt sind auch die Spadaro aus der Kalsa, die Ganci aus dem Noce-Viertel und die Madonia aus Resuttana – die gesamte Mafia, die noch als solche in Erscheinung tritt: Die gewalttätige Mafia, die wir kennengelernt haben. Es werden sich wohl nur die retten können, die die Möglichkeit hatten, sich zu entscheiden; wer studiert und beizeiten verstanden hat, dass er nicht ein Leben führen kann wie sein Vater.

Vor ein paar Jahren habe ich den Neffen eines großen Bosses aus der Gegend von Agrigent kennengelernt, der in großen Teilen Westsiziliens das Kommando führte. Er wusste, dass ich mich als Journalist mit der Mafia befasste, er hatte viele meiner Berichte gelesen, er »verfolgte« mich mit einem gewissen Interesse. Wir aßen zusammen in einer Trattoria auf dem Land bei Buonfornello am Fuße des Madonien-Gebirges. Auch ein Verwandter Salvatore Riinas war dabei: Damals versuchte ich gerade, seine Tochter Maria Concetta zu interviewen. Während wir so redeten, erinnerte mich der Neffe des Bosses an einen Artikel, den ich vor langer Zeit über die Ermordung Rosario Livatinos geschrieben hatte. Der Richter, der keinen Begleitschutz hatte, wurde von bewaffneten Killern an einer Böschung eingeholt und in einer Schlucht ermordet. Der Neffe des Bosses erinnerte sich an den Hergang des Verbrechens: »Livatino rannte und rannte …«. Ich bekam eine Gänsehaut. Doch dann fügte er hinzu: »Die Zeiten haben sich geändert, und für Leute wie mich gibt es keinen Platz mehr, man weiß nicht mehr, wohin. Die Welt ist eine andere geworden, mit uns hat es keinen Sinn mehr. Leute mit meinem Namen müssen sich verändern, wenn sie überleben wollen.«

Man wird sehen, ob sie sich wirklich für ein anderes Leben entscheiden oder ob sie nur die Kleider wechseln und versuchen, sich eine neue Fassade zu geben.

56. Wer wird das neue Oberhaupt dieser sizilianischen Mafia in der Krise?

Viele Experten sehen Matteo Messina Denaro aus Trapani als Totò Riinas Nachfolger. Er ist seit siebzehn Jahren flüchtig und hat als Spross einer alten Familie der Cosa Nostra einen beachtlichen mafiosen Stammbaum vorzuweisen. Er war einer der Protagonisten der Anschläge von 1992 und 1993, pflegt enge Verbindungen zur palermitanischen Cosa Nostra und unterhält Beziehungen zu Reedern, Kunsthändlern und Freimaurern auf der ganzen Welt: ein Mafioso, der alles hat, was nötig ist, um die sizilianische Mafia aus dem Sumpf zu ziehen, in den sie sich hineinmanövriert hat. Die Ermittlungsbehörden jagen ihn seit Jahren, alle paar Monate heißt es, man »sei drauf und dran, ihn zu fassen«. Sollten sie ihn tatsächlich kriegen, schließt sich ein Kapitel der Cosa Nostra. Sollte er hingegen ein neuer Provenzano werden, eine geheimnisumwitterte Erscheinung, die es schafft, jahrzehntelang im Untergrund zu leben, dann hat die sizilianische Mafia eine weitere unsägliche Abmachung getroffen.

 

Matteo Messina Denaro, der am 26. April 1962 in Castelvetrano in der Provinz Trapani geboren wurde, steht in Italien ganz oben auf der polizeilichen Fahndungsliste. 2007 nahm er unter den Top Ten der meistgesuchten Männer des amerikanischen Wirtschaftsmagazins Forbes den fünften Rang ein – Platz eins hielt Osama bin Laden.

Er soll jemandem anvertraut haben: »Mit den Leuten, die ich getötet habe, könnte man einen ganzen Friedhof füllen.« Angeblich liebt er Videospiele und Rolex-Uhren über alles. Totò Riina soll ihm sein Geheimarchiv übergeben haben.

Er wird als »Fundamentalist« betrachtet, als einer der Unbeugsamsten innerhalb der Cosa Nostra. Vor ein paar Jahren fand die Polizei in einem Versteck Briefe, die Matteo Messina Denaro an seinen alten Freund Tonino Vaccarino geschickt hatte, den ehemaligen Bürgermeister von Castelvetrano, der wegen Mafiakontakten verhaftet (und freigesprochen), wegen Drogenhandels vor Gericht gestellt (und zu sechs Jahren Haft verurteilt) wurde und den der Geheimdienst auf Denaro ansetzte, um auf seine Spur zu kommen. Der Boss, der seine warmherzigen Briefe mit »Alessio« unterschrieb, machte sich darin Gedanken über den Glauben und die Familie, über Jorge Amado, Daniel Pennac, Bettino Craxi und Toni Negri. Seinem Freund Tonino schrieb er:

»Ich bin ein Feind der italienischen Justiz, die in ihren Grundfesten morsch und korrupt ist. Wäre ich zweihundert Jahre früher geboren, hätte ich mit meinen heutigen Erfahrungen eine Revolution gegen diesen italienischen Staat angezettelt, und ich hätte gewonnen; Wohlstand, Fortschritt und Globalisierung lassen die Welt heute anders aussehen, und meine Methoden wirken archaisch, also bleibe ich ein Träumer und Idealist, und wir wissen beide, welches Ende den Idealisten blüht.«

 

Aus der palermitanischen Monatsschrift S., April 2008

57. Wodurch wurde die aktuelle Krise der Cosa Nostra ausgelöst?

Salvatore Riina aus Corleone wird wohl als derjenige in die Geschichte eingehen, der die Cosa Nostra in schweres Fahrwasser gebracht hat. Mit Terroranschlägen und Bomben provozierte er eine Reaktion des Staates, der damit zum ersten Mal gegen die Mafia aktiv wurde.

Den ersten schweren Schlag, der den Mythos ihrer Unbesiegbarkeit ins Wanken brachte, erhielt die sizilianische Mafia allerdings durch Tommaso Buscetta. Entscheidend dafür war, dass Buscetta gegenüber Giovanni Falcone auspackte. Der Mafioso nannte dem Untersuchungsrichter nicht nur die Namen der Mitglieder der Organisation, sondern lieferte ihm auch den Schlüssel zum Verständnis der Cosa Nostra. Ohne jene Zusammenarbeit wüssten wir heute nichts oder nur sehr wenig über die sizilianische Mafia.

58. War Buscetta der erste Mafiaaussteiger?

Es hatte in Sizilien schon vorher Mafiaaussteiger (pentiti) gegeben, auch wenn sie nicht so genannt wurden. Sie galten als »Verrückte«, als »Geisteskranke«, hatten aber viel erzählt oder versucht, viel zu erzählen. Die meisten von ihnen nahmen ein böses Ende.

1979 lernte ich den ersten echten Mafiaaussteiger der modernen Cosa Nostra kennen, der sich der Justiz als Kronzeuge zur Verfügung stellte: Leonardo Vitale. In Palermo nannte man ihn »Leuccio« oder den »Valachi aus der Vorstadt«: nach Joe Valachi, der mit seinen Enthüllungen 1963 die amerikanische Cosa Nostra von der Atlantik- bis zur Pazifikküste hatte erzittern lassen.

Ich traf ihn in Gratteri, einem Dorf im Madonien-Gebirge, in das man ihn noch am Tag seiner Entlassung aus einer Anstalt für psychisch gestörte Kriminelle zum Zwangsaufenthalt geschickt hatte. Er konnte sich in dem Dorf frei bewegen, durfte aber das Gemeindegebiet nicht verlassen. Er erzählte mir von seiner Initiation in die Mafia. Sein Onkel Giovanbattista Vitale, genannt »Titta«, ein Mafioso des Viertels Altarello di Baida, hatte keine Kinder und wollte unbedingt, dass sein Neffe zum Ehrenmann wird. Um seine Eignung als Mafioso auf die Probe zu stellen, hatte er ihn eines Tages mit aufs Land genommen, ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt und ihn aufgefordert, ein weißes Fohlen zu erschießen. Ein paar Wochen später hatte der Onkel ihm dasselbe Gewehr ausgehändigt mit dem Auftrag, in der Via Tasca Lanza in Palermo einen Mann zu erschießen. Leuccio war erst siebzehn, als er seinen ersten Mord beging.

1973 stellte sich Leonardo Vitale in Palermo der Polizei und beschloss auszusagen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Er hatte das gewalttätige Leben nicht mehr ausgehalten und empfand echte Reue. Er beschuldigte zweiundvierzig Mafiosi. Als Erster berichtete er von der Gefährlichkeit und der Macht Totò Riinas innerhalb der Cosa Nostra – das war im Jahr 1973, als der Boss von Corleone in Palermo noch nahezu unbekannt war. Seine Aussagen wurden der Staatsanwaltschaft übergeben. Die Richter kamen zu dem Schluss, er sei verrückt, ließen seine Aussagen in einer Schublade verschwinden und schickten ihn in die psychiatrische Anstalt von Barcellona Pozzo di Gotto.

Nach vier Jahren wurde Leuccio entlassen und in den Zwangsaufenthalt geschickt. Bei seiner Rückkehr nach Palermo 1984 wurde er ermordet. Die Richter hatten seine zehn Jahre zuvor gemachten Aussagen ignoriert, Totò Riina nicht.

 

Das Leben hat es nicht gut gemeint mit mir, und das Böse hat mich schon als Kind erwischt. Dann kam die Mafia mit ihren falschen Gesetzen und ihren falschen Idealen: Diebe bekämpfen, den Schwachen helfen, aber gleichzeitig morden. Verrückt! Die Beati Paoli [vgl. Kap. 88], Coriolano della Floresta [vgl. ebd.], die Freimaurer, das Giovane Italia [Junges Italien; Bewegung des 19. Jahrhunderts zur Einigung Italiens], die neapolitanische und die kalabrische Camorra. Man muss Mafioso sein, um Erfolg zu haben. Das hat man mir beigebracht, und ich habe gehorcht. Meine Schuld ist es, dass ich geboren wurde, dass ich in einer Gesellschaft gelebt habe, in der alle Mafiosi sind und deshalb geachtet werden, die dagegen, die es nicht sind, verachtet werden. Geistesschwäche = seelisches Übel; Mafia = soziales Übel; politische Mafia = soziales Übel; korrupte Behörden = soziales Übel. Das sind die Übel, denen ich zum Opfer gefallen bin, ich, Leonardo Vitale, der ich im Glauben an den wahren Gott wiederauferstanden bin.

 

Aus der dreizehnseitigen Aussage, die Leonardo Vitale am

30. März 1973 vor der Polizei in Palermo zu Protokoll gab

59. Was ist ein Mafiaaussteiger?

Pentiti, das sind jene Mafiosi, die die omertà, die Mauer des Schweigens, durchbrochen haben. Ohne sie wäre nie eine Bresche in diese kriminelle Organisation geschlagen worden. Für die Cosa Nostra waren sie Gift.

Mafiosi, die sich der Justiz als Kronzeugen zur Verfügung stellen, waren aber nie sonderlich beliebt. Angefangen mit Tommaso Buscetta, zog man vor allem dann gegen sie zu Felde, wenn sie sich nicht darauf beschränkten, andere Mafiosi zu beschuldigen oder grausame Verbrechen zu gestehen, sondern über Politik redeten. Solche Enthüllungen in einem Ermittlungsverfahren oder einem Prozess werden sofort zu einer »Staatsaffäre«. In Italien gab es schon immer Leute, die vor den Mafia-Kronzeugen eine Heidenangst hatten.

Eine andere Frage ist die Art und Weise des Umgangs mit ihnen, die Überprüfung und Verwendung ihrer Aussagen. In den letzten zwanzig Jahren gab es Staatsanwälte, die mit aussagewilligen Mafiosi vorbildlich umgingen, andere in skandalöser Weise. Das Problem ist nicht der Kronzeuge; das Problem ist, wie man seine Aussagen benutzt. Das größte Problem aber sind diejenigen, die keinen Kronzeugen wollen.

Kein pentito gleicht dem anderen. Die einen reden aus Rache, andere aus Kalkül, wieder andere aufgrund eines inneren Leidensdrucks, aber das sind nur wenige. Es gibt solche, die die Wahrheit sagen (häufig aber nicht die volle), solche, die lügen, und solche, die es bereuen, bereut zu haben. Es gibt auch »Bauchredner« unter ihnen, und das sind die gefährlichsten, denn sie sprechen im Namen anderer und wollen die Ermittler gezielt in die Irre führen. Sie erzählen den Staatsanwälten von Caltanissetta »ihre« Wahrheit und fügen damit den Prozessen von Caltanissetta ein Puzzleteilchen hinzu, aber nur, um damit zwei Puzzleteilchen aus den Prozessen in Palermo herauszubrechen. Es gab auch pentiti, die nach vielen Jahren im Zeugenschutzprogramm nach Sizilien zurückkehrten, um wieder zu schießen und zu morden.

Jedenfalls kommt es selten vor, dass ein Mafiaaussteiger echte moralische Reue zeigt. Vielleicht war dies sogar nur bei Leonardo Vitale der Fall, der eine tiefe religiöse Krise erlebte.

60. Seit wann gibt es Mafiaaussteiger?

Seitdem der Untersuchungsrichter Falcone auf den Plan trat. Vorher gab es Informanten, die von den Polizeibehörden und den Sondereinheiten angeworben und gesteuert wurden. Über ihre Aussagen haben weder die Richter und Staatsanwälte noch sonst irgendjemand Kontrolle. Die große Wende kam, als der hochkarätige Mafioso Buscetta in den Rang eines Kronzeugen der Justiz erhoben wurde und seine Aussagen auf institutioneller Ebene gewürdigt, zu Protokoll genommen und zu einem wichtigen Instrument der Beweisführung wurden.

Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Rolle eines Kronzeugen und der eines Informanten: Das gesetzlich Zulässige ist von Willkür und Illegalität nur durch einen schmalen Grat getrennt. Vor Falcone wurden die Aussagen eines Informanten von den Bullen nach Belieben benutzt (ich sage absichtlich »Bullen« und nicht »Polizei«). Mit Falcone änderte sich dies alles. Die von Buscetta gelieferten Informationen wurden amtlich und flossen in vollem Umfang in die Ermittlungsakten ein – alles unter strikter Einhaltung und Anwendung der Gesetze.

Trotz der Vorschriften kam es manchmal vor, dass bei komplizierten Mafiastrafsachen manche Abteilungen von Polizei und Justiz die Kronzeugen weiterhin so benutzten wie zuvor die Informanten. Mit Versprechungen, Erpressungen und Tauschgeschäften wurden die Ermittler auf eine falsche Spur gelenkt.

61. Inwieweit deckt sich die gerichtlich ermittelte Wahrheit mit der Wahrheit der Fakten?

Die gerichtlich ermittelte Wahrheit enthüllt häufig nur einen Teil, manchmal sogar nur Bruchstücke der Wahrheit. Die Justiz folgt einer anderen Dynamik als die Cosa Nostra. Die Ermittlungen oder ein Prozess dauern Monate oder höchstens ein paar Jahre. Die Cosa Nostra dagegen rechnet – wie früher in der Sowjetunion – in Zehn- oder Zwanzigjahresplänen oder in noch längeren Zeiträumen. Sie verfolgt ein strategisches Ziel und beschränkt sich nicht darauf, das unmittelbare Geschehen zu beurteilen, sondern hat die Zukunft im Blick, bedenkt die Folgen jedes einzelnen Schritts und investiert stets langfristig. Die Justiz führt einen ungleichen Kampf gegen die Mafia, denn die Cosa Nostra hat Zeit, endlos lange Zeit. Das Ergebnis dieses ungleichen Kampfes ist fast immer eine gerichtlich ermittelte Teilwahrheit. Das lässt sich praktisch nicht vermeiden.

Nehmen wir zum Beispiel den sogenannten »Mafiakrieg«, der von Frühjahr 1981 bis Herbst 1983 dauerte. Siebzig Bauern kamen von der Rocca Busambra, dem Berg über dem Ort Corleone, herunter (man nannte sie peri incritati, verdreckte Füße) und löschten die Aristokratie der Mafia aus: tausendfünfhundert Tote in Westsizilien innerhalb von zweieinhalb Jahren.

Dieser Mafiakrieg wurde in einer Reihe von Prozessen in Palermo rekonstruiert, die sich über fünfzehn Jahre hinzogen; erfahrene Staatsanwälte und Ermittler folgten dabei streng den Vorschriften. Doch das Ergebnis ist lediglich in straf- und verfahrensrechtlicher Hinsicht als befriedigend zu betrachten. Die historische Wahrheit muss erst noch ergründet werden. Heute noch fragen sich die Sizilianer: Wie kann es sein, dass es jenen siebzig Bauern ohne mafioses Renommee und ohne enorme Reichtümer im Rücken gelang, aus eigener Kraft einen Teil des Systems der Cosa Nostra zu beseitigen, das sich hundertfünfzig Jahre lang behauptet hatte?

Was als Mafiakrieg bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit kein Krieg, sondern ein Vernichtungsfeldzug. Tote und Verletzte zählte man letztlich nur auf einer Seite, bei den Gegenspielern der Corleoneser. Aus der gerichtlichen Rekonstruktion ergab sich, dass Totò Riina überall, in jeder Familie Palermos, seine Spitzel eingeschleust hatte. Jeden Zug seiner Feinde erfuhr er in Echtzeit. Die Bosse und Unterbosse aus den traditionellen Mafiafamilien Palermos hatte er für sich gewonnen. Sie verrieten ihre alten Verbündeten und erwiesen sich in der Phase der Vernichtung als entscheidend. Über zehn Jahre lang hatte Totò Riina auf der Lauer gelegen – alle seine Gegner wussten das –, um die Palermitaner zu eliminieren und die Stadt zu erobern. Aber keiner hatte je einen Finger gerührt, um ihn aufzuhalten.

Ich habe mich immer gefragt: Und die anderen, die Opfer, die Inzerillo, Bontate, Di Maggio, Gambino, Badalamenti (also die mächtigsten Bosse mit den meisten Gefolgsleuten, enormen finanziellen Mitteln und Freunden überall), die sich zwanzig Jahre lang von den siebzig Bauern hinters Licht führen ließen, was ist mit denen? Waren sie nur Dummköpfe, die den Corleonesern auf den Leim gingen? Mehr oder weniger so wurde die Geschichte erzählt, ich glaube aber, dass noch etwas anderes dahintersteckt, was bisher noch im Dunkeln liegt. Ich vermute, die Corleoneser konnten sich in ganz Sizilien breitmachen und wurden von irgendjemandem geschützt und dazu benutzt, eine ganze Mafiageneration aus dem Weg zu räumen, die zu viele Geheimnisse hütete: einen Teil der Cosa Nostra, der nicht mehr benötigt wurde. In jenen Jahren war ein anderer Teil der Cosa Nostra gefragt.

Erst viel später haben wir erkannt, wer das war: der Attentäter Totò Riina.

62. Verbergen sich hinter dem Mafiakrieg Staatsgeheimnisse?

Es geht um Geldgeheimnisse – und um noch andere, schändliche Geheimnisse. Eines der vielen Rätsel jenes sogenannten Kriegs war der Fall Sindona. Kurz vor dem Gemetzel, im August und September 1979, versteckte sich der Bankier und Bankrotteur Michele Sindona siebzig Tage lang unter falschem Namen und unter Vortäuschung seiner eigenen Entführung in Sizilien. Die Spatola umsorgten ihn, die Gambino eskortierten ihn, die Bontate versteckten ihn. Alle, die ihm zur Seite standen, starben eines gewaltsamen Todes. Auch alle, die zur vorgetäuschten Entführung ermittelten, wurden ermordet: der Leiter der Kriminalpolizei Palermos, Boris Giuliano, und der Leitende Oberstaatsanwalt von Palermo, Gaetano Costa – ein außergewöhnlicher Polizist der eine, ein Vertreter der Justiz der andere, wie sie im damaligen Sizilien nur selten zu finden waren. Es starben auch all jene, die geahnt hatten, dass Sindonas Anwesenheit etwas mit den Bluttaten von Palermo zu tun haben musste; etwa Pio La Torre, der Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende der Kommunistischen Partei Siziliens, der als Erster erkannt hatte, dass die Insel zu einem kriminellen Versuchslabor nicht nur für mafiose Machenschaften geworden war.

Pio La Torre konnte das Sizilianische ins Italienische »übersetzen«. Er verfügte über alle Voraussetzungen, um die Strukturen der Cosa Nostra zu entziffern und dem Vorstand seiner Partei in Rom zu erklären, was damals vor sich ging. Vermutlich lag hier der wahre Grund für seine Ermordung: dass er Sizilianisch und Italienisch sprechen, das heißt in Rom die Vorgänge in Sizilien erklären konnte, wo gerade ein Machtwechsel innerhalb der Mafia stattfand. Sie erschossen ihn mit Maschinenpistolen in einer engen Gasse am Stadtrand von Palermo. Auch sein Chauffeur Rosario Di Salvo kam bei dem Anschlag ums Leben.

Am 30. April 1982 um 9.30 Uhr war ich auf der Piazza Generale Turba in Palermo. Von weitem sah ich ein Bein aus der Tür eines alten Fiat 132 baumeln. Es war das Bein Pio La Torres. Er hatte versucht auszusteigen, als die Killer auf ihn zukamen. Sie waren mit Thompson-Gewehren amerikanischer Herstellung bewaffnet, die bis dahin in Sizilien noch nie für einen Mord benutzt worden waren. Am Schauplatz des Verbrechens befanden sich der Leiter des kriminalpolizeilichen Ermittlungsbüros Ninni Cassarà, Giovanni Falcone und Paolo Borsellino sowie Untersuchungsrichter Rocco Chinnici. Alles Todgeweihte. Ein Fotograf von L’Ora nahm sie gemeinsam auf. Das Foto erschien auf der ersten Seite der Tageszeitung. In den darauffolgenden Jahren mussten sie alle vier sterben.

Es starb auch Michele Sindona.

Die Umstände seiner Reise nach Sizilien geben Anlass, das Blickfeld zu erweitern und den Mafiakrieg in die Erwägungen einzubeziehen. Einige Vorfälle im Zusammenhang mit der Mafia sind mit der Politik verknüpft, die Sindonas gefährliche Machenschaften auf den internationalen Finanzmärkten deckte. Die Bosse hatten gerade angefangen, die enormen Gewinne aus dem Rauschgifthandel zu investieren, nicht nur in Sindonas Banken. Die Cosa Nostra war so weit in den italienischen Staatsapparat eingedrungen und schloss über so lange Zeit Abkommen mit dem Staat, dass es nicht vermessen ist, sich vorzustellen, dass auch andere Kräfte und Institutionen am sogenannten Mafiakrieg beteiligt waren. Totò Riina und die Corleoneser haben nicht alles allein gemacht. Andererseits gab es in Italien schon immer Kräfte, die in den entscheidenden Momenten der Geschichte Italiens falsche Spuren legten und damit verhinderten, dass man der Wahrheit allzu nahe kam.

 

Michele Sindona, geboren am 11. Mai 1920 in Patti (Provinz Messina), wurde am 22. März 1986 im Hochsicherheitsgefängnis von Voghera (Provinz Pavia) vergiftet. Nach seinem Aufstieg vom Finanzbeamten zu einem der berühmtesten Bankiers der Welt kann er in den sechziger Jahren auf mächtige Freunde in römischen Regierungskreisen und auf die Unterstützung der Finanzabteilung des Vatikans zählen. Zu Beginn der siebziger Jahre stehen vierzig Prozent der Aktien, die an der Mailänder Börse gehandelt werden, direkt oder indirekt unter seiner Kontrolle. Er besitzt Hotelketten und fast fünfhundert Firmen. Auch in den Vereinigten Staaten ist er berühmt. 1973, wenige Monate vor dem Zusammenbruch seines Finanzimperiums, überreicht ihm der amerikanische Botschafter in Rom, John Volpe, die Auszeichnung »Mann des Jahres«. Die Zeitschrift Time feiert seinen Auftritt an der Wall Street, wo er die Franklin National Bank übernahm, und nennt ihn den »erfolgreichsten Italiener seit Mussolini«. Ein paar Wochen zuvor hatte Giulio Andreotti den ehemaligen Finanzbeamten aus Patti wegen nicht näher benannter Maßnahmen zur Stützung der Landeswährung als »Retter der Lira« bezeichnet. Doch Sindonas Imperium steht auf tönernen Füßen, es ist auf abenteuerliche Finanzspekulationen gegründet und mit Mafiageldern aufgebaut. 1974 bestellt der Präsident der Banca d’Italia Guido Carli den Rechtsanwalt Giorgio Ambrosoli zum Insolvenzverwalter für Sindonas Banken. Ambrosoli wird am 11. Juli 1979 umgebracht, während der Bankier sich im Schutz der Cosa Nostra in Sizilien versteckt hält und mit einem Haftbefehl der amerikanischen Justiz wegen des Bankrotts der Franklin Bank gesucht wird. Sindona kehrt in die USA zurück, wird verhaftet und nach Italien ausgeliefert. 1986 wird er als Auftraggeber des Mordes an dem Insolvenzverwalter Ambrosoli verurteilt. Zwei Tage nach dem Urteil kommt er durch einen mit Zyankali vergifteten caffè corretto zu Tode. Die Ermittlungen endeten mit dem Ergebnis, er habe Selbstmord begangen, und wurden eingestellt. Die Gerüchte über eine mysteriöse »Liste der Fünfhundert« – fünfhundert Italiener, die in den siebziger Jahren über Sindonas Banken angeblich siebenunddreißig Millionen Dollar ins Ausland geschafft hatten – verstummten auch nach seinem Tod nicht.

 

La Repubblica, 3. März 1995

63. Gibt es über der Cupola der Mafia noch eine höhere Ebene?

Die Cosa Nostra hat niemanden über sich, es gibt keine höhere Ebene, der sie sich zu fügen oder der sie zu gehorchen hat. Es gibt keine dunkle Kraft, die die sizilianische Mafia anweist, gewisse Dinge zu tun und andere zu unterlassen. Doch andere kriminelle Organisationen, Freimaurerlogen oder Geschäftskreise arbeiten in bestimmten Phasen und bei bestimmten Gelegenheiten mit der Cosa Nostra zusammen. Mit der Mafia verbinden sie die von Falcone so genannten Interessenkonvergenzen.

 

Oberhalb der Führungsspitze der Organisation gibt es keine »dritte Ebene« irgendeiner Art, die Einfluss auf die Ausrichtung der Cosa Nostra nehmen oder sie gar bestimmen würde. Freilich schloss die Mafia in bestimmten Fällen und unter bestimmten Umständen mit ähnlichen Organisationen ein Bündnis oder leistete Hilfe, gewiss nicht uneigennützig. Die in den letzten Jahren in Sizilien begangenen Morde sind der deutlichste Ausdruck einer gezielten Interessenkonvergenz zwischen der Mafia und anderen Machtzentren.

 

Giovanni Falcone, Konferenz in Villa Igiea über das

organisierte Verbrechen, Sommer 1989

64. Wann traten in Sizilien diese Interessenkonvergenzen zutage?

Sie verbergen sich in der langen Liste der prominenten Mafiaopfer Palermos.

Am 9. März 1979 wurde Michele Reina ermordet, der Vorsitzende der Democrazia Cristiana der Provinz Palermo; am 21. Juli 1979 Boris Giuliano, der Leiter der Kriminalpolizei von Palermo; am 25. September 1979 starb Cesare Terranova, ein ehemaliges Mitglied der unabhängigen Linken und des Antimafia-Parlamentsausschusses, kurz vor seinem Amtsantritt als Leiter der Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft Palermo; am 6. Januar 1980 traf es den Regionalpräsidenten und Gefolgsmann Aldo Moros, Piersanti Mattarella; am 6. August 1980 den Oberstaatsanwalt Gaetano Costa; am 30. April 1982 Pio La Torre, den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Siziliens; am 3. September 1982 den Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa; am 29. Juli 1983 den Untersuchungsrichter Rocco Chinnici, der die Stelle von Staatsanwalt Terranova übernommen hatte: allesamt »politische« oder »politisch-mafiose« Verbrechen.

Entschied die Cosa Nostra allein über die Beseitigung dieser Männer? War es einzig und allein Totò Riina, der Bauer aus Corleone, der dieses Blutbad unter hochrangigen Staatsvertretern anrichtete?

Diese Toten fügen sich zu einem Gesamtbild. In diesem sizilianischen Thriller muss diese Liste noch ergänzt werden: durch die Polizeibeamten Antonino Ninni Cassarà und Giuseppe Beppe Montana; die Carabinieri-Offiziere Emanuele Basile und Mario D’Aleo und Oberst Giuseppe Russo; die Staatsanwälte Pietro Scaglione, Giangiacomo Ciaccio Montalto, Alberto Giacomelli, Rosario Livatino und Antonino Saetta; die Journalisten Mauro De Mauro, Pippo Fava und Mario Francese; den ehemaligen Bürgermeister von Palermo Giuseppe Insalaco; durch Bauunternehmer und den Unternehmer Libero Grassi; durch Regionalbeamte, Universitätsprofessoren, Gerichtsmediziner, Rechtsanwälte und Steuerberater.

Was in Palermo und in Sizilien in den siebziger und achtziger Jahren geschah, hatte es in der westlichen Welt seit der Französischen Revolution nicht mehr gegeben. Alle Vertreter der Oppositionsparteien, die den Strategien der Corleoneser im Wege standen, Vertreter der Minderheitsparteien und der Polizeikräfte, Spitzenvertreter des Staates und der Regionalregierung wurden liquidiert. Hatte dies alles Totò Riina geplant? Er allein?

65. Welche Beziehung gibt es zwischen der Mafia und dem Freimaurertum?

Wenn man sich der Welt der Finanzgeschäfte und der manipulierten Gerichtsprozesse zuwendet und sich mit Finanzkreisläufen oder den Nominierungen für wichtige Ämter befasst, stößt man immer wieder auf Verflechtungen zwischen der Mafia und der Freimaurerei.

Gerichtliche Untersuchungen haben es zwar nie vermocht, diese Verbindung bis ins Letzte nachzuweisen, konnten aber zeigen, dass Mafia und Freimaurerlogen zusammenarbeiteten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Nicht wenige Bosse der Cosa Nostra traten einer Loge bei, um ihren Einflussbereich zu erweitern: Stefano Bontate, Michele Greco, Francesco Madonia, Giacomo Vitale und Mariano Agate, um nur einige zu nennen.

Stefano Bontate hatte Anfang der siebziger Jahre einen Plan entwickelt, um die Ehrenmänner in die Freimaurerlogen einzuschleusen. Er forderte sie auf, »Brüder« in den hundertdreizehn über die Insel verstreuten Logen zu werden. Der auf die Cosa Nostra geleistete Schwur absoluter und ausschließlicher Treue durfte dabei natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Der Beitritt zu den Freimaurern war nur Mittel zum Zweck, um Unternehmer, Politiker und Beamte kennenzulernen.

Stefano Bontate hatte Großes im Sinn: Er hatte begriffen, dass die Cosa Nostra für ihr Geld (das enorm viele Geld aus dem Drogenschmuggel mit den Vereinigten Staaten) neue Anlagemöglichkeiten brauchte und dafür ihren Radius erweitern musste. Es waren Mafiosi und Freimaurer, die im Sommer 1979 Michele Sindona (Mitglied Nr. 1612 in Licio Gellis Geheimloge P2) in Griechenland abholten, um ihn im Haus des Bosses Rosario Di Maggio im sizilianischen Torretta zu verstecken. Sie organisierten die vorgetäuschte Entführung. Um sie glaubhafter zu gestalten, wurde Sindona mit einem Pistolenschuss am Bein verletzt. Der Schütze war Joseph Miceli Crimi, Vertrauensarzt der Polizei von Palermo und Freimaurer der Loge Camea, des sizilianischen Ablegers der Loge P2.

Zu der Zeit, als sich Sindona in Sizilien verborgen hielt, stand die Kriminalpolizei von Palermo unter der Leitung von Giuseppe Impallomeni, Polizeipräsident war Giuseppe Nicolicchia: der eine Mitglied der Loge P2, der andere Mitglied der Loge OMPAM, die Gelli in Südamerika gegründet hatte. Weitere Logen in Palermo – mit Namen Diaz, Garibaldi, Lux, Palermo und Concordia, die alle unter dem Dach eines Centro Sociologico Italiano in der Via Roma 391 zusammengefasst waren – zählten 1986 den Boss und Cousin des »Papstes«, Salvatore Greco, genannt L’ingegnere (der Ingenieur), und den Steuereintreiber und Ehrenmann Nino Salvo zu ihren Mitgliedern. Neben den Bossen gehörten auch der Oberstaatsanwalt Giovanni Nasca und der Vorsitzende der Insolvenzkammer des Landgerichts Palermo, Michele Mezzatesta, dazu. Diese Juristen besetzten strategisch wichtige Positionen im Justizpalast von Palermo: Die Generalstaatsanwaltschaft leitete die Ermittlungen zu Mafiosi nach den erstinstanzlichen Urteilen; und vor der Insolvenzkammer wurden die Wirtschaftsangelegenheiten Palermos verhandelt.

Auch der Steuerberater Nino Buttafuoco und der Herausgeber des Giornale di Sicilia, Federico Ardizzone, waren Mitglieder dieser Logen. Ebenso Pino Mandalari, der Wirtschaftsberater Totò Riinas, nachdem der Boss von Corleone 1969 untergetaucht war.

66. Stimmt es, dass die Mafia von den Freimaurern gebeten wurde, sie bei einem Staatsstreich zu unterstützen?

Eigentlich gab es zwei Pläne für einen Staatsstreich. Der eine hatte die Abspaltung Siziliens von Italien zum Ziel und wurde von Sindonas palermitanischen Freunden erdacht, allen voran Joseph Miceli Crimi. Als der Bankrotteur Sindona sich im Sommer 1979 nach Sizilien begab, um die Rückzahlung der in seinen halsbrecherischen Finanztransaktionen verlorenen Gelder an die Cosa Nostra zu beteuern, sprach Miceli Crimi mit den Bossen über einen sizilianischen Staatsstreich, »um den Kommunismus in Italien einzudämmen«. Der Plan wurde fallen gelassen: Der freimaurerische Arzt wurde von Untersuchungsrichter Falcone verhaftet, noch bevor er die Umsetzung seines Putsches in Angriff nehmen konnte.

Zuvor hatte es einen weiteren Plan für einen Staatsstreich gegeben, bei dem die Cosa Nostra ebenfalls um Mithilfe gebeten worden war: In der Nacht zum 8. Dezember 1970 versuchte Fürst Junio Valerio Borghese, der in Salò bereits die Decima Mas befehligt hatte, einen Staatsstreich. Geplant war ein Überfall auf das Innen- und Verteidigungsministerium unter Beteiligung einer Gruppe hoher Offiziere, von Vertretern der extremen Rechten, Agenten der Geheimdienste und natürlich Freimaurern. Der Versuch scheiterte kläglich und hatte durchaus auch eine komische Seite: Unter den Kommandos waren auch Forstwachen: Mitglieder einer Natur- und Umweltschutzpolizei.

Ein paar Monate zuvor hatte Fürst Borghese die Cosa Nostra um Hilfe gebeten, um die Präfekturen und den Sitz des staatlichen Rundfunks RAI in Palermo zu besetzen. Im Gegenzug hatte er versprochen, nach dem Staatsstreich werde es eine Amnestie für viele Ehrenmänner geben, angefangen mit Vincenzo und Filippo Rimi, den wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten Mafiabossen von Alcamo. Innerhalb der Cosa Nostra entstand eine Debatte über die Beteiligung an dem Staatsstreich. Bosse wie Giuseppe Di Cristina waren einverstanden; andere wie Gaetano Badalamenti und Salvatore Greco Cicchiteddu ließen sich nicht überzeugen.

Als Vermittler zwischen dem Fürsten Borghese und den Mafiosi trat ein gewisser Carlo Morana auf, ein Freimaurer und Bruder eines Mafioso aus der palermitanischen Familie vom Corso dei Mille. In der Verhandlung hatten die Befürworter schon fast die Oberhand gewonnen, als Junio Valerio Borghese die Bosse wissen ließ, zur Stunde X, also in der Nacht zum 8. Dezember, sollten sich die Mafiosi eine grüne Armbinde als Erkennungszeichen anlegen. Außerdem sollte die Cosa Nostra dem Fürsten vorab die Liste der Ehrenmänner zukommen lassen, die an dem Staatsstreich teilnahmen. Darauf zog die Cosa Nostra es vor, den Fürsten Borghese seinem Schicksal zu überlassen.

 

Die für Gesamtsizilien zuständige Kommission entscheidet über Probleme, die über den einzelnen Stadtteil hinausgehen. Wenn es beispielsweise darum ginge, einen Staatsstreich zu beschließen, würde diese Kommission zusammenkommen.

 

Tommaso Buscetta, Anhörung vor dem parlamentarischen

Antimafia-Ausschuss, 17. November 1992

67. Schützt die Mafia die Politik oder umgekehrt die Politik die Mafia?

Mafia und Politik wurden bisweilen ununterscheidbar. Ein Name steht stellvertretend für alle: Vito Ciancimino. Er war elf Tage Bürgermeister von Palermo, lenkte aber mehr als dreißig Jahre die Geschicke der Stadt. Ciancimino stammte aus Corleone wie Bernardo Provenzano, der ihn in der Hand hatte. In seinem Haus in der Via Sciuti wurde die Politik Palermos gemacht, er erteilte die Befehle, die anderen gehorchten. Alle wussten, dass Vito Ciancimino ein Mafioso und der Statthalter der Corleoneser in der sizilianischen Politik war, doch jahrzehntelang schwiegen alle: Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten, Regionalpräsidenten, Minister, die Chefs von Polizei und Geheimdiensten, die Führung der Democrazia Cristiana und der anderen Mehrheitsparteien, die Vier- oder Fünf-Parteien-Koalitionen bildeten.

Don Vito war Baustadtrat in Palermo. In einer einzigen Nacht erteilten er und seine Verbündeten bei der Mafia fünf mittellosen Rentnern – Strohmännern der Mafia – 3011 Baugenehmigungen. Damit begann der sacco di Palermo. Die »Plünderung Palermos« war die skrupelloseste Bauspekulation im Italien der sechziger Jahre. Die Orangen- und Zitronenhaine der Conca d’Oro, des Goldenen Beckens, wurden gnadenlos zubetoniert. Wo einst die Villen aus dem 18. Jahrhundert standen, wurden Mietskasernen hochgezogen. Nachts wurden die Jugendstilvillen in die Luft gesprengt, am nächsten Tag rückten die Bagger an. Symbol dieser Zerstörung ist die Villa Deliella, die 1905 von dem sizilianischen Architekten Ernesto Basile entworfen worden war.

Der Corleoneser Vito Ciancimino entstammte einer bäuerlichen Kultur. Als Baustadtrat erweiterte er Palermo ins Landesinnere hinein, so dass die Stadt jetzt dem Meer die kalte Schulter zeigt. Vito Ciancimino hat Palermo zu einer hässlichen Stadt gemacht. Zu seinem Nachfolger im Amt des Baustadtrats erwählte er einen seiner Getreuen: einen Blinden. Bauunternehmer seines Vertrauens wurde Francesco »Ciccio« Vassallo.

 

Er war ein Fuhrknecht und kaum in der Lage, seinen Namen unter ein Dokument zu setzen. Doch mit einem Schlag wurde er zum Bauunternehmer, und die Cassa di Risparmio gewährte ihm einen Kredit von 700 Millionen Lire. Er wurde der Bauherr halb Palermos, stampfte riesige Siedlungen aus dem Boden, zahllose Mietskasernen mit Hunderten von Wohnungen. Vassallos Häuser – oft auch nur die Kellergeschosse – wurden von der Gemeinde und der Provinz angemietet und für schulische Zwecke ausgewiesen, auch wenn die dafür notwendige Grundausstattung gar nicht vorhanden war.

Jahr für Jahr zahlte die Gemeinde Palermo 180, die Provinz Palermo 210 Millionen Lire Miete an Vassallo – insgesamt 391 Millionen 570 000 Lire: für sechs Mittelschulen, drei Lehrerbildungsanstalten, drei Fachoberschulen und zwei naturwissenschaftliche Gymnasien […]. Viele aus der Führung der Democrazia Cristiana betrachteten ihn als Wohltäter, der eine gute Ausbildung in Palermo möglich machte. Laut dem Antimafia-Pool wurde der Bau schulischer Einrichtungen in Palermo von dem Mitglied der Democrazia Cristiana und ehemaligen Baustadtrat Vito Ciancimino geplant. Dank seiner konnte Vassallo »sein Schulbauprojekt umsetzen, da er sich auf eine Macht stützte, die außerhalb des Gesetzes stand und mit Hilfe der Provinz- und Stadtverwaltung Palermo ausgeübt wurde«.

Dem Zwangsaufenthalt in einer entlegenen Gemeinde wegen des Verdachts auf Zugehörigkeit zur Mafia konnte sich Vassallo entziehen, da er überall gute Freunde hatte.

 

Giuliana Saladino, aus: Mauro De Mauro.

Una cronaca palermitana, 1972

 

Ein weiteres spektakuläres Beispiel für die Kungelei zwischen Mafia und Politik sind die Vettern Nino und Ignazio Salvo. Die beiden Steuereintreiber und Mitglieder der Democrazia Cristiana waren die wichtigsten Financiers der Andreotti-Strömung der Partei (aber nicht nur dieser) im westlichen Sizilien und enge Verbündete Salvo Limas. Sie stammten aus Salemi und waren Ehrenmänner. Mit ihrem unermesslichen Reichtum beherrschten sie jeden Winkel Siziliens. Sie hatten Richter, Staatsanwälte und Polizisten in der Hand, wählten die Abgeordneten aus und bestimmten sogar Minister. Sie waren die Vizekönige Siziliens und blieben bis zum Auftauchen des Untersuchungsrichters Falcone unantastbar.

Italien hatte bis 2005 ein System beibehalten, nach dem Privatfirmen im staatlichen Auftrag bestimmte Steuern eintreiben konnten. Im übrigen Italien bekamen diese Firmen eine Provision von 3,5 Prozent, die Firma Satris dagegen, die den Vettern Salvo gehörte, durfte 6,72 Prozent des Steuerertrags behalten, in manchen Jahren fast zehn Prozent: ein auf Korruption gegründetes feudales System. Und die Salvo schmierten alle: die Parlamentsmehrheit, die Opposition, die Zeitungen, die Parteien.

Beim Prozess in Palermo, wo Giulio Andreotti wegen Zugehörigkeit zur Mafia angeklagt und dann freigesprochen wurde, waren Nino und Ignazio Salvo die Hauptbelastungszeugen. Sie hatten zwanzig Jahre lang seine Strömung innerhalb der Democrazia Cristiana finanziert, doch Andreotti bestritt stets inständig, sie zu kennen. Bei Ignazio Salvo soll das berühmte Treffen stattgefunden haben, bei dem Totò Riina und Giulio Andreotti den Bruderkuss tauschten. Davon hatte Riinas Chauffeur Balduccio Di Maggio berichtet. Ob es diesen Kuss wirklich gab, werden wir nie erfahren. Der palermitanische Schauspieler Ciccio Ingrassia, ein hervorragender Kenner der sizilianischen Mentalität, meinte dazu: »Ich weiß nicht, ob sich Andreotti und Riina geküsst haben, aber wenn sie sich getroffen haben, haben sie sich auch geküsst.«

Nino Salvo starb 1986 in einer Schweizer Klinik an Krebs, Ignazio Salvo wurde im September 1992 von den Corleonesern getötet. Totò Riina zufolge hatte er nicht genug getan, um die Cosa Nostra vor Falcones Maxi-Prozess zu bewahren.

68. Steht die Mafia politisch rechts oder links?

Die Mafia kennt keine Ideologie, sie steht weder rechts noch links. Sie stellt sich auf die Seite der Macht und hat sich in den Machtstrukturen eingenistet.

Für manche verfolgte die sizilianische Cosa Nostra seit jeher ein politisches Projekt, was sie von den anderen kriminellen Organisationen unterscheide und so gefährlich mache. Andere glauben, dass die Mafia – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – nie Politik gemacht hat, sondern stets nur eine Trittbrettfahrerin der Politik war. Sie habe sich immer auf die Seite der Sieger gestellt und ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt. Eine politisch nicht autonome Cosa Nostra also, die keine führende politische Rolle spielt, kein politisch handelndes Subjekt und schon gar keine Partei ist.

In jedem Fall pflegte die Mafia immer sehr enge Beziehungen zur Politik. Die Anziehungskraft zwischen Mafia und Politik war seit jeher stark.

Diese Beziehung hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt, beispielsweise wenn bestimmte Parteien ihr nicht mehr die alte Rückendeckung gewähren konnten. Auch der globale politische Wandel spielte eine Rolle: das Ende des Kalten Kriegs, als Italien seine strategisch wichtige weltpolitische Rolle als Bollwerk gegen den Kommunismus einbüßte und die Cosa Nostra als sizilianische geheime Gladio-Organisation zur Abwehr eines potenziellen kommunistischen Angriffs und als Garant der politischen und sozialen Ordnung auf der Insel nicht mehr gefragt war. Gladio war eine paramilitärische Geheimorganisation der westlichen Geheimdienste in West- und Südeuropa.

 

Die Politik ist unser Lebenselement wie das Wasser für die Fische. Die Parteien haben uns im Grunde nie interessiert. Uns interessierten die Dinge, die uns etwas einbrachten. Es stimmt, dass wir gegenüber den Linken und den Rechten immer argwöhnisch waren, sie waren ja unsere Erzfeinde, besonders die Kommunisten und die Faschisten. Aber nach dem Fall der Berliner Mauer vollzogen sich auf internationaler Ebene bedeutsame Veränderungen: Russland gibt es nicht mehr, Amerika hat nicht mehr dieses Feindbild vor Augen, und womöglich ist die Mafia für Amerika deshalb nicht mehr interessant, weil die Kommunisten am Ende sind.

 

Der Mafiaaussteiger Antonino Giuffrè gegenüber

Staatsanwalt Pietro Grasso im November 2001

 

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Cosa Nostra kurzzeitig auf den Separatismus, auf ein von Italien unabhängiges Sizilien. Zum ersten Mal wurde die Mafia jetzt so etwas wie ein politisch handelndes Subjekt: Sie setzte sich für die sicilianità ein, die Eigenständigkeit Siziliens. Bosse wie Paolino Bontate, Giuseppe Genco Russo, Calogero Vizzini und Michele Navarra traten vorübergehend der Bewegung für die Unabhängigkeit Siziliens bei. An der Seite des Separatismus und der Mafia standen jetzt erneut die Adligen, die ihre Latifundien zu verteidigen suchten: die Grafen Tasca, die Herzöge von Carcaci, die Barone La Motta. Der erste Bürgermeister von Palermo nach der Landung der Alliierten auf Sizilien im September 1943 war einer von ihnen: Graf Lucio Tasca, Großgrundbesitzer und einer der Wortführer der separatistischen Bewegung.

Das Projekt »Sizilien den Sizilianern« war aber nur ein Strohfeuer, das schnell wieder erlosch. Danach unterstützten die Bosse sofort die rechten Bewegungen – von den Monarchisten bis zu den Liberalen – und stellten sich schließlich auf die Seite derer, die die tatsächliche Macht erobert hatten: der Democrazia Cristiana.

In den folgenden Jahren lockte zwar immer wieder die Idee einer Unabhängigkeit Siziliens, aber das Engagement fiel kaum ins Gewicht. Nach 1992 entschloss sich die corleonesische Mafia unter Führung Leoluca Bagarellas, eine Art Mafiapartei zu gründen: Sicilia Libera (»Freies Sizilien«), die sich gleichfalls die Unabhängigkeit Siziliens auf die Fahnen geschrieben hatte. Doch Bagarella wurde von alten Mafiosi wie Bernardo Provenzano zurückgepfiffen: Sie überzeugten ihn, dass es besser war, sich neue Mittelsmänner zur Politik zu suchen, statt selbst politisch aktiv zu werden. Jenseits der politischen Bestrebungen und Strategien des neuen sizilianischen Regionalpräsidenten Raffaele Lombardo sympathisiert die Cosa Nostra heute wahrscheinlich mit seiner Bewegung für die Autonomie Siziliens (MpA, Movimento per le Autonomie). Der sizilianische Separatismus besitzt für die sizilianische Mafia nach wie vor einen großen Reiz.

Die Verflechtungen zwischen Mafia und Politik waren schon immer in stetigem Wandel begriffen. Ende der siebziger Jahre begannen die Beziehungen der Cosa Nostra zu den herrschenden Parteien allmählich zu bröckeln. Einige Spitzenvertreter der sizilianischen und auch der gesamtitalienischen Democrazia Cristiana galten den Bossen der Cosa Nostra nicht mehr als vertrauenswürdig genug, um von ihnen die strafrechtliche Immunität garantiert zu bekommen. In dieser Zeit begann der Aufstieg der Corleoneser innerhalb der sizilianischen Mafia. Die Bosse von Corleone beanspruchten jetzt die Befehlsgewalt über die Politik, und die sizilianische Mafia fing an, Politiker umzubringen. Die Ermordung Salvo Limas im Jahr 1992, des mächtigsten Politikers der Democrazia Cristiana auf der Insel, markierte diesen Bruch zwischen der Mafia und der Politik am deutlichsten.

Nach 1992, nach den tödlichen Anschlägen auf Falcone und Borsellino, nach der Operation Saubere Hände (Mani pulite) zur Aufdeckung politischer Korruption und nach dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems, demonstrierte die Cosa Nostra noch einmal ihren Willen zur Macht. Wie mehrere Kronzeugen der Justiz berichteten, tat sich die Mafia mit Forza Italia zusammen. Für einige Beobachter ist die zeitliche Nähe zwischen den Attentaten und der Entstehung dieser neuen, von Marcello Dell’Utri und Silvio Berlusconi gegründeten Partei beunruhigend. Für andere tat die Cosa Nostra nichts weiter, als erneut diejenigen politischen Kräfte zu unterstützen, die in diesem Moment die siegreichen zu sein schienen.

Heute sieht es so aus, als habe sich das Verhältnis von Mafia und Politik umgekehrt: Die Politik scheint die Befehlsgewalt über die Mafia zu haben, auch deshalb, weil die Cosa Nostra derzeit nicht mehr so mächtig ist wie einst. Eines aber ist sicher: Ohne die Politik könnte die Mafia nicht überleben.

69. Spielen die Wählerstimmen der Mafia in Sizilien heute immer noch eine Rolle?

Sie fallen noch heute ins Gewicht, vor allem in den Vorstädten und Dörfern, wenn auch nicht mehr so stark wie früher. Auch die Strategie der politischen Infiltration der Mafia hat sich geändert. Früher gab es Parteien, die sichere Bezugspunkte der Mafia waren, wie die Democrazia Cristiana. Heute setzen die Mafiosi nicht so sehr auf eine Partei, sondern auf einzelne Personen, die ihnen nützlich sein können. Eines der jüngsten Beispiele ist Giovanni Mercadante, ein Regionalratsabgeordneter von Forza Italia in Sizilien, ein hochangesehener Radiologe aus Palermo, der in erster Instanz zu zehn Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde. »Der Abgeordnete Mercadante ist eine Kreatur Provenzanos«, gaben mehrere Mafiaaussteiger zu Protokoll.

Die Wählerstimmen werden zwar nach wie vor kontrolliert, aber nicht mehr in dem Maße wie früher. Vor dreißig, vierzig Jahren genügte es, wenn sich der örtliche Mafiaboss mit »seinem« Kandidaten Arm in Arm auf dem Corso zeigte, um allen zu verstehen zu geben, dass sie ihn zu wählen hatten. Ein Spaziergang am Tag vor der Wahl genügte.

Auf Grundlage der Aussagen einiger Kronzeugen im Maxi-Prozess von Palermo betrachtet Staatsanwalt Giuseppe Ayala Schätzungen als zuverlässig, denen zufolge die Cosa Nostra Ende der achtziger Jahre 180 000 Wählerstimmen allein in Palermo unter ihrer Kontrolle hatte. Der Mafiaaussteiger Antonino Calderone gab Falcone gegenüber zu Protokoll, allein in Catania kontrollierten die verschiedenen Mafiagruppen 180 000 Stimmen. »Nicht weniger als sechs, sieben Gemeinderäte wurden mit den Stimmen der Mafia gewählt, und die Mafia von Catania kann mindestens drei Regionalräte ins sizilianische Regionalparlament schicken«, klagte damals Enzo Bianco vom Partito Repubblicano (PRI), der Republikanischen Partei Italiens. Wenn wir diesen Schätzungen Glauben schenken – mehr als 350 000 Stimmen allein in Palermo und Catania –, können wir davon ausgehen, dass die Bosse in Sizilien insgesamt mindestens eine halbe Million Wählerstimmen kontrollierten, mehr als zehn Prozent der gesamten Wählerschaft.

Ich bezweifle, dass das heute noch so ist. In jedem Fall konzentriert sich das politische Votum weniger auf eine einzelne Partei, sondern verteilt sich auf mehrere Kandidaten. Zwar gibt es immer noch einen regen Austausch zwischen der Mafia und der Politik, doch die Modalitäten haben sich geändert. Jede Mafiagruppierung setzt heute auf ihren eigenen Kandidaten, den sie als ihr persönliches Kapital innerhalb der Familie betrachtet und nicht als den Kandidaten der Organisation Cosa Nostra. Die Mafia probiert neue Methoden der politischen Infiltration aus und ist offen für alles, was für sie profitabel ist.

70. Giulio Andreotti: beschuldigt, vor Gericht gestellt, freigesprochen – ein Beweis für die engen Verflechtungen zwischen Mafia und Politik?

Das Ende des Andreotti-Prozesses fiel in die Hochphase der Normalisierung des Kampfes gegen die Mafia, als keine spektakulären Attentate mehr stattfanden und es dem Anschein nach »ruhig« um die Mafia wurde.

Der Prozess zog sich in der ersten Instanz über sechs Jahre hin und endete am 23. Oktober 1999 mit dem Freispruch des Senators auf Lebenszeit. In zweiter und dritter Instanz wurde das Urteil teilweise modifiziert. Andreotti wurde zwar vom Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer mafiaartigen Organisation freigesprochen, aber für schuldig befunden, bis Frühjahr 1980 einer kriminellen Vereinigung angehört zu haben. Dieser Straftatbestand war jedoch inzwischen verjährt.

Andreotti wurde im Prozess von Palermo zwar freigesprochen, es wurde aber auch nachgewiesen, dass der einflussreichste Politiker Italiens jahrelang mit den Bossen von Palermo in Kontakt gestanden hatte. Ein Großteil der aussagewilligen Mafiosi, die ihn beschuldigten, wurde nicht als unglaubwürdig angesehen, im Gegenteil. Dennoch wurde Giulio Andreotti unter Berufung auf Artikel 530, Absatz 2 des italienischen Strafgesetzbuches aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Richter waren der Ansicht, das Belastungsmaterial reiche für eine Verurteilung nicht aus. Die Staatsanwälte hatten ein Gesamtbild der Anklage erstellt, doch die Richter entschieden sich, die einzelnen Vorwürfe getrennt zu bewerten. So kam es zum Freispruch des Politikers, der bis dahin wie kein anderer Italien repräsentiert hatte. Er war sieben Mal Ministerpräsident und einundzwanzig Mal Minister gewesen.

 

Bis auf die Punischen Kriege, für die ich noch zu jung war, hat man mir so ziemlich alles angehängt.

 

Eine Giulio Andreotti zugeschriebene Äußerung

 

Die nach dem Urteilsspruch aufbrechenden Polemiken verfolgten häufig einen bestimmten Zweck und vergifteten das Klima. Jetzt begann ein Krieg gegen Richter und Staatsanwälte, in dem jedes Mittel der Diskreditierung recht war. Es wurden vehemente Angriffe gegen die »roten Roben« erhoben, gegen eine Justiz, die man als »politisiert« und »kommunistisch« diffamierte, wenn sie einen Mächtigen vor Gericht stellte.

Auch innerhalb der Antimafia kam es zu heftigen Debatten, insbesondere über die Rolle Giulio Andreottis in Italien zwischen 1965 und 1990. Viele forderten eine Differenzierung zwischen der historisch-politischen und der gerichtlich ermittelten Wahrheit. In der Anklageschrift des Antimafia-Pools von Palermo sahen einige die Rekonstruktion der »wahren Geschichte Italiens« – eine These, die andere entschieden ablehnten.

Es ist einfach, im Nachhinein darüber zu diskutieren, ob der Prozess gegen Andreotti hätte geführt werden sollen oder nicht. Das eigentliche Problem aber liegt woanders: Hat irgendjemand, einschließlich der Richter und Staatsanwälte, ernsthaft über all das nachgedacht, was im Umfeld dieses Prozesses geschehen ist? Hat irgendjemand, einschließlich der Richter und Staatsanwälte, angesichts der Ergebnisse dieses Prozesses jemals Selbstkritik geübt?

Und schließlich – und das ist eine Frage, die wir uns alle stellen müssen, immer wieder, auch in Zukunft und auch im Hinblick auf andere führende Politiker: Kann man jedes Mal, wenn ein Mafiaverdacht besteht, gleich einen Prozess anstrengen? Man kann nicht von einem Extrem ins andere fallen und entweder überall die Mafia sehen oder nirgends, so wie es in der Vergangenheit auch herausragende Richter und Staatsanwälte getan haben.

71. Hat die Justiz gleichfalls die Mafia gedeckt?

Die Justiz war lange Zeit Teil eines Machtgefüges, das als Garant der Cosa Nostra fungierte. Im Namen von Recht und Gesetz verteidigte oder tolerierte sie das in Palermo herrschende mafiose Bürgertum. Sie verteidigte die Adligen und Feldhüter gegen die Bauern. Sie verteidigte die Großgrundbesitzer gegen die Gewerkschafter. Vor Falcone – und bis auf wenige Ausnahmen – konnten sich die Bosse sicher fühlen: vor dem Amtsrichter in einem abgelegenen Provinznest ebenso wie vor den Richtern am Obersten Gerichtshof.

Wurden Mafiosi vor Gericht gestellt, fanden sie stets einen Ausweg: Sie redeten mit den Richtern. Unter Beihilfe von Anwälten, Politikern, Unternehmern und anderen Richtern, die auf die für das Verfahren zuständigen Richter zutraten, wurden die Verfahren »zurechtgebogen«. Und plötzlich existierten keine Beweise mehr für die Zugehörigkeit der Angeklagten zur Mafia. Die Polizeiberichte enthielten nur noch Listen »mutmaßlicher Mafiosi«. Es gab keine Belastungszeugen mehr. Stattdessen tauchten immer mehr Zeugen auf, die die Angeklagten entlasteten. Und viele Richter und Staatsanwälte sahen weg. Wer von der Mafia sprach, galt als Schwärmer und Phantast.

Zwei große Prozesse Ende der sechziger Jahre endeten mit massenweise Freisprüchen aus Mangel an Beweisen: der Prozess gegen die Mafia von Palermo mit 114 Angeklagten (Urteilsspruch am 22. Dezember 1968), der in Catanzaro geführt wurde, und der Prozess gegen die Mafia von Corleone mit 64 Angeklagten (Urteilsspruch am 10. Juni 1969), der in Bari geführt wurde. Damals wurden die Prozesse gegen die Mafia wegen Befangenheit an Gerichte außerhalb Siziliens verlegt, da der Verdacht bestand, die Gerichte in Palermo seien in irgendeiner Weise beeinflussbar.

In Bari hinter Gittern saßen auch Luciano Liggio und Salvatore Riina (Bernardo Provenzano, gleichfalls angeklagt, war damals bereits seit sechs Jahren flüchtig), die nach dem Freispruch sofort untertauchten. Liggio wurde ein paar Jahre später aufgespürt, Riina erst nach einem Vierteljahrhundert. Die Prozesse waren eine Bankrotterklärung der Justiz in ihrem Kampf gegen die Mafia. Für die Mafiosi war das Gefängnis damals nur eine Durchgangsstation. Sie wussten, dass sie schnell wieder auf freiem Fuß sein würden.

Den Ausgang dieser Prozesse nahm sich Giovanni Falcone zu Herzen: Die Fehler der Vergangenheit sollten sich nicht wiederholen.

72. Welcher Prozess ist beispielhaft für diese »zurechtgebogene« Rechtsprechung zugunsten der Cosa Nostra?

Ein gutes Beispiel ist der Prozess gegen die Mörder des Carabinieri-Hauptmanns von Monreale (Provinz Palermo), Emanuele Basile. In der Nacht zum 5. Mai 1980 wurde Basile von drei Killern der Mafia getötet. Auf dem Arm hielt er seine vierjährige Tochter Barbara. Die Mörder – Giuseppe Madonia, Vincenzo Puccio und Armando Bonanno – wurden noch in derselben Nacht festgenommen, aber es dauerte siebzehn Jahre, bis sie vor dem Kassationsgericht – also in letzter Instanz – rechtskräftig verurteilt wurden.

Die Cosa Nostra bemühte sich, den Prozess in allen Phasen zurechtzubiegen. Mehrfach versuchte sie, die Gutachter zu bestechen; die Richter am Schwurgericht wurden bedroht. Dann, am 25. September 1988, wurde Richter Antonino Saetta, der Madonia, Puccio und Bonanno in der Berufung verurteilt hatte, auf Totò Riinas Befehl getötet. Er war mit seinem Sohn Stefano auf dem Heimweg von der Taufe eines Enkels in Canicattì. Die beiden starben im Kugelhagel der Maschinenpistolen.

Der Prozess gegen Basiles Mörder war der skandalöseste, der in den letzten fünfzig Jahren in Sizilien stattfand. Die Richter der ersten Kammer des Schwurgerichts befanden die Angeklagten für nicht schuldig – mit folgender Begründung: »Paradoxerweise muss man schlussfolgern, dass es mit einer geringeren Zahl von Indizien für das Gericht unproblematischer, wenn nicht sogar sicher gewesen wäre, die Schuld der Angeklagten festzustellen.«

Einen Tag, nachdem die Richter die Angeklagten »aufgrund zu vieler Indizien« freigesprochen hatten, schickten sie die Mörder zum Zwangsaufenthalt in drei Dörfer Sardiniens. Eine Woche später waren Madonia, Puccio und Bonanno an Bord eines Motorboots und fingen bald darauf wieder an, in den Straßen von Palermo zu schießen.

Damals – es ist gerade einmal zwanzig Jahre her – waren die sizilianischen Gerichtshöfe die Garanten der politischen und der mafiosen Macht. Nur sehr wenige Richter und Staatsanwälte bekämpften dieses kriminelle Phänomen, viele zeigten sich gleichgültig, einige waren sogar Komplizen der Mafia, unter ihnen hohe Justizbeamte. Im Justizpalast von Palermo, Trapani und Agrigent gab es Staatsanwälte, die vor den Mafiabossen entweder erzitterten oder enge Beziehungen zu ihnen pflegten. Und es gab Gerichtspräsidenten, die im Ruf standen, »Ehrenmänner« zu sein. Die Strafverfahren wurden außerhalb der Gerichtssäle entschieden. Auch der Generalstaatsanwalt des Gerichtsbezirks Palermo, Emanuele Pili, verkehrte mit Michele Greco, er besaß sogar die Schlüssel zu dessen Landgut La Favarella. Lebenslange Freiheitsstrafen erhielten nur psychische Wracks, niemals »Ehrenmänner«.

In den 1970er Jahren hatten die Generalstaatsanwälte das Wort »Mafia« aus ihren Reden zur Eröffnung des Gerichtsjahres gestrichen. Sie nahmen keinen Bezug mehr auf die Mafia. Sie betrachteten sie als erledigt, als tot. Und ein Mafioso, der auspackte, konnte kein echter Mafioso sein, weil »Mafiosi nicht reden«. Die Cosa Nostra existierte für sie nicht mehr. Doch es war die Zeit unmittelbar vor dem Angriff Totò Riinas auf den Staat. Palermo war ein Sumpf, und die Justizbehörden steckten mitten drin.

Mit Falcone änderte sich alles. Seine Ankunft im Justizpalast Palermo markierte eine Revolution, einen Generationswechsel und kulturellen Bruch: den Abschied von den Richtern und Staatsanwälten, die nichts sahen und nichts hörten. Im Kampf der Justiz gegen das mafiose Verbrechen gibt es eine Zeit vor und eine Zeit nach Giovanni Falcone.

73. Hat auch der Polizeiapparat die Mafia geschützt?

Die älteren Reporter, mit denen ich zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn in der palermitanischen Zeitung L’Ora zusammenarbeitete, erzählten mir, Luciano Liggio, der Boss von Corleone, habe nur deshalb untergetaucht bleiben können, weil er vom Polizeichef gedeckt worden sei. Damals erschien mir das eine lokale Legende, ein Gerücht, um sich die lange Unauffindbarkeit des Bosses zu erklären. Ich habe nie herausgefunden, ob Liggio tatsächlich von einem Polizeichef beschützt wurde, aber je mehr ich mich mit den Geheimnissen der Cosa Nostra beschäftigte, desto mehr wuchs meine Gewissheit, dass man vielen anderen Bossen gefällig gewesen war, so dass sie unbehelligt im Untergrund leben konnten. In ihrem eigenen Haus. Die Wahrheit ist, dass niemand sie gesucht hat. Sie konnten sich frei und ungehindert in Palermo bewegen. Einige steckbrieflich Gesuchte wie Saro Riccobono oder Gaetano Badalamenti besuchten sogar ihre Freunde im Ucciardone-Gefängnis der Stadt, die in dem berüchtigten Trakt der Bosse untergebracht waren. Sie konnten machen, was sie wollten.

In den sechziger und siebziger Jahren waren die Mafiosi die unumschränkten Herren von Palermo. Anders lässt es sich nicht erklären, warum so viele von ihnen so lange untergetaucht bleiben konnten. Totò Riina war fünfundzwanzig, Bernardo Provenzano dreiundvierzig Jahre lang unauffindbar. Das war nur möglich, weil er geschützt wurde. Weil irgendjemand dafür sorgte, dass er in Freiheit blieb.

 

Wir Untergetauchten sind es gewohnt, mit Frau und Kindern zu leben, denn man lässt uns einigermaßen in Ruhe. Ich war viele Jahre untergetaucht und hatte immer meine Frau und meine vier Kinder an meiner Seite. […] Auch wenn Polizisten auf Streife waren und ein Auto mit drei Insassen an Bord entdeckten, hielten sie nicht an. Das habe ich selber erlebt, als ich in einer Parallelstraße zum Viale della Regione Siciliana unterwegs war, um jemanden umzubringen […].

Wir haben den Mord dann ausgeführt. […] Wir haben sie von weitem gesehen und sie uns sicher auch. Sie waren in einem hellgelben 128er Fiat unterwegs, welche vom Greifkommando; ein sehr gefährliches Auto: Sie sind auf eine Erdaufschüttung raufgefahren und hätten sich fast überschlagen, um uns vorbeizulassen. Das war leider damals die Realität.

 

Gaspare Mutolo, Anhörung vor dem parlamentarischen

Antimafia-Ausschuss, 9. Februar 1993

74. Warum galten die Mafiosi als unantastbar?

Es gab eine Komplizenschaft, eine stillschweigende Übereinkunft, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen. Die Bosse der Cupola, die alten Paten, garantierten den »sozialen Frieden«, die Ruhe und die öffentliche Ordnung. In Palermo gab es keine Fälle von Handtaschenraub, keine Entführungen, keine Spannungen. Es herrschte eine surreale Stille. Die Mafia kontrollierte das Territorium besser als die Polizei, dafür blieb sie von strafrechtlichen Ermittlungen verschont. Die Bosse »redeten« mit hohen Polizeibeamten und Beamten des Innenministeriums, man traf sich und tauschte Gefälligkeiten aus.

Symptomatisch ist die Geschichte von Bruno Contrada, dem ehemaligen Chef der Kripo von Palermo, der späteren Nummer drei des Inlandsgeheimdienstes SISDE (Servizio per le Informazioni e la Sicurezza Democratica). Er wurde verurteilt, weil er erst die Bosse der alten Garde und später die Corleoneser gedeckt hatte. Oder der Fall von Oberst Giuseppe Russo, Chef des Einsatzkommandos der Carabinieri in Palermo, der Gaetano Badalamenti und den Vettern Salvo nahestand. Viele Jahre nach seiner Ermordung im August 1977 wurden die Kontakte aufgedeckt, die er zu einer bestimmten Mafiagruppe unterhalten hatte.

Contrada und Russo waren gewiss nicht die Einzigen. Es war ein System, das in jenen Jahren wie selbstverständlich funktionierte. Die Vettern Salvo und die Mafiafamilie Badalamenti stellten eine Macht dar, eine wirkliche Macht: nicht nur eine kriminelle, sondern auch eine politische Macht.

Als vor ein paar Monaten Giorgio Bocca im Espresso von einem »Pakt der Koexistenz« zwischen der Mafia und den Carabinieri in Sizilien schrieb, brach ein Sturm der Entrüstung über ihn herein. Alle, die Rechten wie die Linken, sprachen von infamen Vorwürfen. Bocca jedoch bezog sich lediglich auf das, was allen nicht mehr ganz jungen Sizilianern vertraut ist: ein Geflecht der Komplizenschaft, das stets offenkundig war. Er wollte ganz bestimmt nicht jene Tausende Carabinieri als Mitwisser beschuldigen, die in Sizilien treu ihren Dienst getan haben. Er wollte lediglich daran erinnern, dass in einem bestimmten Zeitraum in Sizilien hohe Führungskräfte der Carabinieri und einige »Antennen«, die die Carabinieri strategisch auf der Insel plaziert hatten, mit Mafiosi in Kontakt standen und ihnen Straffreiheit zusicherten. Dazu manipulierten sie die Ermittlungen, vertuschten Beweise und legten falsche Spuren.

75. Wurden falsche Spuren gelegt, um hochrangige Mafiosi zu schützen?

Am dreistesten waren die Manipulationen bei den Ermittlungen zum Mord an Peppino Impastato. Man behauptete, er habe Selbstmord begangen, man machte ihn zum Terroristen. In Wirklichkeit wurde er ermordet, auf Befehl der Bosse und vielleicht noch anderer Kräfte.

Peppino Impastato starb am 9. Mai 1978 an der Eisenbahnstrecke Trapani-Palermo. Er wurde von einer Bombe zerfetzt – am selben Tag, an dem in der Via Caetani in Rom die Leiche Aldo Moros gefunden wurde. Peppino war dreißig Jahre alt, er war der Sohn eines Mafioso aus Cinisi, kämpfte auf Seiten der extremen Linken und arbeitete bei dem unabhängigen Rundfunksender Radio Aut. Die Untersuchung seines Todes wurde vom ersten Augenblick an behindert – von den Carabinieri.

Der Sprengstoff, der bei dem mutmaßlichen Anschlag verwendet wurde, war Grubensprengstoff, doch in den Tagen nach Peppinos Tod führten die Carabinieri nicht einmal eine Durchsuchung der Steinbrüche im Umkreis von Cinisi durch, die alle im Besitz von Mafiosi waren. Im ersten Bericht wurde auch nicht der Stein erwähnt, der am Schauplatz des Verbrechens gefunden und mit dem Peppino Impastato vermutlich erschlagen worden war, bevor man seine Leiche auf die Bahngleise legte, um ihn als einen Terrorattentäter erscheinen zu lassen, der sich selbst in die Luft gesprengt hatte. In dem ersten Bericht der Carabinieri an die Staatsanwaltschaft Palermo hieß es zudem: »Auch wenn man von einem Verbrechen ausgehen wollte, wäre auf jeden Fall auszuschließen, dass Giuseppe Impastato von der Mafia getötet wurde.«

Die Mafia von Cinisi – das war der Boss Gaetano Badalamenti, den Peppino Impastato tagtäglich in Radio Aut angegriffen und als »Tano Seduto« (Sitting Bull Tano) lächerlich gemacht hatte. Badalamenti selbst pflegte enge Beziehungen zu einigen hohen Carabinieri-Offizieren. Er war der Boss, den es zu schützen galt. Und wahrscheinlich war Gaetano Badalamenti nicht der Einzige, der Peppino Impastatos Tod wollte.

Die Ermittlungen konzentrierten sich von Anfang an auf die Vorwürfe gegen das Opfer. Vielleicht war die falsche Fährte schon vor dem Mord gelegt worden, aber die Spurensuche wurde systematisch in eine falsche Richtung gelenkt – ein unverhältnismäßig hoher Aufwand, um einen einzigen Mafioso zu decken, auch wenn es sich um einen so mächtigen Boss wie Gaetano Badalamenti handelte. Auch der Mord an Peppino Impastato stellt sich – nach all den Jahren – vermutlich als das Ergebnis einer Interessenkonvergenz dar.

Der Mord an Peppino Impastato wurde in den Akten mindestens zehn Jahre lang Unbekannten zur Last gelegt. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis die Ermittlungen neu aufgenommen wurden, und weitere vier Jahre, bis Gaetano Badalamenti als Auftraggeber des Mordes verurteilt wurde. Das war 2002, in einem neuen Jahrtausend. Doch vieles bleibt nach wie vor rätselhaft: Einige Zeugen wurden nie vernommen, und einige Protagonisten des Falls tauchten auch in den Untersuchungen zu den Geheimverhandlungen zwischen der Mafia und dem Staat zur Zeit der Anschläge von 1992 auf.

76. Im Laufe der Zeit – und mit dem Tod der Zeugen – zeigte sich, dass viele Erfolge im Kampf gegen die Mafia, etwa die Festnahme Totò Riinas, weit weniger großartig waren als behauptet, manche sogar durchaus zwiespältig. Warum?

Die Verhaftung großer untergetauchter Krimineller in Sizilien war stets von einem Schleier des Geheimnisses umgeben. Das war schon bei dem Banditen Salvatore Giuliano der Fall gewesen. Der Unterschied zwischen Riinas Festnahme am 15. Januar 1993 und der Auffindung Giulianos am 5. Juli 1950 bestand darin, dass Giuliano tot und Riina noch am Leben war, um dann in die Zellentrakte mit besonders scharfen Haftbedingungen für Mafiosi zu kommen, die nach Paragraph 41b der Strafvollzugsordnung schon auf ihn warteten.

Unsere Demokratie erscheint manchmal immer noch als sehr unreif. Teile des Staatsapparats sind bis heute dem Staat gegenüber nicht rechenschaftspflichtig. Es gibt Sondereinheiten, die nicht den Staatsanwaltschaften, und zivile und militärische Mitarbeiter in den Institutionen, die nicht den Gesetzen unterworfen sind.

Es gibt zwei Möglichkeiten, in Sachen Mafia zu ermitteln: eine transparente, institutionell abgesicherte und eine, die den alten Gepflogenheiten folgt und auf Geben und Nehmen beruht, auf Erpressung und ungeschriebenen Verträgen. Die Festnahme Riinas erfolgte nach letzterem Modell. »Du kannst Riina verhaften, aber dafür gibst du mir etwas.« Das ist die Taktik der berühmten Verhandlungen, der trattativa. Mit der Festnahme Riinas wurde der Kampf gegen die Mafia mit einer großen Hypothek für die neunziger Jahre belastet.

Im Inselinnern, da, wo ich herkomme, gibt es ein altes Sprichwort: »Der Mafioso wird als Mafioso geboren und stirbt als Polizist, der Polizist wird als Polizist geboren und stirbt als Mafioso.« Extreme können sich manchmal auch berühren.

 

Der Generalinspekteur für die öffentliche Sicherheit, Ciro Verdiani, Chef der sizilianischen Polizei, setzte sich unverzüglich mit Ignazio Miceli in Verbindung, dem Boss der Familie von Monreale, die, wie sich herausstellte, die wichtigste Mafiafamilie der Insel war, sowie mit Salvatore Giuliano, mit dem er einen Panettone aß, den er, Verdiani, eigens zu diesem freudigen Anlass mitgebracht hatte.

 

Aus dem Urteilsspruch des Schwurgerichts Viterbo am

3. Mai 1952 im Prozess gegen die Bande Giuliano nach dem

Blutbad in Portella della Ginestra

77. Muss man jede Festnahme eines hochrangigen Mafioso als das Ergebnis eines Kuhhandels betrachten?

Jede Festnahme folgt einer eigenen Dynamik. Einige sind die logische Konsequenz transparenter Ermittlungen, andere sind Ausdruck heimtückischer Intrigen. Einige bergen ein Geheimnis, andere demonstrieren nur die Macht des Staates: eines Staates, der sich nach den Anschlägen zu Beginn der neunziger Jahre – und zum ersten Mal seit der Einigung Italiens – konsequent dem Kampf gegen die Cosa Nostra widmet. Ohne Zögern und ohne den Wechsel zwischen intensiveren und stagnierenden Phasen, je nach den Umständen und immer und ausschließlich erst nach einem neuen Mord mit einem prominenten Opfer oder nach einem blutigen Anschlag.

Grundlegend verändert hat sich das Szenario des Kampfes gegen die Mafia am 30. Januar 1992, nach den Verurteilungen der Cosa-Nostra-Bosse in der obersten Berufungsinstanz. Danach brach in Sizilien die Hölle los. Am 12. März tötete die Mafia Salvo Lima, den mächtigsten Christdemokraten der Insel. Am 23. Mai tötete sie Giovanni Falcone, am 19. Juli Paolo Borsellino und am 17. September Ignazio Salvo, den engsten Freund des mächtigen Salvo Lima. Ein neuer Vernichtungsfeldzug. Wer ihn initiierte, der wollte das Gedächtnis Palermos auslöschen, die Erinnerung an die mafiosen Machenschaften in dieser Stadt. Auf Freundes- wie auf Feindesseite.

Seit diesen Anschlägen hat der italienische Staat in vielen seiner Institutionen entschiedener gekämpft, als er es – zumindest gegen die militärische Cosa Nostra – jemals zuvor getan hatte.