Vorwort zur deutschen Ausgabe

»Mafia« ist das vielleicht weltweit bekannteste italienische Wort. Früher kannten wir nur eine Mafia: die sizilianische. Man erzählte Geschichten über ihre angeblich uralten, ja edlen Ursprünge und ging davon aus, dass sie ihre Macht ausschließlich auf dieser Insel zwischen Europa und Afrika ausübte.

Vor fünfzig Jahren wurde sie für tot erklärt. In den Berichten der Sicherheitsbehörden fand sie keine Erwähnung, und in den Statistiken zur Kriminalität in Palermo wurde sie übergangen. Wissenschaftler taten sie als folkloristisches Phänomen ab, und in den Wörterbüchern der italienischen Sprache aus den sechziger Jahren hieß es unter dem Stichwort Mafia: »Vereinigung von Gewalttätern und Kriminellen, die einst Sizilien unsicher machte«. Die Mafia agierte im Verborgenen.

Nach einem Jahrhundert in den Zitronen- und Orangenhainen der Conca d’Oro und den großen Landgütern des Inselinnern – 1865 wurde die Mafia in einem Bericht des Präfekten von Palermo an den Innenminister erstmals namentlich erwähnt – war diese geheime Sekte in eine neue Haut geschlüpft. Sie hatte sich in der sizilianischen Gesellschaft eingenistet, in das Wirtschaftsgeschehen eingeschlichen und die Latifudien eines Landadels in Besitz genommen, der sein Vermögen längst aufgebraucht hatte. Jetzt war sie nahezu unantastbar. Ihre Stärke war es schon immer gewesen, sich zu verändern, um dieselbe zu bleiben; sich anzupassen, um ihre Kontinuität zu sichern. Die Mafia der Latifundien hatte sich zur Baumafia, später zur Drogenmafia und zur Wirtschaftsmafia gewandelt und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer wieder neue Territorien und neuen Reichtum erobert.

Zunächst fasste sie in Amerika Fuß, wo Anfang des 20. Jahrhunderts Millionen sizilianische Auswanderer ihr Glück suchten. Dann erschloss sie sich Asien mit seinen Opiumfeldern im Goldenen Dreieck zwischen Laos, Burma und Thailand. Schließlich sickerte sie lautlos nach Europa ein, wo die Bosse ihre »Botschaften« einrichteten und ihre Finanzabenteuer in Spanien und Großbritannien, Deutschland und Frankreich begannen: in jedem Land eine bestimmte Branche, ein bestimmter Wirtschaftszweig, schmutziges und sauberes Geld, legale und illegale Geschäfte, fernab von Sizilien, das immer die Schaltzentrale blieb, das Herrschaftsgebiet der großen Bosse und das Schlachtfeld für Heerscharen von Auftragskillern.

Aber die Mafia – von den Mafiosi Cosa Nostra genannt, »unsere Sache« – brauchte stets die politische Macht, um zu überleben und sich auszubreiten. Und sie brauchte Komplizen bei der Polizei, die Protektion von Richtern und Staatsanwälten, Priestern, Ärzten, Ingenieuren, Steuerberatern und Regionalverwaltungen: ein dicht geknüpftes Netz von Mitwissern, das bis heute existiert. Zwischen den Paten und der Macht gab es schon immer enge Verflechtungen. Zur Zeit der Einigung Italiens 1861 wurden die Unterstützer der Mafia in Wirtschaft und Staat die »Übeltäter der Mittelklasse« genannt. In den letzten Jahren begann man von einem »mafiosen Bürgertum« zu sprechen, das scheinbar Recht und Gesetz respektiert, in Wirklichkeit aber die militärische Struktur der Cosa Nostra unterstützt. In Palermo und Sizilien war die Mafia nie ein Fremdkörper, sondern stets Teil der Macht.

Dieses Buch erzählt die Geschichte der Cosa Nostra seit ihren Anfängen, die endlose Kette von Absprachen und Erpressungen, Verhandlungen und Flucht in den Untergrund. Totò Riina, der oberste Boss von Corleone, lenkte die Mafia fast ein Vierteljahrhundert lang von seinem Versteck aus. Auch Bernardo Provenzano, ein weiterer Boss aus Corleone, stand dreiundvierzig Jahre lang auf der Fahndungsliste, konnte sich aber dennoch unweit seines Heimatorts frei bewegen. Wie ein Phantom.

Bosse wie Riina und Provenzano, inzwischen weit über achtzig, hüten die schrecklichen Geheimnisse jener jahrzehntelangen Geschichte der Absprachen zwischen der sizilianischen Cosa Nostra und staatlichen Stellen. Sie sind mehrfach zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzen ihre Strafe in unzugänglichen Gefängnistrakten ab. Sie kennen sämtliche Machenschaften, die es der Cosa Nostra ermöglicht haben, gegen Ende des 20. Jahrhunderts zur wichtigsten kriminellen Organisation der westlichen Welt zu werden.

Ein unaufhaltsamer Aufstieg, bis die sizilianische Mafia dem italienischen Staat plötzlich den Krieg erklärte. Zuerst mit einer Reihe von Morden an prominenten Persönlichkeiten – Politikern aus Regierung und Opposition, Kriminalbeamten, Präfekten, Carabinieri-Offizieren, Regionalpräsidenten, Staatsanwälten – und schließlich mit dem großen Coup: der Ermordung der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die dem Kampf gegen die Cosa Nostra ihr Leben gewidmet hatten.

Mit den Anschlägen vom Sommer 1992 (Falcone wurde im Mai, Borsellino im Juli ermordet) schwenkte die Cosa Nostra um zu einer völlig neuen Strategie des Terrors: zum Angriff auf die Institutionen. Die Ermittlungen zu diesen Bombenanschlägen sind bis heute nicht abgeschlossen. Man versucht herauszufinden, ob die Bosse dazu angestiftet wurden, die Attentate zu planen, die das Land destabilisierten. Noch nach all den Jahren wird nach einem »externen Auftraggeber« gefahndet, dem man bisher allerdings nicht auf die Spur kam.

Jedenfalls hat die Cosa Nostra mit diesen Bomben vermutlich ihr eigenes Ende besiegelt. Nach 1992 hat der Staat die sizilianische Mafia – zumindest auf militärischer Ebene – so entschlossen bekämpft wie nie zuvor. Der polizeiliche und strafrechtliche Druck führte zur Zersplitterung der »Familien« und zur Festnahme nahezu aller ihrer Bosse. Das kriminelle System Italiens jedoch wurde nach den Anschlägen des Jahres 1992 von der ’Ndrangheta gerettet, der kalabrischen Mafia, die mehr als fünfzig Jahre unbehelligt agieren konnte. Von ihrer Herkunftsregion Kalabrien aus errang sie bald die unangefochtene Führung im Drogenschmuggel von Australien bis Deutschland, von den großen holländischen Seehäfen bis zu den Küsten Portugals. Heute, im 21. Jahrhundert, ist die ’Ndrangheta an die Stelle der Cosa Nostra getreten. Von einer Mafia zur anderen exportiert Italien in jeder Epoche seine Kriminalität in den Rest der Welt.

Die Zukunft wird entscheiden, ob es der Cosa Nostra gelingt, sich von ihrer derzeitigen schweren Krise zu erholen, oder ob sie im Gegenteil untergehen und von anderen kriminellen Organisationen überlagert wird. Leonardo Sciascia, einer der bedeutendsten sizilianischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, hatte schon 1979 von der »Palmengrenze« gesprochen, »die immer weiter vom Süden in den Norden hinaufwandert«. Mit diesem Bild – Palmen gedeihen in Sizilien prächtig – wollte der Schriftsteller zum Ausdruck bringen, dass ganz Italien und zuletzt auch Europa der Verseuchung durch die Mafia erliegen werden. Er warnte vor der Gefahr einer mafiosen Ansteckung, einer »Sizilianisierung« weit entfernter Länder und Regionen. Wie wir heute wissen, hatte er mit seiner Befürchtung recht. Wer weiß, wie weit heute, im Jahr 2011, die »Palmengrenze« bereits vorgerückt ist.

 

Attilio Bolzoni, Juni 2011