VI Mafien

95. Wie entstand die amerikanische Cosa Nostra?

Zunächst war sie nur ein Ableger der sizilianischen Cosa Nostra, der dann aber selbständig wurde und sich schließlich zu einer unabhängigen kriminellen Organisation entwickelte.

Die Anfänge der Mafia in den Vereinigten Staaten reichen in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück, als die ersten uomini di rispetto (»Respektspersonen«) dort ankamen: die Palermitaner Vito Cascio Ferro und Ignazio Lupo; Giuseppe Morello aus Corleone; Giuseppe Fontana aus Villabate, einer der beiden Mörder Emanuele Notarbartolos. Sie alle stammten aus der Provinz Palermo, und sie alle handelten – offiziell – mit Zitrusfrüchten.

Um 1920 schwappte die zweite mafiose Einwanderungswelle nach Amerika. Mir ihr kamen Giuseppe Bonventre, Giuseppe Bonanno, Stefano und Antonio Magaddino, Joe Profaci und Carlo Gambino, der wenige Jahre später zum Boss der Bosse (capo dei capi) der fünf »großen Familien« New Yorks wurde. Sie alle stammten aus dem Küstenstreifen zwischen Palermo und Trapani, die meisten aus Castellammare del Golfo.

Die Mafiosi aus Castellammare waren die eigentliche Keimzelle der amerikanischen Cosa Nostra. Jenseits des Atlantiks begegneten sie anderen Sizilianern, die wie Vito Genovese und Lucky Luciano in den Vereinigten Staaten geboren waren oder seit ihrer frühen Kindheit dort lebten.

Sie alle ließen sich in Little Italy nieder, wo sie mehr als dreißig Jahre lang als Mafiosi unbehelligt lebten. Erst spät erkannten die amerikanische Antidrogenbehörde und das FBI, wie gefährlich sie tatsächlich waren. Bis 1957 blieben sie unsichtbar und konnten ungestört mit Drogen handeln. Am 11. November erstürmte das FBI ein Haus in Appalachin im Bundesstaat New York, wo sich die Bosse zu einem Gipfeltreffen versammelt hatten. Einen Monat zuvor hatten sich die amerikanischen und sizilianischen Bosse im Hotel delle Palme in Palermo getroffen. Sie suchten nach einer Übereinkunft zur »Regulierung« des internationalen Drogenhandels. Bei der Razzia des FBI in Appalachin wurden vierundsechzig Mafiabosse verhaftet. In der amerikanischen Cosa Nostra rückte jetzt Carmine Galante an die Spitze, wegen seiner Vorliebe für dicke Havanna-Zigarren »Lillo the cigar« genannt. Auch er stammte aus Castellammare del Golfo.

Mit der dritten Einwanderungswelle von Mafiosi aus Sizilien 1964 strömten vor allem Leute aus den westlichen Vorstädten von Palermo in die Vereinigten Staaten: aus Passo di Rigano, aus dem Viertel Uditore, aus Cruillas und Bellolampo, aus den Ortschaften Torretta und Carini. Ganze Clans wanderten aus: die Familien Gambino, Inzerillo und Mannino, Castellano, Di Maggio und Di Maio. Sie schlossen sich ihren »Vettern« an, die bereits im New Yorker Stadtteil Cherry Hill eine neue Heimat gefunden hatten.

Diese Verbindung zwischen den palermitanischen Vorstädten und Cherry Hill trug fünfzehn Jahre später reiche Früchte. Die Mafiosi Palermos importierten tonnenweise Basismorphin aus Südostasien, das in Sizilien zu Heroin weiterverarbeitet und anschließend in New York verkauft wurde. Es war die finanziell erfolgreichste Zeit der sizilianischen und amerikanischen Cosa Nostra.

In den siebziger Jahren heuerten die palermitanischen Bosse Chemiker aus Marseille und Korsika zum »Kneten des Teigs« an. Später übernahmen dies die Ehrenmänner selbst. Einer von ihnen, Francesco Marino Mannoia, verarbeitete innerhalb von vierundzwanzig Monaten – zwischen Anfang 1978 und dem 2. Dezember 1980, dem Zeitpunkt seiner Verhaftung – sieben Doppelzentner Basismorphin, wie er als Kronzeuge der Justiz Ermittlungsrichter Falcone berichtete.

Das von Mannoia und den Familien Bontate und Inzerillo raffinierte Rauschgift wurde für fünfzigtausend Dollar pro Kilo an die Mafiafamilie Gambino weiterverkauft, die es wiederum für hundertdreißigtausend Dollar pro Kilo an ihre amerikanischen Verwandten auf Long Island weitergab. In diesen vierundzwanzig Monaten verdiente die sizilianische Mafia allein mit dem von Mannoia verarbeiteten Heroin zwischen dreißig und fünfunddreißig Millionen Dollar, die New Yorker Mafia zwischen achtzig und neunzig Millionen Dollar.

All dies war vor dem Mafiakrieg, in einer Zeit, als die Cosa Nostra nur ans Geld dachte.

Nach den drei großen Einwanderungswellen gab es keinen weiteren vergleichbar großen Zustrom der Mafia nach Amerika, doch der Weg dorthin blieb stets offen. Zwischen Sizilien und den Vereinigten Staaten gab es seit jeher einen regen Austausch von Mafiosi, und zwar in beide Richtungen.

 

Es war eine unehrenhafte Kapitulation. Nur durch die Fürsprache ihrer Verwandten aus Cherry Hill, der mächtigen Familie Gambino, konnten einige ihr Leben retten. Am Ende des Mafiakriegs der achtziger Jahre, nachdem die Corleoneser alle gegnerischen Gruppen ausgelöscht hatten – einundzwanzig Mitglieder allein der Familie Inzerillo –, schenkten Totò Riina und die Kommission ihnen ihr Leben: unter der Bedingung, dass sie nie mehr auf die Insel zurückkehrten. In Palermo nannte man sie »die Weggelaufenen« (gli scappati). Es wurde sogar ein Ehrenmann – Rosario Naimo – ernannt, der für die Einhaltung dieses Versprechens bürgen sollte. Fast zwanzig Jahre lang meldeten die scappati ihm jede Auslandsreise und jeden Wohnungswechsel. Sizilien jedoch war für sie tabu.

Zwischen 2002 und 2003 kehrten die scappati dann plötzlich massenhaft nach Palermo zurück. Sie bezogen Wohnung in denselben Vierteln und denselben Häusern, die sie verlassen hatten, um ihr Leben zu retten. Ihre Rückkehr spaltete die damals noch untergetauchten großen Mafiabosse Palermos.

Salvatore Lo Piccolo befürwortete die Heimkehr der Inzerillo. Er hoffte, sie würden ihm helfen, jenes Bündnis zu schmieden, das ihn an die Spitze der Cosa Nostra bringen würde. Antonino Rotolo, ein Getreuer Totò Riinas, war dagegen. Er fürchtete ihre Rache und glaubte, die Inzerillo könnten sich ihre alte Macht zurückerobern. Wie üblich spielte Bernardo Provenzano, das damalige Oberhaupt der Cosa Nostra, ein doppeltes Spiel. Er bezog keine klare Position, schickte aber seine Leute nach New York, um mit den Verwandten der scappati Geschäfte zu machen.

Alle jedoch waren sich bewusst, dass die Rückkehr der Inzerillo für die sizilianischen Mafiosi die einmalige Gelegenheit bot, erneut in der internationalen Kriminalität eine Rolle zu spielen.

Jenseits des Atlantiks lebte damals Francesco Paolo Augusto Calì, genannt Franky Boy. Er war der Sohn eines Kleinhändlers aus dem volkstümlichen palermitanischen Viertel Ballarò und hatte dank der Familie Gambino in Amerika ein Vermögen gemacht. Mit Franky Boy vergaßen die Mafiosi aus Palermo ihre Angst und ihre Ressentiments, und sie stiegen erneut in den Drogenhandel ein. In den folgenden vier, fünf Jahren herrschte zwischen Palermo und New York ein reger Geschäftsverkehr, bis im Februar 2008 das FBI und die italienische Polizei hundert dieser Mafiosi verhafteten.

Man kann jedoch sicher sein, dass sie bald zurückkommen werden. Diesseits oder jenseits des Atlantiks. Sie kommen immer zurück.

 

La Repubblica, 8. Februar 2008

96. Hat die Cosa Nostra international überhaupt noch eine Bedeutung?

Im Jahr 1986 fand in Palermo der Maxi-Prozess gegen die Cupola, die Führungsspitze der Cosa Nostra, statt. Im selben Jahr stellte der Staatsanwalt und spätere New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani die Bosse der New Yorker Cosa Nostra vor Gericht. Es war ein Doppelschlag, eine gemeinsame Strategie, die den kriminellen Organisationen Siziliens und der Vereinigten Staaten erstmals eine schwere Niederlage zufügte. Ab 1992 dann überstürzten sich die Ereignisse. Nach den tödlichen Anschlägen auf Falcone und Borsellino wurde die sizilianische Mafia durch Polizei und Justiz in beispielloser Weise unter Druck gesetzt. Die Cosa Nostra schwimmt heute nicht mehr so im Geld, dass sie erneut lukrativ investieren könnte. Die sizilianische Mafia verliert zunehmend ihre Kontakte in Fernost und leidet unter der gnadenlosen Konkurrenz durch andere Mafiaorganisationen.

Nach wie vor jedoch kann sie zwar auf ihre historisch gewachsenen Verbindungen nach New Jersey zählen und verfügt weiterhin über Kontakte nach Kanada und Venezuela; auf globaler Ebene aber haben inzwischen andere Mafiaorganisationen die Führung übernommen. In Italien erkannten die ’Ndrangheta und die Camorra am schnellsten, wie man in einer globalisierten Welt am besten kriminelle Geschäfte macht, und haben sich frühzeitig mit ausländischen Mafiaorganisationen verbündet. Die Cosa Nostra hat schon seit vielen Jahren das Monopol für den Drogenhandel verloren.

97. Welche Mafia ist heute die mächtigste in Italien?

Die ’Ndrangheta. Sie hat sich in den staatlichen Institutionen eingenistet. Sie sitzt in den Geheimlogen. Sie hat die Politik infiltriert, rechts wie links. In manchen Fällen gibt es heute in Kalabrien zwischen der rein kriminellen und der politischen Macht gar keine Mittelsmänner mehr. Sie wird in Personalunion ausgeübt.

Die ’Ndrangheta ist ein archaischer Stammesclan und eine moderne Organisation zugleich. Sie stützt sich auf Familienverbände, die ’ndrine oder Familien der regionalen Bosse (capibastone), und ist in den Dörfern Kalabriens fest verwurzelt, gleichzeitig aber international vernetzt. Sie beherrscht ihr Territorium und kontrolliert zugleich die südamerikanischen und afrikanischen Routen des Drogenhandels. Sie ist undurchdringlich. Nur sehr wenige Mitglieder der ’Ndrangheta, eher die kleinen Fische, sind zur Zusammenarbeit mit der Justiz bereit. Die ’ndrina ist ein Familienzusammenschluss im wahrsten Sinn des Wortes: Kaum jemand übt Verrat und beschuldigt einen Bruder, Sohn oder Vater. Diese Struktur hat die ’Ndrangheta in den Jahren der polizeilichen Verfolgung entscheidend gestärkt. Nach den Attentaten der Cosa Nostra von 1992 war es die kalabrische Mafia, die das kriminelle System Italiens gerettet hat.

Fast fünfzig Jahre lang konnte sich die ’Ndrangheta ungestört entfalten. Der italienische Staat hat die Augen verschlossen und weggeschaut – auch als sie anfing, scharf zu schießen. Zum Beispiel 1989, als in Reggio Calabria Lodovico Ligato getötet wurde, der ehemalige Direktor der staatlichen Eisenbahnen; man betrachtete diesen Mord als eine interne Abrechnung. Oder 1991, als Antonino Scopelliti, Oberstaatsanwalt am Kassationsgericht, exekutiert wurde. Man hielt den Mord für einen Anschlag der sizilianischen Mafia. Scopelliti war im Maxi-Prozess gegen die Cosa Nostra der Vertreter der Anklage beim Obersten Gerichtshof gewesen.

Erst im Oktober 2005 wurde die ’Ndrangheta zum Problem, als in Locri Francesco Fortugno ermordet wurde, der Vizepräsident des kalabrischen Regionalrats. Mit dem Blutbad von Duisburg, bei dem in der Nacht zum 15. August 2007 vor dem Restaurant Da Bruno sechs Kalabresen exekutiert wurden, beging die ’Ndrangheta einen weiteren Fehler. Erst von diesem Augenblick an wurde sich der Staat der Gefährlichkeit der kalabrischen Mafia bewusst und begann eine langfristige Strategie zu entwickeln. Der Innenminister schickte seine besten Leute nach Reggio Calabria, ebenso das Carabinieri-Corps und die Finanzpolizei. Die Justizbehörde wurde neu organisiert. An die Spitze der Staatsanwaltschaft wurden prominente Juristen wie Giuseppe Pignatone und Michele Prestipino berufen, Ermittler, die auf die organisierte Kriminalität in Sizilien spezialisiert waren. Der Kampf gegen die ’Ndrangheta begann mit dreißigjähriger Verspätung, aber heute kann man wenigstens sagen, dass er begonnen hat. Und es kamen auch die ersten Signale von den kalabrischen Bossen: demonstrative Attentate, nicht explodierte Sprengkörper, die Bedrohung einzelner Staatsanwälte. Die ’Ndrangheta signalisiert damit, dass sie ihre Macht nicht verlieren möchte, dass sie keine allzu gründlichen Ermittlungen wünscht und nicht vor Gericht gestellt werden will. Schlimme Botschaften. Das heutige Kalabrien ähnelt dem Sizilien Ende der siebziger Jahre. Es ist ein gefährlicher Brennpunkt, und es weht ein giftiger und gefährlicher Wind, der »prominente Leichen« (cadaveri eccellenti) ankündigt, wie damals in Palermo. Krieg liegt in der Luft.

 

Von San Luca nach Duisburg. Es sind kriminelle Moleküle, die auseinanderspritzen und sich in der Welt verbreiten. Eine Mafia im verflüssigten Zustand, die sich überall einnistet und an Orten weit entfernt von ihrem Ursprung das alte, elementare und effiziente Organisationsmodell reproduziert. Sie ist aufgebaut wie das Terrornetzwerk al-Qaida, mit einer Tentakelstruktur ohne strategische Führung, aber mit einer organischen Intelligenz und begabt mit einer sozialen Vernunft von enormer, erschreckender Zuverlässigkeit. Darin liegt das Geheimnis der ’Ndrangheta. Alles vollzieht sich in der Spannung zwischen einem fernen, ländlichen und archaischen Hier und einem globalisierten, postmodernen und technologischen Dort.

 

Aus dem Bericht des Vorsitzenden des parlamen-

tarischen Antimafia-Ausschusses, Francesco Forgione,

19. Februar 2008

 

Hundertdreiundvierzig Gruppen (cosche) haben eine ganze Region, viele ihrer Gemeinden, Verwaltungen und lokalen Gesundheitsdienste, Häfen und Küsten untereinander aufgeteilt.

Ganz Kalabrien wird von der ’Ndrangheta »kontrolliert«: Taurianova, Palmi, Locri, Reggio, Rosarno, Villa San Giovanni, Lamezia Terme. Die Autobahn Salerno-Reggio ist das längste Corpus delicti der Welt: An jedem Asphaltmeter verdient eine cosca, an jedem Bauabschnitt ein Boss. Das ist die Mautgebühr, die von der ’Ndrangheta kassiert wird – von einer Mautstelle zur nächsten. Der »Freihafen« von Gioia Tauro, Umschlagplatz für Container- und Schmuggelwaren aller Art, ist weitgehend in der Hand der Familien Piromalli, Molè, Bellocco und Pesce.

In Kalabrien wurden seit 1991 achtunddreißig Gemeinderäte wegen Infiltration durch die Mafia aufgelöst (in ganz Italien sind es hundertzweiundsiebzig). Doch wie vor einigen Jahren der Antimafia-Staatsanwalt Pietro Grasso feststellte, »muss in einigen Ortschaften wie Africo, Platì und San Luca der Staat versuchen, diese Strukturen zu unterwandern«. In Kalabrien gibt es Bürgermeister, die nur vom capobastone Befehle entgegennehmen. Andere nehmen überhaupt keine Befehle entgegen, weil sie selbst capobastone, also Oberhaupt einer ’ndrina, sind.

Die ’Ndrangheta ist eine lokale und eine globale Mafia. Sie ist mit den kolumbianischen Kartellen verflochten. Sie zählt ihr Geld nicht, sie legt es auf die Waage und rechnet den Wert dann hoch. Allein in Mailand schlagen die kalabrischen Drogenhändler jeden Monat zwanzig Kilo Kokain um. Mailand ist ihre kriminelle Kolonie. Hier gelten die Sizilianer inzwischen nicht mehr viel. Auch im Hafen von Genua haben die Kalabresen Fuß gefasst, sie mischen im Baugeschäft in Bologna mit. Im Aostatal arbeiten sie mit einem bulgarischen Clan zusammen, im Piemont waschen sie ihr Geld im Handel, in Rom in der Gastronomie und im Immobiliensektor.

Diese Mafia breitet sich überall aus. In Australien haben die kalabrischen Bosse eine eigene sechsköpfige Führungsspitze, eine Cupola, gegründet. In Spanien beherrschen sie den Drogenmarkt von Barcelona bis Gibraltar, ebenso in Deutschland, Österreich und Kanada. Ihre letzte Grenze ist Portugal, strategisch günstig an der Atlantikküste gelegen, von wo aus sie ihren Kokainhandel mit den Kolumbianern, Ecuadorianern und Bolivianern abwickeln. Die ’Ndranghetisti sind im Begriff, die ganze Welt zu kolonisieren, wohin sie auch ihre Gepflogenheiten und ihren Lebensstil exportieren – und sogar versuchen, die Natur nachzuerschaffen, die sie in Kalabrien zurückgelassen haben.

In Reggio Calabria und San Luca markieren die fiumare, die Flüsse, die den Aspromonte hinunterfließen und nur nach Regen reichlich Wasser führen, die Grenzen der einzelnen ’ndrine. Für die nach Deutschland ausgewanderten kalabrischen Familien bildet diese Grenze der Rhein, an dessen diesseitigem oder jenseitigem Ufer sie sich ansiedeln.

98. Welche Rolle spielt die Camorra in der internationalen Kriminalität?

Die Camorra als solche existiert nicht mehr. Heute gibt es nur noch das »System«. Das »System« ist der Clan, die camorristische Gruppe eines bestimmten Gebiets. Die Kriminalität Kampaniens bildet ein ganzes Netzwerk von Clans: zweihundertfünfzig sind es in der Provinz Neapel.

Diese Organisation lässt sich am schwersten in einem strengen Regelwerk erfassen. Bisher ist jeder Versuch gescheitert, ihr eine Struktur und eine hierarchische Ordnung zu geben. Ende der siebziger Jahre gründete Raffaele Cutolo die Nuova camorra organizzata, aber schon damals bekämpften sich die camorristischen Gruppen untereinander – Cutolos Gegner waren die sogenannten Sezessionisten – und schafften es nicht, sich eine gemeinsame Führungsspitze zu geben, eine Cupola.

Jeder Clan beherrscht sein Territorium autonom. Bei Grenzüberschreitungen kommt es zu blutigen Fehden. Die Clanchefs sterben jung. Betagte Bosse gibt es in Neapel heute kaum mehr. Doch in den letzten Jahren haben die Camorra-Gruppen diesem Chaos eine gewisse Ordnung gegeben – mit gefährlichen Konsequenzen. Die Camorra schmuggelt alles, sie hat überall ihre Finger im Spiel, bei gefälschten Markenwaren ebenso wie bei der Abfallentsorgung, im Drogenhandel und in den Kommunalverwaltungen.

Auch die kampanischen Clans sind weitweit vernetzt. In Wien und Brüssel lassen sich diverse Handelsaktivitäten auf das System von Secondigliano, einem Stadtteil an der nördlichen Peripherie Neapels, zurückführen. An der Côte d’Azur operieren die Licciardi und Di Lauro. Der La-Torre-Clan aus Mondragone betreibt Spielkasinos in England und in Amsterdam. Francesco Schiavone, ein Cousin des gleichnamigen Clanchefs der Casalesen, Francesco »Sandokan« Schiavone, verlagerte seine wirtschaftlichen Aktivitäten nach Rumänien: Betriebe zur Produktion von Mozzarella und Büffelzucht. Die Liste der von der Camorra unterwanderten Länder ist lang. Sie umfasst Brasilien, Kuba und die Dominikanische Republik ebenso wie Kenia, Tunesien und Südafrika. Der Clan der Casalesen, ein Imperium auf einem Fleckchen Erde zwischen Casal di Principe und San Cipriano d’Aversa, ist – anders als die städtisch geprägte Camorra – als hierarchischer Familienverband organisiert. Die Casalesen sind die raffinierteste Ausprägung des neapolitanischen »Systems«.

99. Welche Regionen sind von der Mafia am stärksten unterwandert?

An erster Stelle ist Kalabrien zu nennen, gefolgt von Sizilien und Kampanien, Apulien und schließlich der Lombardei und Latium. Nach den Regionen Süditaliens, die traditionell von den drei Mafien – Cosa Nostra, Camorra und ’Ndrangheta – beherrscht werden, hielt in den letzten zehn Jahren die Lombardei den Rekord bei der Beschlagnahme und Enteignung von Mafiagütern. Vor allem in Mailand und den benachbarten Kommunen waschen die Bosse ihr schmutziges Geld. In der Lombardei haben sich die Clans schon seit jeher ausgebreitet; hier begannen die sizilianischen Mafiosi bereits in den siebziger Jahren zu investieren. Am bekanntesten sind die Ermittlungen der Staatsanwältin Ilda Boccassini zur Duomo Connection, also zur Infiltration Mailands durch die Mafia und zur politischen Protektion der Drogenbarone aus Palermo.

Latium, und insbesondere die Provinz Latina – von Fondi bis Aprilia und von Sperlonga bis Sabaudia –, wurde zum Herrschaftsgebiet der Casalesen und einiger kalabrischer ’ndrine. Auch Rom wurde von den Kalabresen erobert. Sie betreiben Restaurants und Bars, und ihr Immobilienbesitz ist gewaltig. Doch außerhalb der Ursprungsregionen der Mafien wurde das Phänomen ihrer kriminellen Durchdringung seit jeher unterschätzt. Ihr Eroberungsfeldzug begann vor fast fünfzig Jahren mit den confinati, den Mafiosi, die in den sechziger Jahren in die Verbannung geschickt wurden. Und er ist bis heute nicht abgeschlossen.

Und es stimmt ja auch: Geld stinkt nicht. Bedauerlicherweise werden sich die Italiener dieser Gefahr immer erst dann bewusst, wenn es bereits zu spät ist: wenn sie selbst den Bossen zum Opfer fallen. Vorher wenden sie sich ab und tun, als ob nichts wäre.