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DIE NEUE ZEIT, DER NEUE
MENSCH
UND DIE NEUE SPRACHE
Januar bis April 1933
»Silvester fällt aus«, schniefte Johann Isidor in sein Taschentuch. Zu diesem Zeitpunkt waren dem Jahr 1932 noch sechsunddreißig Stunden und zwanzig Minuten beschieden. »Uns ist nicht nach Feiern zumute.« Seine Augen waren gerötet, die Lippen aufgeplatzt und die Stimme belegt.
»Armer, trauriger Opabär«, bedauerte ihn Claudette. Mit dem Kosewort ihrer Kindertage spulte sie das Leben um Jahre zurück und lockte sich selbst in die Falle. Claudette hatte oft Sehnsucht nach der unbeschwerten Zeit der Puppen und Märchen und dem kleinen, rot angestrichenen Kaufmannsladen, in dem Onkel Erwin – mit Stock und Hut – ein Pfund Mehl und drei Tüten Zauberzucker zu kaufen pflegte. Und manchmal auch eine Dose Rosenduft und einen Fingerhut voll Sternenstaub.
Claudette entkam nur mit Mühe den Fangarmen der Nostalgie. Sie schüttelte ihren Kopf und rieb ihre Stirn glatt: Sie nahm an, einzig die starke Erkältung ihres Großvaters wäre der Grund für seine Missstimmung, und verspürte große Lust, ihn an das Sprichwort zu erinnern, mit dem er sie seit Jahren und zu ihrem Leid immer noch traktierte. »Eigenliebe macht die Augen trübe«, wollte sie zitieren. Da sie jedoch sowohl klug als auch diplomatisch war und weil Undankbarkeit ihrem Naturell so fernlag wie die kränkenden Bemerkungen, die anderen Mädchen in ihrem Alter so flott über die Lippen kamen, als wäre Herzlosigkeit ein Zeichen von Reife, lächelte sie allerliebst. Die Rücksichtsvolle deutete gar einen kleinen Knicks an.
Channuka, das Fest von Licht und Kinderfreude, lag erst vierzehn Tage zurück. Der Großvater, dessen strenges Gebaren der jungen Jahre im Alter nur noch Tarnung für seine Nachgiebigkeit war, hatte der Enkeltochter, die über die Zauberkraft von Circe verfügte, trotz heftiger Proteste ihrer Mutter einen Herzenswunsch erfüllt. »Opabär« war unmittelbar vor Channuka mit »Claudetteche« ins Kaufhaus Wronker spaziert – um die neue Schultasche zu kaufen, die sie dringend brauchte. Eingepackt aber wurde ein weinroter Wollmantel mit Kragen und Gürtel aus weißem Kaninchenfell. Claudette hatte seit Herbstbeginn von dem Prachtstück geschwärmt und in regelmäßigen Abständen beteuert, sie würde sich nie mehr im Leben etwas wünschen, wenn sie den Mantel bekäme. Als Überraschung hatte der großväterliche Kinderverderber zwanzig Mark in die rechte Tasche gesteckt. Und einen kleinen silbernen Bären für das Bettelarmband in die linke. Claudette klimperte mit dem Armband. Sie brachte es nicht über sich, roh zu sein und einen solchen Mäzen darauf hinzuweisen, dass der Rest der Familie sich bester Gesundheit erfreute und zu Silvester bestimmt den üblichen Punsch und die traditionelle Heiterkeit vertragen könnte.
Durch ihre familiäre Situation hatte Claudette ungewöhnlich früh einen Instinkt für Grenzen entwickelt, die zur Erhaltung des häuslichen Friedens nötig waren. Sie war ohnehin kein Backfisch, den es auf die Barrikaden trieb. Claudette wusste immer, wann sie zu schweigen hatte, wo Protest sinnlos war und dass die meisten Entscheidungen von der Zeit getroffen wurden. Obwohl sie gerade die Tanzstunde absolviert hatte und sich eine ganze Anzahl von Verehrern danach drängte, das umschwärmte Fräulein Sternberg zu einem der vielen Silvesterbälle einzuladen, die in Frankfurt stattfanden, hatte sie sämtlichen Bewerbern einen Korb geben müssen. Die Walzerkönigin aus der Rothschildallee 9 wurde erst im Juni fünfzehn – es war nicht daran zu denken, dass sie mit einem Mann ausgehen durfte, weder mit einem jungen noch mit einem älteren. Umso größer war ihr Verlangen, wenigstens das neue Jahr mit dem geliebten Grammofon und Frohsinn willkommen zu heißen. »Ich will mich doch, wenn ich alt bin, an 1933 erinnern können«, malte sie sich am Esstisch ihrer Großmutter aus, »an jede Minute. Von Anfang an.«
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Josepha, »wenigstens auf meine Kreppel mit Pflaumenmus wirst du nicht verzichten müssen, Kind. Das wär’ ja noch schöner. Ohne Kreppel gibt’s doch kein süßes Jahr. Das weiß doch jeder.«
»Es gibt auch so kein süßes Jahr«, seufzte der Hausherr, »das weiß auch jeder.«
Frau Betsy goss ihm neuen Fliedertee ein. »Hör auf«, drängte sie, »hör endlich auf mit deiner ewigen Schwarzseherei. Ihr Männer seid doch alle gleich. Hätschelt euren Pessimismus wie ein Schoßhündchen. Sobald dieser verdammte österreichische Anstreicher auch nur den Mund zum Gähnen aufreißt, macht ihr euch ins Hemd. Nimm dich doch wenigstens zu Silvester zusammen und verdirb nicht auch noch dem Kind die Laune.«
Mit Claudettes Laune stand es zum Besten. Ihr Tanzstundenherr, ein wohlerzogener, sportlicher Jüngling aus reichem Hause, der in seiner Freizeit Breeches und Tweedjacken trug, die der Vater eigens aus Edinburgh kommen ließ und um den sämtliche Freundinnen Claudette beneideten, war ihr auch nach dem Abschlussball treu geblieben. Jeden Samstag holte Hans-Dieter Bergmann mit dem akkurat gezogenen Mittelscheitel sie von der Schule ab. Jeden zweiten Sonntagnachmittag führte er sie ins Kino und danach zur Käsesahnetorte in ein kleines Café in der Glauburgstraße, in dem hauptsächlich junge Leute verkehrten. Frau Friederici, die Leiterin der Tanzschule, hatte Claudette aufgefordert, im April als Gast am Fortgeschrittenenkurs teilzunehmen. Es hatten sich ausnahmsweise mehr junge Männer als Mädchen angemeldet. Höhepunkt der Glücksserie: Die Eltern einer Mitschülerin planten zu Pfingsten eine Reise nach Paris und hatten auf Drängen ihrer Tochter Claudette dazu eingeladen. Claudette war ebenso stolz wie erwartungsfroh. Allerdings stand ihr noch eine Herkulesaufgabe bevor. Es galt, ihre stets skeptische Mutter davon zu überzeugen, dass Elene von Kossigk und deren Eltern der richtige Umgang für sie wären. Clara hielt Elene für dumm und arrogant und die adeligen Eltern zumindest für antisemitisch angehaucht – bei jedem Elternabend pflegten die beiden Clara nach ihrem Namen zu befragen, um ihn sich stirnrunzelnd in ein mit Samt bezogenes Büchlein mit Wappen zu notieren. Claudette wurmte es, dass Erwin, der sonst immer bereit war, seiner Nichte beizustehen, seiner Schwester recht gab.
»Wo zum Weib du nicht die Tochter wagen würdest zu begehren«, zitierte der unloyale Onkel, »halte dich zu wert, um gastlich in dem Hause zu verkehren.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
»Das war Storm, mein unschuldiges Kind. Wenn du einem deutschen Dichter vertrauen kannst, dann ist es Storm.«
»Ich will Elene nicht heiraten«, parierte die Nichte, »ich will mit ihr nach Paris fahren.«
Am letzten Tag des Jahres stellte sich heraus, dass Claudette keinen Grund hatte, entgangener Silvesterfröhlichkeit nachzuweinen. Sie lag mit hohem Fieber im Bett, den Hund im Arm, einen feuchten Wickel um den Hals, und warf sich, was sie noch nie getan hatte, mit heißem Kopf ihre Verfehlungen und Sünden vor. Abends um acht aß sie trotzdem drei von Josephas Kreppeln. Allerdings erschienen ihr die weniger süß als sonst und das Pflaumenmus zu fest; das doppelte Malheur interpretierte sie als ein böses Omen und auch als eine speziell an sie gerichtete Warnung. Erschrocken fasste sie den Entschluss, im neuen Jahr mindestens eine Stunde täglich an ihren Hausaufgaben zu sitzen und endlich, wie schon vor Wochen von der Deutschlehrerin der Obertertia verlangt, Goethes »Egmont« zu lesen. Die Jahreswende und das Glockengeläute, das die erste Stunde willkommen hieß, verschlief die reuige Patientin. Sie träumte von Paris und der Liebe und dass sie mit goldenen Sandalen um den Eiffelturm tanzte. Am Morgen, bereits auf dem Wege der Genesung, erzählte sie Snipper, dem schweigsamen Hund, sie würde nie vor der Ehe mit einem Mann ins Bett gehen. »Nicht wegen der Moral«, erklärte die kluge Frühreife, »sondern wegen der Kinder.«
Ihr Großvater erholte sich ebenso unerwartet rasch von seinen körperlichen Malaisen. Zerknirscht stellte er fest, dass er durchaus imstande gewesen wäre, auf das alte Jahr einen Schluck Sekt zu trinken. Bei der ersten Tasse Kaffee im Jahr 1933 schämte er sich, dass er überhaupt nicht versucht hatte, sich gegen seine Ängste und Ahnungen zu wehren, und dass er so seine Familie um ihre gewohnten kleinen Feiertagsfreuden gebracht hatte. Die Presse, an die er glaubte wie einst im August 1914 an seines Kaisers Wort, stimmte ihn zuversichtlicher als seit Monaten.
Hoffnung war für Johann Isidor Sternberg und alle, die an das Land der Dichter und Denker glauben wollten, das Gebot der Stunde. Schließlich verkündeten auch Reichspräsident Paul von Hindenburg und Reichskanzler Kurt von Schleicher Optimismus. Frau Betsy legte ihm die Ausgabe der »Frankfurter Zeitung« vom 1. Januar 1933 mit dem Vermerk »Na also!« – mit Rotstift unterstrichen – ins Arbeitszimmer. Mit wärmender Freude las ihr Gatte: »Der gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den demokratischen Staat ist abgeschlagen … Das Leben selbst hat uns gezwungen, zu dem zurückzukehren, was so viele leichten Herzens über Bord zu werfen bereit waren: zur Vernunft.«
»Nichts abgeschlagen«, sagte Erwin am Ende des Monats. »Nichts Vernunft.«
Am 30. Januar berief Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. In Berlin feierten seine grölenden Jünger, jubelnde Hysteriker, Angehörige von SA und SS, ehemalige Frontsoldaten und Volksmassen mit großen Worten und langen Fackelzügen den finalen Durchbruch des Verführers. Fünf Stunden lang. Mit Ausnahme des Bayerischen Rundfunks strahlten alle Sender einen zwanzigminütigen Bericht über die Nacht von Berlin aus.
»Die Bayern haben schon immer ihr eigenes Süppchen gekocht«, bemerkte Johann Isidor. Keiner wusste, wie er das meinte.
Es wusste auch niemand, ob Josepha es ernst meinte, als sie beim Auftragen der Suppe fragte: »Ist dieser Hitler nun unser neuer Kaiser oder nicht?«
»Leider nicht, Josepha, obwohl auch er versprochen hat, uns herrlichen Zeiten entgegenzuführen.«
Zwei Tage später löste die neue Regierung unter Hitler den Reichstag auf.
»Gott sei Dank ist Frankfurt nicht Berlin«, sagte Doktor Meyerbeer. Der ehemalige Hausarzt und Hausfreund war außer der Reihe zum Kaffee geladen worden, um die neue Lage zu besprechen. »Frankfurt war immer das intellektuelle Zentrum Deutschlands«, dozierte er und stach mit dem Kaffeelöffel Luftlöcher. »Da hat man schon im Mittelalter Rattenfänger in den Main getrieben, ehe sie Papp sagen konnten. Und was uns betrifft, Frankfurt weiß, was es seinen Juden verdankt.«
Seine Gattin, die ihm selten recht gab, weil sie ihn für senil und noch geschwätziger als in seiner Jugend hielt, pflichtete ihm bei. »In Frankfurt hat man immer gewusst, was sich gehört. Das hat schon mein Großvater gesagt.«
»Und meiner hat gesagt, Gelegenheit macht Diebe«, erinnerte sich die Gastgeberin. Ob die Gäste noch ein Stück Schokoladentorte wollten, fragte sie dann. Die Gäste hielten ihr den Teller hin und ließen sich die Schlagsahne munden.
»Josepha muss mir endlich verraten, wie sie die macht«, sagte Frau Meyerbeer.
»Tut sie gern«, übertrieb Frau Betsy. Sie war, hatte sie Josepha erst am Morgen beim Backen der Schokoladentorte geschworen, nicht gewillt, sich von einer Handvoll verrückter Nazis ihren Hausfrauenstolz stehlen zu lassen.
Johann Isidor rührte in seinem Kaffee, einmal rechtsherum, einmal linksherum. Er beteiligte sich kaum an der Unterhaltung, obgleich er es gewesen war, dem es nach einem Gespräch von Mann zu Mann verlangt hatte. Erst bei der Verabschiedung seiner Gäste fand er seine Stimme wieder: »Mir gefallen die Töne der neuen Herren kein bisschen«, sagte er. »Die können das Wort Demokratie noch nicht einmal buchstabieren.«
»Ums Buchstabieren geht es diesen Halunken auch nicht«, sagte Erwin am nächsten Tag. Er hatte den gleichen Satz zu hören bekommen.
»Es ist schon komisch, dass ich dreiundsiebzig werden musste, um dahinterzukommen, dass ich besser mit meinem Sohn reden kann als mit den meisten Leuten. Es tut mir leid, Erwin.«
»Das muss es nicht. Es gibt Väter, die merken erst im Grab, dass es sich gelohnt hätte, mit ihren Söhnen zu sprechen.«
Vater und Sohn waren, ohne dass Betsy es wissen durfte, weil sie Einmischungen in ihr Hausfrauenressort als Kränkung empfand, auf den Speicher gegangen. Die beiden wollten sehen, ob die alte Fahnenstange aus dem Krieg noch da war. »Rein prophylaktisch«, hatte Johann Isidor versichert, »man kann ja nie wissen, was auf einen zukommt.«
»Das kann man nicht«, gab ihm Erwin recht. Er grinste wie in seinen frechsten Bubentagen, als ihm Provokation und Widerrede belebende Kinderlust gewesen waren. Auf die schlechte Beleuchtung im Speicher war noch immer Verlass. Die billige Lampe mit nur einer Glühbirne, die von der mittleren der Wäscheleinen baumelte, hatte auf Wunsch der sparsamen Hausherrin dreiunddreißig Jahre lang die Stromrechnung fürs Haus niedrig gehalten und ihren Sohn vor Entdeckungen geschützt – bei der ersten Zigarette, beim ersten Kuss und in den Jahren der Verzweiflung, in denen er nicht wusste, ob er leben wollte oder nicht.
Weil er nicht nur die »Frankfurter Zeitung« las, sondern immer öfters das SPD-Zentralorgan »Vorwärts« und weil er sich regelmäßig mit einem Kaffeehauskellner unterhielt, der sein Weltbild von seinem kommunistischen Stiefvater bezog, konnte Erwins Pessimismus es jederzeit mit dem des Vaters aufnehmen. Im Übrigen fand sich hinter einem Schrankkoffer von Tante Jettchen sowohl die alte Fahnenstange als auch ein nagelneuer Militärtornister, den Otto, der ja nach zwei Monaten Krieg keinen Tornister mehr brauchte, bei seinem ersten Heimaturlaub hätte bekommen sollen.
»Deine Mutter hat recht. Männer haben auf dem Speicher nichts zu suchen. Dass sie ja nicht den Tornister findet.«
»Wird sie aber. Glaubst du, wir sind die Einzigen, die in diesen Zeiten nach alten Fahnenstangen fahnden?«
»Ach, Erwin, wie sich die Zeiten ändern. Jahrelang konnte ich mich nicht damit abfinden, dass du auf deiner Malerei bestanden hast. Ich habe immer davon geträumt, dass du Jura studierst und den Doktor machst. Heute bin ich froh, dass du einen künstlerischen Beruf hast. Im Städel wird man sich ja um das ganze politische Geschrei nicht kümmern.«
»Nein«, sagte Erwin, obwohl er es besser wusste. In der Städtischen Kunstgewerbeschule des Städel, in der Erwin Sternberg gehofft hatte, er könnte eines Tages vielleicht dem berühmten Maler Max Beckmann assistieren, traute keiner mehr dem anderen. Es wurde gemunkelt, außer Beckmann stünden auch die Professoren Baumeister, Scheibe und Schuster auf der »Abschussliste«. Erwin fragte sich, ab wann ein Sohn die Pflicht hatte, seinen Vater aufzuklären. Ging die Schutzbedürftigkeit eines alten Mannes nicht vor der Männerpflicht, der Wahrheit ins Auge zu blicken?
»Ein Bild ist schließlich ein Bild«, fuhr Johann Isidor fort. »Es hat keine politische Meinung. Daran können auch die neuen Herren nicht rütteln.«
Obwohl am Montag große Wäsche angesetzt war und die von der Vorwoche im Bügelkorb lag, erschien Frau Winkelried nicht zur Arbeit. Am Freitag hatte sie die Hausflurtreppe nur flüchtig gefegt und nicht, wie sonst, feucht gewischt und anschließend gebohnert. Zu Clara, wie seit Jahren üblich, war sie nicht gegangen. Betsy hatte sich vorgenommen, ihre Zugehfrau streng zu rügen und sie darauf hinzuweisen, dass eine solch tadelnswerte Auffassung von Pflicht und Arbeit in nichts den hohen Stundenlohn rechtfertigte, der Frau Winkelried seit Jahren gezahlt wurde.
»Vielleicht ist sie krank«, überlegte Betsy zur Mittagszeit. Josepha hatte die Frau Winkelried zugedachte Erbsensuppe in die weiße Terrine umgeschüttet und mit Schnittlauchröllchen garniert. »Sie kommt mir neuerdings öfters erkältet vor.«
»Für das, was die hat, braucht man kein Taschentuch«, diagnostizierte Josepha, »nur Chuzpe. Aber davon jede Menge.«
»Nanu«, wunderte sich der Hausherr. Sein Löffel schlug gegen den Tellerrand. Josepha hatte nie dazu geneigt, die jüdischen Ausdrücke, die in der Familie Brauch waren, zu übernehmen. Johann Isidor setzte an, sie zu fragen, ob das, was er soeben vernommen hatte, eine Bedeutung hätte und wenn ja, welche, doch mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass ihn die Situation genierte. »Nanu«, wunderte er sich abermals. Diesmal galt das Staunen seiner eigenen Person.
Am Dienstag lag ein Kuvert im Hausbriefkasten – ohne Absender und ohne Briefmarke, stattdessen mit einem Bild aus einer Zeitschrift beklebt. Ein grinsender, hakennasiger Teufel saß an einem Tisch und zählte Geld. Im Umschlag lag ein aus einem Rechenheft herausgerissenes Blatt. Der Brief kam von Frau Winkelried und hatte weder Anrede noch Datum. »Ich tu nicht mehr bei euch Juden putzen«, teilte sie mit, »ich erwarte, dass ihr mir den Lohn für die nächsten drei Monate zahlt. Bei Zuwiderhandlungen werde ich die erforderlichen gerichtlichen Maßnahmen zu ergreifen wissen.« Es gab keinen Zweifel, dass Frau Winkelried sich für den letzten Satz juristische Hilfe gesucht hatte.
»Ich glaub, sie putzt bei einem Rechtsanwalt auf der unteren Berger Straße«, sagte Betsy. Ihre Stimme zitterte, ihre Hände ebenfalls. »Dass ein Akademiker sich zu so etwas hergibt! Unser Fritz würde so etwas nie tun.«
Josephas Stimme war donnerlaut, ihr Gesicht eine flammend rote Fläche. »Wenn ich das Weib in die Hände bekomme, prügele ich sie so windelweich, dass sie nicht mehr weiß, wie sie heißt.«
»Das werden Sie schön bleiben lassen«, befahl ihr Chef, den Claudette aus seinem Arbeitszimmer hatte holen müssen. »Die Winkelried ist stärker als Sie, Josepha. Und die Starken haben bei uns jetzt das Sagen. Jedenfalls, bis dieser ganze stinkende Spuk sein verdientes Ende nimmt.«
Vorerst war es das schwächste Mitglied der Familie, das seine Stimme hören ließ. Die war allerdings so kräftig und fordernd, als wäre nichts faul im deutschen Staat und das Leben einer jüdischen Familie im Lot. In der Günthersburgallee, im Schlafzimmer mit den Portieren aus königsblauem Samt und den weißen Schleiflackmöbeln, wurde am letzten Februartag Salomon Raphael Feuereisen geboren, zwei Wochen früher als erwartet und genau vierundzwanzig Stunden nachdem in Berlin das Reichstagsgebäude in Flammen aufgegangen war.
Sein Leben verdankte der eilige Knabe mit dem schwarzen Haarflaum und den auffallend großen Augen einer sommermilden Maiennacht. Seine Mutter, die im März 1932 grundlos befürchtet hatte, sie wäre schwanger, war in der Nacht seiner Zeugung nicht nur besonders schön und besonders leichten Sinnes gewesen. Sie hatte am Nachmittag im Café Bräutigam bei einem Kaffee mit Whisky und einer Schlagsahnenhaube von ihrer Busenfreundin Beate einen todsicheren Tipp zur Verhütung bekommen. Die beiden Frauen, seit der Sexta einander innig zugetan, hatten sich seit der Feststellung von Vickys Schwangerschaft kein einziges Mal mehr getroffen.
Die Geburt war schwierig gewesen und hatte die Mutter so sehr angestrengt, dass sie den Stammhalter nicht mit dem Jubel und der Herzensfreude empfing, auf die in jüdischen Familien die Knaben seit der Geburt von Isaac ein Gewohnheitsrecht haben. Salomons Vater spielte die ihm von der Tradition zugedachte Rolle mit großer Überzeugungskraft – und einem Schuss Galgenhumor, den bisher keiner bei ihm wahrgenommen hatte. Fritz wies seinen Sohn darauf hin, dass er am Faschingsdienstag geboren sei; er versprach ihm eine lebenslängliche Versorgung mit Pappnase, Narrenkappe und deutschen Herrenwitzen.
Als Doktor Friedrich Feuereisen allerdings das erste Mal mit seinem Sohn allein war – im kleinen Turmzimmer, einen Tag nach der Geburt – redete er mit ihm von Mann zu Mann. »Ein schöner Schlemihl bist du«, hielt er dem Unschuldswurm im hellblauen Häkeljäckchen vor, »ausgerechnet jetzt zur Welt zu kommen und ausgerechnet in Deutschland. Wetten, du hast keinen blassen Schimmer, wie viele Menschen gestern in Berlin verhaftet worden sind. Als hätte jeder einzelne von ihnen das verfluchte Reichstagsgebäude angezündet.«
Ehe er drei Tage alt war, wurde der Knabe Salo genannt. Den Namen Salomon verdankte er Großvater Feuereisen aus Bockenheim. Der hatte ja nicht nur Frau und Sohn durch sein Geschick im Fahrradhandel ein Haus und Beträchtliches an Bargeld hinterlassen. Er war ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Obwohl es selbstverständlich war, dass sein Enkel seinen Namen tragen würde, war die Großmutter des kleinen Salomon gerührt, ihre Schwiegertochter allerdings äußerst unzufrieden. Victoria hielt ihrem Mann vor, ein alttestamentarischer Name wäre eine Belastung in einer Zeit, von der ein jeder sagte, man wüsste nicht, was sie noch bringen würde. Er schwieg verdrossen; es war ihr Bruder, der in der Wöchnerinnenstube darauf hinwies, dass ein gewisser Goebbels, »von dem man durchaus weiß, was er bringen wird«, Joseph hieß.
»Wie der, der in Ägypten die große Karriere als Traumdeuter gemacht hat«, fügte er noch hinzu.
Gelegentlich träumte auch Victoria, und das nicht nur, wenn sie schlief. Seit ihrer zweiten Schwangerschaft träumte sie öfter, als ihr lieb war, vom Theater und seinen Helden, und manchmal träumte sie sogar von den Rollen, die sie hatte spielen wollen. Im Glücksgefühl, dass sie die Geburt gut überstanden hatte, schlug sie vor, ihren Sohn Leander oder Götz, vielleicht sogar Egmont zu nennen. Sie hatte sich jedoch bei ihrem Mann nicht durchsetzen können. Als es zur entscheidenden Diskussion kam, war Fritz von der langen Zeit des Wartens auf die Geburt zermürbt und von den Nachrichten aus Berlin beunruhigt. Er achtete zu wenig auf seine Wortwahl. Seiner geliebten Vicky, der er versprochen hatte, die Sterne vom Himmel zu holen und sie nie ungeküsst ins Bett zu lassen, warf er ausgerechnet im Kindbett vor, sie hätte zu viele Flausen im Kopf und zu wenig Empfinden für jüdische Tradition.
Bei Salomon Feuereisens Geburt waren außer einer wortkargen Hebamme und – in der Endphase der Wehen – einem sehr redefreudigen Arzt, beide Großmütter, Clara und Josepha anwesend gewesen. Claudette und Snipper waren nach Hause geschickt worden. Johann Isidor wies schon Tage vor dem Ereignis darauf hin, dass er bei keinem seiner Kinder die Wöchnerinnenstube betreten hatte, ehe das Neugeborene gesäubert, gewickelt und zumutbar für empfindliche Männeraugen gewesen war. Er blieb also während der Wartezeit in der Rothschildallee und studierte in sämtlichen Zeitungen, die ihm Betsy hingelegt hatte, die Katastrophen vom Tage.
Johann Isidor war nicht unruhiger als bei seinen eigenen Kindern. Im Laufe des Tages wurde er allerdings recht wehmütig. Ihm wurde bewusst, wie schnell die Jahre vergangen waren und dass sich kaum eine seiner Hoffnungen erfüllt hatte. »Von den Illusionen wollen wir gar nicht erst reden«, beklagte er sich bei dem würdigen alten Herrn, der ihn im Salon aus einem dunklen Rahmen beobachtete. Onkel Heinrich mit den weißen Haaren, der Perle im Halstuch und der goldenen Uhr in der Westentasche schwieg. Wie er es auch bei Lebzeiten getan hatte. Schweigend Nein sagen zu können, das war Heinrichs Kapital gewesen. Mit dem hatte der geschickte Oheim in jeder Lage gewuchert– und gewonnen. Sein Nachfahre, der nun im Ohrensessel saß und seinen Kopf mit beiden Händen abstützte und immer wieder leise vor sich hin röchelte, während seine Tochter eine Straße weiter in den Wehen lag und sehr laut stöhnte, pflegte sonst nie mit den Vorausgegangenen Kontakt aufzunehmen. Johann Isidor Sternberg war jedoch schon seit Stunden am Grübeln. Das Schicksal, so hatte er begriffen, war vielleicht dabei, ihn mit einem äußerst diffizilen Problem zu belasten. Zugegeben: Er war auch in guten Zeiten pessimistisch gewesen, aber gerade deswegen war er mit Konflikten und Bedrohlichkeiten fertig geworden, ehe die anderen sie überhaupt witterten.
Es nahm ihm die Ruhe, dass dieser taktierende Charakterzug ihm in einem Alter zu handeln befahl, in dem seine Kräfte so merklich nachließen. Hatte er denn immer noch für alle die Verantwortung zu tragen? Johann Isidor nickte, als hätte ihm jemand tatsächlich die Frage gestellt. Er spürte, wie sehr es an ihm, dem Patriarchen, liegen würde, die Seinen zurückzuhalten, sie zum Maßhalten zu ermahnen. »Das ist wahrhaftig nicht leicht für einen Mann, der endlich die Fackel übergeben will«, klagte er. Seine Stimme erschreckte ihn. Er hatte ein kindisches Bedürfnis, aufzustehen und das Porträt von Onkel Heinrich umzudrehen. Mit dem Gesicht zur Wand.
»Der guckt ganz böse«, hatte der kleine Otto gesagt. Drei Jahre alt war der Junge damals gewesen und zum ersten Mal im Matrosenanzug. Die Sternbergs hatten noch im Sandweg gewohnt. Zur Miete und mit der Badewanne hinter dem Vorhang vom Schlafzimmer. Von einem eigenen Haus hatte Ottos Vater nur geträumt, wenn er in euphorischer Stimmung war.
»Pfui, Otto, so etwas sagt man nicht.«
»Warum?«
Warum, warum, warum? Warum sollte ausgerechnet er, Johann Isidor Sternberg, der nur Schwiegervater war und dazu ein sehr zurückhaltender, im Falle, dass Victoria einen Jungen zur Welt brachte, ihren Mann auf die neue Zeit einstimmen? Sie forderte von den deutschen Bürgern jüdischen Glaubens ein Umdenken. Kompromisse hatten sie zu machen, geduldig zu warten, dass der Spuk ein Ende nahm. Es war klug – nicht feige! –, sich klein zu machen, den Kopf einzuziehen. Wahrhaftig war es derzeit angebracht, die Feier der Beschneidung nicht in dem großen Rahmen abzuhalten, der in den meisten jüdischen Familien Tradition war, in den liberalen und in den orthodoxen. Ein Haus voller Gäste, Alkohol, ein Festessen, Musik und Heiterkeit, das bejubelte Glück der Knabengeburt – dies alles entstammte der Welt von gestern, stand für einen gesellschaftlichen Status und eine Sicherheit, die nicht mehr gegeben waren. »Im Moment«, wollte es der Meistertaktiker Sternberg formulieren, »sollten wir uns bedeckt halten. Das ist für uns ja nichts Besonderes. So etwas hat es schließlich schon immer gegeben. Das üben wir seit Jahrtausenden.« War es eine Illusion, »im Moment« zu sagen, ein Euphemismus oder nur die Dummheit der mit Blindheit Geschlagenen?
Wahrscheinlich würde Fritz erwidern: »Den Kopf einziehen und uns ducken, meinst du das im Ernst, mein Guter?« Jugend war ja hitzig und so rasch mit dem Wort. Sie hielt sich für stark und war zu stolz, um sich mit dem Leben zu arrangieren. Die Jungen belächelten die Alten, statt dass sie bereit waren, aus den Erfahrungen ihrer Väter und Großväter zu lernen. War er, Johann Isidor, der Mann, für den Maßhalten und umsichtiges Taktieren das Brot und die Waffe der Klugen waren, in seiner Jugend auch so gewesen? So hartnäckig und unbelehrbar und allzeit bereit, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen? Auf alle Fälle war er leichtgläubig gewesen. So unschuldig wie sein achtzehnjähriger Sohn, den man glauben gemacht hatte, nur der Tod auf dem Schlachtfeld ehre den deutschen Mann.
Der Vater hatte den Sohn noch übertroffen. Er, nicht Otto das Kind, hatte Tränen in den Augen gehabt, als des Kaisers berühmte Balkonrede publik wurde. »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr. Wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder«, murmelte Johann Isidor. In der Grube seiner Erinnerungen brodelte Unruhe. Seine Augen brannten. Es machte ihn beklommen, dass er jedes Wort der großen Verführung noch parat hatte. In seinem Herzen verwahrt für immer. War er wirklich der Patriot gewesen, der es für die Pflicht eines jeden deutschen Mannes hielt, für das Vaterland zu sterben?
»Großvater, komm, wir müssen ganz schnell rüber!« Claudette stand in der Diele. Ihre Stimme war hoch, ihre Augen wieder die vom kleinen »Claudetteche«, das im Sommer die Sterne vom Himmel holte und im Vorgarten unter den Rosen vergrub. »Es ist ein Junge. Mami ist gerade aus der Günthersburgallee gekommen. Sie hat gesagt, ich soll dich schnell holen.«
»Wir wollen Gott danken. Ich hoffe nur, er hat sich mit dem Zeitpunkt der Lieferung nicht vertan.«
»Du machst immer so schöne Witze, wenn du dich freust, Opabär. Ich will mal so werden wie du.«
»Dann wirst du enterbt, mein Kind.«
»Natürlich werde ich die Bris nicht groß feiern«, sagte Fritz zu seinem Schwiegervater am Abend der Geburt, »das habe ich mir schon vorgenommen, als Vicky noch schwanger war.«
»Und woher wusstest du, dass es ein Junge wird?«
»Schon meine Mutter hat immer gesagt, ich weiß mehr, als ich mir anmerken lasse.«
Das entsprach, und das wusste wiederum nur er, absolut der Wirklichkeit. Im Leben von Friedrich Feuereisen hatte nämlich zwei Monate vor der Geburt seines Sohns ein neues Kapitel begonnen – mit Höllenbuchstaben geschrieben und mit glühendem Eisen in sein Herz gebrannt. Fritz war entschlossen, keinem je davon zu erzählen. Nichts würde seine übersensible Frau erfahren, die sich von ihren eigenen Tränen ins Jammertal zerren ließ, und nichts seine resolute Mutter, die noch dann Mut machte, wenn sie selbst keinen mehr hatte. Selbst mit seinem Schwiegervater würde er nicht reden, obwohl Johann Isidor die Stärke besaß, geduldig den Richtspruch des Schicksals abzuwarten. Nicht einmal seinem Schwager würde sich Fritz anvertrauen können, denn trotz seiner Klarsichtigkeit hatte Erwin das Fürchten noch nicht gelernt. Mit keinem der alten Freunde und Kommilitonen konnte er reden. Auch nicht mit seinem ehemaligen Seniorpartner, der nun im Tessin lebte, denn der war nicht imstande zu glauben, was er von Deutschland erfuhr.
Zwei Tage vor Heiligabend hatte der junge, aufstrebende, vielversprechende Rechtsanwalt und Notar Doktor Friedrich Feuereisen in seinem Gerichtsfach ein dünnes, mehrfach gefaltetes Stück Pappe gefunden. Er hatte es aus dem Fach genommen und sofort das Unheil gespürt, die Bedrohung empfunden. In schwarzer Tusche, mit breitem Pinsel aufgetragen, hatte der anonyme Absender die Beschimpfung »Talmud-Gauner« geschmiert. Darunter, das ganze Blatt füllend, war ein sechseckiger Davidstern. In dessen Mitte stand in Blockbuchstaben »Jude!«. Das Ausrufezeichen war rot gewesen. Blutrot, ein Fanal, des Teufels Lunte.
»Mutter, der Klaus aus der Quarta hat mich einen Saujud genannt. Was soll ich machen?«
»Nichts, mein Sohn, du musst lernen, so etwas zu überhören. Dein Vater und dein Großvater mussten es auch lernen. Und eines Tages wird es auch dein Sohn lernen müssen.«
»Ich will das aber nicht.«
»Wir werden nicht gefragt.«
War Doktor Feuereisen, von einer verlorenen Strafsache gekommen, noch in seiner Anwaltsrobe und mit seinen Gedanken bei seinem Mandanten, den er künftig im Gefängnis würde besuchen müssen, schreckensstarr geworden? Hatte er gezittert wie ein verirrtes Kind, das den Weg nach Hause nicht mehr findet? Hatte er atmen können, ohne zu ersticken? Hatte er gewürgt, geschwankt und mitbekommen, dass der Himmel auf ihn herabstürzte und sich der Boden unter ihm auftat? Der Gedemütigte wusste es nicht mehr. Noch acht Wochen, nachdem seine Welt innerhalb von Sekunden geborsten war, vermochte sich Friedrich Feuereisen nicht zu erinnern, wie lange in diesem unendlichen Moment des Begreifens sein Herz zu schlagen aufgehört hatte. Er wusste nur noch, dass er sich die Robe vom Leib gezerrt hatte, als wäre sie das vergiftete Nessusgewand des Herakles. Das Pamphlet mit der schwarzen Teufelsschrift, das ihn versengte, solange es seine Augen sahen und seine Hände es berührten, hatte er schwer atmend in seine Aktentasche gestopft. Wie ein Mann, der sich einer Unterschlagung schuldig gemacht hat und der unmittelbar vor seiner Verurteilung steht, war er sich vorgekommen. Wie ein Einbrecher, den jeder Laut in die Panik treibt, hatte er sich umgeschaut; wie ein Gejagter, der auf die Flucht muss und der weiß, dass er nie mehr heimkehren wird, war er sich vorgekommen.
Seine Welt hatte aufgehört zu sein. Aber ihm war nichts eingefallen, als zu flüstern: »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.« Jedes einzelne Wort hatte auf ihn eingedroschen. Mit Eisenstangen, mit Ochsenziemern. Wer hatte das noch mal gesagt, geschrieben, gedacht? Wann und warum und zu wem? Endlich war ihm doch noch Franz Werfel eingefallen und dass die Mutter ihm das Buch mit dem provozierenden Titel zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Am Tage seiner Volljährigkeit. Der Roman war gerade herausgekommen und wurde viel diskutiert. Fritz hatte sich auch an den Geburtstagstisch mit dem Napfkuchen erinnert und an die zwei neuen Oberhemden, beide weiß mit dünnen grauen Streifen und beide eine Nummer zu groß. Frau Feuereisen kaufte ihrem Sohn immer zu große Hemden, aber er mochte es ihr nicht sagen. Das Buch von Werfel hatte sie in dunkelbraunes Seidenpapier eingepackt.
»Das Papier«, sagte die Mutter, »kannst du weiter benutzen und das Buch damit einschlagen. Es wäre schade um den schönen Schutzumschlag, wenn du ihn nicht schützt. Das habe ich mir extra so ausgedacht.«
»Du denkst immer an alles, Mutter.«
»Das habe ich in der Ehe mit deinem Vater gelernt. Entweder wir beherrschen das Leben, oder das Leben beherrscht uns.«
Vom Gericht – am Hessendenkmal vorbei und die Friedberger Landstraße bis zu dem rasenbewachsenen freien Platz – war Doktor Friedrich Feuereisen, den seine Scham blind, taub und stumm machte, langsam nach Hause gelaufen. Nein, geschlichen war er wie ein Greis, der das Ziel noch mehr fürchtet als den mühseligen Weg dorthin. Auf einer Bank am Spielplatz in der Günthersburgallee, unmittelbar vor dem Haus, in dem seine zweijährige Tochter und seine hochschwangere Frau auf ihn warteten, hatte Friedrich Feuereisen die Schmähschrift zu verbrennen versucht. Er wollte die Erniedrigung auslöschen, als wäre sie nie gewesen, das Gemeine ungeschehen machen. Flammen sollten ihn erlösen und wieder zu einem Mann wie andere machen. Vor allem wollte er die Demütigung, die ihn brandmarkte, vor jenen verbergen, die ihn für stark und klug und für ihren Beschützer hielten. Er, der Nichtraucher, hatte sich eigens an einem Wasserhäuschen Streichhölzer kaufen müssen. Die ganze Packung war aufgebraucht, ehe das verbrannt war, was sein Urvertrauen in das Land seiner Geburt für immer vernichtet hatte. »Fröhliche Weihnachten«, hatte ihm der Mann von der Bude nachgerufen, »lassen Sie sich etwas Schönes schenken.«
»Hab schon mein erstes Geschenk«, hatte er zurückgerufen, und beide Männer hatten gelacht.
Die Wahlen zum Reichstag fanden einen Tag vor der Beschneidung des kleinen Salo statt. »Noch nicht einmal die Hälfte der Frankfurter hat die Nazis gewählt«, zog Johann Isidor am nächsten Morgen Bilanz. Er rieb seine Hände aneinander, wie er es als junger Mann nach einem guten Geschäft getan hatte.
»Wenn das nicht der berühmte Silberstreifen am sonst düsteren Horizont ist!«
»Du kannst auch sagen, jeder zweite Frankfurter hat die Nazis gewählt«, stellte Erwin klar. »Warte nur die Kommunalwahl nächste Woche ab. Da holen unsere Frankfurter auf. Da bleibt der Horizont düster, und die ganze Stadt ersäuft in einem Meer von Hakenkreuzfahnen.«
»Das würde unser OB nie zulassen. Für Ludwig Landmann bin ich bereit, Haus und Hof zu verwetten. Und meinen guten Ruf obendrein. Der weiß, dass er sich als Jude nicht von den Nazis vereinnahmen lassen kann. Mir soll die Hand abfallen, wenn Landmann je die seine zum deutschen Gruß erhebt.«
»Hört endlich auf mit eurem Geschwätz«, schimpfte Betsy. »Schämt ihr euch denn gar nicht? Es ist die erste Bris in unserer Familie seit dreiunddreißig Jahren. Der Mohel steht schon vor der Tür, und ihr beide quasselt nur von Politik. Was schert uns ein dahergelaufener Prolet aus Österreich, über den die ganze Welt lacht? Jeder halbwegs vernünftige Mensch in diesem Land spürt doch, dass sich dieser Kerl und seine ganze kommunistenfressende Bagage nicht halten werden. Bis zum Herbst packt der seine Koffer. An so einen miesen Parvenü glaubt doch nur der Abschaum. Leute wie Frau Winkelried.«
»Und unsere Mieter im Parterre. Oder hast du noch nicht bemerkt, was bei denen zum Wohnzimmerfenster heraushängt? Eine Kirchenfahne ist das nicht, obwohl sie immer noch jeden Sonntag in die Kirche marschieren.«
Am Tag der Beschneidung, um zwei Uhr in der Früh und im Schutz der Dunkelheit, vertraute sich Rechtsanwalt Doktor Feuereisen seinem acht Tage alten Sohn an. Salomon trennten zu diesem Zeitpunkt nur noch neun Stunden von seiner Aufnahme in den Bund Abrahams. Weil er jedoch nichts wusste von der Last, die er fortan würde tragen müssen, war er gelassen und zuversichtlich. Bereitwillig lieh er dem sein Ohr, dem es nach befreiender Rede drängte. Obwohl der Knabe nie seines Vaters Klage würde verstehen können, ballte er beim Aufwachen seine winzige Rechte zur Faust. In seiner Erregung hatte der Vater zu laut auf das schlafende Kind eingeredet.
Noch vor dem Frühstück erkannte Friedrich Feuereisen, dass an ihm, der nie an Wunder hatte glauben wollen, ein solches geschehen war. Das erste Gespräch mit seinem Sohn machte es ihm trotz seiner Angst und Bestürzung möglich, so weiterzuleben, als sei er ein ganz gewöhnlicher deutscher Vater. Obwohl sein Irrtum sehr bald für alle Zeiten evident werden sollte, verließ ihn nie mehr die Vorstellung, dass Gott einem Mann Söhne schenkt, damit sie die Bürde tragen, für die die Väter zu schwach sind. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie erleben musst, was ich erlebt habe«, versprach Friedrich Feuereisen seinem Sohn. Er sagte das, obgleich gerade er als Jurist sich über das Wesen eines Versprechens im Klaren hätte sein müssen.
Friedrich Feuereisen, der eifrige Klassenprimus, der Mann mit den glänzenden Staatsexamina, der Rechtsanwalt von Fortüne war tatsächlich ein Jurist, wie sich ihn der Laie vorstellt. Für ihn galten nur das Gesetz, das Beweisbare, die Logik. Er interpretierte nicht das Sein, suchte nicht nach dem Geheimnis des Lebens. Auch die Psychologie lag ihm fern. Sigmund Freud, der Wiener Meister, erreichte ihn nicht. »Die Seele kann man ja weder sehen noch berühren«, pflegte er zu sagen. Er hatte sich nie mit der Eigenschaft beschäftigt, das Furchtbare zu verdrängen und dann weiterzuleben, als wären die Wunden verheilt, ohne Narben zu hinterlassen. Und doch gelang es dem Juristen Friedrich Feuereisen, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Ohne Bedenken reihte er sich in das große Heer der Illusionisten ein, die sich und anderen suggerierten, in Deutschland würden nur vorübergehend und für einen absehbaren Zeitraum Kübel von Häme und Hass über die Juden geschleudert werden. Deutschland, so glaubten die Juden, die nicht imstande waren, sich ihre Liebe zu Deutschland aus dem Herzen zu reißen, würde ihnen sehr bald wieder ihre Vaterlandstreue danken und sich ihrer Verdienste erinnern.
Es wurde, wie es Johann Isidor Sternberg, der kluge Großvater des Kindes, vorgeschlagen hatte, eine bescheidene Feier. Kein empfindsamer Nachbar, kein neudeutscher Rassengott sollte behaupten können, die Juden würden sich zu forsch benehmen. Missgestimmt war allein Fanny, Salos Schwester, die am Tag seiner Beschneidung ihren zweiten Geburtstag mit Geschenken und Kerzen im bemalten Holzkranz hätte feiern müssen. War sie sich dessen auch nicht bewusst, so machte ihr doch seit der Geburt ihres Bruders Geschwisterneid zu schaffen. »Du trägst doch nicht etwa schon das Kainsmal auf deiner Stirn?«, fragte sie der bibelkundige Vater vor der versammelten Gästeschar. Das putzige Fräuleinchen mit der rosa Seidenschleife im Haar hatte dem schlafenden Brüderlein seine Spitzen besetzte Mütze vom Kopf gerissen und ihn einen »bösen Hund« geschimpft.
»Hast du eine Ahnung, was es heißt, im Schatten eines Bruders aufzuwachsen?«, belehrte Clara ihren Bruder.
»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Erwin und streichelte ihre Stirn, »war es dein Schatten, in dem ich stand. ›Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester. Ihr Schreibheft ist eine Augenweide!‹«
Der Mohel, der die Beschneidung vorzunehmen hatte, war ein schmächtiger, alter Mann mit einem langen grauen Bart und von gebeugter Gestalt. Der schwarze Kaftan reichte bis zum Boden, sein Hut war auffallend hoch, seine Hände auffallend klein, doch man sah ihnen die Behändigkeit an, die ein Mohel braucht, um es in seinem Beruf zu einem guten Ruf zu bringen. Schweigend packte er seine abgewetzte braune Ledertasche aus. Er legte zwei Messer auf dem Tisch und schaute sich um. Das tat er seit über vierzig Jahren. War das eine Messer nicht scharf genug, erklärte er, würde er dem Baby keine unnötigen Schmerzen zufügen müssen. Er hatte ja Ersatz.
Doktor Meyerbeer war die Ehre zugekommen, das Kind während der Zeremonie zu halten. Der treue Wegbegleiter saß auf einem mächtigen Lehnstuhl in der Mitte des Zimmers. Er wiegte Salo sanft in seinen Armen und lächelte, doch er war an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit. Der betagte Arzt dachte an ein kleines galizisches Dorf, dessen Namen ihm schon seit Jahren entfallen war. Seit Vater stammte von dort und hatte oft erzählt, dort wäre eine Bris auch ein Fest für die nichtjüdischen Nachbarn gewesen. »Zuckerlekach«, ein Kuchen mit Honig und nur mit Öl und nie mit Butter oder Schmalz gebacken, hatte bei den jüdischen Hochzeiten und Beschneidungsfesten in großen Körben herumgestanden. Alle Gratulanten, ob Erwachsene, die so viel Schnaps bekommen hätten, wie sie wollten, oder die Kinder, die noch dachten, alle Menschen wären gleich und gut, wären bewirtet worden. »Ach«, seufzte Doktor Meyerbeer. Salos winzige Nasenflügel bebten.
Sein eigener Großvater und auch sein forscher Onkel Erwin waren wachsbleich. Die anderen Männer wirkten, als wären sie zu Salzsäulen erstarrt. Salos Vater kniff die Augen so fest zu, dass sie schmerzten. Er verpasste den Moment, als seinem Sohn ein Tropfen von dem gesegneten Wein auf die Lippen getröpfelt wurde, und er flehte Gott an, sich seiner zu erbarmen und ihn künftig nur noch mit Töchtern zu segnen. Wenn der Allmächtige seinen Sohn vom Schmerz verschonte, versprach der Vater, würde er jeden Sabbat in die Synagoge gehen. Nie mehr würde er die Spende für die Armen zu knapp bemessen, sollte er zur Thora aufgerufen werden.
Im Turmzimmer schluchzte die junge Mutter, dass es einem jeden, der sie weinen hörte, das Herz zerriss. Victoria war noch von der Geburt geschwächt; sie hatte noch nie eine Beschneidung erlebt und zu viel Phantasie. Ihre Schwiegermutter, die ein gutes, zum Mitleiden fähiges Gedächtnis für die Angstqualen einer jungen Mutter bei einer Bris hatte, hatte sie rechtzeitig vom Schauplatz des Geschehens weggeführt.
Die praktische Frau Meyerbeer schloss das Fenster. »Damit das Weinen im Hause bleibt«, sagte sie und schüttelte ihre frisch gelegten Wasserwellen. »Ich kenne kein Kind, das seine Bris nicht überlebt hat.«
Ihr Ton, fand Victoria, gehörte sich nicht. »Sie haben gut reden«, hielt sie Frau Meyerbeer vor, »Sie haben ja nur eine Tochter geboren und das hier nie durchgemacht.«
»Aber deine Mutter hat«, erinnerte sie Frau Betsy, »zweimal, wie du dir denken kannst. Otto war überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Mir war das zum Schluss richtig peinlich.«
Der kleine Salo wachte selbst in dem Augenblick nicht auf, da der Mohel seinen diffizilen Auftrag erfüllte. In die Männer kehrte das Leben zurück. Salos Vater rieb die Stirn trocken, sein Großvater nickte Doktor Meyerbeer zu. Die Mutter kam zu ihrem Sohn. Erleichtert streichelte sie seine Wange; sie nahm sich vor, den Sohn nie der Tochter vorzuziehen. Mit ihrer Linken beruhigte sie die eifersüchtige Fanny, die sich in Mutters moosgrünem Seidenrock verkrochen hatte.
Wie als niedliche kleine Vicky im Baden-Badener Sommerparadies, hatte Frau Victoria nach dem Weinen große, glänzende Augen. »Kohleaugen hat das Kind«, hatte Tante Jettchen am Mittagstisch im Hotel Zum Hirschen gesagt, »Kohleaugen bringen es weit im Leben.« Alle Anwesenden, besonders die männlichen, waren sich einig, dass Doktor Feuereisen eine außergewöhnlich schöne Frau hatte und dass der Mohel außerordentlich geschickt gewesen war. Sowohl Johann Isidor als auch sein Schwiegersohn sagten es ihm. Doktor Meyerbeer nickte Zustimmung.
Auch der Mohel hatte schöne Augen. Lob ließ sie erstrahlen wie die Sterne am Augusthimmel. Die drei Gläser Wodka, mit denen er große Brocken von Hering und die feinen Schnittchen mit gehackter Hühnerleber hinunterspülte, lösten seine Zunge. Er segnete, obgleich er seine Pflicht ja bereits getan hatte, den Säugling. Danach schaute er Claudette im tief ausgeschnittenen Kleid mit Blicken an, die wissen ließen, dass unter seinem Kaftan ein Mann mit jungen Sinnen steckte. Für die wohltuenden Lobesworte revanchierte er sich mit einem Berufswitz. »Kommt einer«, erzählte er mit tiefer Stimme, »an einem Laden mit einer großen Pendeluhr im Schaufenster vorbei. Er geht rein und fragt den Mann im Laden, wie lange wird es dauern, bis Sie meine Armbanduhr werden reparieren können. ›Ich bin kein Uhrmacher‹, sagt der Mann, ›ich bin Mohel.‹ ›Aber, Sie haben doch eine Uhr im Fenster.‹ ›Nu, was würden Sie an meiner Stelle ins Schaufenster hängen?‹«
Am lautesten lachte Salos Großvater, obgleich er, wie alle anderen Männer im Raum, den Witz seit früher Jugend kannte. So endete der erste Teil der Beschneidung von Salomon Raphael Feuereisen mit dem Gelächter der Gutmütigen und der Höflichkeit der Gebildeten. Die Heiterkeit hielten die Optimisten für ein Zeichen vom Himmel, dass Gott es gut mit dem Kind, seiner Familie und seinen Gästen meinte. Johann Isidor bemaß den Lohn für den Mohel reichlicher als abgemacht. »Der Allmächtige wird es Euch danken«, prophezeite der fromme Mann.
Zum Abschied hielt ihn die kleine Fanny an einem Hosenbein fest und sagte mit ihrer unwiderstehlichen Bettelstimme »mich auch«. Diesmal lachten die Männer nicht aus Höflichkeit. Sie wieherten laut, und ihnen kamen die Tränen. Victoria schaute ihren Mann streng an. Sie fand, die Bris ihres Sohnes war wahrhaftig nicht die Gelegenheit für den Vater, um sich an rohen Scherzen zu erfreuen.
In der Küche rieb Josepha die Weingläser blank. »Eine schöne Taufe«, befand sie.
»Jetzt sind Sie dreiunddreißig Jahre bei uns«, wunderte sich Frau Betsy, »haben meine fünf Kinder, Claudette und Fanny erlebt und wissen immer noch nicht, dass wir unsere Kinder nicht taufen lassen.«
»Das ist doch egal. Hauptsache, Gott ist zufrieden, sag ich immer.«
Josepha hatte darauf bestanden, nicht als Gast zu der Bris geladen zu werden. Sie fühlte sich auch für Victorias Haushalt verantwortlich und wollte das ungeschickte, übellaunige Dienstmädchen Gustel beim Auftragen des Mittagessens beaufsichtigen. Die Meisterköchin ging ins Esszimmer. Sie zupfte das weiße Damasttischtuch gerade – es war noch von Frau Winkelried gemangelt worden; eine sengende Wut stieg in Josepha hoch. Als sei der Schmähbrief der Putzfrau eben erst eingetroffen. Aus der Schublade vom Büfett holte sie das Fischbesteck, rieb es an ihrer frisch gestärkten Schürze blank und fluchte, was Gustel galt: »Drecksluder«. Im Turmzimmer, im Salon und in der Küche machte sie die Fenster wieder auf. Vom Parterre stieg Musik hoch. Die Mieter dort hatten ihr Grammofon auf volle Lautstärke gedreht. Schon wussten sie, dass Rechtsanwalt Feuereisen keinen Protest mehr wagen würde. Noch hatten sie nicht erfahren, dass ein Teil der Künstler von den beliebten Comedian Harmonists jüdisch und somit nicht mehr genehm war. Sie ließen wissen »Ich hab das Fräulein Helen baden sehen«. Anschließend sang Hans Albers, dessen Lebensgefährtin Hansi Burg jüdisch war, was den Nazis ebenfalls nicht passte, »Gnädige Frau, komm und spiel mit mir«. Dolly Haas versprach »Es wird schon wieder besser«, und Paul Hörbiger befand »Das muss ein Stück vom Himmel sein«.
Alice, die seit einigen Tagen zur Beunruhigung ihrer Mutter ungewöhnlich still und oft abwesend war, stand am Fenster.
Die grazile Achtzehnjährige mit der Wespentaille, die ihr beide Schwestern und selbst die immer zufriedene Anna neideten, hatte ein cremefarbenes Kleid mit einer breiten grünen Schärpe an. Sie trug ihre langen Haare offen und sah von hinten in ihren schwarzen Spangenschuhen und hellen Strümpfen wie die Abbildungen von »Alice im Wunderland« in anspruchsvollen Kinderbüchern aus. Was keiner sehen konnte: Alice biss sich auf die Lippen und hatte Tränen in den Augen, denn sie dachte an Fräulein Doktor Winfried Kranichstein und fühlte sich vom Leben betrogen.
Die seit der Quarta von ihr vergötterte Deutschlehrerin, von der schon seit Jahren gemunkelt wurde, ihre Gesinnung wäre so rot wie ihre Haare, war seit zwei Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen. »Und sie wird sich hier auch nicht mehr blicken lassen«, hatte Herr Thorn, der Geschichtslehrer, seine Schülerinnen wissen lassen. Der Kurzbeinige in Reitstiefeln und mit dem Parteiabzeichen am Revers hatte den Deutschunterricht in der Oberprima übernommen. Als Erstes hatte er einen Aufsatz zum Thema »Das arische und das völkische Element in Heinrich von Kleists Gesamtwerk« schreiben lassen. Alice’ Arbeit hatte Herr Thorn, von dem das Gerücht im Umlauf war, er würde bald Direktor werden, nicht zensiert, das Heft lediglich mit der Bemerkung »So wirst du das Abitur kaum schaffen« versehen.
Alice steppte trotz ihrer trüben Gedanken den Rhythmus der Schlager mit. Sie hatte ihre Füße nie ruhig halten können, wenn ihre Ohren Freude fanden, und nun lehnte sie sich so weit zum Fenster hinaus, dass Erwin zu ihr ging. Er zupfte seine jüngste Schwester leicht an den Haaren, riss sie aber mit festem Griff an den Schultern zurück. Alice merkte nichts, sie streckte ihren Kopf wieder vor und stellte sich auf die Zehenspitzen, doch mit einem Mal spannte sich ihr Rücken. Ihre Hände verkrampften sich. Sie drehte sich um, sah aber ihren Bruder nicht. Der Tüllstore, der sich im Wind bauschte, verdeckte ihn.
»Komm mal schnell her, Erwin«, rief Alice. Ihre Stimme war schrill.
»Ich bin doch schon da. Oder glaubst du, das war eben dein Schutzengel, der dich davor bewahrt hat, aus dem Fenster zu stürzen?«
Vom Friedberger Platz aus, deutlich zu sehen, weil die Bäume kahl waren, zogen einige junge Burschen die Günthersburgallee entlang. Sie trugen SA-Uniform und marschierten donnerlaut singend hinter einer Hakenkreuzfahne, die ihr baumlanger Anführer schwenkte. Erst hörten die Geschwister bekannte Marschlieder. Bald grölten die braunen Marschierer ein Lied, das den meisten Menschen noch neu war, doch Erwin kannte bereits den Text. »Mach das Fenster zu«, sagte er schroff. »Sofort. Das ist nichts für eine Bris. Was soll denn Salo von seinen Landsleuten denken, wenn er so was hört?«
»Sie haben Judenblut gesungen«, flüsterte Alice, »ich hab’s genau gehört.«
»Wir werden lernen müssen, nicht mehr so genau hinzuhören, Alice. Wir können nur warten, bis der ganze Spuk vorbei ist.«
»Aber es war so gemein. Ich hab’ Angst.«
»Ich auch«, sagte ihr Bruder. Er hatte sich, zum Kummer seiner Mutter, nie dazu bringen können, seine jüngeren Geschwister anzuschwindeln. Weder aus Klugheit noch aus Barmherzigkeit.
Alice nippte, wie ihre Mutter am Abend tadelnd bemerkte, nur am Essen, »obwohl Josepha und ich uns doch so viel Mühe gegeben haben«. Das Dessert, frische Orangen in Grand Marnier, rührte sie überhaupt nicht an. Nach dem Mokka führte Erwin sie – ohne um Erlaubnis zu fragen – ins Schlafzimmer der Feuereisens. Er drückte sie kurz an sich. »Was ist los, Kleine?«, fragte er. Ganz wie früher, wenn der verwöhnte Nachkömmling eine Dummheit begangen und Angst vor Strafe hatte und eine Männerschulter und ein großes Taschentuch brauchte. So erzählte Alice mit den Kinderaugen und dem Schmollmund ausgerechnet an der Bris ihres Neffen ihrem Bruder von Fräulein Kranichstein. Der neue Deutschlehrer hatte sie als »destruktiv« und »undeutsch« bezeichnet. Und schließlich erfuhr Erwin auch von dem nicht zensierten Aufsatz und von der drohenden Prophezeiung des Herrn Thorn.
»Wissen das unsere Eltern? Wenigstens Vater.«
»Natürlich nicht. Damit kann ich ihm doch nicht kommen. Ein alter Mann von dreiundsiebzig hat doch keinen Durchblick mehr.«
»Merke dir, Alice, Johann Isidor Sternberg steckt heute noch jeden Jüngeren in die Tasche. Seine Kinder eingeschlossen. Ich wollte, jeder würde die Zeit so gut durchschauen wie er. Seit 1914 hat sich Vater keinen Anfall von Blindheit mehr geleistet. Und du solltest ihm ganz schnell erzählen, was auf ihn zukommt. Er hat keine Illusionen mehr. Er tut nur so. Ich glaube nämlich auch, dass man dafür sorgen wird, dass die jüdische Schülerin Alice Sternberg, die sich von dem undeutschen Fräulein Kranichstein zu destruktivem Denken hat verführen lassen, das Abitur nicht schafft. Willst du den Eltern zumuten, dass sie das auf dem Postweg erfahren?«
»Aber ich schäm mich so.«
»Wofür? Schämen müssen sich die anderen.«
Eine Woche später fanden in Frankfurt die Kommunalwahlen statt. Den Bürgern, die ein Leben lang stolz auf ihre Liberalität gewesen waren, war seit der Reichstagswahl im Sinne des Regimes ein Licht aufgegangen. Das entscheidende! Den Nationalsozialisten fehlte zu ihrer absoluten Mehrheit im Frankfurter Stadtparlament eine einzige Stimme. Der beliebte Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann, für den der Frankfurter Bürger Johann Isidor Sternberg bereit gewesen war, seine Hand ins Feuer zu legen, dass er sich der Nazis erwehren würde, besuchte an diesem Wochenende seine Verwandten in Holland. Er kehrte nicht zurück. Man hatte ihn gewarnt, dass SA-Rollkommandos nach ihm suchten. Am nächsten Tag war das Rathaus besetzt. Der Jude Landmann wurde für abgesetzt erklärt, die kommunistischen und die sozialdemokratischen Abgeordneten wurden »beurlaubt«, der sozialdemokratische Bürgermeister Karl Schlosser verhaftet und der Nationalsozialist Friedrich Krebs als Oberbürgermeister eingesetzt. Als Beweis für die Wertschätzung seiner Person wurde er zu seinem vierzigsten Geburtstag im April in seinem Amtszimmer in einem Meer von Blumen fotografiert. Im Römer und davor wurde der deutsche Gruß geübt.
»Rechter Arm nach oben und Heil Hitler statt Guten Morgen«, erklärte Erwin, »du musst üben, Josepha. Frau Winkelried hat’s ja auch gelernt.«
»Von einem, den ich vor dreiunddreißig Jahren in den Armen gehalten hab’, lass ich mich nicht auf den Arm nehmen«, sagte Josepha und bedrohte den, dem sie ein Kinderleben lang die besten Brocken zugesteckt hatte, mit dem Tranchiermesser.
Auf dem Standesamt erhielten die Brautpaare Hitlers Buch »Mein Kampf«, die Front des Hauptbahnhofs verschwand hinter Hakenkreuzfahnen. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Ludwig Steinberg wurde abgesetzt. Ersetzt wurde er durch General a. D. Reinhard von Westrem, ein Meister der Hetze. Der klagte, dass »die alte Kaiserstadt, die Stadt Goethes, von Juden verseucht« sei, versprach, »Frankfurt wird deutsch werden«, und machte klar: »Ihr Juden braucht nicht zu zittern, wir bleiben legal, so legal, dass euch von so viel Legalität noch unbehaglich wird.« Viele, die es in Frankfurt zu Ansehen und Ruhm gebracht hatten, verschwanden aus der Stadt. Die schnell Entschlossenen und die mit Weitblick in der Emigration, die Wehrlosen in Schutzhaft. Am 31. März verschickte der Frankfurter Magistrats-Personaldezernent einen Brief ohne Anrede an den berühmten Maler Max Beckmann, Lehrer an der Kunstgewerbeschule des Frankfurter Städel. Ihm wurde zum 15. April gekündigt.
Erwin Sternberg, der nicht berühmt und auch nicht bekannt war, der aber nach Jahren der Hoffnungslosigkeit der Städelschule verdankte, dass er eine künstlerische Heimat gefunden hatte, wurde nicht per Brief gekündigt. An der Tür des Arbeitsraums, den er vier Jahre lang mit zwei Kollegen geteilt hatte, klebte ein riesiges Schild mit der Aufschrift »Juden unerwünscht!«. Auf dem Ausrufezeichen saß ein grinsender Teufel. Obwohl er unter Schock stand, erkannte Erwin in der Teufelsfratze die Handschrift eines Lehrers, dem er regelmäßig Geld geliehen hatte. Die Rückzahlung der letzten zwanzig Mark stand noch aus. Während er seine Sachen packte, ließen sich die beiden Kollegen, mit denen er räumlich so eng verbunden gewesen war, nicht sehen.
Es regnete in Strömen, als Erwin den Heimweg antrat. Trotzdem lief er langsam den Main entlang. Wie ein Kind, das sich wegen einer verhauenen Arbeit nicht nach Hause traut. Den Main überquerte der Mann ohne Ehre und Zukunft auf dem Eisernen Steg – die von Max Beckmann gemalte Fußgängerbrücke. Der Gedanke, dass Beckmann und er nun Schicksalsgenossen waren, ließ Erwin nicht los.
Im Gegensatz zu dem, was er seiner kleinen Schwester geraten hatte, erzählte er zu Hause nichts von seinem Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft. Es dauerte aber keine fünf Tage, da wusste man in der Rothschildallee 9 Bescheid. Josepha fiel auf, dass es keine Farbflecke mehr gab, die aus Erwins Hemden entfernt werden mussten. Frau Betsy merkte, dass ihr Sohn morgens später als sonst aus dem Haus ging und dass er früher heimkehrte. Sein Schwager Fritz traf ihn eines Morgens im Café Bauer. Er drückte Erwin schweigend die Hand und flüsterte: »Seit wann?« An einem der letzten Märztage – der Frühling machte die Menschen leichten Sinnes – klopfte der Vater dem lange verkannten Sohn auf den Rücken. »Lass dir bloß nicht den Schneid abkaufen«, sagte er, »es kommen auch wieder bessere Zeiten.«
Clara konnte ihrem Drang nicht nachgeben, sich dem Bruder intensiv zu widmen. Ihre Tochter war verzweifelt. Die Mutter von Claudettes Schulfreundin Elene hatte der Fünfzehnjährigen per Brief mitgeteilt, dass die Einladung für die Pfingstreise nach Paris »nicht mehr besteht«. Ferner, so schrieb Freifrau Franziska Elisabeth von Kossigk, »hat Elene zu unserer großen Freude das Bedürfnis, sich an eine Freundin der eigenen Konfession zu binden. Danach solltest Du Dich, auch in Deinem eigenen Interesse, richten.«
Claudette saß zitternd auf der Couch, den zerknüllten Brief aus dem Hause derer von Kossigk in der Hand. Nach dem zweiten Glas Kamillentee gestand sie ihrer Mutter, dass nicht nur ihre Freundin sie »hat fallen lassen wie eine heiße Kartoffel«. Der Tanzstundenherr, der wohlerzogene Jüngling aus reichem Hause, um den sämtliche Mitschülerinnen Claudette beneideten, hatte ihr eine Woche zuvor mitgeteilt, er könne es sich nicht mehr leisten, mit einer »Jüdin gesehen zu werden«.
Während seine Enkelin drei Stockwerke über ihm Trost suchte und immer wieder »Warum?« fragte und ihr Gesicht tränennass war, las der Großvater einen Artikel von Doktor Eugen Meyer, Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurt. Der riet den Mitgliedern seiner Gemeinde: »Verzagt nicht! Wenn keine Stimme sich für uns erhebt«, schrieb er, »so mögen die Steine dieser Stadt für uns zeugen, die ihren Aufschwung zu einem guten Teil jüdischer Leistung verdankt.«
Obwohl es Johann Isidor nach Hoffnung hungerte, widmete er dem ermutigenden Artikel nicht die verdiente Aufmerksamkeit: Er hatte Wort bekommen, dass für den 1. April ein Boykott von Geschäften anstand, deren Inhaber jüdisch waren. Johann Isidors Sorge galt selbstverständlich der Posamenterie in der Hasengasse, doch ebenso seinen Läden in der Berger Straße und im Nordend. Noch viel mehr aber sorgte er sich um seine Frau. Er grübelte lange, ob die Entwicklung wenigstens zum Zeitpunkt des Geschehens vor ihr geheim zu halten wäre. In der Küche überlegten Frau Betsy und Josepha das Gleiche für ihn.
Allerdings meinte Josepha: »Das klingt alles so bescheuert. Am Ende ist das Ganze ein Aprilscherz.«