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KAROLINGERALLEE 9
April bis Juni 1933
Seit Fannys Geburt vor zwei Jahren hatten Erwin, Clara und Claudette, Victoria, Anna und Alice nicht mehr zusammen an dem wuchtigen Tisch im elterlichen Esszimmer gesessen. Aus Rücksicht auf die Bedürfnisse der kleinen Kinder hatten sich Leben und Geselligkeit immer mehr in die Günthersburgallee zu den Feuereisens verlagert. Jedoch am Mittwoch, dem 29. März, fasste Frau Betsy den Entschluss, wenigstens einen Abend lang die Uhr zurückzudrehen und die Gegenwart mit ihren Bedrohungen und Demütigungen, der Unsicherheit und der Angst auszuschließen. »Einmal wieder die sein, die ich war«, sagte sie zu ihrem Mann, worauf der seine Frau an sich zog und sehr fest drückte. Das tat er sonst nur an Silvester, Geburtstagen und Hochzeitstagen.
Am Donnerstag stand die Frau des Hauses auf, ehe der Wecker sechs Uhr anzeigte. Sie trank die üblichen zwei Tassen Kaffee und aß das gewohnte Brot mit Erdbeermarmelade, während alle außer Josepha noch schliefen. Ihrem Mann legte sie die Zeitungen auf den Schreibtisch, wobei sie darauf achtete, selbst keine der Überschriften zu lesen und nach Möglichkeit auch die Bilder zu übersehen. In den Zeitungen und Magazinen erschienen immer mehr Fotos von blonden Jungen mit erhobenem Arm und blonden Mädchen mit Zöpfen und im Dirndl. Die neue Welt der gehorsam lächelnden Jugend machte Betsy nervös. Für Anna, die seit Tagen erkältet war, schrieb sie auf ein Stück kariertes Papier: »Ich hoffe, es geht dir wieder besser. Vergiss nicht, dir zwei Zitronen auszupressen, nur ein wenig heißes Wasser zuzusetzen und mit viel Zucker zu trinken. Doktor Meyerbeer hat immer gesagt, Zitronen wirken Wunder.«
Ein wenig zögernd setzte sie den mokkabraunen Hut mit der weißen Schleierumrandung auf. Betsy hatte das Hütchen nur zweimal getragen; meistens fand sie es zu auffällig für eine Frau, die nun zum Kreis derer gehörte, die nicht mehr auffallen durften. Beherzter holte sie den hellen Kamelhaarmantel aus dem Schrank. Der war aus der Vorhitlerzeit, ein Pariser Modell, sportlich geschnitten und mit großen Perlmuttknöpfen. Sämtliche Töchter behaupteten, der Mantel wäre ein modisches Meisterwerk und wie für ihre Mutter geschaffen.
»Sie sehen aus wie ein junges Mädchen«, befand auch Josepha.
»Und Sie, meine Gute, lügen, dass sich die Balken biegen. Als ich ein junges Mädchen war, erzählte der Spiegel ganz andere Geschichten. Das können Sie mir glauben.«
Kurz nach acht saß Betsy in der Tram, die zur Hauptwache fuhr. Sie war selten so früh unterwegs. Bäume, Häuser, die ersten Frühlingsblumen in der Friedberger Anlage, selbst die Menschen auf der Straße und die Hausfrauen mit geknotetem Turban, die ihre Betten zum Lüften in die offenen Fenster legten, erweckten von der Tram aus den Eindruck, die Welt wäre soeben erst erschaffen worden. Betsy fiel ein, dass sie ihren Kindern im März immer erzählte hatte, im Frühjahr würden Gott und seine Engel mit weißen Eimern und Riesenbürsten losziehen, um die Baumstämme zu schrubben und die Wolken in goldenen Bottichen auszuwaschen. Otto und Clara hatten ihrer fabulierlustigen Mama kein Wort geglaubt und ungeniert die scheußlichsten Grimassen geschnitten, Erwin und später Victoria, Anna und Alice hatten sich nie satt hören können. Anna hatte zum Geburtstag ihres Vaters ein Bild von den wolkenwaschenden Engeln gemalt und auf der Strickliesel aus grüner Wolle einen Bilderrahmen geknüpft.
Energisch schluckte Betsy die Wehmut hinunter, doch ihr Lächeln konnte sie nicht zurückholen. Bis zur Haltestelle Alte Gasse grübelte sie, ob der junge Schaffner mit dem feschen Schnauzer sie beobachtet und ihr Lächeln erwidert hatte oder ob eine einundsechzigjährige Großmutter, wenn sie sich nicht fest an die Kandare nahm, wieder zum selbstverliebten Backfisch wurde und jeden Blick und jede Äußerung auf die eigene Person bezog.
»Auf Wiedersehen«, sagte Betsy beim Aussteigen.
Es war nicht zu übersehen, dass der Schaffner zusammenzuckte. Er starrte den Holzkasten mit dem Silbergeld und den Fahrscheinen an, der von seinem Hals herunterhing und auf dem Ansatz seines Bauches ruhte. Als hätte er Angst, seine rechte Hand, würde ihm abhandenkommen, bohrte er sie tief in die Hosentasche.
»Pardon«, sagte Betsy. Verblüfft schaute sie der abfahrenden Tram nach. Ihrer Lebtag hatte sie sich nicht von einem Straßenbahnschaffner verabschiedet; sie fand ihre Redseligkeit unpassend und albern, war jedoch nicht besonders beunruhigt. Viel mehr beschäftigte sie der Umstand, dass sie offenbar bereits so sehr an die Veränderungen gewöhnt war, die die Juden in Deutschland zu Menschen zweiter Klasse degradierten, dass ihr Herz nicht aufmuckte.
Um die Hauptwache herum, am Rossmarkt und in der Schillerstraße flatterten die Hakenkreuzfahnen an wesentlich mehr Gebäuden, als Betsy erwartet hatte. In einer Konditorei, über einer Schokoladentorte mit Marzipanrosen hing – wohl schon für seinen Geburtstag am 20. April – ein großes Hitlerbild in einem schokoladenbraunen Rahmen. In der Biebergasse kam Betsy eine Gruppe von Pimpfen in kurzen Uniformhosen und mit blau gefrorenen Beinen entgegen. Die Knaben marschierten hinter ihrem Rottenführer her, einem baumlangen Jüngling, mit breiten Schultern und einer unangenehm lauten Stimme, die fortwährend Befehle schrie, von denen Betsy keinen einzigen verstand. Die Jungen schmetterten die Marschlieder, die die Lieder aus der Zeit der Wandervögel ersetzt hatten. Die kleinen Kämpfer waren alle etwa elf Jahre alt. Betsy stellte sich vor, ihre Mütter würden darauf achten, dass sie ihre Schulranzen ordentlich packten und vor dem Schlafengehen beteten. Ihr fiel auf, wie hart und verbissen der Gesichtsausdruck von Deutschlands künftigen Soldaten war.
Trotzdem schlenderte Frau Betsy Sternberg, der ein jeder seit ihrer Jungmädchenzeit eine wache Intuition für das Leben und die Menschen attestiert hatte, so entspannt zur Freßgass, als wäre sie auf einer Expedition im Dschungel gewesen und hätte die Entwicklung der letzten drei Monate in ihrer Heimat nicht mitbekommen. In den teuren Geschäften der Freßgass, von denen sie sonst zu sagen pflegte: »Auch bei denen ist nicht alles Gold, was glänzt«, kaufte Betsy für den Sabbat ein – ein besonders fettes Suppenhuhn aus der Rhön, dazu Suppengrün mit einer Extraportion Sellerie und den ersten grünen Salat der Saison. So früh im Jahr stammte er noch aus dem Gewächshaus. Sonst ließ ihn die sparsame Hausfrau aus dem Nordend mit der Begründung liegen, sie wohne zwar in der Rothschildallee, »aber dem Rothschild sein Geld haben wir noch lange nicht«. An diesem außergewöhnlichen Donnerstag aber ließ sie den Salatkopf in das bereitliegende Zeitungspapier wickeln – ironischerweise war es das Naziblatt »Der Völkische Beobachter«, von dem selbst Josepha sagte: »Der kommt uns nicht ins Haus.«
Ohne sich vorher nach dem Preis zu erkundigen, erwarb Frau Betsy für ihre berühmten Fischklößchen in schaumig geschlagener Buttersoße einen kapitalen Hecht. Zum Schluss wanderte ein Kalbsbraten in ihr Einkaufsnetz. In Format und Farbe erinnerte der die Hausfrau auf geradezu provozierende Weise an die Zeiten von Zuversicht und Selbstbewusstsein. In Betsys Schläfen pochte die Unruhe der Schuldbewussten. War es nicht sie gewesen, die ihren Töchtern stets gepredigt hatte, nie die Grenzen zu überschreiten, die den Juden gesetzt sind?
»Die Hühnerleber ist heute besonders schön. Vielleicht für die Vorspeise«, schlug der Metzgermeister vor. Er war ein eindrucksvoller Mann mit forschendem Blick und einer glänzenden Glatze. Betsy hatte er selten persönlich bedient, jedoch geleitete er sie zur Tür, als wäre sie eine Stammkundin. »Einen Gruß an den Herrn Gemahl, Frau Sternberg«, sagte er.
Seine Stimme war überdeutlich. Betsy war es, als würde diese volle, satte Stimme die ganze Freßgass füllen. Ihr Gesicht wurde feuerrot, die Haut brannte bis zum Nacken. Sie versuchte wie eine zu nicken, die anzeigt, dass sie verstanden hat, aber gerade nicht reden mag, doch ihr Hals war steif, in den Schläfen pochte Panik. Beschämt wühlte sie in ihrer Handtasche; sie hatte nur in großen Zeitabständen bei dem Metzger gekauft. Ihr erster Gedanke war, der Mann hätte sie mit einer anderen Kundin verwechselt, eine mit der richtigen Konfession, die sich vor nichts und niemanden zu fürchten brauchte. Kaum aber war Betsy drei Schritte gegangen, vermochte sie wieder logisch zu denken. Der Metzger hatte sie bestimmt nicht mit einer anderen Kundin verwechselt. Er hatte ja ihren Namen gekannt. Und er hatte auch gewusst, dass gehackte Hühnerleber zu den Delikatessen auf einem jüdischen Tisch gehört. Einen schrecklichen Augenblick, den sie nie mehr vergessen sollte, glaubte Betsy Sternberg, die noch vor drei Monaten eine Frau von Reputation und eine Frankfurter Bürgerin wie jede andere gewesen war, sie würde in Tränen ausbrechen. Auf der feinen Freßgass würde sie sich wie ein Dienstmädchen mit Liebeskummer die Augen rot heulen!
»Danke«, flüsterte Betsy, und dann sagte sie tatsächlich wie am Morgen zum Schaffner: »Pardon.«
Ihr wurde übel und schwindlig. Ihre Beine schmerzten, die Füße brannten: Sie hatte das Bedürfnis, sich auf die erstbeste Bank zu setzen, die Augen zu schließen und nie mehr aufzustehen, und trotzdem drängte sie mit der Kraft, die ihr zu eigen war, ins Leben zurück. Mit Riesenschritten lief sie fort vom Ort des Geschehens und so forsch, als hätte ein barmherziger Menschenfreund ihr Scheuklappen aufgesetzt, als würde sie nirgends ein Hakenkreuz sehen, keine strammen Hitlerjungen und keine Zeitungen mit Überschriften, die ihr Herz stocken ließen. In drei Minuten erreichte Betsy die Zeil. Ihr Herz schlug wieder regelmäßig, sie war ruhig, und sie fühlte sich, als wäre sie durch einen langen Tunnel ans Licht gekrochen.
Sie sah das Kaufhaus Wronker und lief darauf zu. Zwar merkte sie, dass ungewöhnlich viele Menschen und ungewöhnlich viele SA-Leute vor dem Geschäft standen, doch sie deutete nichts von dem, das sie sah als unangenehm, sondern ging hinein. Einen Atemzug lang genoss Betsy den Luxus und das Licht und das Gefühl, sie sei heimgekehrt. Sie fand sofort die Hutabteilung, entdeckte die kecke grüne Kappe, von der Alice ihr erzählt hatte, und kaufte sie. Seitdem die von ihr seit Kindertagen angeschwärmte Deutschlehrerin Fräulein Kranichstein auf einen Schlag um Beruf, Prestige, Einkommen und Zukunft gebracht worden war, war Alice niedergeschlagen und in sich gekehrt. Betsy musste ihre jüngste Tochter, zuvor die fröhlichste von allen, täglich aufs Neue überreden, morgens aufzustehen und zur Schule zu gehen. »Und was soll da ein grünes Mützchen helfen?«, hörte Betsy ihren Mann spotten.
Sie beschloss, das Frühlingswetter zu genießen und nach Hause zu laufen. Als junge Frau war sie die Strecke oft gegangen, doch nun erschien ihr der Weg viel länger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Auch steiler. Es war am Baumweg, als Betsy bewusst wurde, dass der freundliche Metzger keine Ausnahme gewesen war. In sämtlichen Geschäften in der Freßgass hatte man sie so zuvorkommend behandelt wie vor der Nazizeit. Freude und Erleichterung beschleunigten ihren Schritt, doch die belebende Hochstimmung hielt noch nicht einmal bis zum Merianplatz an. Als sie ihre Haustür aufschloss, ärgerte sich Betsy, dass sie ganz alltägliche Höflichkeit als eine besondere Gunst des Schicksals empfunden hatte.
Trotzdem erzählte sie beim Mittagessen ihrem Mann von ihren Erlebnissen und Empfindungen beim Einkauf. »Der nette Metzger mit dem guten Kalbsbraten lässt meinen Gemahl grüßen«, sagte sie.
Obwohl gerade Johann Isidor derjenige war, der ständig zur Geduld riet und immerzu seine Familie ermahnte, den Kopf nicht zu verlieren und nichts zu verallgemeinern, beschäftigte er sich weiter mit seiner Serviette. Er hatte sie in den Kragen gesteckt, nun zerrte er so aufgebracht an dem Leinentuch, als müsse er sich von einer Halsfessel befreien. Ohne seine Frau anzuschauen, erklärte er: »Täusch dich mal nicht, meine Gute. Solange es nicht ausdrücklich von ihrem Rudelführer verboten wird, sind sie durchaus weiter bereit, unser Geld zu nehmen und uns gnädig einen toten Fisch oder ein krepiertes Huhn vor die Füße zu werfen.«
»Du darfst nicht vor der Zeit bitter werden«, warnte Betsy.
»Hinterher wird es sich kaum noch lohnen«, erwiderte Johann Isidor.
Obwohl seine Frau genau wusste, weshalb ihr Mann so pessimistisch war und dieses Wissen sie vom Aufwachen bis zum Einschlafen bedrohte, blieb sie gerade deshalb bei ihrem ursprünglichen Plan. Sie hatte in Krisen und im Kampf immer auf den gewohnten Ablauf des Lebens gesetzt. »Wir werden morgen um halb acht mit dem Essen beginnen«, erklärte sie den Ihrigen. Keiner gab der Versuchung nach, zu sagen, was ihn bewegte. Eine Stunde vor Sonnenuntergang waren Clara, Erwin und Alice, Claudette und Anna sowie Victoria und Doktor Fritz Feuereisen mit ihren zwei Kindern zur Stelle, um den Sabbat willkommen zu heißen. Aus der Küche duftete es nach Hühnerbrühe, in der Speisekammer standen die selbst gemachten Nudeln und die große Kompottschüssel mit den Pfirsichen, die Josepha im Sommer eingemacht hatte, daneben der Glaskrug mit Vanillesoße.
Frau Wilhelmine aus dem Westend, Fritzens Mutter, war telefonisch eingeladen worden. Betsy hatte es gefreut, dass ihr Gast ohne das beleidigende Zögern zugesagt hatte, das den Leuten vom Westend nachgesagt wurde. Um deutlich zu machen, dass sie sich nicht als Gast fühlte, sondern als Teil der Familie, klingelte die vitale Witwe schon nachmittags um fünf an der Wohnungstür. In einem kleinen Korb saß ein betagter Plüschhund für ihre Enkeltochter. Als Fannys Vater noch der kleine Fritz gewesen war, hatte er dem gerupften Tier das rechte Ohr abgerissen. Ihrer Gastgeberin überreichte Frau Feuereisen einen üppigen Strauß gelber Rosen. Auch den Blumen war anzusehen, dass sie aus zweiter Hand stammten.
Die welkenden Rosen erinnerten die lächelnde Beschenkte an die herrlichen Geschichten, die Fritz, wenn in guter Laune, von der Sparsamkeit seiner Mutter erzählte. Ebenso wenig wie Betsy ließ sich die Witwe Feuereisen anmerken, dass der 31. März 1933 für die jüdischen Bürger in Frankfurt ein Tag von bedrückter Spannung war. Das Unvermögen zu begreifen, was bevorstand, lähmte Mutige und die ohne Hoffnung, die Starken und die Schwachen.
Der weiß eingedeckte Tisch im Esszimmer war mit winzigen rosa Glasvasen geschmückt. Sie waren ein seinerzeit viel belachtes Hochzeitsgeschenk von Großtante Jettchen, alten Posthörnern nachgebildet und mühsam zu reinigen. Victoria vermochte sie nie anzuschauen, ohne dass die Sehnsucht nach ihrer Kindheit und dem geliebten Tantchen sie noch verletzlicher machte, als sie war. In jedem kleinen Glashorn steckte entweder ein frühes Veilchen oder ein verspätetes Schneeglöckchen. »Und es muss doch Frühling werden«, flüsterte Erwin in Claras Ohr.
»Halt den Mund!«, raunte Clara. »Lass wenigstens die Kinder und die, die es sein wollen, in dem Glauben, dass Gott mit den Juden ist.«
Fanny streckte ihre begehrliche Rechte nach einer Vase aus. Ihre väterliche Großmutter hielt die Kinderhand fest, ehe sie das erste Veilchen erreichte. »Darf das ein artiges Mädchen?«, fragte sie streng.
»Ja«, trompetete Fanny. Sie machte sich frei vom großmütterlichen Zugriff, klatschte in die Hände und schaukelte ihren Kopf von einer Seite zur anderen.
Es war das erste Mal, dass die zweijährige Prinzessin mit den Erwachsenen am Esstisch speisen durfte. Ihre Mutter hatte ihr das bordeauxrote Samtkleid mit der breiten weißen Seidenschärpe angezogen; der stolze Tochtervater hatte es im vergangenen Jahr auf einer Geschäftsreise in Paris gekauft. Das teure Prachtgewand – mit passenden Schuhen und farblich passender Unterwäsche – war für die aufwendigen Kinderfestlichkeiten gedacht gewesen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit im großen Freundeskreis veranstaltet wurden und die Frau Betsy der Pädagogik wegen bei ihren eigenen Kindern stets sehr sparsam dosiert hatte. »Sie müssen nicht auf jeder Hochzeit tanzen«, hatte sie postuliert, »sie sollen von Anfang an lernen, sich mit wenig zu begnügen.« Ihr Mann hatte ihr recht gegeben, ihre frühreifen, bürgerschreckenden Zwillinge hatten im Alter von neun Jahren die Frau Mama allerdings eine »spießige Spielverderberin« genannt.
Nun gab es keine Feste mehr mit Kindern in Galakleidern, Luftschlangen hingen nicht mehr von strahlenden Lüstern herab. Die mit Kirschen und Herzen verzierten Kerzen in bunt bemalten Holzringen waren vom Geschenktisch verschwunden und mit ihnen die Puppen mit echtem Haar und großer Garderobe, die blauen Tretroller und die teuren Dampfmaschinen. Die Kleinen spielten nicht mehr Topfschlagen und Blindekuh und schon gar nicht »Die Reise nach Jerusalem«. Bei vielen jüdischen Familien war das Zauberwort Kindergeburtstag aus dem Repertoire des Alltags mit der Formulierung »bis auf Weiteres« oder »wenigstens zunächst« gestrichen worden. Doch noch waren die Optimisten überzeugt, im Land der Dichter und Denker könne ihnen nichts wirklich Böses geschehen.
In dem Bogen zwischen Esszimmer und Salon nuckelte Fannys Bruder Salo am Daumen. Der Knabe, noch keine zwei Monate alt, war in das mit cremefarbener Seide ausgeschlagene Körbchen gebettet, in dem vor langer und in guter Zeit auch seine Onkel und Tanten ihre erste Begegnung mit dem Judentum gründlich verschlafen hatten. Die Frau des Hauses rückte die alten Silberleuchter zurecht. Sie sprach das Gebet zum Zünden der Sabbatkerzen so fließend und andächtig, als stamme sie aus orthodoxem Haus und hätte in den achtunddreißig Jahren ihrer Ehe jeden Freitagabend den Sabbat zelebriert. Ihr Mann hatte seinen dunkelblauen Anzug mit Weste an, die Kette seiner altmodischen goldenen Taschenuhr glänzte im Licht des frisch geputzten Kronleuchters. Das schwarze Samtkäppchen, das für seinen Kopf ein wenig zu klein schien, hatte er als Dreizehnjähriger von seiner Großtante Luise zur Bar-Mizwa bekommen.
Ein wenig stockend, weil er seit jeher Mühe mit dem hebräischen Text gehabt hatte, sprach Johann Isidor den Segen für die Challa, den mit Mohn dekorierten, aus weichem weißem Hefeteig geflochtenen Zopf. Danach füllte er einen silbernen Becher, in dem die Initialen von Betsys Mutter eingraviert waren, mit dem roten Likörwein, der schon seine Kinder entzückt hatte, und segnete ihn. Weil Johann Isidor für einen Moment den eigenen Vater sah und ihn auch mit seiner schönen tiefen Stimme den Segen für das Brot und den Wein sprechen hörte, hatte er noch mehr Mühe als sonst, sich an die beiden letzten Worte des kurzen Gebets zu erinnern. »Josi träumt mal wieder«, hörte er die Mutter rügen. Sie hatte ihre Challa immer selbst gebacken, die Bäckersfrau im Nachbardorf hatte sich von ihr das Rezept geben lassen.
Ihr Sohn kehrte aus der Vergangenheit zurück – aus Schotten in Hessen, wo es in der Kindheit des kleinen Josi zwischen Christen und Juden gute Nachbarschaft gegeben hatte, nach Frankfurt. Dort war für den nächsten Tag den jüdischen Geschäftsleuten der Boykott ihrer Geschäfte angedroht worden. Der Frankfurter Bürger Johann Isidor Sternberg, dessen ältester Sohn für Deutschland den Heldentod gestorben war, fürchtete nun um das Wohl seiner Kinder und Enkel. Er reichte den Becher mit dem Wein an die Seinigen. Erst tranken die Männer, dann die Frauen und schließlich die Kinder. Claudette, bisher die Jüngste in der Runde, wurde dank Fanny zum ersten Mal nicht als Letzte an der großelterlichen Tafel bedient. Für einen gesegneten Augenblick vergaß sie, wie sich ihr Leben im letzten Vierteljahr verändert hatte. Sie war wieder das frohgemute junge Mädchen, das eine Freundin hatte, die sie nach Paris einlud, und Kavaliere, die sich darum rissen, sie zur Tanzstunde abzuholen.
Die Fünfzehnjährige reichte den silbernen Becher an ihre zweijährige Cousine. Fanny mit den großen Augen und der schnellen Auffassungsgabe tunkte ihre Zunge in den Wein. Staunend leckte sie ihre Lippen, sagte »Oh« und zwei Mal hintereinander: »Ich«. Das Sabbatgesicht des schönen Kindes war ein einziges verzücktes, entzückendes Kinderlächeln. Die Tischgesellschaft war bezaubert. »Genauso hat ihre Mutter ausgesehen«, erinnerte sich Frau Betsy, »zum Fressen niedlich.«
Victoria lächelte. Sie schwärmte immer noch für Schmeicheleien und erinnerte sich an einen sommerlichen Innenhof in Baden-Baden. Mit Hängegeranien, einer Buche und einem Brunnen, an die hellblaue Schleife im Haar und dass Tante Jettchen ihr eine Kette mit großen Korallenkugeln und Diamantbaguettes geschenkt hatte. »Was war eigentlich in Baden-Baden los?«, fragte sie.
»Was soll schon los gewesen sein? Wir sind hingefahren«, sagte Erwin, »dann ist der Krieg ausgebrochen, und wir sind wieder heimgefahren. Alles in einer Woche, und du hast wie ein Schlosshund geheult, weil du die dir für gutes Betragen zugesagten Pflaumen in Goldpapier nicht mehr bekommen hast.«
»Genug«, befahl Johann Isidor mit dem gestrengen Vaterblick der alten Autoritätszeit. Er hatte sich nach den Segenssprüchen nicht wieder hingesetzt, wie es üblich war und wie die Familie erwartete. Nun verließ er zur Beunruhigung seiner Frau und zum Befremden seiner Kinder seinen Platz am Kopf der Tafel und ging auf seine Köchin zu. Josepha stand mit der großen Suppenterrine am frisch polierten Büfett. Die sorgsam frisierte Köchin in ihrem schwarzen Feiertagskleid war noch ungeduldiger als sonst. Wurde im Hause Sternberg vor dem Essen gebetet, machte sie sich seit dreiunddreißig Jahren Sorgen, die Suppe könnte kalt und der Eierstich, für den sie von jedermann gelobt wurde, zu fest werden.
»Einen Moment«, sagte der Hausherr. Er nahm Josepha die Suppenschüssel aus den Händen und stellte sie auf den roten Servierwagen. Dann, mit einer weit ausholenden Bewegung, die allen auffiel, weil sie so gar nicht zu seiner Scheu vor der großen Geste passte, griff Johann Isidor nach der rechten Hand seiner Köchin. »Danke, Josepha«, sagte er mit ungewöhnlich feierlicher Stimme, »das werde ich Ihnen nie vergessen.«
»Keiner von uns wird je vergessen, was Sie getan haben«, sekundierte Frau Betsy. Auch ihre Stimme war nicht wie sonst, war zu hoch, klang unsicher. »Sie haben mehr Mut gezeigt als wir alle«, sagte Betsy.
»Jetzt setzen Sie sich endlich zu uns«, polterte der Hausherr, doch der Befehlston gelang ihm nur im Ansatz; er schüttelte den Kopf, als wollte er sich zur Räson rufen. Trotzdem vertraute er weiter seinem Witz. »Sonst bitte ich meinen verehrten Schwiegersohn, uns die liebenswürdige Gustel auszuleihen«, drohte er. Er erwartete, seine Kinder würden lachen, wenigstens Claudette, die ja auch die schlechtesten Scherze zu würdigen pflegte, die ihr Großvater machte, doch nur Fanny, die Weinberauschte, lächelte ihn an. Alle anderen fixierten den Goldrand ihrer leeren Suppenteller. Selbst Alice und Claudette, die beide noch zu Fastnacht an die belebende Kraft von bunten Papiermützen und Senf im Kreppel geglaubt hatten, spürten einen Druck in der Kehle und wünschten sich in das Leben ohne Schatten zurück, in die Sicherheit und die Ahnungslosigkeit von gestern.
Josepha ließ sich schließlich doch überreden, sich auf den von Frau Betsy eingedeckten, von ihr bis dahin nicht bemerkten Platz zwischen Clara und Erwin zu setzen. Ihre Tränen tropften auf den weißen Spitzenkragen aus der Posamenterie Sternberg. Sie weinte mit eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf. Das Salz drückte in ihren Augen, sie konnte es riechen und schmecken. Nur wehren konnte sie sich nicht, nicht gegen diese neuen Gespenster, die eine Familie bedrohten, die Josepha als die ihrige empfand. Der Suppenlöffel fiel ihr aus der Hand; sie schlug sich auf den Mund, stammelte eine Entschuldigung, wollte einen anderen Löffel holen, doch Anna stand bereits hinter ihr. Die Zupackende drückte Josepha zurück auf ihren Stuhl, sagte ganz leise: »Nein«, ging zum Büfett und zog den Besteckkasten auf.
»Bei uns haben die Kinder immer mit Löffeln geworfen«, sagte Erwin, »erinnern Sie sich denn nicht mehr, Fräulein Krause?«
»Das gehört sich nicht, dass die Köchin mit am Tisch sitzt«, schluchzte Josepha, »das hat es bei uns nie gegeben. An keinem Tag, seit ich in diesem Haus bin, hat es so was gegeben. Dieser Hitler bringt noch die ganze Welt durcheinander.«
»So recht hatten Sie noch nie, Josepha«, sagte Johann Isidor. »Wir werden alle noch das Staunen lernen. Bei der vornehmen Familie Sternberg, die zu lange ihre Schnitzel von goldenen Kälbern hat schneiden lassen, wird es noch vieles geben, was es vorher nicht gegeben hat. Die Sternbergs, müssen Sie wissen, Josepha, ziehen nämlich derzeit nur Nieten.«
Claudette war als Erste mit ihrer Suppe fertig. Sie war auch die Erste, die zu dem gewohnten Ton des Hauses zurückfand. Hatte sie ihre Unbefangenheit wiedergefunden, oder hatte sie sich nur geschickt zu verstellen gelernt, seitdem ihre beste Freundin sie abgeschoben hatte? »Was ist denn eigentlich mit Josepha?«, wollte sie wissen. »Was hat sie gemacht?«
Es war eine Geschichte, die sich in drei Sätzen hätte erzählen lassen, doch sie war charakteristisch für die Unsicherheit, die Ängste und die seelische Not, die bereits 1933 in jüdischen Häusern herrschten. Bei den Sternbergs symbolisierte Josephas mutiges Bekenntnis zur Familie lange Zeit die Hoffnung, »die wir nicht aufgeben dürfen, solange es noch einen anständigen Menschen in diesem Land gibt«. Weder Frau Betsy noch Clara, Victoria oder Alice, noch nicht einmal der couragierte Erwin und auch nicht Anna, die immer Hilfsbereite, hatten in eine Bäckerei gehen wollen, um einen Mohnzopf zu ordern. »Für Freitag eine Challa zu bestellen«, hatte auch Johann Isidor erkannt, »ist heller Wahnsinn. Die Nazis werden das als freche jüdische Provokation hinstellen. Schließlich haben sie für Samstag den Boykott der jüdischen Geschäfte befohlen. Es gibt keinen Bäcker in dieser Stadt, der nicht weiß, dass es die Juden sind, die für Freitag Mohnzöpfe bestellen. Und wir werden keinen Bäcker finden, der sich hinstellt und uns einen bäckt. Ich kann die Leute sogar verstehen. Ich würde mir auch nicht freiwillig mit einem Mohnzopf Ärger auf den Hals laden.«
Josepha hatte es nicht zugelassen, dass »in diesem Hause das gottlose Gesindel bestimmt, was auf den Tisch kommt«. Sie hatte ihren Sonntagsmantel aus dem Schrank geholt und war mit großen Schritten und vorgestreckter Brust zu einer Bäckerei am Merianplatz gelaufen, in der sie noch nie gewesen war. Als sei dies eine Selbstverständlichkeit am 30. März 1933, hatte die sternbergsche Köchin einen Zettel aus ihrer Manteltasche gezogen und erklärt: »Ich möchte für morgen einen Mohnzopf bestellen. Aus eineinhalb Pfund Mehl, bitte.« Josephas Stimme war nicht ganz so fest gewesen, wie sie es gern gehabt hätte. Zornige Flammen versengten ihre Stirn. Ihre Linke ballte sich zur Faust.
Ausgerechnet in dem Moment, da Fräulein Krauses Kopf zu explodieren drohte, hatte die Frau des Bäckers, die Josepha noch nie gesehen hatte, so laut »Challa« gesagt, dass es ein jeder im Laden hören musste. Die Bäckersfrau kannte das Wort seit Jahren, denn sie hatte viele jüdische Kunden, doch war sie noch nie auf die Idee gekommen, es zu gebrauchen. Ein wenig verwirrte es sie, dass sie nun »Challa« gesagt hatte, doch sie war keineswegs unzufrieden mit sich selbst. Sie merkte, dass die Kundinnen, die darauf warteten, bedient zu werden, sie neugierig anstarrten. Einige zeigten ihre Verärgerung. Hinten im Laden keifte eine Stimme »Judenpack!«. Eine alte Frau, die immer Brötchen vom Vortag zum halben Preis holte und meistens einen Wasserweck geschenkt bekam, stampfte mit ihrem Krückstock auf. Ihren Kopf schüttelte sie so heftig, dass sich der Nackenknoten löste.
»Morgen früh ab sieben können Sie Ihre Challa abholen«, sagte die Bäckersfrau.
Josepha war so hastig aus dem Laden gelaufen, dass sie nachher noch nicht einmal wusste, ob sie sich bedankt hatte. »Das«, berichtete sie zu Hause, »wurmt mich noch viel mehr als diese gottverdammten Nazis.«
Am nächsten Tag riss Johann Isidor Sternberg, dem Freunde und Rivalen in goldenen Zeiten ein goldenes Händchen attestiert hatten, schon früh um fünf das Kalenderblatt vom Vortag ab. Es war Samstag, der 1. April 1933. Johann Isidor spürte einen Brechreiz, der sich durch die Einnahme der gewohnten Baldriantropfen noch verstärkte. Beim Rasieren zitterte seine rechte Hand. Betsy, die er nicht hatte aufstehen hören, holte den Alaunstift aus dem weißen Schränkchen und hielt ihn ihm hin. Sie blieb im Badezimmer, während Johann Isidor das Blut auf seiner Wange stillte.
»Du musst nicht hin«, sagte sie.
»Doch«, stellte er klar, »ich muss. Mein Sohn hat auch nicht gekniffen.«
»Otto war achtzehn und voller Hoffnung. Er kämpfte für eine gute Sache.«
»Mut ist nicht eine Frage des Alters, meine Liebe, und gegen wen er kämpft, kann sich ein Mann nicht mehr aussuchen.«
Eine Stunde früher als an den Tagen der Zuversicht verließ Johann Isidor Sternberg, dem die traditionsreiche Posamenterie in der Hasengasse, ein florierendes Textilgeschäft auf der Berger Straße und der im gesamten Nordend beliebte Weißwarenladen in der Glauburgstraße gehörten, seine Wohnung. Im schwarzen Mantel und in dem schwarzen Hut, den er sonst nur trug, wenn er in die Synagoge ging, stand er am schwarzen Schmiedezaun des Vorgartens und schaute zu seinem Haus hinauf. Sein Blick ging vom Parterre, in dem die Mieter lebten, die ihren jüdischen Hauswirt und seine Familie nicht mehr grüßten, bis zum vierten Stock. Johann Isidors Gesicht wurde feuerrot.
Seit dem 1. März wohnte Theo Berghammer im vierten Stock. Vis-à-vis von Clara und Claudette. Die Zweizimmerwohnung war vom Mann der resoluten Entschlüsse am Tag nach dem Reichstagsbrand requiriert worden. »Ohne viel Federlesens«, wie er am Abend beim Ebbelwein seinen applaudierenden Kameraden berichtete. Der ehemalige Fotograf, der an der Westfront seinen linken Fuß verloren hatte, hatte nämlich auch die Achtung verloren, die er als liebenswürdiger, hilfsbereiter Bub vor dem Hauswirt seines Vaters gehabt hatte. Der Möbelwagen der alten Mieter hatte noch vor der Tür gestanden, als Theo Berghammer, der seit Anbruch der neuen Zeit einen grünen Ledermantel mit Schulterklappen trug, eingezogen war – mit nur wenigen Möbeln, aber mit drei Paar schwarzen Stiefeln, die vor die Wohnungstür gestellt wurden, obgleich die Hausordnung die Benutzung des Hausflurs untersagte. In einem Brief ohne Anrede hatte er, der im Haus Rothschildallee 9 aufgewachsen und der der beste Freund des 1914 gefallenen Kriegsfreiwilligen Otto Sternberg gewesen war, dessen Vater wissen lassen: »Ich ziehe morgen ein. Die Miete wird Verhandlungssache sein. Ich werde Ihnen zu gegebener Zeit meine Vorstellungen mitteilen.«
Wann immer Johann Isidor die Klingelschilder an seiner Haustür las, wurde ihm bewusst, dass er schutzlos war. Bei jedem Gedanken an Theo Berghammer, von dem er seit drei Jahren wusste, dass er der Vater von Claudette war, rebellierten Kopf, Magen und Herz. Wie im Zwang starrte er weiter auf Claras Fenster im vierten Stock. Er malte sich aus, Theo Berghammer würde bald auch Claras Wohnung fordern. Und Clara dazu. In einem lähmenden Moment sah er Theo nach Claudette greifen. Die Bäume in der Allee drehten sich um einen Stern aus Feuer.
Johann Isidor hielt sich am Zaun fest. Er war überzeugt, er würde sich vor seinem Haus übergeben, doch gelang es ihm, das Würgen hinunterzuschlucken. Er biss die Zähne aufeinander, hörte sie knirschen, rieb die Augen. Der Schleier, der das Leben verzerrte, löste sich. Der Gehetzte sah die Tauben auf dem Dach und Rauch, der schneeweiß wie im Kino war, in den Himmel steigen. Im Nachbarhaus bedrohte eine Frau ihren Sohn mit Ohrfeigen. Johann Isidor dachte an die Hexen im Mittelalter; er sah sie auf Scheiterhaufen brennen. Das Verlangen, kehrtzumachen, unterzutauchen und im Vergessen Erlösung zu finden, griff mit Polypenarmen nach ihm. In seinem Arbeitszimmer wollte er sich einschließen, sich im Ohrensessel verkriechen und das scharlachrote Plaid, das noch nach Jahren nach den Schafen Schottlands roch, über den Kopf ziehen. Schlafen und nicht mehr aufwachen. »Verzeihung«, sagte der Mann ohne Hoffnung.
Er machte sich auf den Weg, ohne sich umzudrehen. Johann Isidor Sternberg war kein mutiger Mann. Es hatte ihn nie zur Tat, zum großen Wort gedrängt. Nun stärkte ihn der Gedanke, dass er sich trotzdem den Klippen und Gefahren des Lebens gestellt hatte. Wie in den Jahren der Kraft straffte er die Schultern; er hob den Kopf, als hätte er noch eine Zukunft. Dann lief er auf das Ziel zu, das er zu erreichen fürchtete. War es Gott gewesen, den er um Verzeihung gebeten hatte? Ob es sich für einen Juden in Deutschland noch schickte, mit Gott zu reden, seine Hilfe zu erflehen?
Seiner Tochter Anna, die geliebte Stütze in der Posamenterie, hatte der Patriarch trotz ihres gekränkten Widerspruchs nicht erlaubt, ihn an diesem Samstag der Angst ins Geschäft zu begleiten. Der Enkeltochter hatte er befohlen, das Haus auf keinen Fall zu verlassen – obwohl eine Französischarbeit bevorstand, die für Claudettes Versetzung wichtig war. Alice hatte er verboten, in die Synagoge zu gehen. »Ach ja, Alice«, murmelte er, »auch du.« Seine Augen wurden feucht.
Seit der Brief eingetroffen war, dass »die Oberprimanerin Alice Sternberg aus Gründen, die sie selbst zu verantworten hat, nicht zum Abitur zugelassen werden kann und dass ihr Abgang von unserem Institut umgehend zu erfolgen hat«, ging Alice jeden Samstag in die Synagoge.
»Um Gottes Beistand zu erflehen, dass er dir einen schmucken Mann schickt, der dich auf Händen trägt und auf Perlen bettet«, neckte Erwin seine kleine Schwester, wenn er sie samstags im Bolerokleid und Lackschuhen vor dem Spiegel stehen sah.
»Um zu beten, dass er aus meinem ekligen Bruder einen Menschen macht«, beschied ihm Alice Woche für Woche. Die Demütigungen in ihren letzten Schulwochen und der trotzdem vor ihr nicht erwartete Hinauswurf hatten sie verändert. Das sternbergsche Nesthäkchen war reif geworden, noch eitel zwar, doch nicht mehr so selbstbezogen wie in glückhafter Mädchenzeit. Auch hatte Alice gelernt, über sich selbst zu lachen. Nun war sie verliebt.
»Verschossen bis über beide Ohren«, erzählte Frau Betsy ihrem Mann. Sie hatte, obwohl die Zeiten nicht mehr danach waren, das wachsende Gras zu belauschen, mit gewohnter mütterlicher Umsicht bei ihren Freundinnen und Bekannten recherchiert. Der junge Mann hieß Leon Zuckermann. Er war Vaters Stolz, fleißig und begabt, hatte in der Schule eine Klasse übersprungen, das beste Abitur seiner Klasse gemacht und sollte im nächsten Semester mit seinem Medizinstudium beginnen. Die Familie war religiös, der Vater, ein Kürschner mit drei Angestellten, war ein wenig cholerisch, aber herzensgut, die Mutter kränkelte. Leon hatte drei ältere Brüder. Mit dem ältesten, einem Religionslehrer, ging er jeden Sabbat in die Synagoge in die Börnestraße. Noch nicht bekannt war im Hause Sternberg, dass der junge Zuckermann an den Sonntagnachmittagen mit Alice im Grüneburgpark flanierte. Dort träumten die jungen Leute von einem ganz neuen Leben, in dem sie unter Olivenbäumen wanderten und Feigen aßen und darauf warteten, dass aus Palästina eine Heimstatt für die Juden wurde. Im Übrigen wurde Leon von seinen Eltern und den vier Brüdern regelmäßig befragt, wie streng seine Angebetete erzogen worden sei und ob der sternbergsche Haushalt koscher wäre.
Die Rothschildallee war besonders prächtig an diesem unheilvollen 1. April, die Forsythienbüsche eine Symphonie in Gelb, ebenso die Tulpen und Osterglocken in den Vorgärten. Meisen und Amseln vergnügten sich sangesfroh auf Bäumen und Hecken. Im schönen Fachwerkhaus an der Kreuzung zur Günthersburgallee war der Mandelbaum über Nacht erblüht. Kirschblüten lockten die ersten Bienen an. Magnolienbäume überboten sich in ihrer Pracht, die Kastanien hatten üppige Kerzen, der Flieder war zum Bersten bereit.
An der Litfaßsäule am Friedberger Platz sang kein einziges Plakat ein politisches Lied. Eine Dame in Weiß mit einem wagenradgroßen Hut und wippenden Rock warb für Persil, die Deutsche Lufthansa machte mit zwei Frauen im schwarzen Badeanzug Reklame. Sie waren beide gut genährt, nussbraun gebrannt und winkten einem tief fliegenden Flugzeug zu. Ein Plakat wies noch auf eine Veranstaltung mit dem Magier Hanussen hin. Er war vor einer Woche umgekommen. Keiner wusste, was geschehen war; man hatte seine Leiche noch nicht gefunden. Hinter Hanussens Namen hatte jemand ein Sterbekreuz gemalt. Johann Isidor war noch mit Hanussen und dem Gerücht beschäftigt, der Magier hätte den Reichstagsbrand drei Tage vor dem tatsächlichen Geschehen prophezeit, als er die erste Naziproklamation entdeckte. Es war in der Friedberger Landstraße. Der Schock, zwar schon auf der Rothschildallee erwartet und eine ganze Woche lang wie eine Seuche gefürchtet, war gewaltig.
Ein großes, schwarz beschriftetes Schild klebte an der Schaufensterscheibe eines kleinen Textilladens. Das unscheinbare Geschäft war Johann Isidor zuvor nie aufgefallen. Er las die Schmähschrift Wort für Wort und hörte sein stolperndes Herz um Hilfe schreien. Sein Gesicht erstarrte.
»Wer beim Juden kauft, ist ein Verräter. Am 1. April, vormittags 10 Uhr, beginnt des deutschen Volkes Abwehrreaktion gegen den jüdischen Weltverbrecher«, las der jüdische Geschäftsmann Johann Isidor Sternberg. Seine Augen konnten sich vom Text nicht lösen. Die Buchstaben wurden zu einem schwarzen, wabernden Brei. Angst und Verzweiflung prügelten mit Keulen auf ihn ein.
Ihm fiel der Dorftrottel zu Hause in Schotten ein. Der hatte immer so vor sich hin gestiert, wie er es nun tat. Christian, der Sohn vom Lehrer Baumann, hatte mit erhobener Rechter geschworen, der arme Irre hätte vor dem Teufel gestanden und es nicht gemerkt, sein Haar wäre am Höllenfeuer verbrannt und die Zähne wären ihm aus dem Mund gewachsen. Beim Abendessen hatte der kleine Josi die Geschichte vom Teufel erzählt. Vom Vater hatte er eine Maulschelle und von der Mutter keinen Nachtisch bekommen.
»Nein«, wehrte sich Johann Isidor Sternberg. So leise wie damals. Er war dreiundsiebzig Jahre alt, ein deutscher Baum mit deutschen Wurzeln und einem Sohn, der für das deutsche Vaterland gefallen war. Für dieses Vaterland war der deutsche Patriot Sternberg nun ein »jüdischer Weltverbrecher«. Die neuen Herrscher beschuldigten ihn, er hätte seine »Rassegenossen im Ausland zum Kampf gegen das deutsche Volk« aufgerufen.
Wenn Johann Isidor Sternberg in seiner Posamenterie die Regale inspizierte, war ihm seine Konfession keinen Gedanken wert. Verkaufte er einer Kundin Quasten für ihre Gardinen oder Borte für ihre Tischdecken, war es ihm gleichgültig, ob die Frau evangelisch, katholisch oder jüdisch war. Am 1. April 1933 aber stand der Mann, der nur Deutsch sprechen konnte, Deutsch dachte und Deutsch träumte, auf der Friedberger Landstraße vor einem winzigen Laden und las von »jüdischen Weltverbrechern« und den nötigen«Abwehrreaktionen«.
Die Scham und der Schock machten ihn stumm. Der Mann mit einer Körperlänge von einem Meter sechsundsiebzig und einem Gewicht von zweiundachtzig Kilo wurde zu einem Zwerg, der Gott anflehte, er möge ihn aus seiner Not erretten. Der Himmel aber gab dem Gebrochenen keine Antwort. Die Sonne schien weiter, die Vögel zwitscherten, und Kinder, die an Gott und die Gerechtigkeit glaubten, gingen lachend zur Schule.
Johann Isidor zog seinen Hut tief ins Gesicht. Nichts mehr sehen wollte er und von niemandem gesehen werden. Schutz suchend zog der Wehrlose den Mantel, den er offen getragen hatte, um seinen Körper. Während er sich vor der Welt zu verstecken versuchte, überlegte er, ob das Geschäft mit der Schmähschrift an der Scheibe wohl einem jüdischen Leidensgenossen gehörte. Oder einem Menschen, dessen Konfession den Nazis genehm war und der ihnen lediglich für ihren Hassgesang seine Schaufensterscheiben zur Verfügung gestellt hatte? Vor der Ladentür standen zwei Männer in SA-Uniform. Ihre Schultern waren breit, die geröteten Gesichter ausdruckslos. »Weitergehen!«, befahl der Ältere.
»Zack, zack!«, schnarrte der andere.
Erst als Johann Isidor strauchelte und ein Kind ihm den in Frankfurt beim Stolpern gängigen Spruch »Da liegt ein toter Jud begraben« nachrief, merkte er, dass er gerannt war. Gerannt wie ein Tagedieb, gehetzt wie ein mieser kleiner Ganove, der die Beute nicht rechtzeitig losgeworden ist. Der, der vor Welt und Zeit flüchtete, spürte einen messerscharfen Schmerz, doch er konnte nicht ausmachen, in welchem Teil seines Körpers der Blitz eingeschlagen war. Sobald er ausatmete, keuchte er. Um nicht noch mehr aufzufallen, bemühte er sich, im Tempo derer zu laufen, die frei von Furcht sind. Die Füße ließen sich maßregeln, doch nicht das Herz. Es schlug angstschnell und unregelmäßig.
Der erste Teil der Hasengasse war weniger belebt als sonst. Die Frauen, die gewöhnlich morgens um acht in die Schirn einkaufen gingen, waren nicht da. Nur der Briefträger, eine ältere Frau mit einem kleinen Korb Veilchen und der hinkende Hund vom Schuster in der Fahrgasse waren unterwegs, und wie jeden Tag flogen die Tauben zur Katharinenkirche und kehrten unmittelbar darauf wieder zurück.
»Schaut doch mal!«, rief eine Männerstimme.
In diesem Moment erkannte Johann Isidor seinen gewaltigen Irrtum. Obwohl der Boykott erst ab zehn Uhr angesetzt war, stand bereits eine Traube von Menschen vor seiner Posamenterie und starrte die beiden Schaufenster an. Auf jeder Scheibe waren in weißer Tusche riesige Davidsterne aufgemalt, aus denen Blut tropfte. Rechts von den geschändeten Sternen stand in Riesenlettern »Saujud!«, links baumelten je ein fetter Mann mit Hakennase und schwarzem Hut am Galgen.
Johann Isidor wollte den Kopf abwenden, wenigstens die Augen schließen und die Ohren zustopfen, doch die Galgen ließen seine Flucht nicht zu. Er starrte immerzu die beiden Gehenkten an. Die Worte »Saujud« wurden groß und breit und hoch, die Davidsterne rotierten an einem höllenroten Spieß. War es an dem Gedemütigten, seine Brüder vom Galgen abzuschneiden? Ein Hüne mit Stiernacken und grauer Schiebermütze schob sich nach vorn. Mit einer Hand, die gewaltig war wie ein Dreschflegel, zeigte er auf Johann Isidor. »Da ist er ja, der Itzig«, grölte er. Eine sanftgesichtige junge Frau hob ein etwa dreijähriges Mädchen hoch. Sie sagte: »Schau dir die bösen Männer am Galgen an, Susi. Die haben ihre Mami ganz schrecklich geärgert.« Das Kind klatschte in die Hände, die Umstehenden wieherten, der hinkende Hund wedelte mit dem Schwanz. Der grölende Riese sagte »brav« und warf ihm ein Stück Wurst zu. Posamentier Sternberg, der unbefleckte deutsche Bürger und Handelsmann, begriff, dass er Freiwild geworden war, doch er wagte nicht, sich vom Marktplatz der Sensationen zu entfernen.
Ein älterer Mann mit auffallend blassem Teint und auffallend kleinen Augen packte ihn am Mantelkragen. Der Griff war nicht fest und auch nicht grob. Er schien eher unbeabsichtigt, doch Johann Isidor geriet sofort ins Wanken. Seine Füße rutschten unter ihm weg. Schon als Kind – und später auch als Mann – hatte er gelitten, wenn Fremde ihn anfassten. Noch immer wich er vor ungebetener Berührung zurück. Selbst wenn es die Höflichkeit gebot, konnte er seinen Widerwillen vor aufgezwungener Intimität nicht unterdrücken. Nun, da er nicht mehr die eigenen Handlungen und Reaktionen zu bestimmen hatte, traute er sich schon gar nicht mehr, sich ungebetenem Zugriff zu entziehen.
»Gehen Sie doch weiter«, drängte der Fremde. »Das hier ist nichts für einen Mann in Ihrem Alter, Herr Sternberg.«
Es war die hohe Stimme, die Johann Isidor erkannte. Der Mann, der ihm so nahe gekommen war, dass er seinen Atem riechen und die Goldplomben in seinen Backenzähnen sehen konnte, war Pius Ehrlich, sein ehemaliger Kompagnon im Postkartenverlag. Johann Isidor hatte nur noch selten an seinen Partner aus den Zwanzigerjahren gedacht. Jahrelang hatte er mit ihm zusammengearbeitet, doch die Erinnerungen waren verweht. Ob Pius Ehrlich gekommen war, um sich bei Johann Isidor zu revanchieren, weil der ihm einmal zinslos Geld geliehen und sich auch bei dessen Ausscheiden großzügig gezeigt hatte? War Pius Ehrlich ein Menschenfreund, der eine gute Tat nicht vergaß, ein von Gott gesandter Beschützer der Gehetzten? Wollte er einen querköpfigen alten Mann, der nicht den Verstand gehabt hatte, auf seine Frau zu hören und zu Hause zu bleiben, vor einer Menschenrotte retten, die kleine Kinder hochhielt, damit sie beizeiten gaffen und schmähen und die Unschuldigen jagen lernten?
»Gehen Sie nach Hause, Herr Sternberg«, wiederholte Pius Ehrlich. Wie früher, kniff er im Zustand der Erregung die Augen zusammen.
Johann Isidor stöhnte wie einer, der aus tiefem Schlaf erwacht ist; er war bestürzt, dass er sich so in Pius Ehrlich getäuscht hatte. Der Mann war ihm immer bauernschlau, unaufrichtig und neidisch erschienen, manchmal auch den Juden übel gesinnt, zumindest jüdischen Konkurrenten, die geschickter und erfolgreicher waren als er selbst. Wie oft hatte Johann Isidor zu Hause gespottet, dass das Schicksal sich seltsame Scherze erlaube, wenn ausgerechnet so ein Giftzwerg Ehrlich hieß. Ja, Giftzwerg hatte er gesagt, und danach war Victoria, der ewigen Lauscherin, das Wort nicht mehr auszutreiben gewesen. Nun war der Mann, den der vermeintliche Menschenkenner Sternberg so gründlich verkannt hatte, aus der Vergangenheit gekommen, um einem Menschen in Not beizustehen. Bestimmt war er ein gläubiger Christ und Nächstenliebe für ihn ein Gottesgebot. Johann Isidor Sternberg zitterte. Es verlangte ihn, auf der Stelle und so laut, dass es ein jeder hören konnte, publik zu machen, wie sehr es ihn bekümmerte, dass er Pius Ehrlich und seinen lauteren Charakter nicht gewürdigt hatte. Der reuige Sünder wurde von einer Faust aus Eisen in die Hölle zurückgestoßen, in der allein Terror und Gewalt den Lauf der Welt bestimmten. Schaudernd begriff Johann Isidor Sternberg, dass er kein Gebet mehr würde sprechen können, wenn der Henker die Schlinge knüpfte. Er war Zeit, sich zu wehren. Er riss die Arme hoch.
»Komm, Vater«, sagte Anna, »lass uns gehen.«
Johann Isidor wusste nicht, woher die Stimme kam und wem sie gehörte. Die Schläge seines Herzens dröhnten dumpf, in seinen Schläfen trommelte der Schock. Gleichgültig, ob er seine Augen aufmachte oder zu, sie nahmen nur ein einziges Bild wahr, und das hielt er für Trug und Hohn. Er sah eine junge Frau in einem hellen Mantel, ein Maiglöckchenstrauß aus weißem Chiffon am Revers, blondes Haar unter einer dunkelblauen Baskenmütze. Johann Isidor versuchte, die Hand abzuschütteln, die ihn festhielt, er schaute aus nach Pius Ehrlich, diesem neuen Freund in der Stunde der Not. Er schwankte wie ein Baum mit morschen Wurzeln im Sturm, sah sich fallen, wollte um Hilfe rufen, denn er hatte vergessen, dass es für seinesgleichen Hilfe nicht mehr gab. Arme aus Stahl fingen ihn auf. Er wehrte sich, sagte, er müsse fliehen und käme erst dann nach Hause, wenn ein Jude wieder Mensch sein durfte.
»Psst«, sagte eine Stimme, die er kannte, »nicht hier.«
Die Benommenheit schwand, der barmherzige Seelenschutz wurde von dem zurückgefordert, der ihn gewährt hatte. Johann Isidor, dem seine Landsleute den Stolz und die Würde genommen hatten und für alle Zeiten seine Ehre, war wieder imstande zu reden. Nur entstammten seine Worte einer Welt, die nicht mehr war.
»Wir wollen gehen, Vater«, drängte Anna.
Er wollte seiner mutigen Tochter erzählen, was er in der Friedberger Landstraße gesehen hatte. Noch stärker war das Bedürfnis, Anna durch das Spalier der Gaffer zu führen und ihr vorzuführen, dass auch die Scheiben der Posamenterie Sternberg den Vandalenhänden nicht entkommen waren. »Gebrandmarkt«, stieß er hervor, »gebrandmarkt wie im Mittelalter.«
»Ich weiß, Vater«, sagte sie.
Er stampfte mit dem rechten Fuß auf, zeigte den Unwillen der Düpierten, fragte streng und als wäre nur diese eine Frage von Bedeutung: »Wo kommst du überhaupt her?«
Die Wärme von Annas Körper erreichte den seinen. Die Tochter sah, dass die Lippen ihres Vaters nicht mehr blau waren, die Augen nicht mehr tot. Sie nahm seine Hand und führte sie an ihre Stirn; beider Lippen bewegten sich, doch es gelang ihnen nicht, einander zuzulächeln. »Später«, sagte er.
Er nahm seinen Hut ab und setzte ihn wieder auf, straffte die Schultern wie ein Mann, der viel Kraft hat und auch die Entschlossenheit, die Zügel des Lebenswagens in seinen Händen zu halten. Noch gab er nicht auf, denn er wurde wieder Vater, Herr im Haus, der besorgte Hüter der Herde. »Ich habe dir doch verboten, das Haus zu verlassen«, hielt er der eigenmächtigen Tochter vor.
»Mutter hat mich geschickt. Sie hat Angst um dich gehabt.«
»Um Gottes willen, Anna! Was ist mir dir? Deine Mutter ist doch tot. Schon so lange tot, meine Fritzi.«
»Hast du vergessen, dass ich zwei Mütter habe, Vater?«
Die Tochter, von der keiner wissen durfte, dass er sie mehr als seine übrigen liebte, ließ seine Hand nicht mehr los. Sie führte ihn durch Straßen nach Hause, in denen es ausschließlich kleine Läden gab und insgesamt nur drei mit Hetzparolen gegen die Juden an den Schaufensterscheiben. In den Nebenstraßen und Gassen der einstigen Freien Reichsstadt Frankfurt war die neue Zeit noch nicht erwacht. Da waren ordentlich gekehrte Bürgersteige wichtiger als die politische Gesinnung der Bürger, die Stiefel standen noch im Schrank, sie marschierten nicht mit, die Rattenfänger schonten noch ihre Flöten. Humanität, Tradition und Liberalität wurden auf den Nebenschauplätzen der Stadtgeschichte langsamer zu Grabe getragen als auf dem Römerberg und auf der Zeil. Jedoch selbst Anna, die Meistertaktikerin, konnte nicht verhindern, dass ihr Vater die beschmierten Schilder der jüdischen Anwälte und Ärzte sah. Das Hakenkreuz war der neue deutsche Galgen.
»Also die auch. Sollten wir nicht nachsehen gehen, ob diese Verbrecher auch bei Fritz gewesen sind? Ich möchte nicht, dass er nicht weiß, was ihn erwartet, wenn er am Montag ins Büro geht.«
»Ich war schon in der Biebergasse«, sagte Anna. »Es hat mir den Magen umgedreht. Nur noch sein Name und das Wort Jude sind auf dem Schild zu lesen. Fritz weiß es schon. Aber Vicky noch nicht. Er will es ihr erst am Abend sagen. Er wollte, dass sie noch den Tag bei ihrer Freundin Jeanette genießt. Die beiden haben sich ewig nicht gesehen. Jeanette war doch so lange in Davos.«
»Arme Vicky. Sie hat nie zu tragen gelernt. Und armer Fritz, der nun für zwei zu tragen hat. Heute braucht ein Mann eine Frau wie meine Betsy, um nicht aufzugeben.«
»Das kommt noch, Vater. Vicky ist doch noch ein Kind.«
»Sie ist so alt wie du, Anna. Fünfundzwanzig. Doch sie hat kein Talent zum Erwachsenwerden.«
Unmittelbar vor dem Uhrtürmchen am Anfang vom Sandweg tauchte Pius Ehrlich wieder auf. Er sah aus, als wäre er durch Gestrüpp gekrochen, das Haar war windzerzaust, an den Schuhen klebte Lehm. Eine große Klette hing an seinem Ärmel. Er hatte wieder die Gesichtszüge, an die sich Johann Isidor erinnerte – kleine Augen, lauernder Blick, Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Der Kurzgewachsene steckte seine Hände in die Manteltaschen und seinen Kopf vor. »Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Sie sich erst an mich wenden sollten, ehe Sie die Posamenterie verkaufen, Herr Sternberg. Das gilt natürlich auch für Ihre anderen Geschäfte. Im Gedenken an die alten Zeiten werde ich zusehen, dass ich Ihnen einen anständigen Preis mache. Anständigkeit zahlt sich aus. Heißt es.«
»Aber ich habe doch gar nicht vor, meine Geschäfte zu verkaufen, Herr Ehrlich. Wie kommen Sie darauf?«
»Wie Sie meinen, Herr Sternberg, ganz, wie Sie meinen. Wie sagt doch der deutsche Volksmund? Jeder ist seines Glückes Schmied. Ich füge hinzu: Der Kluge zaudert nicht. Pius Ehrlich macht ein gutes Angebot immer nur ein einziges Mal. Das habe ich ja von Ihnen gelernt. Das war ein guter Rat, Herr Sternberg.«
Er sah aus, als wollte er lachen, doch er tat es nicht. Ohne Abschiedsgruß eilte er davon. Noch ehe er den Sandweg erreichte, war er außer Sicht. Von der Statur her war Pius Ehrlich kein Mann zum Fürchten, aber sein ehemaliger Partner fürchtete sich doch.
Der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien richtete sich auch gegen Zeitungshändler sowie gegen jüdische Kiosk- und Kinobesitzer. Beim Rundfunk durften jüdische Angestellte nicht an ihre Arbeitsplätze. SA und der Nationalsozialistische Studentenbund randalierten an der Universität und nahmen jüdischen Studenten und solchen, die sie für marxistisch hielten, die Ausweise ab. Oberbürgermeister Krebs verfügte, dass die Stadtverwaltung nicht mehr bei Juden einkaufen durfte. »Erfolgreiche Maßnahmen« einer inszenierten Volksempörung wurden auch vom Theater gemeldet.
Der Boykott der jüdischen Geschäfte hatte ursprünglich bis zum 4. April gehen sollen, doch brachte er nicht die von der NSDAP erwartete Wirkung und wurde vorzeitig abgeblasen. Die »Frankfurter Zeitung«, von der es hieß, bei ihr müsse man zwischen den Zeilen lesen, um zu wissen, was »wirklich« in Deutschland geschehe, berichtete: »Die Boykottbewegung gegen die jüdischen Geschäfte ist in Frankfurt, soweit sich das feststellen lässt, völlig ruhig verlaufen.«
»Soweit sich das feststellen lässt«, spottete Erwin. Er war nicht mehr der Skeptiker aus Passion, er war ein klarsichtiger junger Mann mit ausgeprägtem Empfinden für die Hölle, die die Nazis planten. Vor allem ließ Erwin es nicht zu, dass sein Vater den frühzeitigen Abbruch des Boykotts und die Meldung in der »Frankfurter Zeitung« als Sieg der Vernunft verbuchte. »Geschweige denn als einen Hoffnungsschimmer«, warnte er am Frühstückstisch, »das war nur der Anfang.«
Als eine Woche später den ersten Juden die Zulassung als Anwalt entzogen wurden, erfuhr Erwin es nicht als Erster. Sein verzweifelter Schwager Fritz vertraute sich zunächst nur seinem Schwiegervater an. »Wir müssen Geduld haben und es in Würde aussitzen«, befand Johann Isidor der Unverbesserliche. »Das Ausland wird nicht mehr lange tatenlos zusehen, was hier geschieht.«
Das Gleiche sagte er, als am 10. Mai ein Riesenfeuerwerk am Römerberg loderte. Verbrannt wurde Weltliteratur – von jüdischen Autoren und politisch missliebigen. Auf einem von zwei Ochsen gezogenen Bauernkarren wurden Bücher zum Richtplatz geschleift, die eine Woche zuvor noch in jeder Buchhandlung und Bibliothek gestanden hatten. Ein evangelischer Studentenpfarrer hielt die Brandrede. Den Flammen übergeben wurden die Bücher von Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Erich Kästner und Karl Marx, von Philosophen, Dramatikern, Forschern und Nobelpreisträgern, von Arnold und Stefan Zweig, Ernst Glaeser, Erich Maria Remarque. Es brannten die Werke von Alfred Kerr, Magnus Hirschfeld, Martin Buber, Sigmund Freud und von unzähligen anderen, die für deutsche Kultur standen. Heinrich Heine, der Prophet, der geschrieben hatte: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«, verschwand aus den Schulbüchern. Unter seiner »Loreley« hatte fortan »Dichter unbekannt« zu stehen.
»Zur Goethezeit haben die Veranstalter von Autodafés noch Zeugen und einen Notar geholt«, sagte Erwin, »er erzählt davon in Dichtung und Wahrheit.«
Claudette meinte: »Ein Buch fühlt doch keinen Schmerz«, und konnte es nicht fassen, dass ihre Mutter nach ihr schlug und dann in Tränen ausbrach. Kurz darauf war es Claudette, die weinte. Die Rothschildallee, in der sie geboren und aufgewachsen war, war umbenannt worden. Sie hieß nun Karolingerallee. Vielen Frankfurter Straßen erging es ebenso. Aus dem Börneplatz wurde der Dominikanerplatz, aus dem Börsenplatz der Platz der SA. Der Rathenauplatz wurde zum Horst-Wessel-Platz, die Sophienstraße bekam den Namen des Afrikahelden Lettow Vorbeck, die Stresemannallee hieß Blücherstraße. Die Untermainbrücke wurde zur Adolf-Hitler-Brücke.
»Ich werde nie Karolingerallee sagen, wenn mich einer fragt, wo ich wohne«, trotzte Claudette, »nie, nie.«
Ihr Onkel bat sie, ihn in den Huthpark zu begleiten. Dort versuchte er, der Fünfzehnjährigen zu erklären, was nicht zu erklären war. Er sprach über falsches Heldentum und die Klugheit des Schweigens. »Du bringst uns alle in Gefahr, wenn du dich nicht fügst. Das wäre nicht Mut, das wäre Wahnsinn.«
Zu Claudettes neuem Vokabular gehörte das Wort »Arier«. Sie allerdings war »Nichtarierin«. Das bedeutete, dass in der Schule kein Mädchen neben ihr sitzen wollte. Die Klassenlehrerin, Parteimitglied der ersten Stunde, hatte Verständnis für das Bekenntnis der Jugend zum Vaterland. Claudette Sternberg wurde der bisher nie besetzte Platz in der hinteren Reihe zugewiesen. Ihre Aufsätze wurden nicht mehr zensiert, an Wandertagen saß sie allein in der Klasse.
Ihre verzweifelte Mutter, ihr geliebter Onkel Erwin und die bestürzten Großeltern debattierten, ob es dem sensiblen Mädchen zuzumuten war, die Schikanen einer Oberstudienrätin an einem deutschen Gymnasium bis zum Abitur zu ertragen – also noch gut drei Jahre. »Wozu Abitur?«, fragte Erwin. »Die Universitäten sind dabei, judenfrei zu werden.«
Die Diskussion über Claudettes Zukunft schwelte noch, als dem Rechtsanwalt und Notar Doktor Fritz Feuereisen das Urteil seiner beruflichen Vernichtung zugestellt wurde. Ab sofort hatte er Auftrittsverbot. Seine Berufung als Notar war mit sofortiger Wirkung erloschen. Im Juli 1933 folgte dann das endgültige Berufsverbot.
Es war das erste Mal seit einer mit Mangelhaft benoteten Mathematikarbeit in der Quinta, dass Friedrich Feuereisen weinte. Er saß an seinem Schreibtisch, an dem bald ein arischer Kollege sitzen würde, und, genau wie als Quintaner in Schande traute er sich nicht nach Hause. Damals hatte er beschlossen sich entweder zu Tode zu hungern oder sich mit der Pistole seines Großvaters zu erschießen. Im Jahr 1933 war ihm sofort klar, dass einem Familienvater nicht die Gnade gewährt wurde, sich gegen seine Pflicht zu entscheiden.