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FRÜHLINGSROLLEN
März 1927
Obwohl Johann Isidor nie der Mann gewesen war, den es beim ersten Frühlingshauch hinaus in Wald und Flur gezogen hatte, empfand er es doch als Attacke auf seine Freiheit, dass er ausgerechnet an einem der sonnigsten und wärmsten Tage, die der März 1927 bisher geboten hatte, nicht seinen Geschäften nachgehen konnte. Er hatte seine zweite Tasse Frühstückskaffee noch im Esszimmer getrunken, doch nun saß er fröstelnd in seinem Arbeitszimmer, rechtete mit dem Schicksal und beobachtete vom grünen Windsorsessel aus einen Eichelhäher auf einem Baum.
Bald begann der Vogelfreund wider Willen zu grübeln, ob die Posamenterie Sternberg künftig nicht eine Kollektion von Federn führen sollte. Seit einiger Zeit neigten nämlich auch weniger begüterte Leute dazu, ihre Hüte mit auffallendem Federschmuck herauszuputzen. Bayerischer und Tiroler Schnickschnack war en vogue – selbst in Frankfurt, wo man in der guten alten Zeit ja sehr auf das Maßvolle gesetzt und Übertreibungen jeder Art verabscheut hatte. Johann Isidor tippte sich an die Stirn. Ihm waren die meisten Dinge suspekt, die südlich des Mains geschahen, aber, wie er seinen Angestellten zu predigen pflegte, es kam im Geschäftsleben ja nicht auf den persönlichen Geschmack an.
Das linke Bein des Mannes, der es auch in Zeiten der Krankheit nicht lassen konnte, an seine Geschäfte zu denken, war lang ausgestreckt; sein geschwollener Fuß steckte in einem braunbeige karierten Filzschlappen und lag auf einem Hocker mit einem cognacfarbenen Kissen, dem Betsy im ersten Jahr ihrer Ehe die Worte »Ruhe sanft« in Kreuzstich aufgestickt hatte. Der Leidende legte beide Hände um das Kissen, als wolle er es erwürgen. Dann drehte er es so um, dass er die Schrift nicht mehr sah, schob es zurück unter seinen schmerzenden Fuß und stöhnte. Einer jener gefürchteten Gichtanfälle, die ihn in immer kürzeren Abständen traktierten, hatte zur Abänderung seiner vertrauten Tagesroutine geführt und ihn einer jener häuslichen Putzaktionen ausgesetzt, die er, ohne dies je laut auszusprechen, als den Krieg der Frauen gegen Verstand und Anstand bezeichnete.
Der Hausherr hätte das Großreinemachen an jedem beliebigen Wochentag als Zumutung für einen Mann empfunden, aber dass die verhasste Aktion mit Bohnermaschine, Besen und Seifenlauge ausgerechnet dann stattfand, wenn ihn jedes ungewohnte Geräusch so peinigte, als würde man ihm Nägel ins Hirn bohren, empfand er als den eigentlichen Schicksalsschlag. Nicht nur Betsy, die dabei war, jedes Teil vom Hutschenreuther-Service aus dem Vertiko im Esszimmer zu holen, es in der Küche zu spülen und wieder zurückzutragen, und Josepha, die auf jedes Kissen so laut mit dem Teppichklopfer eindrosch, als ginge es um die Rache an Deutschlands Erbfeinden, torpedierten den Frieden. Auch Frau Winkelried war im Haus.
Die Putzfrau, die sonst nur freitags in die Rothschildallee bestellt wurde, hatte den Auftrag, sämtliche Gardinen abzuhängen, sie in der Waschküche der alljährlichen Frühjahrskur zu unterziehen, zwischenzeitlich sämtliche Fenster zu putzen, die Böden in den Schlafzimmern zu bohnern, das Parkett in den Wohnräumen zu bearbeiten und alle Leisten mit einem feuchten Lappen abzuwischen.
Seit dem September des Vorjahres hatte der Hausherr eine tief gehende Antipathie gegen Frau Winkelried. Da hatte sie damit begonnen, ihr strähniges blondes Haar zu einem Knoten im Nacken zu legen und den obersten Knopf ihrer hochgeschlossenen Bluse mit einer rund geformten Brosche aus geblümtem Stoff zu verdecken. Zunächst hatte Johann Isidor nur vermutet, er würde Anstoß an dem Umstand nehmen, dass eine einfache Zugehfrau sich wie eine Bürgerliche kleidete und frisierte. Bald ging ihm jedoch auf, dass sowohl Frau Winkelrieds Frisur als auch die Brosche ihn in unangenehmster Weise an seine erste Lehrerin erinnerten. Fräulein Forst, wie er gebürtig im hessischen Schotten und mit den Familienverhältnissen eines jeden ihrer Schüler vertraut, hatte dem neunjährigen Johann Isidor Sternberg auch bei null Fehlern im Diktat das »Sehr gut« prinzipiell verweigert. Noch unverständlicher für den Jungen, dem so zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben das Vertrauen in die Gerechtigkeit genommen wurde: Obgleich die Lehrerin wusste, dass er jüdisch war, fragte sie ihn jeden Freitag in der letzten Stunde, wann ihn seine Eltern denn endlich zur Erstkommunion schicken würden. Die beiden Worte »endlich« und »Erstkommunion« pflegte Fräulein Forst eigens zu betonen und sich dabei den übrigen Schülern und Schülerinnen zuzuwenden. Ohne Ausnahme ließen die grinsend und kichernd wissen, dass sie im Bilde waren.
Johann Isidor hatte Frau Winkelried außerdem im Verdacht, sie mache ihn persönlich für ihre desperate wirtschaftliche Lage als Kriegswitwe mit drei noch schulpflichtigen Kindern verantwortlich. In seiner Gegenwart hatte sie mehrmals unangenehm deutlich gesagt, sie fühle sich für ihre körperlich schwere Arbeit zu gering entlohnt und sie wisse nicht, wie lange ihre Kräfte noch reichen würden. »Jedes Mal, wenn sie mich erblickt, hechelt sie wie ein alter Hund«, beschwerte sich Johann Isidor bei seiner Frau.
»Es könnte ja sein, dass die Arme kurzatmig ist«, meinte Betsy. Sie wusste, dass dies nicht so war, doch war sie nicht gewillt, die Sauberkeit ihrer Wäsche und den einwandfreien Zustand der Fußböden wegen der Empfindlichkeiten ihres Mannes aufs Spiel zu setzen.
»Und warum kann sie stundenlang mit der Putzfrau aus dem Parterre im Hausflur tratschen, ohne dass sie nur ein einziges Mal Atem holen muss?«
Frau Winkelrieds Aversion gegen ihren Brotherrn war eher typisch für die Zeit, in der sie lebte, als eine Sache der Erfahrung. Obwohl ihr sämtliche Kenntnisse fehlten, um die wirtschaftliche Lage im Deutschen Reich zu beurteilen, unterstellte die Putzfrau ihrem Brotherrn, er wäre ein »ganz übler Kriegsgewinnler«. Hielt sie es für angebracht, was immer öfter der Fall war, wies sie auch auf seine Konfession hin. Dass sie im Hause Sternberg fünfzig Pfennig mehr pro Stunde verdiente als bei ihren übrigen Putzstellen, erwähnte sie hingegen nie.
Nicht allein die fehlenden Gardinen im Salon stimmten Johann Isidor schwermütig. Es verdross ihn, dass seine Frau am Tag zuvor seinetwegen Doktor Meyerbeers Sonntagsruhe gestört hatte. Meyerbeer praktizierte seit sechs Jahren nicht mehr. Er fuhr auch nicht mehr Auto, und weil er Schwierigkeiten hatte, in die Tram einzusteigen, und zu sparsam war, ein Taxi zu nehmen, machte der Pensionär alle seine Wege zu Fuß. Für die Sternbergs, die sich einen anderen Hausarzt als den, der sie seit siebenundzwanzig Jahren betreute, noch nicht einmal vorstellen mochten, musste er von seiner Wohnung in der Humboldtstraße zur Rothschildallee laufen. Johann Isidor empfand es als grobe Ausnutzung einer Freundschaft, einem alten Mann solche körperlichen Strapazen zuzumuten. Noch dazu für einen schmerzenden Zeh.
»Wenn ich noch einen Ton höre, setzt es was«, brüllte er plötzlich in Richtung Diele. Er hielt sich beide Ohren zu und ruderte mit seinem gesunden Fuß über dem Hocker.
Frau Betsy, immer noch in der Küche mit dem Geschirr beschäftigt, nahm an, ihr leidender Gatte fühle sich durch den Papagei Otto gestört. Seit acht Uhr in der Früh hatte die Frühlingssonne den Vogel zu einem Frohsinn animiert, der im ganzen Haus zu hören war. Nervös, eine Untertasse vom Hutschenreuther-Service in der Hand, hetzte die Hüterin des Heims in den Wintergarten. Sie stellte den kleinen Teller zwischen zwei blühenden Begonien ab und traf Vorbereitungen, den Käfig mit einem dunkelgrünen Deckchen zu behängen, um so bei Tante Jettchens krächzender Hinterlassenschaft den Eindruck zu erwecken, es wäre Nacht und Schlafenszeit.
»Mach das verdammte Viech nicht verrückt«, protestierte der Hausherr, »der Vogel stört mich doch gar nicht. Der ist direkt Balsam für meine Ohren.«
»Was stört dich denn sonst, um Himmels willen?«
»Wer stört mich, nicht was, verdammt noch mal! Bist du denn taub? Dein verehrtes Fräulein Tochter treibt mich in den Wahnsinn. Bitte richte ihr aus, dass zwei begnadete Hungerkünstler in der Familie Sternberg ihrem Vater für ein ganzes Leben reichen. Wenn es sie auch noch nach Ruhm und Ehre dürstet, lernt sie mich kennen. Und zwar umgehend.«
Zielscheibe des väterlichen Zorns war Alice, die immer Verkannte, ewig Missverstandene. Wegen einer Lehrerkonferenz hatte sie erst zur vierten Stunde Unterricht und zu Hause bereits für einen gewaltigen Sturm gesorgt. Die zierliche schwarzhaarige Fee mit einer nie zu stillenden Sehnsucht, als originell aufzufallen und jedermann zu gefallen, war in einem durchsichtigen schwarzen Negligé von Victoria und mit einer gewaltigen Portion Rouge auf ihren pausbäckigen Kinderwangen am Frühstückstisch erschienen. Sie war von ihrer aufgebrachten Mutter zurück in ihr Zimmer geordert worden und hatte mindestens sechzig Minuten lang jede Nahrung und sogar das herzzerreißende Lächeln der teilnahmsvollen Josepha verweigert. Offenbar hatte sich die kleine Amazone aber schließlich doch von dem schmachvollen Generationenkrieg und der anschließenden mütterlichen Philippika erholt. Pfauenstolz und mit Hüftschwung zelebrierte das tapfere Mädel sein musikalisches Talent an Mutters geheiligtem Flügel.
Der Vater war aufgestanden und zu ebendiesem Flügel gehinkt; er war also nun in der Lage, seine Vorwürfe direkt an die Tochter zu richten. Die Beleidigte verteidigte sich mit gewohnter Beherztheit. »Das«, ließ sie wissen, »hat uns Fräulein Doktor Kranichstein als Hausaufgabe für die nächste Deutschstunde aufgegeben. Und sie hat ausdrücklich gesagt, ich, eure Tochter, die berühmte Quartanerin Alice Sternberg, habe alle Chancen, meine Note noch zu verbessern.«
»Hätte«, verbesserte die Mutter mechanisch. Sie stand nun neben ihrem Gatten. »Sie hat gesagt, ich hätte alle Chancen meine Note zu verbessern.«
»Wieso du?«, fragte das scheinheilige Nesthäkchen.
Nach entgangenem Frühstück war Alice noch weniger geneigt als sonst, sich durch sprachliche Dispute von ihrem Weg abbringen zu lassen. Mit schlanken Fingern streichelte sie zärtlich den Flügel. Sie lächelte fein, schloss einen Moment die Augen und die übrige Welt aus und stellte sich seufzend vor, sie würde ihre Lehrerin kosen. Fast alle Mädchen in der Klasse schwärmten für Fräulein Doktor Winfried Kranichstein. Sie war an der Herderschule in der Frankfurter Wittelsbacher Allee sowohl die Klassen- als auch die Deutschlehrerin der Quarta, schön, temperamentvoll und unglaublich einfallsreich. Ihre Schülerinnen nannten sie »Winnie« und waren bereit, für sie durch Feuer und Wasser zu gehen.
Winnies Haare waren kupferrot und zu einem Bubikopf geschnitten, den vornehmlich die Herrenwelt als fesch bezeichnete. In der Schule erzählten sich die Kinder und auch manche Kolleginnen, Fräulein Doktor Kranichstein benutze Belladonna, damit ihre Augen leuchteten. Für die Geschmeidigkeit ihrer Stimme schlucke sie Kreide wie der Wolf im Märchen, ihre Hände lasse sie bei einer russischen Maniküre pflegen, die früher am Zarenhof gewirkt hätte. Die schöne Lehrerin hatte sehr ungewöhnliche Ansichten über Kinder, deren Lernfreude im Allgemeinen und den Lehrberuf im Besonderen. Aufgeschlossene Eltern – besonders die Väter ihrer Schülerinnen – fanden, Fräulein Kranichstein wäre eine erfrischende Brise in einer Zeit, die Ausschau nach neuen Werten halten müsse. In der Überzahl waren allerdings die Mütter, die es nach der gut überschaubaren Welt der Vorkriegszeit verlangte und nicht nach »neumodischem Firlefanz«. Damen über vierzig waren von der schicken Rothaarigen mit den ausgefallenen Einfällen und den gut geschnittenen Kleidern grundsätzlich irritiert, die Gehässigsten behaupteten, nicht nur die Haare der ungewöhnlichen Pädagogin wären rot. Ihre Gesinnung wäre es auch.
Für die kommende Deutschstunde hatte Winnie aufgegeben, ihre Quartaner sollten sich an einer Vertonung von Mörikes bekanntem Gedicht »Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte« versuchen. Die Schülerin Alice Sternberg, vom gesamten Lehrerkollegium als phlegmatisch, desinteressiert und minderbegabt gebrandmarkt, hatte sich mit Eifer ans Werk gemacht. Alice, die bei ihrer Geburt von keinem in der Familie willkommen geheißene Nachzüglerin, hatte es immer noch schwer, sich in der Familie zu behaupten. Weil die beiden älteren Schwestern so apart und selbstbewusst waren, die stille Anna allerorten als ein Juwel der besonderen Art gepriesen wurde und weil selbst Misanthropen Claras neunjähriger Tochter Claudette nicht widerstehen konnten, wurde Alice mit den himmelblauen Augen trotz ihres Charmes und ihrer früh blühenden Schönheit selten wahrgenommen.
Das fünfte Kind der Sternbergs, unmittelbar nach dem Soldatentod des Stammhalters geboren und in den schlimmen Jahren von Krieg und wirtschaftlicher Not herangewachsen, blieb selbst dann das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, als sich die Verhältnisse besserten und die Eltern sich mit dem Segen ihrer späten Jahre doch noch abfanden. Alice war ungewöhnlich musikalisch, was ihrer Mutter jedoch entging. Bei Frau Betsy, die ihre ersten vier Kinder Tag für Tag an den Flügel gezerrt und ihnen zum Einschlafen nur klassische Lieder vorgesungen hatte, waren sowohl die Kräfte als auch der Glaube dahin, gute Beispiele könnten Berge versetzen.
Sie hatte überhaupt nicht versucht, ihr jüngstes Kind in die Welt der Musik einzuführen, nur widerwillig die von der Schule empfohlene Blockflöte gekauft und Alice nie zum Üben gedrängt. Dass ihre Jüngste seit der Sexta im Schulchor war, empfand die Mutter nicht als Auszeichnung. Dafür beklagte sie sich regelmäßig, dass an den Tagen mit Chorprobe der ganze »Haushalt aus den Fugen« gerate. Josepha musste Alice’ Mittagessen nachmittags um drei servieren. Und genau wie früher bei Erwin – und ebenso zum Missfallen ihrer Chefin wie damals – nutzte die Köchin die Gelegenheit aus, um Alice Leckerbissen zuzustecken, von denen die Mutter fand, sie würden Appetit und Charakter verderben.
Alice mit den mittelmäßigen Zeugnissen und der Gelassenheit der Begnadeten interessierte sich ausschließlich für die schönen Dinge des Lebens. In besonders extravaganten Tagträumen sah sie sich mit ihrer Schwester Victoria auf der Bühne stehen – bis zur Wespentaille in Rosenbouquets steckend. Mit ebenso viel Phantasie hatte sich Fräulein Doktor Kranichsteins talentierte Schülerin an ihre Schulaufgaben gemacht – im grünen Flügelkleid und mit silbernen Ballettschuhen. Sie hatte zunächst Mörikes romantisches Gedicht nach der Melodie des beliebten Volkslieds »Am Brunnen vor dem Tore« gesungen. Selbst der Papagei hatte gelauscht und aufgehört, das große Wort zu führen. Unmittelbar nach der Schlusszeile hatte die Solistin das Gedicht noch einmal gesungen, bei der Wiederholung ihre Darbietung am Flügel mit einer ohrenbetäubenden Collage aus Jazzrhythmen und moderner Tanzmusik begleitend. Die Klangorgie war eine erstaunlich geschickt zusammengestellte und hochaktuelle Mischung aus Shimmy, Charleston und Blues. Die verstörten Eltern hielten sich an den Händen und bemerkten nicht, dass sie ihre ergrauten Köpfe im Takt zur Musik schüttelten.
Bei der dritten Wiederholung – Alice warf gerade zu der triumphierenden Gedichtzeile »Frühling, ja du bist’s« ihre Beine wie ein Girl vom Varieté in die Höhe – verlor der Vater endgültig die Contenance und stampfte auf den blauen Teppich mit dem radschlagenden Pfau und den zierlichen Hirschkühen. Er benutzte dazu ausgerechnet seinen schmerzenden Fuß, verzog im Schmerz sein Gesicht und humpelte in Richtung Toilette davon. Die Türklinke schon in der Hand, rief er angeekelt: »Negermusik.«
Seine Frau sah das Problem differenzierter, vor allem mit dem gewohnten Scharfblick einer Mutter, die bei jedem Kind, das sie zur Welt bringt, das natürliche Talent einer Frau, sich nicht hinters Licht führen zu lassen, um ein Stück weiterentwickelt. Die musikalische Collage hatte ihr nämlich klargemacht, dass ihre Jüngste von dem Freiheitswillen durchdrungen war, der bereits ihre Geschwister zu früh ins Leben gelockt hatte. Madame Sternberg mit den ehernen Prinzipien bezweifelte keinen Augenblick, dass Alice mehr Zeit im Kino als mit ihren Schulaufgaben verbrachte. Betsy las immer wieder – und sie wusste dies auch von anderen Müttern –, dass sich sogar zehnjährige Kinder in die Kinos schmuggelten, ohne dass die Filmvorführer oder die Platzanweiserinnen einschritten.
Es war durchaus Brauch geworden, dass sich kleine Mädchen aus guter Familie haarsträubende Filme anschauten, während ihre ahnungslosen Mütter sie friedlich schaukelnd auf dem Spielplatz wähnten. Laut den Berichten, die Betsy erreichten, wurden in den meisten Frankfurter Kinos schockierende Machwerke gezeigt. Männer mit viel Pomade im Haar hielten sich mit gleicher Selbstverständlichkeit Mätressen und Liebessklavinnen wie Jäger Hunde und Bäuerinnen Hühner. Filmschauspielerinnen, wie soeben die berühmte Pola Negri in »Hotel Stadt Lemberg«, gaben sich für die Rollen von unmoralischen, männerverderbenden Vamps her. In Madame Betsys Sprachgebrauch waren sie alle »schamlose Frauenzimmer« und »durchtriebene Luder«.
»Schluss«, brüllte sie die Tochter an, die nach dem Angriff des Vaters stumm und starr am Flügel stand, »mir reicht das ganze Theater. Aber gründlich.« Da sie immer noch an die Vamps und Kokotten der Leinwand dachte, schrie sie mit sich überschlagender Stimme: »In meinem Haus gibt es das nicht. Merk dir das ein für alle Mal, mein Fräulein, das hier ist kein Bordell. Dafür hat dein tapferer Bruder sein Leben nicht hergegeben.«
Alice war es gewohnt, die Vorwürfe nicht zu verstehen, die ihre Eltern ihr machten. Sie war keine Grüblerin und hatte nicht das Bedürfnis, die Geheimnisse der Welt zu enträtseln. Selbst im Moment ihrer künstlerischen Niederlage forschte sie nicht nach der Ursache für die mütterliche Empörung und den väterlichen Zorn. Sie hatte kein Vertrauen in das Gerechtigkeitsbewusstsein ihrer Eltern, und meistens scheute sie die Mühe, sich zu verteidigen. Das gescholtene Kind lächelte artig, deutete einen Knicks an, was in der Schule bei kleinen Sünden Wunder zu bewirken vermochte, und ging leise in ihr Zimmer. Als Beweis, dass sie vorhatte, sich umgehend dem Ernst des Lebens zuzuwenden, zählte sie laut und deutlich jedes Stück auf, das sie in ihre Schultasche packte. Allerdings unterließ es die kleine Diplomatin mit dem sicheren Instinkt für das komplizierte Seelenleben der Erwachsenen, eine brandneue Postkartensammlung von beliebten Filmdarstellerinnen zu erwähnen. Sie hatte die kostbare Trophäe erst zwei Tage zuvor mit dem Geld erworben, das ihr Josepha zugesteckt hatte, nachdem sie wegen einer verlorenen Mütze von ihren Eltern vor dem 1. April keine geldliche Zuwendungen mehr zu erwarten hatte.
In Alice’ neuester Kinokollektion war eine von ihren Mitschülerinnen heiß begehrte Postkarte. Zu sehen war die schöne schwedische Schauspielerin Greta Garbo, deren Karriere in Deutschland mit dem Film »Die freudlose Gasse« angefangen hatte und die soeben in Hollywood in einen Film mit dem verheißungsvollen Titel »Love« die Anna Karenina spielte. Die Aufnahme zeigte sie nur halb bekleidet auf einer Couch liegen. Alice, deren Mutter noch nicht einmal bereit gewesen war, ihr zu erklären, wie es in einer freudlosen Gasse zuging und wo es eine solche gab, übte jeden Abend vor dem Schlafengehen die laszive Pose der Garbo – mit hochgeschürztem Nachthemd und hochgebundenem Haar.
»Den reichen Leuten ihre Sorgen möchte ich auch mal haben«, schniefte Frau Winkelried in ihr rotweiß kariertes Taschentuch. Sie machte gerade in der Küche Pause vom Bügeln, hatte sich, wie üblich, zwei Flaschen Malzbier geben lassen und strich das gute Gänseschmalz mit Apfel und Grieben, das vom Winter übrig geblieben war und das Josepha für Erwins nächsten Besuch hatte aufheben wollen, dick auf eine Scheibe Schwarzbrot. »Meine Kinder waren noch nie in keinem Kino«, bemängelte die kauende Rebellin, »von was denn auch?«
»Das hat die gnädige Frau auch gedacht«, grinste Josepha. Sie griff entschlossen nach dem hellgrauen Schmalztopf aus dem Westerwald und trug ihn, die Lippen aufeinandergepresst, die Brust würdevoll herausgestreckt, zurück in die Speisekammer. »Wo er hingehört«, sagte sie vorwurfsvoll. Josepha hatte die gleiche Abneigung gegen Frau Winkelried wie ihr Chef.
Erst als er Alice fröhlich »Auf Wiedersehen« trompeten hörte, sie die Wohnungstür so laut zuschlug und danach polternd die Treppe hinunterrannte, wie das in Mietshäusern nur die besitzerprobten Kinder der Hauswirte tun, fand der kränkelnde Hausherr seine Ruhe zurück. Er saß nun wieder in seinem Arbeitszimmer, den Fuß auf den Lederhocker und das bestickte Kissen gebettet. Von Zeit zu Zeit atmete er tief ein und ebenso bewusst wieder aus, dies eine der vielen Empfehlungen Doktor Meyerbeers, von denen Johann Isidor zu sagen pflegte, sie würden zumindest nichts schaden und auch nichts kosten.
Als er an den kleinen Witz und die gewohnten Dispute mit Meyerbeer dachte und dass diese nie bösartig waren, sondern ihm vielmehr ein beruhigendes Stück Vertrautheit vermittelten, lächelte der Patient. Es machte ihm Freude, dass der Eichelhäher immer noch auf dem Baum in der Allee hockte, und er fand es absolut logisch, dass Johann Isidor Sternberg, der stets nach Vollkommenheit strebende Handelsmann, sich nicht die kleinste Pause vom Erwerbsleben gönnte, sondern sich weiter mit den Hutfedern beschäftigte, mit denen er die Umsätze in seiner Posamenterie zu beleben gedachte.
Eine Wolke verdeckte schlagartig die Sonne. Über den Dächern zuckte ein Blitz auf. Mit der gleichen Plötzlichkeit verdunkelte sich Johann Isidors Stimmung. Veränderungen jeglicher Art, selbst solche, die ihn nicht persönlich betrafen, hatten ihn schon in der Jugend irritiert. Nun bedrückten sie ihn; sie erweckten Ängste, die er früher nicht gekannt hatte. Er sah den Vogel davonfliegen und starrte, ohne sich zu bewegen, auf den Ast, auf dem der Eichelhäher gesessen hatte. Seine Augen brannten, er spürte ein dumpfes Geräusch in den Ohren. Einen Augenblick war es ihm, als hätte er einen Freund verloren. Er zündete eine Zigarette an, beobachtete den Rauch aufsteigen und genierte sich seines Trübsinns.
Es erschien ihm lächerlich und entwürdigend, dass ein Mann, dem einst jedermann Willensstärke und Haltung bestätigt hatte, es noch nicht einmal mehr mit einem schmerzenden Zeh aufzunehmen vermochte. Um seine Frau nicht zu kränken, trank er die Tasse fette Hühnerbrühe, die sie ihm um elf Uhr mit einer jener länglichen Käsestangen brachte, die neuerdings in vornehmen Restaurants zur Suppe serviert wurden und die er nicht ausstehen konnte. Seitdem Alice im vergangenen Herbst Ziegenpeter und eine Woche lang alarmierend hohes Fieber gehabt hatte und nur Flüssiges hatte schlucken können, hielt Betsy fette Hühnersuppe für ein Allheilmittel bei jeder Krankheit – in den mehr als dreißig Jahren ihrer Ehe hatte die treusorgende Gattin und allzeit besorgte Mutter nur bei schweren Erkältungen auf die Heilkraft von Hühnerbrühe gesetzt. Johann Isidor ertappte sich bei dem Wunsch, seine Frau hätte die fiebernde Alice mit Vanilleeis kuriert. Betsy hatte die Hühnerbrühe für den sich grämenden Gatten persönlich gekocht und damit Josephas Zorn erregt, denn die standesbewusste Köchin litt es nicht, dass ihr von irgendwem die Alleinherrschaft in der Küche streitig gemacht wurde. Die Hüterin des Heims hatte ihr Gebräu sowohl mit Butter als auch mit gequirltem Eigelb und Suppennudeln angereichert.
Johann Isidor war gerührt. Betsy, in jeder Lebenslage eine Kameradin, gönnte sich, genau wie zu den Zeiten, da die Kinder klein waren, keinen Moment Ruhe, wenn einer in der Familie krank war. Nicht nur, dass sie am frühen Morgen bis zum Uhrtürmchen auf der Berger Straße gelaufen war, um das Suppenhuhn und frische Petersilie zu besorgen. Sie hatte auch sämtliche Zeitungen und Zeitschriften im Haus nach deren Datum geordnet und sie auf den Beistelltisch neben Johann Isidors Sessel gelegt. Mit Behagen, weil er nun doch die Unterbrechung seiner üblichen Tagesroutine zu genießen begann und weil ihm die Hühnerbrühe tatsächlich wohlzutun schien und seine Stimmung auf eine Weise aufhellte, die ihn verblüffte, begann der Kranke mit seiner Lektüre.
Gewöhnt, sich die Zeitungen erst nach erledigtem Tagespensum zu gönnen, empfand er das Tageslicht als willkommenes Geschenk für seine schwach gewordenen Augen. Konzentrierter als sonst las er die aktuellen Berichte, beschäftigte sich aufmerksam mit Katastrophen aller Art, hatte seine Freude am Gemischten und den Berichten aus dem Ausland. Es stimmte ihn froh, dass er nicht mit seiner Zeit zu kargen brauchte; er genoss die kleinen Grübeleien, zu denen er neigte, und die ausschweifenden Analysen, die sich aus ihnen ergaben. Selbst die Kulturnachrichten fand der eifrige Zeitungsleser nicht so uninteressant wie sonst. In Berlin war soeben der Film »Die Lady ohne Schleier« mit Lil Dagover, für die er ein geheim gehaltenes Faible hatte, aufgeführt worden und zeitgleich ein Lustspiel mit dem Titel »Der Juxbaron« mit Marlene Dietrich. Von der behauptete ausgerechnet Doktor Meyerbeer, der sich ja sonst eher für Frauen im kranken Zustand interessierte, sie würde noch eine große Karriere machen. Johann Isidor hatte mit einer Flasche Ingelheimer Rotwein dagegengesetzt. Er lächelte und versuchte zu pfeifen.
Zurück in die deutsche Wirklichkeit brachte ihn die Meldung, dass der deutschnationale Politiker Alfred Hugenberg Aktien der UFA im Wert von fünfzehn Millionen Reichsmark erworben und sich damit die Vorherrschaft in dem Konzern gesichert hatte. Auf der gleichen Seite wurde berichtet, dass Adolf Hitler, gegen den Bayern soeben das Redeverbot aufgehoben hatte, vor fünftausend jubelnden Münchnern im Zirkus Krone geredet hatte.
»Wo sonst als in einem Zirkus soll so ein Narr sein Publikum finden?«, murmelte Johann Isidor.
Einen Augenblick, in dem sein Herz zu schnell schlug und er sich deshalb aufs Neue ängstigte, bedauerte er, dass Erwin nicht da war – sein Sohn liebte solche Anspielungen und hatte eine gewaltige Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Johann Isidor fand Erwins Aversion ziemlich übertrieben und sehr typisch für einen Mann, der in allem zu gefühlsbetont reagierte und schon als Junge dazu geneigt hatte, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Obwohl Vater und Sohn seit Jahren nicht mehr einer Meinung gewesen waren und sie sich gegenseitig für bedauernswerte Trottel hielten, die mit geschlossenen Augen durchs Leben gingen, vermisste der Vater seinen Sohn öfter, als er wahrhaben wollte. Schließlich hatte Johann Isidor Sternberg sein ganzes Leben lang immer nur das Wort aus Männermund ernst genommen. In melancholischer Stimmung bedrückte es ihn, dass er der einzige Mann im Hause war.
Als die Zwillinge noch ausschließlich auf die Mutter fixiert waren, Otto aber schon mit dem Vater von Mann zu Mann über die Schlagkraft seiner Zinnsoldaten debattierte, fiel es dem Hausherrn nicht auf, dass in der Familie Sternberg das weibliche Element dominierte. Nach Ottos Tod und seitdem Erwin in Berlin lebte, konnte er seine Gedanken und Empfindungen, die Hoffnungen und Enttäuschungen ausschließlich Betsy oder Anna anvertrauen. Sosehr er seine Frau und seine Herzenstochter schätzte, er kam nie gegen das Vorurteil an, das fast alle Männer seiner Generation gegen Frauen hegten.
»Sie sehen immer nur ihre klitzekleine Welt und nie das große Ganze«, beklagte sich Johann Isidor bei Meyerbeer. Am 21. Februar war ein Geschäftsgebäude in Frankfurt, das zu einem Kinopalast umgebaut werden sollte, während der Bauarbeiten eingestürzt. Drei Tote und dreißig Verletzte waren zu beklagen gewesen, doch Frau Betsy, die gerade Küche und Bad renovieren ließ, hatte am Tag der Tragödie den ganzen Abend gejammert, dass Josepha zum Sonntag keine warme Mahlzeit würde kochen können. »Sie hat doch tatsächlich gesagt«, erinnerte sich Johann Isidor, »schlimmer kann es ja gar nicht mehr kommen.«
»Sie wird sich wundern«, wusste Meyerbeer, »ich habe noch bei keinem erlebt, dass das Alter angenehme Überraschungen bringt.«
Johann Isidor dachte viel über die Veränderungen nach, die seit 1914 das Leben der Deutschen im Allgemeinen und das seine im Besonderen prägten. Was war aus dem deutschen Vaterland geworden, dem der deutsche Kaiser versprochen hatte, es würde keine Konfessionen mehr geben und alle Menschen wären Brüder? Ein zerronnener Traum! In den Amtsstuben und in den Schützengräben, an Wirtshaustischen und in der Presse hatte man – mitten im Krieg – den jüdischen Bürgern Drückebergerei vorgeworfen. Die Regierung hatte eine »Judenzählung« angeordnet, die sollte eruieren, wie hoch der Anteil der Juden war, die sich vom Militärdienst hatten zurückstellen lassen; es waren prozentual ebenso viele jüdische wie nichtjüdische Soldaten gefallen, doch das Ergebnis war nie bekannt gegeben worden.
Nach dieser berüchtigten Aktion war es vorbei mit der Illusion der deutschen Juden, sie wären gleichberechtigte, wohlgelittene, assimilierte Bürger in ihrem deutschen Vaterland. Als er von der »Judenzählung« erfuhr, hatte sich Johann Isidor im Zimmer seines gefallenen Sohns eingeschlossen und sich immer wieder die Frage gestellt, auf die er zeitlebens keine Antwort mehr finden sollte. Und nie mehr war es ihm gelungen, zu verdrängen, was nicht zu vergessen war.
Trotzdem blieb er der Alte – ein gesetzestreuer, pflichtbewusster deutscher Bürger jüdischen Glaubens, dem Deutschland Heimat und die Muttersprache heilig waren. Wie früher ihren Schwestern bläute er auch seinem jüngsten Kind Alice ein, ein jüdisches Mädchen müsse besonders folgsam sein und dürfe »bloß nicht auffallen. Wenn einer aus der Reihe tanzt«, empfahl der ewig angepasste Vater, ohne dass ihm aufging, was er wirklich sagte, »sollen es die Gojim sein.«
Als er seiner Enkelin zum siebten Geburtstag eine Puppe schenkte und Claudette die schwarzhaarige Schönheit Rebekka nannte, war er entsetzt. Er warf seiner ältesten Tochter vor, sie würde ihr Kind zur Außenseiterin erziehen. Allerdings konnte selbst dem guten Deutschen Johann Isidor Sternberg nicht entgehen, dass der Wind rau geworden war und dass sich der Himmel in seiner geliebten Heimat verfärbt hatte. Wie im Mittelalter, als die Pest gewütet hatte, waren die Juden wieder der Sündenbock, diesmal schuld am verlorenen Krieg und der wirtschaftlichen Not der Zeit.
Johann Isidor Sternberg senkte nicht den Kopf. Er studierte weiter seine Bilanzen, stand zufrieden vor den Schaufenstern seiner Läden, kam nach Hause von seinem Verlag und war dankbar, dass der geschäftliche Erfolg ihm durch alle Stürme der Zeit treu geblieben war. Der Tisch im Hause Sternberg wurde so reich gedeckt wie vor dem Krieg. Der Familienvorstand brauchte die Seinen nicht zur Sparsamkeit anzuhalten. Großzügig versorgte er sein vaterloses Enkelkind; er zankte nicht mit Clara, wenn sie ihm die hohen Rechnungen für ihre anspruchsvolle Lebensweise brachte. Nie fragte er Victoria, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte, und er unterstützte schweigend einen Sohn, der sich den Glauben nicht nehmen ließ, die Menschen würden eines Tages Schlange stehen, um seine Bilder zu kaufen.
Dass es einsam um den Mann der Pflicht geworden war, hielt er keineswegs für das Merkmal einer Zeit im Umbruch, eher für eine Begleiterscheinung des Alters. Die Scheuklappen, ohne die er selbst in seinen besten Jahren nicht ausgekommen war, schützten ihn. Die Kunst, bei Bedarf die Wirklichkeit auszublenden, war immer noch eine verlässliche Stütze. Nie sprach er von den begrabenen Hoffnungen und schon gar nicht, wie sehr es ihn peinigte, dass mit Ausnahme von Anna seine Kinder den sternbergschen Weg verweigerten. »Meine schrecklichen Kinder«, sagte er einmal zu Betsy, obwohl er kein Wort Französisch sprach und den Ausdruck »Enfant terrible« nicht kannte.
Es wurde einsam um den »tüchtigen Herrn Sternberg mit dem goldenen Händchen«. Das gesellschaftliche Leben mit Einladungen und Gegeneinladungen, das in der Kaiserzeit dem Leben Glanz und Inhalt gegeben hatte, gab es nicht mehr. Die Freunde wurden schweigsam, aus Bekannten wurden Erinnerungen, die von Jahr zu Jahr mehr verblassten. Die Leute gingen eilig weiter, wenn sie Johann Isidor auf der Straße trafen. Keiner wollte mehr wissen, was er von der allgemeinen Lage halte und wie es der »charmanten Gattin« gehe.
Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er nicht in Worte fassen können, was ihm widerfuhr. Es war ihm nie gegeben gewesen, zu sagen, was er fühlte. Nun wurde er kleingläubig und schwermütig, denn er spürte, dass er dabei war, sich vom Leben zurückzuziehen. Oder hatte sich das Leben bereits von ihm zurückgezogen? »Du stellst Fragen, die nur Gott beantworten kann«, murmelte Johann Isidor. Er lächelte, als er erkannte, dass es die Mutter war, die ihn gerügt hatte.
Der Regulator in der Diele schlug zwölfmal. Auf der Straße hupte ein Auto. Der Ton war schrill und unverschämt, er passte nicht in die Welt der Kinderwonnen. Der Träumende hörte Pferdehufe; er beobachtete die hüpfenden Lämmer hinter seinem Vaterhaus, und er flehte Gott an, er möge sie vor dem Schlachtermesser schützen. »Und wovon willst du leben?«, fragte die Mutter.
Alice, die schwarzhaarige Teufelstochter, streckte ihre Zunge heraus und tanzte Polka. Sie trug eine unanständig tief ausgeschnittene Bluse und sang ein ordinäres Studentenlied. Ihr Vater setzte zu einer Ohrfeige an, aber seine Rechte erstarrte mitten in der Bewegung; er schämte sich seiner Unbeherrschtheit und schwor, nie mehr eins seiner Kinder zu schlagen. Die aus den Fugen geratene Welt würde er immer nur auf die sanfte Art ins Lot bringen. Er war froh, dass er ein Mann war, der den eigenen Botschaften glauben konnte.
Als Betsy den beherzten Streiter für das Gute zum Mittagessen rufen wollte, brachte sie es nicht über sich, ihn zu stören. »Genesungsschlaf«, meldete sie Josepha, »ich sag doch immer, es geht nichts über eine gute Hühnersuppe. Heute Abend verquirle ich ihm ein Ei mit Rotwein. Rotwein ist die beste Medizin.«
»Den empfiehlt ja selbst der Papagei.«
»Das«, sagte Betsy in der überdeutlichen Sprechweise, die wissen ließ, dass sie gekränkt war, »braucht uns ja nicht zu wundern. Frau Jettchens Gatte war ja schließlich Sanitätsrat.«
In dem Schlaf, der an der Zeit rüttelte, als wäre sie aus Papier, kamen noch viele Bilder, die Johann Isidor nur mit Mühe in sein Lebensbuch einordnen konnte. Einmal sah er sich mit goldenen Flügeln zur Sonne fliegen. Unmittelbar darauf reiste er im kaiserlichen Sonderzug nach Baden-Baden. Er war erstaunt, denn er hatte seit Jahren nicht mehr an den Baden-Badener Sommer mit der Familie gedacht. Am 28. Juni 1914 hatte er dort, beim Mittagessen auf der Terrasse vom schönen Kurhotel Zum Hirsch, vom Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand erfahren. Gefüllten Kalbsbraten in Rieslingsoße hatte es gegeben, mit Schupfnudeln und Gelbrübenpüree. Was konnte man von Leuten erwarten, die Karotten Gelbrüben nannten und aus ihnen Kinderbrei machten? Als Dessert hatten sie Charlotte russe serviert und wunderbare Erdbeeren im Schokoladenmantel. Obwohl er ja in der Vorfreude auf den Krieg so aufgeregt gewesen war, hatte Otto seine Portion bis zum letzten Löffel gegessen. Typisch Otto, ein Kind noch, aber doch schon ein Held. Ein deutscher Held.
Es schellte an der Wohnungstür. Zwei kurze, abgehackte Töne waren es – nicht laut, nur absolut ungewohnt um die Mittagszeit. Johann Isidor blinzelte, als die Baden-Badener Bilder zum Stuck an der Decke schwebten und dann entschwanden. Ihn erreichten Stimmen. Noch konnte er sie nicht orten, doch er glaubte, sie zu kennen; er atmete tief ein, glättete mit zwei Fingern seine Stirn und merkte, dass die Haut warm wurde und wohl auch feucht. »Quatsch«, sagte er, »damals hat doch weiß Gott keine Menschenseele geschellt.«
»Johann Isidor«, sagte Betsy, »Herr Doktor Berghammer ist hier. Er hat gefragt, ob er dich einen Moment sprechen kann.«
»Aber nur, wenn ich nicht störe, Herr Sternberg. Ich wusste ja nicht, dass Sie krank sind.«
»Nicht krank, nur alt.«
»Wem erzählen Sie das?«, lachte Doktor Berghammer. »Es geht den Menschen wie den Leuten. Jünger wird keiner.«
Erst da sah Johann Isidor, dass sein Besucher nicht allein war. Hinter ihm stand sein Sohn Theo. Oberstudienrat Doktor Berghammer, seit geraumer Zeit pensioniert, nach dem tragischen Unfalltod seiner Frau seit Jahren mit seinem ehemaligen Dienstmädchen verheiratet, wohnte seit 1906 im dritten Stock der Rothschildallee 9. Der Kontakt zwischen Vermieter und Mieter war trotz dieser langen Zeitspanne auf den in Bürgerhäusern üblichen Austausch von Höflichkeitsbezeugungen im Treppenhaus und auf Weihnachtskarten und Ostergrüße in den Hausbriefkästen beschränkt geblieben. Johann Isidor hatte seiner Familie stets gepredigt, ein Akademiker hätte Anspruch darauf, mit Zurückhaltung behandelt zu werden. Vor allem einer mit Doktortitel.
Die zweite Generation war sich wesentlich näher gekommen. Der gewandte Theo mit der liebenswerten Charaktereigenschaft, die Schwachen vor den Angriffen jener Leute zu beschützen, die mit ihren Fäusten redeten, war der einzige Freund gewesen, den Otto je gehabt hatte. Der Ältere hatte dem Jüngeren das Tor zu einer Welt aufgestoßen, in dem Gehorchen nicht mehr die einzige Sohnespflicht war. Ohne Theo hätte Otto nie erfahren, was dem Menschen Lebensfreude, Heiterkeit und Freundschaft sind. In einem Brief, der seinen Empfänger erst nach dem Tod seines jungen Freundes erreichte, schrieb Otto: »Ich hab erst hier draußen begriffen, was ich Dir alles zu verdanken hab.«
1915, schwer verletzt an der Westfront, kehrte Theo nach Frankfurt zurück. Er nutzte die Gelegenheit, um der fünfzehnjährigen Clara Heines Gedichte ins Ohr zu flüstern und sie im Hinterhof, zur Zeit der knospenden Rosen, in die Liebe einzuführen. Lange Zeit vermutete Johann Isidor, der gut aussehende junge Mann, dem der Krieg den linken Fuß und die Beweglichkeit seines rechten Arms genommen hatte und somit auch seinen Beruf als Fotograf, könnte der Vater der kleinen Claudette sein. Da Clara aber jedes Gespräch mit den Eltern verweigerte, das Einblick in ihr Leben hätte geben können, teilte Johann Isidor das Fazit vieler schlafloser Nächte noch nicht einmal mit seiner Frau.
Der Besuch von Vater und Sohn Berghammer verwunderte ihn sehr. In den einundzwanzig Jahren und vier Monaten, in denen Doktor Berghammer in der Rothschildallee wohnte, hatte er kein einziges Mal seinen Vermieter persönlich aufgesucht. Theo hatte sich seit Ottos Tod nicht bei den Sternbergs blicken lassen, und Josepha hatte irgendwann erzählt, der junge Berghammer würde gar nicht mehr in der Rothschildallee wohnen. Nun saß er im gleichen Sessel wie früher – allerdings mit zusammengepressten Lippen und halb geschlossenen Augen. Den strahlenden Theo, der als hoffnungsvoller junger Spund morgens mit rotem Halstuch und überbordender Fröhlichkeit zur Arbeit gegangen war und der so ausgesehen hatte, als wäre er Fortunas Sohn, gab es nicht mehr. Er trug einen schweren orthopädischen Schuh und drückte seinen gelähmten Arm an die Brust. Den Kaffee, den Betsy ihm hinstellte, trank er schweigend, die Tasse hielt er in seiner gesunden Linken, die angebotenen Kekse lehnte er ab. Er wirkte ungeschickt und verlegen, die Augen trübe, das Gesicht starr. Theo Berghammer war zweiunddreißig Jahre jung, doch bereits ein alter Mann, der die Wolken grau und die Erde hatte blutrot werden sehen. Johann Isidor litt mit dem Jungen, den er früher gekannt hatte, doch sein Gedächtnis duldete das Mitleid nur einen Herzschlag lang – seinem Sohn war ja noch nicht einmal das Leben geblieben. Der Vater, der keine Ruhe fand, schämte sich seines Neids; er hatte das Bedürfnis, sich bei Theo zu entschuldigen. Es war, so hatte er als Kind gelernt, Gotteslästerung, die Lebenden mit den Toten zu vergleichen.
»Es tut mir sehr leid«, erklärte Doktor Berghammer, »Ihnen sagen zu müssen, dass wir die Wohnung aufzugeben gedenken.«
Johann Isidor verwirrten sowohl der Ton als auch die sprachliche Umständlichkeit. So begriff er erst allmählich, dass Doktor Berghammer dabei war, die Wohnung im dritten Stock zu kündigen. Sein Hauswirt überlegte, ob die Kündigung auf einen finanziellen Engpass hindeutete, kam jedoch zum Ergebnis, dass dies bei einem pensionierten Oberstudienrat wohl nicht zu erwarten war.
»Es fällt mir wirklich schwer«, hörte er Doktor Berghammer sagen, »wir haben gerne hier gewohnt. Sehr gerne. Auch als mein Sohn klein und ziemlich laut war, wie wir alle ja noch gut wissen, waren Sie und Ihre Gattin immer großzügig. Das machte das Zusammenleben angenehm.« Es stellte sich heraus, dass er ein kleines Haus in Bensheim an der Bergstraße geerbt und nun das Bedürfnis hatte, seinen Ruhestand in einem milden Klima und an einem so »liebenswerten Ort zu genießen, wie es Bensheim ist. Und wir sind ja auch froh, wenn wir keine Treppen mehr steigen müssen.«
Johann Isidor verlor ungern einen solventen Mieter. Während er nach den verbindlichen Worten suchte, die ihm fällig schienen, machte er sich die Vorwürfe, die er später seiner Frau machen würde. Weshalb um Himmels willen fummelte die dauernd an der Tischdecke herum? Hätte man den Berghammers nicht irgendwann die Küche kacheln müssen? Vielleicht hätten ein neuer Bodenbelag in den Wohnräumen oder einer dieser neumodischen Badeöfen die Leute zum Bleiben bewogen? Dass die gute Betsy auch nie in solchen Dingen Initiative zeigte. Hühnersuppe zu kochen war ja wahrhaftig keine Meisterleistung.
»Wie wäre es denn, wenn ich die Wohnung übernehme? Da brauchten Sie die Schilder an der Haustür und am Briefkasten nicht auswechseln zu lassen.«
Vater und Sohn hatten eine so ähnliche Stimmlage, dass Johann Isidor zunächst nicht begriff, dass es Theo war, der gesprochen hatte. Obwohl der höchstwahrscheinlich von einer winzigen Rente lebte, hatte er soeben allen Ernstes vorgeschlagen, eine repräsentative Fünfzimmerwohnung allein zu bewohnen. Oder etwa mit einem Untermieter in jedem Raum? Und mit einer gemeinsamen Küche, aus der es im ganzen Haus nach Kohl roch? Oder nach Erbsensuppe. Es gab neuerdings solche Mehrfachbelegungen großer Wohnungen, sozusagen als Antwort auf die wirtschaftliche Not. Aber doch nicht in einem ordentlichen Haus! Nicht in seinem. Johann Isidor spürte einen scharfen Schmerz im Kiefer. Er gab sich Mühe, nicht laut zu atmen. Weshalb haftete einem ablehnenden Nein immer das Stigma einer Kränkung an, und weshalb fiel es ihm immer schwerer, Nein zu sagen?
»Machen Sie sich keine Mühe«, erklärte Theo, »Kopfschütteln reicht.« Er stand auf, hatte seine gesunde Faust geballt, bohrte sie in die Hosentasche. Die Nasenflügel bebten. »Ich hab die Antwort erwartet. Wie kommt ein Mann wie Sie, der im Krieg das ganz große Geld gemacht hat, auch dazu, einem deutschen Krüppel ein Dach über dem Kopf zu verschaffen?«