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GEWITTERWOLKEN
1932
Am 6. März 1932 wurde die Leipziger Frühjahrsmesse eröffnet. Sie stand ganz im Zeichen der drückenden Wirtschaftskrise, und erwartet wurden entsprechend flaue Geschäfte. Ebenfalls in Leipzig besiegte die deutsche Fußballnationalmannschaft im ersten Länderspiel des Jahres die Auswahl aus der Schweiz mit zwei zu null. Das deutsche Passagierschiff »Bremen« war dicht davor, auf der Atlantikroute einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen, und hatte für die Strecke von Bremerhaven nach New York noch keine fünf Tage benötigt. Der heiße Wahlkampf um das Amt des deutschen Reichspräsidenten ging in seine Endphase. Die satirische Zeitschrift »Simplicissimus« mit dem Datum vom 6. März zeigte auf dem Titelbild den amtierenden Reichspräsidenten Paul von Hindenburg als trutzigen Riesen. Neben ihm stand ein hässlicher Winzling mit Hakenkreuzbinde am Ärmel. Er hieß Joseph Goebbels.
Im ersten Stock in einem noblen Haus in der Frankfurter Günthersburgallee fand kein einziges dieser brandaktuellen Themen Beachtung. An diesem lichten, verheißungsvollen Sonntag im Vorfrühling konzentrierten sich der stolze Gastgeber und seine animierten Gäste ausschließlich auf den ersten Geburtstag von Fanny Mathilde, dem erstgeborenen Kind von Rechtsanwalt und Notar Doktor Friedrich Feuereisen und seiner Gattin Victoria, geborene Sternberg.
Das Fest war einer Prinzessin würdig. Auf dem mit künstlichem Weinlaub dekorierten Büfett im Esszimmer standen fünf Torten auf schweren Kristallplatten – die Schwarzwälder Kirschtorte war von Zuckerveilchen umkränzt, der voluminöse Frankfurter Kranz von echten Rosenknospen. Der Wein bot eine Auswahl vom Rhein bis zum Kaiserstuhl. In tiefen silbernen Gefäßen wurden die Sektflaschen auf dem Eis kühl gehalten, das am Vortag von der Firma »Eis Günther« im Pferdewagen angeliefert worden war. Für die Damen waren außer dem beliebten Eierlikör und dem üblichen Kakao mit Nuss zwei Flaschen Eiswein aus Schloss Schwarzenstein beschafft worden. In eine der beiden zartrosa Karaffen, die Hochzeitsgeschenke von Tante Selma Feuereisen aus dem Badischen, hatte der Hausherr Port gefüllt, in die andere Madeira. Flankiert wurden die erlesenen Stücke böhmischer Glasbläserkunst von Tellern vom Limoges-Service und sehr viel Besteck. Die gezackten Messer deuteten darauf hin, dass die Gäste mit Medaillons aus Rind und Wild rechnen durften, die meistens mit glasierten Aprikosenstücken oder einer kandierten Kirsche dekoriert waren und die bei privaten Einladungen immer beliebter wurden.
Links von dem pompösen Eichenbüfett, das einst die Großmutter des Hausherrn vor ihrer Hochzeit bei einem renommierten Hamburger Möbeltischler in Auftrag gegeben hatte, hing ein Bild von bohrender Farbkraft. Es verstörte die meisten Besucher und gefiel den wenigsten. Grund für den regelmäßig stattfindenden Kunststreit im Esszimmer waren drei Kühe – die eine rot, die zweite senfgelb und die dritte moosgrün. Das Bild war eine ausnehmend gut gedruckte Kopie eines Gemäldes von Franz Marc. Victoria behauptete, Franz Marc wäre eine Zumutung in einer konventionell eingerichteten Wohnung; mit dem Temperament, um dessentwillen ihr Mann so schnell Feuer gefangen hatte, hatte sie sich lange seinen Kaufabsichten widersetzt. Ausnahmsweise hatte er aber nicht nachgegeben und den Expressionismus, den fast alle seine Bekannten ebenso heftig ablehnten wie seine Frau, mit Engelsgeduld verteidigt. Durchgesetzt hatte er sich aber ausschließlich mit dem Argument, dass der Künstler, genau wie Victorias Bruder Otto, an der Westfront gefallen war.
Fanny, der der ganze Trubel galt, hatte den gleichen Geschmack wie ihre Mutter. Sie verzog jedes Mal das Gesicht zum Weinen, wenn sie an den drei farbintensiven Kühen vorbeigetragen wurde. Es war Anordnung gegeben worden, ihr dies an ihrem Geburtstag zu ersparen. Madamchen empfing ihre Gäste in einem leichten weißen Wollkleid mit aufgestickten Rosenknospen und rot paspeliertem Kragen. Über dem Herzen steckte ein zierlicher Kranz, geflochten aus dunkelgrünen Samtbändern und mit frischem Lorbeer bestückt. In beiden Händen hielt die Hochdekorierte den von ihrer Mutter in die Ehe gebrachten Plüschhund. Abwechselnd babbelte sie in sein Fell und nuckelte versunken an seinen langen Schlappohren. Auf dem hellen Parkettboden lag ein kleiner Filzball, dessen Farben zufällig den Kühen von Franz Marc entsprachen, doch dies fiel nur ihrem Vater auf.
Schauplatz der häuslichen Idylle war eine Sechszimmerwohnung in dem großartigsten Haus der Günthersburgallee. Ein überaus phantasievoller Architekt hatte es in den Gründerjahren mit einem Quäntchen Ironie und sehr viel Sinn für das neue Selbstbewusstsein der Deutschen zu einem bürgerlichen Palais gestaltet. Das Anwesen war mit Türmchen und Erkern, reich verzierten Balkons und einem Vorgarten versehen, in dem im Dezember zwei kleine Tannen mit Lametta und silbernen Kugeln geschmückt wurden und im Frühjahr die Tulpen quittengelbe Köpfe in die Sonne reckten. Es handelte sich just um jenes Haus, in dem die vorausblickende Victoria Sternberg schon als Sechsjährige zu wohnen beschlossen hatte. »Ich will aus dem Fenster im Turm gucken«, hatte sie ihrer Schulfreundin Marie kundgetan, wenn die beiden auf dem Trottoir vor dem Traumpalast in blau gemalte Hickelkreise gehüpft waren.
Victoria hatte nicht mit sich handeln lassen, als das junge Ehepaar Feuereisen vor der Entscheidung stand, in welchem Frankfurter Stadtteil sie ihr erstes Nest bauen wollten – schon gar nicht, als zwei Monate vor der Hochzeit bekannt wurde, dass in dem so lang vertrauten Haus die Wohnung im ersten Stock leer stand. In dem Erkerzimmer, das die kleine Vicky einst zum Thronzimmer bestimmt hatte, stand nun ein Himmelbett mit Kissen in Herzform und rosa Tüllvolants. Dort schlief Fanny Mathilde Feuereisen. Sie hatte eine niedliche Stupsnase und kleine Ohren, und ihr Vater sagte, sie sehe Lilian Harvey ähnlich. Für die schwärmte er, den Film »Der Kongress tanzt« hatte er dreimal gesehen.
Fanny Feuereisen aß ihren Brei nicht aus einer goldenen Schüssel. Sie war die Tochter von Frankfurter Bürgern, wie sie geboren in der ehemaligen Freien Reichsstadt, die, so fanden alle, mit Recht stolz auf ihre Tradition und Liberalität war. Vom Vater hatte das Mädchen ihr nachgiebiges Gemüt, von der Mutter die grün schillernden Augen und von der Pforzheimer Urgroßmutter den aparten rötlichen Schimmer im Haar. In fünf Jahren würde sie wie ihre Mutter in die Merianschule gehen, im zweiten Schuljahr »Frankfurt ist meine Heimatstadt« in ihr Heft schreiben und mit zehn Jahren bei Familiengeburtstagen den Frankfurter Lokalpoeten Friedrich Stoltze mit dem geliebten Zweizeiler »Unn es will merr net in den Kopp enei, wie kann ein Mensch net aus Frankfurt sei« zitieren. Papa übte schon mit der Einjährigen.
Fanny hatte einen früh entwickelten Sinn für Pointen. Zu ihrem Geburtstag überraschte sie ihre Eltern mit den ersten Schritten und lief ohne stützende Erwachsenenhand vom Vertiko bis zum eingedeckten Esstisch. Dort zog sie beherzt am Tischtuch und beobachtete interessiert, wie ein Mittelteller aus dem elsässischen Frühstücksservice und das dazupassende Sahnekrügelchen zu Boden stürzten und dort zerschellten. Die Eltern lachten und wunderten sich, dass sie es taten. Gustel, die der Hausherr gerufen hatte, um das Porzellan aufzuklauben und seine milchgetränkte Hose zu säubern, fluchte – unangebracht hörbar und unziemlich ordinär.
»Das geht nicht«, rügte ihre junge Chefin. Einen Moment sah sie ihrer Mutter erstaunlich ähnlich.
Gustel, ihr Dienstmädchen, war die Tochter einer Cousine Josephas, die ihrerseits ja seit zweiunddreißig Jahren aufs Innigste der Familie Sternberg verbunden war. Allerdings ließ sich bereits nach den ersten drei Monaten von Gustels Frankfurter Aufenthalt absehen, dass ihr Herz nicht nach einer so dauerhaften Bindung verlangte, noch nicht mal nach einer persönlichen Beziehung. Gustel war weder so pflichttreu noch so arbeitsbesessen wie Josepha, Loyalität gegenüber einem Arbeitgeber war in ihren Augen dumm und unwürdig. Zudem hatte das klassenbewusste Fräulein Mayer in Frankfurt starke Vorbehalte gegen Menschen entwickelt, die Weihnachten keinen Baum schmückten und bei denen ihre beiden Lieblingsgerichte – Rippchen mit Kraut oder Selchfleisch mit Speckkartoffeln – nie auf den Teller kamen. Die Siebzehnjährige war allerdings gegen ihren Willen nach Frankfurt verfrachtet worden. Sowohl Doktor Feuereisen, der sich regelmäßig nach Gustels Wohlergehen erkundigte, als auch seine Gattin missfielen ihr, obwohl die für das Frühjahr ein Kindermädchen zu Gustels Entlastung in Aussicht gestellt hatten. Selbst Fanny, die auf der Straße fremden Frauen Jubelrufe entlockte, war nicht nach ihrem Geschmack. »Richtig fad ist die«, erzählte sie einem Kindermädchen von der Böttgerstraße, das sie regelmäßig im Günthersburgpark traf.
Gustel, die Tochter eines Schreiners in Friedberg, wäre gern Friseuse geworden wie zwei ihrer Mitschülerinnen, doch die Eltern entschieden, es gehöre sich nicht »für ein Mädchen aus einer ordentlichen Handwerkerfamilie, im dreckigen Haar anderer Leute herumzuwühlen«, wohingegen die Tochter nach dem Dafürhalten von Vater und Mutter »bei feinen Leuten etwas fürs Leben lernen« könne. In Frankfurt war Gustel durchgehend unglücklich. Der Verkehr und die weiten Wege, die in der Stadt nötig waren, um zum Ziel und dann wieder zurück zu gelangen, ängstigten sie; sie konnte sich nicht merken, wie sie an ihren freien Nachmittagen zur Hauptwache oder an den Main kam, und nur mit viel Mühe fand sie wieder zurück in die Günthersburgallee. »Die Stadtleut’ sind ganz grässlich und schrecklich eingebildet«, wusste Gustel zu berichten, wenn sie nach Hause fuhr. Sie verargte es den Frankfurtern, dass sie sich anders anzogen, dass sie anders dachten, anders aßen und anders redeten als die Menschen in Friedberg. Dass sie Fanny nur wegen eines winzigen Flecks auf dem Kleid hatte umziehen müssen, empfand Gustel als typisch für die hochnäsigen Großstädter. »So einen winzigen Fleck hätte keiner von denen hier gesehen«, murrte sie dem Kind ins Ohr.
Die aufmüpfige Maid irrte gründlich. Außer den beiden jüngsten hatten sämtliche weibliche Gäste, die eingeladen waren, von ihren Müttern die Gewohnheit übernommen, prüfend in jede Ecke zu spähen. Ein gestörtes Verhältnis zu den traditionellen deutschen Hausfrauentugenden hatten vorerst nur Fannys siebzehnjährige Tante Alice und Cousine Claudette. Alice war nur unter Androhungen von Zwangsmaßnahmen bereit, morgens ihr Bett zu machen und ihre Leibwäsche selbst zu stopfen. Die vierzehnjährige Claudette fasste aus freien Stücken kein Staubtuch an und verfluchte jeden Teller, den sie abtrocknen sollte. Claudettes Gedanken kreisten ausschließlich um Fanny, die für sie das Familienglück verkörperte, das ihr nicht beschieden war, und – seit einem halben Jahr – um ihren Hund Snipper. Zwischen Fanny und Snipper gab es eine direkte Verbindung.
Claudettes stets verständnisvoller Onkel hatte sie geschaffen. Erwin hatte seit drei Jahren einen befristeten Lehrauftrag an der renommierten Frankfurter Städelschule, wohnte in der Mansarde über der Wohnung seiner Zwillingsschwester und war zu Claudettes Geburtstag mit einem zehn Wochen alten Foxterrier angerückt, denn Erwin war als Einzigem in der Familie aufgegangen, dass seine immer vergnügte Nichte, dieser Ausbund an Heiterkeit und Ausgelassenheit, nach Fannys Ankunft grüblerisch und schwermütig geworden war. »Bei Frauen«, erklärte er seiner Schwester, »ist das beste Mittel gegen Traurigkeit eine neue Frisur, ein neuer Mann oder ein Hund.«
Snipper sah dem Hund, der für die Schallplattenfirma »His Master’s Voice« Reklame machte, zum Verwechseln ähnlich – die gleiche schiefe Kopfhaltung, der gleiche treuherzige Blick, die gleichen Locken im weißen Fell. Bei den gemeinsamen Spaziergängen sorgte der Hundecharmeur dafür, dass Claudette nie länger als fünf Minuten ohne Ansprache war. So hatte sie einen weit größeren Bekanntenkreis als die anderen Kinder, die die ehrenwerte Gesellschaft für die vermeintlichen Verfehlungen ihrer Mütter büßen ließ.
Lange vor der Mittagszeit war die Wohnung der jungen Feuereisens so belebt, als hätten sie zu einer Doppelhochzeit geladen. Es lockte nicht allein das Ziel, es lockte auch der Sonntagsspaziergang in einer vom milden Klima gesegneten Stadt. Der Frühling hatte das Wetter überholt. Krokusse und Forsythien blühten um die Wette. Die Buben trugen kurze Hosen und Kniestrümpfe, fuhren Rollerrennen und sahen alle aus, als gehöre ihnen die Welt. Auf dem Spielplatz in der Günthersburgallee wurden zum ersten Mal im Jahr Löcher für die Klicker gegraben. Ein alter Herr lehnte sich aus Victorias romantischem Turmfenster und seufzte, und auch die jungen Männer dachten an die Zeit der Bubenspiele.
Sämtliche Mitglieder der Familie Sternberg und die meisten Feuereisens hatten sich angekündigt, um Fanny und ihre stolzen Eltern zu ehren. Das Geburtstagskind hatte freilich noch keinen Sinn für das Außergewöhnliche. Es hatte noch nicht einmal die mit Wachsblumen verzierte rosa Kerze in einem bemalten Holzrahmen registriert. Auch für die Anwesenheit des Vaters hatte die Kleine nicht mit einem Lächeln gedankt, obwohl der verliebte Papa beim Frühstück dem neuen Xylophon wunderbar wunderliche Töne entlockt und später in seinem imponierenden Bass »Hoch soll sie leben!« und »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« gesungen hatte.
»Das ist Papa«, sagte die Mutter, denn sie war in Geberlaune.
»Das ist Mama«, revanchierte sich der großzügige Vater.
Das Kind sah stumm auf Tisch und Eltern, doch es klatschte in die Hände. »Die wird einmal so theaterbegeistert wie ich«, weissagte die Mutter.
»Hoffentlich nicht«, befand der Vater, dem die Großzügigkeit für einen Augenblick abhandengekommen war. »Phantasie gibt nur Kummer.«
An Wochentagen verließ Doktor Friedrich Feuereisen schon um halb acht das Haus. Bei jedem Wetter und mit einem forschen Schritt, der bei den Hausfrauen in der Allee, die um diese Zeit ihr Bettzeug zum Lüften auslegten, immer wieder für Aufmerksamkeit sorgte, lief er in seine Kanzlei in der Biebergasse. Exakt zweiundzwanzig Minuten nach Verlassen seiner Wohnung aß er an seinem Schreibtisch ein mit Edamer Käse belegtes Brötchen. Bis zu Fannys Geburt hatte es ihm Victoria persönlich eingepackt – meistens zusammen mit einem Zettel, auf den sie ein kleines Herz gezeichnet hatte und auf dem zu lesen war »Ich liebe dich«.
Gestattete es sein gewaltiges Arbeitspensum, gönnte sich der junge Anwalt um elf Uhr ein zweites Frühstück im Café Bauer in der Schillerstraße – dies nicht nur, weil er ein Spiegelei auf Pumpernickel an einem Wochentag als ein Stück vom wahren Männerhimmel empfand. Dass unter den unzähligen Zeitungen, die im Bauer auslagen, immer das »Israelitische Familienblatt« zu finden war, war ihm noch wichtiger. Bei Doktor Feuereisen hatte sich, schon wegen der vielen Diskussionen, die er mit seinem Schwager Erwin führte, ein ständig wachsendes Bedürfnis entwickelt, sich über die Verhältnisse in der Weimarer Republik aus jüdischer Sicht zu informieren. Beide Schwager waren sich einig, dass die Zeit wenig Anlass zu Optimismus gab.
Victoria sah es gern, dass ihr Fritz außer Haus frühstückte. Sie fand das praktisch und rücksichtsvoll und war froh, dass sie ihrem Mann nicht weiszumachen brauchte, sie wäre morgens um sieben lebensfroh und aktiv. Es tat ihr gut, sich für die Morgentoilette und ihre Träumereien so viel Zeit zu lassen wie in den unbeschwerten Tagen im Elternhaus. Zudem schaute Fritz, der sich schon im ersten Ehejahr als längst nicht so unkonventionell und lässig entpuppt hatte, wie sich Victoria einen Mann von Welt vorstellte, dann nicht mit indignierter Miene auf die Uhr, wenn seine junge Frau mit ihrer Schwester Clara telefonierte.
Obgleich die beiden Schwestern noch keine fünfhundert Meter voneinander entfernt wohnten, sich mehrmals in der Woche in der Rothschildallee trafen und nachmittags öfters zusammen ins Kino gingen, telefonierten sie jeden Morgen um Schlag neun Uhr miteinander. Sie plapperten wie junge Mädchen, kicherten wie Backfische und konnten nie ein Ende finden. Gerade weil ihr Leben so früh aus dem Lot geraten war, schätzte Clara die kleinen Alltagsrituale, die sie vergessen ließen, dass ihr Lebensschiff schon vor dem Stapellauf gekentert war; Victoria tat die Nüchternheit der Schwester gut. Clara hatte schnell erkannt, dass Victoria wohl nicht allein der Liebe wegen geheiratet hatte. »Lebensangst hat sie unter die Chupe* getrieben«, hatte Clara an Victorias Hochzeitstag zu ihrem Bruder gesagt.
* Hochzeitsbaldachin aus weißer Seide, der bei jüdischen Trauungen benutzt wird.
»Unsere Vicky war immer eine, die sich schnell ins Bockshorn jagen ließ.«
»Seit wann ist ein vielversprechender Junganwalt auf der Leiter nach oben ein Fall von Bockshorn?«
Clara stellte keine provozierenden Fragen, sie war direkt, ohne zu verletzen. »Lass die Leute doch lästern, du hättest Knall auf Fall geheiratet«, sagte sie, wenn Vicky sich über die Kleinbürger mit der gehässigen Zunge beschwerte, »die Hauptsache ist doch, dass es bei dir nicht geknallt hat. Nicht so wie bei deiner sündigen Schwester.«
»Ich hab’ sowieso nie begriffen, weshalb die Leute so gern tratschen. Ich werd’ mich auch nie damit abfinden können, dass sie es tun.«
»Wahrscheinlich sind wir Sternbergs fürs Leben verdorben. Unsere Mutter ist ja eine Meisterschweigerin. Siehe Anna.«
Auch Victorias Schwiegermutter ließ ihrer Zunge keinen Auslauf. Keine Frage, kein Wort der Verwunderung waren ihr über die Lippen gekommen, als ihr Sohn, der morgens eine Viertelstunde brauchte, um sich zwischen zwei Oberhemden von gleicher Farbschattierung zu entscheiden, das Aufgebot für die Ehe mit einer Frau bestellte, die er knapp vier Wochen kannte. Fritzens Mutter genügte es zu wissen, dass die kleine Fanny elf Monate nach der Hochzeit geboren wurde und die Ehe ihrer Eltern somit einem freiwilligen Entschluss entsprungen und kein Kotau vor der herrschenden Moral war.
Die Witwe Feuereisen, im selben Jahr geboren wie Johann Isidor Sternberg, den sie rasch als einen Mann von Redlichkeit und Ehre schätzen lernte, war klug und diplomatisch. Obgleich sie nur einen einzigen Sohn hatte und der sowohl im Aussehen als auch im Charakter ihrem früh verstorbenen, von ihr vergötterten Mann glich, entsprach sie in nichts dem gängigen Klischee der jiddischen Mamme. Sie hielt ihren Sohn nicht für die Krone der Schöpfung, für den nur die eigene Mutter zu sorgen imstande war. Im Gegenteil: Mutter Feuereisen fand, ihr Fritz hätte enormes Glück gehabt, eine Frau wie Victoria Sternberg zu finden; wenn sie Gelegenheit hatte, sagte sie es ihm auch. Sogar in Gegenwart seiner Frau, was ihn allerdings bei aller Sohnesliebe enorm störte.
Wilhelmine Feuereisen, mit der Aufgeschlossenheit ihrer Geburtsstadt Hamburg gesegnet und nach vierzig Jahren noch mit dem Zungenschlag behaftet, der die Frankfurter zusammenzucken ließ, als hätte sie der Blitz getroffen, war die Witwe eines Kaufmanns von Reputation und mit Weitblick. Sein ansehnliches Vermögen verdankte Salomon Joseph Feuereisen dem Umstand, dass er rechtzeitig begriffen hatte, welche enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Fahrradhandel zu einer Zeit bot, in der es die Menschen aller Gesellschaftsschichten zur Mobilität drängte. Noch Jahre nach seinem Tod erinnerte sich Salomons Witwe, wie ihr Mann sonntags am Tisch gesessen und sich an dem delikaten Bürgermeisterstück erfreut hatte, das er besonders gern mit frisch geriebenem Meerrettich und Brühkartoffeln aß. »Das alles, meine liebe Familie«, hatte der genussfreudige Patriarch Frau und Sohn verkündet, »verdanken wir dem Damenfahrrad. Die Frauen sind ja heutzutage genauso meschugge wie die Männer. Hauptsache, sie müssen nicht mehr zu Fuß gehen und können auf eine Klingel drücken.«
Seine Witwe war schon als junge Frau eine von Format gewesen, doch im Alter nahm sich ihre Stattlichkeit weit vorteilhafter aus als in ihrer Jugend. Ihre zweiundsiebzig Jahre sah man ihr nicht an, sie kleidete sich mit Geschmack, ließ sich jeden Freitag Wasserwellen legen, legte Wert auf gepflegte Hände und schöne Schuhe, scheute das Auffällige und verachtete Protz. »Wer beneidet wird, hat noch nichts Großes getan«, erklärte sie ihrer besten Freundin, einer Juweliersgattin, die schon morgens mit einem dreireihigen Perlencollier und einem Ring von Cartier aus dem Haus ging.
Gerade weil es Wilhelmine Feuereisen an dem Quäntchen Glück mangelte, das eine Frau braucht, um wenigstens als apart zu gelten, hatte sie einen ausgeprägten Sinn für weibliche Schönheit, und ihre Schwiegertochter hielt sie für außergewöhnlich schön und außergewöhnlich liebenswert. Außergewöhnlich in Anbetracht der schweren wirtschaftlichen Zeiten war ja auch deren Mitgift gewesen – im Bekanntenkreis der Frau Feuereisen senior war noch zwei Jahre nach der Hochzeit mit geziemender Verwunderung die Rede davon, dass Johann Isidor Sternberg mit dem allerorten gerühmten goldenen Händchen es bei der Verheiratung seiner Tochter so gar nicht mit dem Sprichwort »Schönheit ist die beste Mitgift« gehalten hatte.
Die viel beneidete Schwiegermutter fand es einen äußerst sympathischen – und seltenen – Zug, dass die Frau ihres Sohnes sich allenfalls beim Metzger und Milchmann, bei Terminabsprachen mit Ärzten und der Schneiderin mit Fritzens Doktortitel schmückte, nie aber im privaten Kreis. Das taten ja die meisten Frauen, die mit Juristen und Ärzten verheiratet waren. »Ein bisschen«, hatte Witwe Feuereisen im vorigen Sommer beim dritten Glas Erdbeerbowle ihrer Schwiegertochter geniert gestanden, »habe ich mir ja manchmal auch gewünscht, ich hätte einen Mann mit Doktortitel geheiratet.«
Es war nicht die von der Konvention gebotene freundliche Wertschätzung, die das Verhältnis zwischen Victoria und ihrer Schwiegermutter bestimmte, es war von Anfang an Zuneigung. Aus der wurde noch vor der Geburt der kleinen Fanny eine Freundschaft, die ohne Mühe den Graben überwand, der gemeinhin die Generationen trennt. Bei der Geburtstagsfeier, zwischen Rehmedaillons und Zitronentartes, flüsterte eine betagte Cousine der alten Frau Feuereisen wehmütig ins Ohr: »Man könnte glauben, du hättest schon immer hier zur Familie gehört.«
»Hab ich ja auch. Immerhin habe ich ja vor zweiunddreißig Jahren den Vater dieses Goldkindes geboren.«
Das Goldkind saß daumenlutschend und recht ermattet von der allseitigen Zuwendung auf dem weichen Schoß ihrer väterlichen Großmutter. Die Verwandten Feuereisen registrierten dies mit Genugtuung. Gleich vier Großtanten des Kindes würden der auswärtigen Verwandtschaft noch am gleichen Abend per Briefpostkarte mitteilen, wie sehr die Sternbergs eine der Ihren geehrt hätten. Allerdings machte sich kaum einer der Anwesenden klar, dass bei Frau Betsy nach fünf eigenen Kindern und zwei Enkeltöchtern, die Urfreude, die Frauen an Babys haben, stark nachzulassen begann.
Fannys Wortschatz bestand vorerst nur aus einer Silbenfolge, die mit der Phantasie, die nur Eltern gegeben ist, als »Wauwau« zu deuten war, und aus dem unverkennbaren »Nein«, das selbst die liebenswürdigsten Krabbelkinder dem unkomplizierten »Ja« vorzuziehen belieben. Victorias putzige Tochter würde noch lange nicht in der Lage sein, ihre beiden Großmütter auf die übliche, ein wenig umständliche Frankfurter Art zu unterscheiden – als »Oma Rothschildallee« und »Oma Beethovenstraße«.
Friedrich Feuereisen hatte sich bereits als Primaner ausgemalt, er würde, wenn verheiratet, im Westend wohnen. Im Westend war er aufgewachsen und zur Schule gegangen. In der Beethovenstraße hatte er mit einem Papierhelm auf dem Kopf Krieg gespielt und Fahrrad fahren gelernt, das beste Abitur seiner Klasse gemacht und den Tod seiner ersten Liebe erlebt. Er hatte, ein deutscher Patriot von vierzehn Jahren, vor seinem Elternhaus gestanden und die Soldaten jubelnd in den Krieg ziehen sehen; am 9. November 1918 hatte er sich für seinen Kaiser geschämt, denn die jubelnden Soldaten waren gefallen und Deutschland hatte den Krieg verloren.
Bis zum Tage seiner Hochzeit hatte der vielversprechende junge Anwalt Doktor Friedrich Feuereisen in dem Haus gewohnt, das sein Vater im Jahr 1900 gekauft hatte. Nun lebte seine Mutter allein dort. Im Parterre hatte sie eine Fünfzimmerwohnung und, seit dem Auszug ihres Sohns, zwei Zimmer an eine ältliche Deutschlehrerin untervermietet, die in der Dämmerung Monologe aus dem »Faust« deklamierte und ihre Wirtin sonntags mit frommen Liedern aus dem Schlaf riss.
Im Westend mit seinen repräsentativen, häufig weiß gestrichenen Patrizierhäusern, hatte das Wort Kultur einen eigenen Klang. Die unauffällige Eleganz und die Noblesse der wohlhabenden Bewohner hatten das Viertel zur feinsten Gegend der Stadt gemacht. Jedes Haus stand für Bürgerstolz und Strebsamkeit, für Geschmack und Wohlhabenheit. Kunstvoll geschmiedete schwarze Gittertore schützten die schönen Vorgärten. Marmorputten standen an den Zierbrunnen, im Mai entströmten betäubende Duftwolken den Fliederbäumen. Die Türbeschläge aus Messing waren spiegelblank geputzt, so mancher Treppenaufgang war aus Marmor und mit einem seidigen Seil ausgestattet, das nach oben führte. Die Menschen passten zu den Häusern – die Männer vornehm, die Frauen fein herausgeputzt und die Dienstmädchen in ihren weißen Schürzen so adrett und jugendschön wie sonst nur auf der Bühne. Die Bubenspiele im Westend waren weniger rau als in anderen Stadtteilen. Man sagte, Kinder, die im Westend aufwuchsen, wären wohlerzogener als andere, sie lernten mehr in der Schule und brächten es weiter.
Doktor Friedrich Feuereisen – wahrhaftig einer, der Arroganz und Großtuerei verabscheute – dachte ebenso. Das Frankfurter Westend würde ihm immer Herzensheimat bleiben, die Bilder aus seiner Kindheit und Jugend sollten ihn ein Leben lang wehmütig stimmen. An der Hand des Vaters war der Knabe im Matrosenanzug an den jüdischen Feiertagen in den wuchtigen Kuppelbau der Synagoge gegangen. Dort war der Achtjährige vom exotischen Flair der farbprunkenden Säulen und dem Löwenbrunnen im Zierhof verzaubert worden. Lange war Friedrich Feuereisen überhaupt nicht bewusst gewesen, dass seine Heimatstadt, von der er in der Schule lernte, sie hätte von allen deutschen Städten die schönsten Fachwerkhäuser und die liberalsten Bürger, noch andere Stadtteile als das repräsentative Westend mit seinen gut betuchten Bewohnern hatte. Bornheim galt bei seinen Eltern als »ziemlich gewöhnlich«, Bockenheim als »recht kleinbürgerlich«. Als Fünfzehnjähriger sah er zum ersten Mal die Friedberger Warte, erst als Student lernte er die südliche Seite des Mains schätzen – Sachsenhausen mit den volkstümlichen Wirtschaften und verwinkelten Gassen, dem deftigen Essen und den Menschen, die zu essen, zu trinken und zu leben verstanden.
Noch am Tag seiner Verlobung hatte Doktor Feuereisen gesagt: »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, anderswo als im Westend zu leben.« Bedauerlich für ihn war der Umstand, dass seine junge Braut just an jenem glücklichen Tag annähernd das Gleiche sagte. Nur sprach sie von dem Stadtteil, in dem sie aufgewachsen war. Als der Unschuldsengel seine Zukunft entwarf, hatte er so rührend jung ausgesehen und war so strahlend schön gewesen, dass des Bräutigams Herz wie eine Trommel geschlagen hatte. Ehe das letzte Glas vom Verlobungssekt getrunken war, hatte er einmal zu viel in Victorias Sternenaugen geschaut. Galant gewährte er ihr die erste Bitte, die sie an ihn richtete. Vier Wochen später unterschrieb Doktor Friedrich Feuereisen den Mietvertrag für die Sechszimmerwohnung in der Günthersburgallee. Sowohl seine Mutter als auch sein Schwiegervater meinten, sie wäre wohl ein wenig zu groß für ein junges Paar ohne Kinder, doch beide waren sie der Meinung, die Jugend müsse das Recht haben, ihre eigenen Fehler zu machen.
Die jungen Feuereisens verbrachten ihre erste gemeinsame Nacht nicht in der Günthersburgallee – die Wohnung, obwohl in tadellosem Zustand, sollte auf Wunsch der jungen Ehefrau von Grund auf renoviert werden; die Kosten hatte der Schwiegervater übernommen, die Beaufsichtigung der Handwerker die Schwiegermutter. Beide nahmen sie – unabhängig voneinander – den jungen Ehemann zur Seite und empfahlen ihm, Victoria mit fester Hand in ihren neuen Lebensabschnitt zu führen.
»Sie ist noch sehr jung«, sagte Frau Betsy.
»Sie ist, wenn man sie nicht bremst, ein verschwenderisches kleines Luder«, sagte Johann Isidor. Da war es allerdings zu spät für väterliche Ratschläge. Frau Victoria Feuereisen hatte in sämtlichen Räumen außer Küche und Bad Parkett durchgesetzt, obwohl in ihrem Elternhaus das nur in den Salons Usus war. In beiden Toiletten – schon das ein Luxus! – gab es kleine Handwaschbecken, im geräumigen Badezimmer außer Wanne und Becken ein Bidet mit eigenem Handtuchhalter und einer kleinen Seifenschale, die einer Muschel nachgebildet war. Josepha hielt den französischen Import für eine Kinderbadewanne, Frau Betsy fand ihn »vollkommen unpassend« und »unmoralisch«.
»Ich dachte, so etwas gibt es nur in französischen Puffs«, klagte sie bei ihrem Mann.
»Ich hab keine Ahnung, wie es in einem französischen Puff aussieht«, schwindelte der Filou.
Auf Hochzeitsreise fuhren Fritz und Vicky, wie es sich für eine Braut mit romantischen Träumen und einen Bräutigam mit Empfinden für Stil ziemte, nach Venedig. Auf Empfehlung von Fritzens ehemaligem Seniorpartner, der zur Hochzeit mit einem Goldmedaillon für die Braut anreiste, auf dem »Amor vincit omnia« eingraviert war, und der als Genießer galt, unterbrachen sie die Reise in Brixen, um in dem traditionsreichen Hotel Elephant zu übernachten. Die geschichtsträchtige Südtiroler Bischofsstadt war nach dem Krieg italienisch geworden, der Koch hatte hingegen seinen österreichischen Gaumen behalten dürfen. Victoria meinte, das Nachtessen sei ein Erlebnis; bei jedem Gang schnalzte sie mit der Zunge. Fritz schwärmte mit. Ungewohnt schwülstig verkündete er, Lukullus hätte ihm neue Dimensionen des Genusses eröffnet. Victoria fixierte die Sauciere und fragte, wer Lukullus sei. Er stand spontan auf und küsste sie. Eine vergoldete Barockputte mit Kinderaugen segnete das glückliche Paar. Der vom Kellner gepriesene einheimische Gewürztraminer war allerdings für Menschen, die Alkohol nur zu besonderen Festivitäten tranken, viel zu schwer.
In der historischen Hochzeitssuite und unter einem himmelblauen Baldachin verloren die Gedanken, Empfindungen, Erwartungen und Hoffnungen der frisch Vermählten ihre Konturen und ihre Richtung. Es war, wie sich im Rückblick herausstellte, ein barmherziger Einfall des Schicksals, der allerdings nicht von Dauer war. Beim Erwachen wurde dem jungen Ehemann nämlich doch und für immer bewusst, dass vor ihm ein anderer Mann seine geliebte Frau hatte erobern dürfen.
Die Erkenntnis zerschnitt sein Herz und verletzte seinen Männerstolz, er war jedoch von seinen Eltern und Lehrern früh dazu erzogen worden, nicht mehr als nötig über Enttäuschungen zu sprechen, die nicht mehr zu ändern waren. So haderte er lediglich mit dem Schicksal und nicht mit der Frau, die ihm die Wunde zugefügt hatte. Auf der sonnendurchfluteten Terrasse starrte Friedrich Feuereisen am ersten Tag seiner Ehe die ockergelben Mauern und das im Morgenwind schwingende Hotelschild an. Er lauschte den Vögeln und belauschte sein Gemüt. Als er endlich sein Schweigen brach, machte er seiner jungen Frau weis, es wäre der Wein, den er nicht vertragen hätte und der nun beim Frühstück seine Redelust dämpfte. »Du weißt ja«, zitierte der gelernte Taktiker aus dem Sprichwortschatz seiner Mutter, »wer schweigt, sagt auch etwas.«
Victoria dachte an ihren schlauen Bruder und was er über Männer und Alkoholgenuss in der Hochzeitsnacht gesagt hatte. Einen Wimpernschlag lang genoss sie Erleichterung und weiblichen Hochmut. Dann griff sie nach Fritzens Hand, rieb sie zärtlich warm und legte sie unter dem Tischtuch auf ihr Knie. Ein Duft von Jasmin wehte zu den frisch Vermählten herüber. Sie schauten in den Obstgarten mit den alten Apfelbäumen und lächelten einander zu, als würden sie an nichts anderes denken als an Adam und Eva im Paradies.
»Du musst«, riet Frau Betsy beim Anschneiden der Torten in der Küche, »nach dem Geburtstag das ganze Zeug wegpacken. Die Leute meinen es ja gut, aber das Kind wird ja ganz verrückt gemacht mit den vielen Geschenken. Besser, Fanny wird beizeiten zur Bescheidenheit erzogen. Man weiß ja nie, was im Leben kommt. Das hat schon meine Mutter immer gesagt.«
»Das hast du auch immer gesagt«, erwiderte Victoria mit dem Flunsch ihrer Kindertage, »nur hast du bei jeder Gelegenheit noch zugefügt: Genügsamkeit ist der größte Reichtum. Am liebsten hättest du meine Geschenke vom guten Tante Jettchen vor ihren Augen beschlagnahmt. Ich denke nur an einen Griffelkasten mit dem Bild von Wilhelm Zwo auf einem Schimmel. Wahrscheinlich kannst du dich aber gar nicht mehr erinnern. Mütter nehmen ja das Herzleid ihrer Töchter nicht so ernst.«
»Ich kann mich genau erinnern, aber ich will nicht. Außerdem bist du jetzt selbst Mutter. Warte nur ab, was dir deine Tochter eines Tages alles vorwirft. Hoffentlich erlebe ich’s noch.«
Anna traf als Letzte ein. In ihrem blauen Mantelkleid mit weißem Bubikragen und Manschetten entsprach sie ganz dem Modebild, das die altmodischen Frauenzeitschriften als »frisch« und »jugendfroh« zu bezeichnen pflegten. Sie wirkte jedoch abgehetzt und besorgt, schien sich aber zu fassen, als Erwin zu ihr ging, sie an beiden Händen festhielt und ihr einige Worte zuflüsterte. Eifrige Lauscher hörten ihn »Kindskopf!« raunen.
Ein jeder konnte sehen, dass Annas Geschenk Fanny am allerbesten gefiel. Prinzesschen mit dem Lorbeerkranz auf der Brust warf es abwechselnd auf den Boden, ließ es sich von Hofdame Anna wieder reichen, umschlang es krähend mit beiden Händen und gurgelte eine Silbenfolge, die Vater, Großvater und Josepha – ohne ihre übliche weiße Servierschürze, aber mit dem Tortenheber in der Hand – in schöner, seltener Einigkeit als »Danke« deuteten.
»Hurra«, klatschte Alice. Die Siebzehnjährige sah nicht aus wie eine, zu der die Kinder Tante sagen – eher wie ein Revuegirl. Sie machte auf dem neu gelegten Parkett ein paar Steppschritte und summte dazu die Marseillaise. Fräulein Doktor Kranichstein, ihre immer noch geliebte Deutschlehrerin, hatte soeben die Marseillaise als das eindrucksvollste und phantasievollste Kampflied in Europa bezeichnet. Johann Isidor runzelte die Stirn und unterdrückte schmallippig den Impuls, Geschichtsbewusstsein in das hübsche Köpfchen seiner jüngsten Tochter zu schütteln. Eine alte Dame, von der die Gastgeber nicht wussten, wer sie eingeladen hatte, schüttelte ihren grauen Lockenkopf so heftig, dass die Brosche aus Karneol, die ihre violette Rüschenbluse über dem Busen zusammenzuhalten hatte, auf den Boden fiel.
Anna hatte einen kleinen Ball aus Filz dicht mit einem weißen Leinenfaden umhäkelt und auf einer Seite mit winzigen Stichen Struwwelpeter, den garstigen Frankfurter Buben mit dem ungekämmten Haar, der roten Jacke und den grünen Gamaschen aufgestickt. Auf der anderen Seite leuchtete das alte Frankfurter Stadtwappen mit Adler und Krone. Ein jeder bewunderte das Meisterstück – die Kenner wahrlich nicht nur deshalb, weil es eine so akkurat ausgeführte Handarbeit war.
»Eine gelungene politische Demonstration«, lobte Doktor Nathan Rosenbusch mit heiserer, doch deutlicher Stimme. »Der Pfeil hat getroffen. So was gehört in die Zeitung.« Der silberhaarige Beifallspender war Oberstudienrat im Ruhestand, immer noch dem Kaiser, dem er zwei Söhne und seinen Glauben an den Sinn des Lebens geopfert hatte, in Treue fest verbunden und Großonkel des Geburtstagskindes.
Nicht alle waren sich im Klaren, wovon der ehemalige Lehrer für Griechisch und Geschichte sprach. Trotzdem nickte ein jeder Zustimmung. Ausgerechnet in Frankfurt, wo man das Vergangene in Ehren zu halten wusste, hatte in den Zwanzigerjahren Oberbürgermeister Ludwig Landmann unter Berufung auf den Zeitgeist und zum großen Missfallen der Bürger das vertraute Stadtwappen durch eine sehr moderne – expressionistisch gestaltete – Kreation des Grafikers Hans Leislikow ersetzt.
Johann Isidor Sternberg, kein Frankfurter von Geburt, doch ein Leben lang Lokalpatriot, streichelte die glühende Wange seiner Lieblingstochter. Aprikosenduft, der nie vergessene Bilder vor seine Augen trieb, erreichte seine Nase. Für einen Moment, der länger als gewohnt weilte, dachte er an die Nacht, der er sein Kind der Liebe verdankte, doch er war zu stolz auf Anna und zu verbunden mit ihr, um auch nur einen Herzschlag lang Buße zu tun.
»Das ist ganz großartig«, schwärmte er, »deinen Ball sollten wir in Serie anfertigen lassen. Schon wegen Struwwelpeter wäre er für Reisende ein typisches Mitbringsel aus Frankfurt, und nach all der Aufregung um das Wappen würden sich auch die Leute hier um ihn reißen. Man hat weiß Gott ja nicht jeden Tag Gelegenheit, ein Stück von der guten alten Zeit in die Vitrine zu stellen. Warte nur ab, Anna, um die Zeit nächstes Jahr bist du eine Bombenpartie. Das verspreche ich dir unter Zeugen. Ich hoffe nur, dass nicht irgendein dahergelaufener Galgenstrick ankommt und mir die Stütze meiner alten Tage wegheiratet.«
»Ich kapiere wieder mal nichts. Gar nichts. Ich hab doch nur einen Ball gehäkelt.«
»Ja glaubst du, ich bemächtige mich einer Idee meiner tüchtigen Tochter und lasse sie leer ausgehen? Noch gilt in Deutschland deutsche Kaufmannsehre, mein Kind. Jeder Pfennig, den wir mit deinem Ball einnehmen, wird geteilt.«
Den Galgenstrick, der Ansätze machte, die nüchterne Frankfurter Bürgerstochter um Verstand und Jungfernvorsicht zu bringen, gab es schon. Aus gutem Grund hielt er sich bedeckt. Jeder Vater mit einer Tochter im heiratsfähigen Alter hätte auf den ersten Blick erkannt, dass dieser Mann weder einer von Ehre war noch zum Schwiegersohn taugte. Auch bei seiner Anna, wie zuvor bei Clara und Victoria und demnächst bestimmt auch bei Alice, hatte Johann Isidor den Moment verpasst, in dem seine Töchter bereit zum Aufbruch waren und Neuland suchten. Anna war die Spätentwicklerin des sternbergschen Mädchenquartetts. Sie setzte gerade erst an, versäumte Zeit aufzuholen – dies allerdings mit Siebenmeilenstiefeln. In ihren Jungmädchenträumen hatten ein naturverbundener Wandersmann und drei liebreizende Kinder die Hauptrollen gespielt, sie hatte auf einer Bank vor ihrem Häuschen im Grünen gesessen, Erbsen gepult und Strümpfe gestrickt. Nun aber verlangte es ihr, wie Renate Müller auszusehen, die patente junge Schauspielerin, die in dem UFA-Film »Die Privatsekretärin« Furore gemacht hatte.
Die neue Anna mit der gewellten Kurzhaarfrisur und einem Hut mit breitem Hutband und schmaler Krempe ging seit sechs Wochen mit einem sechsundzwanzigjährigen Hünen aus, der in nichts ihrem einstigen Traumbild entsprach. Zwar hatte der dunkelblonde Siegfried mit den kraftvollen Schultern bei schummriger Beleuchtung und nach den vier Glas Obstwasser, die er sich an Samstagabenden zu spendieren pflegte, den gleichen verschleierten Blick wie der berühmte polnische Tenor Jan Kiepura, der an allen Operhäusern der Welt und im Film Triumphe feierte und den Anna wie ein verliebter Backfisch anhimmelte. Der Muskelmann, der Anna schöne Augen und derbe Komplimente machte, sang nicht – er grölte, wenn ihn die Sangeslust packte. Und er kam, wie Name und Sprache überdeutlich machten, aus Bayern.
Der Ausländer aus dem Land der Lederhosen und Gamsbärte hatte keinen Beruf, nur Flausen in seinem Querkopf und ein ausgefallenes, nutzloses Talent: Sepp Huber konnte meisterhaft mit dem Jojo umgehen. Wenn er das tat, und das tat er, wann immer er dazu Gelegenheit fand, blieben die Leute auf der Straße stehen, die Frauen bewunderten seine schöne Zähne, und die Kinder bekamen begehrliche Bettleraugen. Das Jojo war zwar nur ein Kinderspielzeug, doch auf einen Schlag waren ihm in großen Teilen der Welt Alt und Jung verfallen; der fingerflinke Sepp stammte just aus dem Ort, an dem die kurioseste Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit ihren Anfang genommen hatte. Im bayerischen Furth im Wald, wo er noch als Vierzehnjähriger gedacht hatte, die kleine Stadt sei Anfang und Ende allen Lebens, wurden die maschinell gefertigten Holzscheiben für das Geschicklichkeitsspiel hergestellt, von Hand bemalt und in aller Herren Länder exportiert. Schließlich hatte es den Sepp aus einer Landarbeiterfamilie, in der kaum einer das Brot verdiente, um das er täglich betete, vor sechs Jahren nach Frankfurt gezogen. Dort hatte er bei einer seiner vier Schwestern und gegen den Willen seines mürrischen, rasch zuschlagenden Schwagers auf einer Matratze in der Küche genächtigt.
Von der Klapperfeldstraße aus, wo Schwester Maria mit ihrem Mann und drei Kindern in zwei in einem Hinterhaus gelegenen Zimmern lebte, probierte Bruder Sepp, seine Illusionen zu realisieren. Polizist wollte er werden – selbstredend dort, wo keiner was von ihm wusste. Nach Macht und Ansehen hatte es ihn schon als Bub verlangt, aber seine Vergangenheit verwehrte es Sepp Huber, ein geachteter Mensch, eine Respektsperson zu werden. Eine Vorstrafe wegen schwerer Körperverletzung wies ihn in seine Schranken. Der Schwager, der Sepp selbst die Luft zum Atmen missgönnt hatte, nahm die Ablehnung bei der Polizei zum Anlass, ihm die Tür zu weisen. »Ein für alle Mal, du vorbestrafter Lump«, rief er dem Bruder seiner Frau in die Dunkelheit nach.
Das Jojo-Fieber, das auf der Höhe der Arbeitslosigkeit neue Arbeitsplätze geschaffen hatte, trieb Sepp wieder nach Hause zur Großmutter. Von den Frankfurter Hungertagen und der großen Enttäuschung päppelte die Greisin ihn mit Schmalzbroten und Rettich aus dem eigenen Garten auf, traktierte ihn indes so sehr mit ihren frommen Sprüchen und bedrohte ihn schon beim Aufwachen mit Tod, Teufel und Höllenfeuer, dass er trotz der guten Stellung in der Jojo-Werkstatt nach acht Monaten zurück nach Frankfurt floh.
Dort drehten sich die Mädchen verlangend nach dem breitschultrigen Riesen um, der Tabak kaute, statt ihn zu rauchen, und der sich mit einem blauweißen Tuch, das wie eine Fahne aussah, den Schweiß von der Stirn wischte. Als Anna ihn kennenlernte, war Sepp zwar ohne regelmäßige Arbeit, doch nicht mittellos. In regelmäßigen Abständen arbeitete er bei einem Fischgroßhändler, für den er Kisten schleppte und Heringsfässer ausschrubbte, und in einer großen Kohlenhandlung. Wie es einst Adolf Hitler in seinen Anfängen getan hatte, wohnte Sepp Huber in einem Männerheim. Die Parallele beschäftigte ihn sehr.
Das Asyl, das ihm Obdach gab, roch nach verbrannten Bratkartoffeln, Küchenresten und Schweiß. Es lag am Ostbahnhof und stand bei den Menschen dort in keinem guten Ruf. Solche Details wurden dem feschen Fräulein aus Frankfurt in ihrer Gesamtheit verschwiegen. Der Schlaumeier aus Bayern hatte Anna ausgerechnet vor der sternbergschen Posamenterie in der Hasengasse kennengelernt. In dem Schicksalsmoment hatte sie Bordüren im Schaufenster drapiert, eine kopflose Schneiderpuppe mit gelber Seide behängt und mehr Bein gezeigt, als sie es im Allgemeinen beim Dekorieren tat.
Ab diesem Augenblick entwickelte sich Annas Leben in einem Tempo, das absolut nicht zu ihrem zurückhaltenden Naturell passte. Sie aß nicht mehr jeden Abend am Familientisch, legte schon morgens Rouge auf, trug auch wochentags Seidenstrümpfe und wechselte täglich ihre Leibwäsche. Schon nach einer Woche teilte Josepha, auf deren Ohren zwar nicht mehr so gut Verlass war wie früher, die aber immer noch das Gras wachsen hörte, ihrer Chefin mit: »Unsere Anna hat einen Kerl. Und wenn Sie mich fragen, gnädige Frau, so ganz koscher ist der nicht.«
Anders als viele junge Männer, die nicht gelernt hatten, zu sagen, was sie fühlten, war Sepp Huber ein Mann, der reden wollte und dies auch tat. In einer Wirtschaft in Altbornheim, die so eingerichtet war, als wäre Gemütlichkeit immer noch erste Bürgerpflicht, ließ er auch die anderen Gäste wissen, was er dachte. Bei den gemeinsamen Spaziergängen im Prüfling referierte er über das Leid der Welt und seine eigenen Zukunftspläne. Auch an den beliebten, neu angelegten Anlagen am Röderbergweg, die bei den meisten Menschen das Auge entzückten und den Redefluss hemmten, sprach Annas neuer Begleiter ohne Unterlass – meistens von Dingen, die er selbst noch nicht begriffen hatte. Immer wieder sprach der bayerische Kraftbrocken von den neuen Zeiten, die da kommen würden. Im Detail hatte er sein Zukunftsbild von einem Kumpel im Wohnheim übernommen, der an einer Litfaßsäule am Hauptbahnhof den Sepp auf ein Plakat der Nationalsozialisten aufmerksam gemacht hatte. Ein strohblonder Arbeiter mit urgesunden Zähnen lachte darauf wie einer, für den es Wurst und Speck vom Himmel regnet. Er hatte einen schweren Hammer über der Schulter geschwungen. »Wir wollen Arbeit und Brot – Wählt Hitler« war auf dem Plakat zu lesen. Genau das, Arbeit und Brot und genug Haxen, Fleischkäse und Klöße wollte der Huber Sepp. Im Übrigen war er noch nie zu einer Wahl gegangen. Er war der Meinung, Vorbestrafte dürften gar nicht wählen.
Sepp sagte grundsätzlich »wir«, wenn von seiner eigenen Zukunft die Rede war. Obwohl Anna kein Ohr für sprachliche Finessen hatte, fiel ihr das doch auf, aber sie hielt die Pluralform für eine bayerische Sprachgewohnheit. Gerade weil sie in einer Atmosphäre aufgewachsen war, die das laute Wort scheute und erst recht das derbe, erschien ihr der Sepp besonders temperamentvoll und männlich. Wenn er das große Wort führte, spürte sie gar eine Erregung, die sie für Glück hielt. Einmal allerdings verwirrte sie der kühne Schwadroneur doch so sehr, dass sie unsicher, ja ängstlich wurde. Mit zugekniffenen Augen polterte der Mann an ihrer Seite: »Die Judenknechte werden sich noch wundern.« Sein Bierglas knallte er so heftig auf den Tisch, dass sogar die Gäste, die an der Theke standen, sich nach ihm umdrehten. Annas Hals wurde so trocken, dass sie kaum noch schlucken konnte. Sie streckte ihre Arme wie ein Kind aus, das zu stürzen droht. Das wütende Mannsbild an ihrer Seite hatte sich aber schon wieder beruhigt; er schaute Anna so vertrauenerweckend an, als hätte er gerade die Ernte eingefahren. »Prost«, sagte er und leckte den Bierschaum von den Lippen.
Anna hatte das Wort Knecht nur in ihrer Kinderfibel gelesen, doch es nie gesprochen gehört. So kam sie, als Sepp nach ihrer Hand griff und sie seine Kraft und Stärke belebte, abermals zu dem Schluss, sie hätte nur die üblichen Schwierigkeiten mit dem bayerischen Idiom. In der Nacht wachte sie auf. Sie sah sich wieder in der Kneipe sitzen, hörte Sepp reden, sah die Gäste an der Theke gaffen. Die Genauigkeit der Szene nahm ihr erst die Ruhe, dann den Schlaf und schließlich das Gefühl, der Sepp wäre ein besonderer Mann. Sie nahm sich vor, so bald wie möglich mit Erwin zu reden.
Anna beschäftigte sich kaum mit Politik. Im Februar hatte sie sich keinen Tag, wie Vater und Bruder, darüber erregt, dass der Österreicher Adolf Hitler deutscher Staatsbürger und in Braunschweig zum Regierungsrat vereidigt worden war. Trotzdem begriff sie, dass Sepp Huber von den Nazis sprach und dass er dabei seine Contenance verlor und sich sein Gesicht zu einer Fratze verzerrte, als wäre der Teufel hinter ihm her. »Die werden«, sagte er bei jeder Gelegenheit, »schon noch ihre Quittung kriegen.«
Noch wusste Anna nicht genau, wer die Nazis waren und was sie wollten, doch hatte sie begriffen, dass die Nazis im Hause Sternberg ein konstanter Anlass zu heißen Diskussionen und großer Erregung waren. Selbst Frau Betsy schimpfte mit, wenn im Salon die Flammen loderten. So war es der arglosen Anna, die nur genießen wollte, dass sich in ihrem vierundzwanzigjährigen Leben zum ersten Mal ein Mann für sie interessierte, nicht vergönnt, länger als zwei Wochen im wolkenlosen Himmel der ersten Liebe zu verweilen. Noch ehe sie dazu kam, Erwin über den Zusammenhang zwischen Männern und Zeitgeschehen zu befragen, begriff sie aus eigenem Vermögen, dass Sepp Huber, wenn er »wir« sagte, grundsätzlich von den Nazis sprach. Noch ehe es dämmerte, wurde ihr klar, dass der stramme Jojo-Künstler aus Bayern keinen Fuß in die Rothschildallee 9 setzen würde. An dem Abend weinte sie sich in den Schlaf.
»Na, Anna«, sagte der Vater. Er zupfte sie am Kragen und lächelte in die Ferne. Trotz einer Frau, die mit Humor und der Fähigkeit gesegnet war, über sich selbst zu lachen, hatte Johann Isidor nie die Unbeschwertheit entwickelt, um einen Menschen zu necken. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, fragte er.
»Bei dir«, stammelte Anna. Auch sie verstand sich nicht auf die Leichtigkeit des Seins.
»Ich wollt, das würde meine große Enkeltochter auch sagen. Schau dir doch diesen Kindskopf an.«
Obwohl es Claudette verboten war, den Hund auf ihren Schoß zu lassen, wenn sie ihr blaues Taftkleid und die Seidenstrümpfe trug, die ihr der Großvater schon für die Tanzstunde im Herbst gekauft hatte, saß Snipper genau dort. Der Foxterrier hatte den gleichen Charme wie seine Herrin. Er genoss sein junges Hundeleben in hechelnden Zügen und leckte vom Zeigefinger ihrer Linken Josephas berühmte Schlagsahne ab, mit Vanillinzucker zubereitet und seit über dreißig Jahren das Entzücken aller Gäste im Hause Sternberg. Auch die alte Dame in der violetten Bluse, von der noch immer nicht feststand, wer sie eingeladen hatte, ließ es sich schmecken. Sie dachte an einen lockigen Jüngling, der gesagt hatte, Kaffee müsse schwarz wie die Nacht, heiß wie die Hölle und süß wie die Liebe sein, und sie seufzte sehr.
Der Hundegourmet wedelte mit dem Schwanz und bellte in den hohen Tönen seiner Welpentage. Das Geburtstagskind, das den Ball mit dem Frankfurter Wappen leid geworden war, jubelte mit. Es hatte apfelrote Backen und Schokolade um den Mund. Victoria streichelte ihr vergnügtes Kind mit einem Finger, an dem ein Brillantring mit Rubinen glänzte. Jedoch war sie weit weniger vergnügt, als sie am ersten Geburtstag ihrer Erstgeborenen hätte sein müssen. Wenn der Eintrag in Victorias Tagebuch stimmte, würde Fanny in exakt acht Monaten nicht mehr allein im Mittelpunkt des Interesses stehen. Ihre Mutter schaute zu ihrem Mann; sie wünschte ihm für nur einen Tag die Mühe, die sie zwölf Monate lang gebraucht hatte, um wieder zu ihrer alten Figur zu kommen. Ob er töricht oder rücksichtslos oder beides war, überlegte sie und kam zu einem Ergebnis, das sie erschreckte. Als aber Fritz ihren Blick bemerkte und ihr zuzwinkerte, zwinkerte sie zurück. Victoria Feuereisen war eben noch immer die begabte Schauspielerin, die sie hatte werden wollen.
»Ich will einmal zwölf Kinder und einen Mann wie Willy Fritsch«, erzählte Claudette gerade einer Dame, die in einem einzigen Satz sowohl den Hund als auch die Lackschuhe und das schöne dichte Haar der Vierzehnjährigen bewundert hatte. Auf dem Teewagen im Esszimmer stand das Grammophon; es spielte die Schlager der Comedian Harmonists. Mit ihnen hatte sich Doktor Fritz Feuereisen zum ersten Geburtstag seiner Tochter selbst beschenkt. Sowohl seine Mutter als auch seine Schwiegermutter hatten mit den Augenbrauen Kritik geübt. »Ich habe immer versucht, meine Kinder an gute klassische Musik heranzuführen«, rüttelte Frau Betsy am Stimmungsbarometer. »Hat’s geholfen?«, fragte der Schwiegersohn. Er lachte wie ein Schüler, dem es schon beim ersten Mal gelungen ist, Niespulver ins Klassenzimmer zu schmuggeln, und summte die Melodie von »Veronika, der Lenz ist da«.
»Die ganze Welt ist wie verhext«, pflichtete Erwin aus dem Salon bei, »Veronika, der Spargel wächst.«
Auch die übrigen Gäste waren nach dem Genuss von Kanapees mit gebeiztem Lachs und dem ersten Geburtstagstoast – Rieslingsekt vom Rhein – gehobener Stimmung. Gustel – im schwarzen Kleid mit weißem Servierhäubchen und missmutig wie immer – brachte ein silbernes Tablett mit dicken runden Weißbrotscheiben und Rehmedaillons. Auf jedem war eine glasierte Orangenscheibe. Johann Isidor kaute mit Genuss. Das Obst steckte er in seine Backentasche. Das hatte er als Kind immer mit den Kostbarkeiten aus der mütterlichen Küche getan, und er fand es erstaunlich, dass er noch immer die Kunst beherrschte, so zu sprechen, als wäre sein Mund leer. Er fragte seine Frau, weshalb sie beide nicht auch den ersten Geburtstag der eigenen Kinder so groß gefeiert hätten wie Fannys. »Wenigstens Ottos«, meinte er und biss sich auf die Lippen.
»Wir waren«, traute sich Betsy zu sagen, »zu beschäftigt, uns zu assimilieren. Wir hätten uns nicht, wie unser Schwiegersohn, mit der jüdischen Sippschaft als Publikum begnügt.«
Doktor Nathan Rosenbusch, der pensionierte Oberstudienrat, ließ sein Sektglas zum dritten Mal füllen. Er starrte auf Gustels üppigen Busen und mochte nicht glauben, was ihn bewegte. Welcher von den vielen Herren Claudettes Vater sei, fragte der grauhaarige Filou Clara. Sie streckte beide Hände aus, um dem neugierigen Inquisitor klarzumachen, dass sie keinen Ehering trug, doch er missverstand sie und sagte verständnisvoll: »Ich bin auch Witwer.«
Einen Moment schauten beide, der alte Mann und die junge Frau, zum Fenster hinaus, wo die Bäume auf typisch Frankfurter Art den Sommer vorwegnahmen und die Tauben in den Zweigen von der Liebe gurrten. Nathan Rosenbusch kehrte als Erster von seinen Wanderungen in die Vergangenheit zurück. So energisch, als stünde er wieder am Katheder und lehrte seine Untertertia Mores, sagte er: »Nein.« Er stand auf, federnd wie ein junger Mann, lächelte sich jung und ging auf Victoria zu, die in einem mit schwarzgelber Seide überzogenen Ohrensessel saß und Fanny an einem Stück Marmorkuchen nuckeln ließ. Doktor Rosenbusch, von dem sich seine Freunde erzählten, sein Herz sei zersprungen, als er an einem eisigen Januartag seine Frau hatte begraben müssen, verbeugte sich tief. Es war, als bitte er um den nächsten Tanz. Mit einem Lächeln, dem selbst Venus nicht hätte widerstehen können, nahm er der Mutter Fanny mit der Schokoladenschnute aus dem Arm. Langsam drehte er sich im Kreis, ging dann mit dem Kind zum Grammophon im Esszimmer und begann zu singen. Fanny blies ihm schon nach den ersten Takten die Kuchenkrümel in den Nacken. Als das Lied zu Ende war, stellte ihr Vater das Grammophon ab.
An Tagen, an denen sein Gemüt seinem Alter entsprach, hatte Nathan Rosenbusch eine dünne, pfeifende Altmännerstimme. Vergaß er die Wunden, die das Leben ihm geschlagen hatte, war seine Stimme kraftvoll und voll. Er sang sämtliche Strophen von der Veronika im Lenz, dann den Schlager »Ein Freund, ein guter Freund«, den der Film »Die drei von der Tankstelle« mit Heinz Rühmann zum Ohrwurm gemacht hatte, und begann, weil es seine animierten Zuschauer so wollten, noch einmal mit der »Veronika«.
Als der Meistersänger die Strophe »Der Gemahl sucht voll Schneid Anschluss an die Stubenmaid« sang, wurde er doch ein wenig müde – wahrscheinlich weil er sich zu deutlich an ein gewisses Minchen in der elterlichen Dienstmädchenkammer erinnert hatte. Mit Fanny, die kein bisschen müde war und die beidhändig ihrem Volk zuwinkte, steuerte der alte Mann den Ohrensessel an. Victoria machte ihm Platz. Sie zwinkerte noch so gekonnt, wie sie es in der Zeit der Hoffnung bei ihrem Schauspiellehrer gelernt hatte, und sagte: »Sie müssen an der Oper gewesen sein, mein Herr.«
Doktor Nathan Rosenbusch, in Ehren pensionierter Studienrat, Lehrer für Griechisch und Geschichte, bei seinen Schülern berühmt für seinen Witz und berüchtigt für seine schlagkräftige Rechte, war so erschöpft, dass er die Augen kaum noch aufhalten konnte, aber es gelang ihm, den Schlaf noch einmal zurückzudrängen. »Bin nur gekommen, um Glück zu wünschen«, sagte er, und er sprach so langsam und deutlich, als würde er die »Odyssee« zitieren. »Einen ganz besonderen Wunsch will ich aussprechen. Möge dieses entzückende Kind hier nie den Namen Adolf Hitler oder Joseph Goebbels zu hören bekommen.«
Niemand sagte ein Wort. Alle, außer einer, schauten erschrocken zu Boden. Claudette die Muntere fixierte die verstummte Runde. Sie baumelte mit den Beinen und beugte sich zu ihrer Mutter. Mit der Unerschrockenheit, die ihr die Dummen und die Klugen, Tapfere und Feiglinge neideten, sagte sie kichernd: »Ich glaube, der gute Mann hält sich für die zwölfte Fee an Dornröschens Wiege.«