VI Gräber - Vierzehn Jahre später

Zelle Nummer 13.

Zwei mal vier Meter. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein schmaler Metallschrank, ein Standregal. Der Boden ist gefliest. Die Fliesen haben dieselbe Farbe wie die Haut starker Raucher. Das Fenster zeigt zum Hof. Der Blick ist durch ein Metallgitter geneuntelt.

Es ist neunzehn Uhr. Bis einundzwanzig Uhr haben wir „Freizeit“. Freizeit heißt, dass wir uns frei auf dem Gang bewegen, dass wir uns besuchen dürfen, im Gruppenraum fernsehen, in der Küche kochen. Wir bekommen hier sämtliche Mahlzeiten vorgesetzt. Trotzdem wird in der Freizeit gekocht. Einfach so. Wegen des Zusammenseins. Am Anfang hat Ilka mich ein paar Mal zum Kochen eingeladen, aber ich bin nie hingegangen. Jetzt fragt sie nicht mehr, versucht aber immer noch, sich mit mir anzufreunden. Nur – ich will nicht.

Ich sitze am Fenster und warte. Frühsommer. Jemand hat draußen im Hof gemäht. Jetzt sieht das Gras gelb aus, dürr. Der spülwasserfarbene Himmel drückt Wärme heraus. Ein Detail, das mich fast froh macht. Was auch geschieht, es wird immer ein Wetter geben, heiß oder kalt, dunkel oder hell; dem Wetter ist es gleichgültig, ob wir existieren oder nicht, es sieht uns nicht zu, es tadelt oder lobt uns nicht. Es ist einfach da und wird noch da sein, wenn längst keine Menschen mehr leben.

Irgendwer spielt Klavier im Gemeinschaftszimmer, Für Elise. Wer auch immer es ist – sie kommt nicht über die ersten sieben Takte hinaus, und ich sehe auf meine Finger, die leicht zucken, als wollten sie übernehmen. So, wie ich im Orion für Gudrun übernommen hatte, als Polly mich zum Klavier geschoben hatte.

Vincent …

Sofort muss ich an ihn denken, sehe ihn vor mir. Sein geflecktes Fell, die gespitzten Ohren. Eins war eingerissen von einem Kampf. Ich durfte ihn nicht behalten. Wo mag er sein? Ob er lebt?

Nie hab ich mich das bei Rosa gefragt: ob sie vielleicht noch gelebt hatte. Vielleicht hatten sie sie ja retten können? Aber bei Vincent frage ich es mich dauernd. Er war am Ende so krank gewesen.

Einundzwanzig Uhr ist Nachtverschluss, die Stahltüren werden verriegelt. Um sechs Uhr morgens gehen sie wieder auf. Ich sitze am Fenster, sehe in den geneuntelten Himmel. Keiner weiß, dass Polly schon hier ist. Sobald die Stahltür sich schließt, wird sie kommen. Sie kann alles. Denn sie kennen dich nicht, Polly. Sie wissen nichts von dir.

Wissen nichts von den Tagen, nachdem Ina und Carsten mit dem Möbelwagen gekommen waren und den Anker übernommen hatten. Gekentert. Als sie anfingen, alles auszubessern, zu überstreichen und grell auszuleuchten. Als sie das Haus von meiner Vergangenheit reinigten. Ich war aus dem Gasthaus geflüchtet, jeden Tag, zum Friedhof. Und wenn ich kleine Löcher in die Erde von Vaters Grab gebohrt und Bucheckern hineingelegt hatte, war ich ein wenig herumgegangen. An den jungen Gräbern entlang, die im vorderen Teil des Friedhofs lagen, in der Sonne. Sie waren frisch bepflanzt, die Wege geharkt. Die Steine glänzten in der Mittagssonne.

Dann war ich in den hinteren Teil gewechselt, dorthin, wo die älteren Gräber lagen, wo kaum mehr Blumen, sondern Büsche auf den Grabstellen wuchsen. Dort war es nicht mehr sonnig, dort standen Platanen, deren Schatten die Gräber überwuchsen. Ich lief durch die Schatten, ich sehe es vor mir, als wäre es jetzt. Ich lief und atmete den blutvollen Geruch der Bäume, atmete diese hypnotische Stille, diesen fast schon verbrecherischen Lebenswillen der Natur überall. Und ganz hinten, dort, wo die Bäume am dichtesten zusammenrückten und es kalt wurde, waren die vergessenen Gräber.

Dort blieb ich stehen. Vor einem davon. Eines Nachmittags. Es war von Disteln und Brennnesseln überwuchert. Ich wischte die Nesseln zur Seite, wischte über den bemoosten Stein, fuhr mit dem Finger die zerschlissenen Buchstaben ab.

Aus dem Leben gerissen von fremder Hand

hat der Weiher sie geborgen

Mein Kopf sank gegen den Stein; ich schloss die Augen. Hier war es, das Grab des ermordeten Mädchens, von dem die Erwachsenen behaupteten, es habe nie existiert. Das Mädchen, dem etwas Wichtiges fehlte, als man es aus dem Weiher gezogen hatte. Ich atmete und streichelte den Stein, während ich hinter geschlossenen Lidern sah, wie Ina und Carsten Möbel aus dem Anker in den Hof trugen und übereinander warfen. Ich sah, wie sie durch mein Zimmer gingen und alles in Beschlag nahmen, und riss die Brennnesseln aus, eine nach der anderen. Und dann …

… spürte ich etwas. Spürte eine Bewegung. Ich öffnete die Augen, sah mich um, aber da war niemand. Ich war ganz allein in diesem Teil des Friedhofs. Ich sah auf die freigezupfte Erde und nahm eine Unebenheit wahr, einen … Riss? Ganz fein war er, verbreiterte sich aber, als ich mit der Hand darüberwischte, wurde zu einem Spalt, handkantenbreit, aus dem etwas Weißes hervorblitzte. Ich zupfte daran.

Stoff. Weißer Stoff. Feine Spitze. Ein Band aus Seide.

Ich stand auf. Ich ging Schritt um Schritt rückwärts.

„Willst du schon gehen?“, fragte eine helle Stimme, die ich kannte, ich wusste nicht, woher, vielleicht aus einem Traum. Ich drehte mich um, aber da war niemand. „Wollen wir nicht Freunde sein?“, fragte die Stimme, meine eigene.

Und dann war es ganz deutlich, eine Bewegung auf dem Grab, und die Disteln, die die Unterseite des Grabsteins verdeckten, beugten sich, knickten um. Und während ich rückwärts davonging, las ich:

Polly

Die Toten sind nicht abwesend, nur unsichtbar.